Wahrheit und Wirklichkeit, Synonyme für falsch und richtig?

Erinnert sich noch jemand an Konrad Kujau? Nein, das war und ist kein Pseudonym oder in internettem Neudeutsch ein Nickname. Um eine Falschmeldung handelt es sich auch nicht. Aber mit Falschheit hat es eine Menge zu tun. Wobei allerdings zunächst einmal geklärt werden müßte, was das wiederum bedeutet. Wäre die Gegenposition Richtheit? Das klingt wiederum eher nach einem technischen Meßwert. Dabei sind Maß und Wert in der Kultur gar nicht einmal so weit entfernt von der Moral, die dabei in der Regel praktiziert wird: gut und böse, falsch und richtig. Alles andere entspricht nicht der Norm, die dem Menschen an sich das Wohnzimmersofa oder die Abenteuer verheisende Klettersteilwand in der aufgelassenen Zeche oder der sinnentleerten Kirche gleichermaßen Sicherheit bieten. «Die Wahrheit», so erklärte es mir mal ein Kunsthistoriker, der aus der Präzisionsfestung Mathematik und Physik auf dieses glücklich machende Eiland ohne festgemauerte Urteilswälle geflüchtet war, «ist immer die Erfindung eines Lügners.»

Konrad Kujau war einer, der einsitzen mußte, weil er nach Meinung der Behörde für Echtheitsnorm zu lax mit der Wirklichkeit umging. Die sogenannte Realität war in der Illustrierten Stern abgedruckt, damals so eine Art liberales Bild(ungs)blatt für Intellektualisierungswillige des dritten Volkshochschulweges, und ihretwegen stand ein Land Kopf, weil es wohl in weiten Teilen meinte, endlich wieder zur Wahrheit zurückgekehrt zu sein. Die Sehnsucht nach starker politischer Führung und deren Wertemaßstab schien nämlich ungebrochen. Hinzu war der Wert Geld gekommen, der sich gerade aufmachte, sich wieder über alles zu schwingen. Man schrieb die achtziger Jahre. Mein Haus, mein Auto, mein Boot befand sich in dem Maß im Aufschwung, in dem die wahre Kunst von dem Sportgerät runtergekracht war, an dem sie eine Zeitlang Klimmzüge gemacht hatte, um ihre Werte zu demonstrieren. Aber das waren ohnehin Übungen gewesen, die von einer Allgemeinheit nicht unbedingt als ästhetisch wahrgenommen wurden, die unverbrüchlich in der Schule lernt, daß das Ästhetische als solches schön zu sein hat, nach jener Gesellschaftslehre, die sich auch in der technischen Hochmoderne nicht vom Idealbild des 19. Jahrhundert verabschieden wollte, das die Schönheit der Einfachheit halber der Einfaltigkeit überließ.

Geht es jedoch ums Geld, handelt eben dieser sich im Geist des Genormten eigentlich sicherer und damit wohler fühlende Bürger häufig völlig entgegengesetzt dessen, was er als Vernunft zu verstehen gelernt hat. Der oben erwähnte kunsthistorische Robinson, dessen Freitag ich eine Zeitlang gerne war, definierte mir gegenüber diesen Inbegriff der gesellschaftlichen Mitte einmal lebensnah: «Das durch Eliten Verordnete bleibt immer eine Herausforderung an diejenigen, die sich danach richten müssen. Um diese augenfällige Kluft semantisch etwas zu mildern, gibt es seit der Französischen Revolution einen politischen Begriffswechsel, der aus dem Untertan den Bürger erfindet und damit zunächst den aufgeklärten, nichtaristokratischen Städter meint. Aber auch diese Beschönigung von Ohnmacht konnte — wie wir wissen — das implantierte Mißtrauen zwischen Oben und Unten nicht ausräumen.» Diesem in der Aufklärung unruhig Schlafwandelnden also geht hin und wieder ein Licht auf, das seine Glückvorstellung quadriert. Zum Haus, zum Boot und zum Automobil erscheint ihm ein gänzlich unbekannter Stern. Er schlafwandelt sich zum Tanz hinauf auf ein in den Himmel gespanntes Seil, das im völligen Dunkel irgendwo in der Nacht hängt und zudem weitab entfernt ist vom untergespannten Netz der Mündelsicherheit seiner Bundesanleihen und Schatzbriefe. Seine Erfahrung mit Glücksspiel beschränkt sich in der Regel auf ein sporadisches Münzbestücken der Automaten, die neben dem Wochenendstammtisch seines Outdoor und Wander e. V. an der Wand hängen wie Naturnachbildungen, aus denen er sein Kunstverständnis bezieht.

Sammeln täte er nämlich jetzt, erwähnte der mich beratende und über Geldwertigkeit des scheinbar Immateriellen promovierte Steuerfachanwalt, der ausnahmsweise einmal Rat suchte bei mir, von dem er wußte, daß ich primär mit dem beschäftigt bin, das sich so genau nicht festlegen läßt. Ein Kunstwerk habe man ihm angeboten, das sei so günstig im Preis gewesen, da habe er unbedingt zuschlagen müssen. Einen Janssen habe er sich gekauft, und was läge näher für ihn als, hehe, hamburgischer Pfeffersack, sich eine dieser wunderschönen Nachbildungen von Natur zuzulegen, die sogar, wovon er sich kürzlich überzeugt habe, in der hiesigen Kunsthalle ausgestellt seien. Seit einiger Zeit schon habe er Überlegungen angestellt, sich diesem seit längerem bestehenden Trend anzuschließen, nach dem in diesen Geschäftsbereichen mittlerweile soviel Geld verdient würde wie auf den Flohmärkten mit Zahngold. Wohin das geführt habe, sei ja hinlänglich bekannt. Besonders beeindruckt habe ihn die Meldung, daß die kriminelle Energie des Kunstdiebstahls in Museen längst in die Gewinne mit anderen Drogen hineinreiche. Das seien schließlich Werte, mit denen man endlich etwas anfangen könne: die Aktie an der Wand. Zugestandenermaßen läge sein Versuch als Aktionär bereits eine Weile zurück und sei auch nicht sonderlich erfolgreich gewesen seinerzeit, als dieser Schauspieler die Papiere dieses großen deutschen Telephonkonzerns angepriesen habe. Aber der sei schließlich aus der kommunistischen Ostzone gekommen, wo man ja erwiesenermaßen nicht mit Geld umzugehen gelernt habe, was schließlich in die Insolvenz führte. Nun aber sei er fest entschlossen, an den Vertrauen erweckenden Gewinnen des Kunstmarktes zu partizipieren. Seinen gerade reifegeprüften Sohn habe er auch schon inspiriert. Der habe, ganz der, hehe, von Haushaltsdisziplin geprägte Vater, vom ersparten Taschengeld für dreihundert Euro übers Internet ein von einem Maler namens Richter signiertes Ausstellungsplakat erstanden. Dieser auch noch lebende Künstler soll ja nach Auskunft seiner seriösen Tageszeitung Hamburger Abendblatt derjenige sein, der weltweit auf Auktionen und in Galerien die höchsten Preise erziele. Das sage schließlich alles über dessen Wert aus. Und sicherlich könne ich ihm nicht nur darüber etwas mehr über seinen Erwerb, sondern auch über den seines Sprößlings sagen.

Der Meister selbst äußerte sich dazu Anfang der Achtziger, als die Artistik dabei war, sich endgültig aufs Drahtseil der materiellen Bewertung zu begeben:
«Ah — ihr Leutchen denkt, 'ne Zeichnung zum Beispiel sei Luxus? Das ist ein Pelzmantel auch. Ich würde mir schon zutrauen, Echt-Krokodil von I. G. Farben der Frau Feudel anzudrehen. Äh, äh — die Banausen, die hier in Rede stehen, WISSEN nämlich in Wahrheit, daß unter meiner Flagge derzeit mehr Fälschungen als Zeichnungen von meiner Pfote in Umlauf sind. Und solche sind gut zu erkennen: Sie sind in der Regel doppelt so groß wie die Originale. Für mich ist es eher komisch als ärgerlich, denn der Verkauf von Zeichnungen ist mein Geringstes, zumal ich gut + gern die Hälfte verschenke. Und wovon ich lebe, geht Euch Leutchen einen Pfiff an.

Ein Beispiel.
Ich verkaufe L. in Hamburg ein 35 cm x 25 cm großes Blumenstilleben für 700 Mark. («November»-Buch: «Mit Fasanenfeder».) Ein Herr S. «erwirbt» in München diese Zeichnung für 24.000 Mark — nur mißt die Zeichnung jetzt 60 x 40 cm. Besagter S. trifft zufällig mit seiner Beute am gleichen Tag in einer kleinen Gesellschaft auf meinen Freund T. und erzählt dem von seinem «Fang». T. läßt den S. sich auseuphorieren und sagt dann: «Wie schön, wie schön — nur das Original habe ich.» Gleich am nächsten Tag bringt S. seinen Janssen wieder in Umlauf und ruft den T. fröhlich an mit der Mitteilung, er hätte 1,5 Gewinn gemacht. Vor ein paar Tagen kam das Ding nun auf meinen Arbeitstisch. Eine Hamburger Galerie war inzwischen gegen 14.000 Mark der unglückliche Eigentümer geworden. Der Experte F. hatte das Unglück offenbar gemacht und nun wollte die Galerie von mir eine Negativ-Expertise. Hattse gekriegt. Wo das Ding heut ist, weiß ich nicht. Bis auf einige vergilbte Kleeblätter in dem Strauß war die Chose gar nicht mal so schlecht ...»
Auszug aus: Kurzschrift 3.2000, S. 23–28; mit Dank an Lamme Janssen für die freundliche Genehmigung; Erstdruck in: Konkret, Heft 8, August 1982, Seiten 68–71

Auch Joseph Beuys hat gerne viel verschenkt oder zumindest preiswert, um den nach Unwert klingenden Begriff billig zu vermeiden, abgegeben; ein guter Bekannter von mir, der die Zeichnungen dieses Kunstumwerters tatsächlich überaus schätzte, kam deshalb zu einem dicken Beuys-Paket. Der niederrheinische Streiter gegen die Kunstmarktkunst wollte die ohne Markt, nicht nur seine, unter die Menschen bringen. Deshalb schuf er auch Arbeiten, die in relativ hoher Auflage oder gar ohne Begrenzung unter die Menschheit sollten, beispielsweise eine Holzbox, die der Remscheider Vice-Verlag grob geschätzt drei bis fünf Dutzend mal für jeweils um die fünfzig Mark verkaufte. Kaum war der alte Hase in die ewigen Kunstgründe verabschiedet worden, schaffte es ein wertbewußter Eigentümer eines dieser Holzkästchen, selbiges in einer überseeischen Aukion im Erfinderland von Alles ist machbar zu plazieren und über sechzigtausend Mark dafür zu kassieren. Aber darum geht es schließlich gar nicht. Es geht um falsch oder richtig, also, ob solch eine Aktie an der Wand auch den Geldwert hat, den beispielsweise ein Steuerberater auf Abwegen dafür bezahlt hat.

Das mit Janssen ist bereits ein Weilchen her. Aber vor nicht allzu langer Zeit hat es nicht nur eines der renommiertesten Kunsthäuser fast unter Tage gebracht, dem eine ganze «Sammlung» anvertraut worden war, sondern gleich noch einen der gewichtigsten Fachleute, die die globaleuropäische Montanunion der bildenden Moderne hervorgebracht hat, gewaltig in die Bredouille. Wie bei den oben erwähnten Diebstählen aus Museen war auch hierbei von hoher «krimineller Energie» zu lesen, zum Beispiel in Die Zeit vom 22. Dezember 2010.

Ich werde also meinem Berater nicht beratend zur Seite stehen können, da mich Bewertungen dieser Art überfordern. Ich ziehe mich deshalb als Freitag diskret hinter meinen oben bereits zitierten Herrn Robinson zurück, der sich auf der Insel eines Klosters anläßlich einer Vortragsreihe mit einigen abgeschiedenen Gedanken zu Wort gemeldet hat.
«Die Medien bedienen die Ebene eines Verschiebebahnhofes von Wirklichkeiten und koppeln an ihre Bilder die scheinbar mittransportierbare Wahrheit und Echtheit. Das ist nicht nur eine Verfälschung der Wirklichkeit in ihrer medialen Transportebene, das ist Fälschung an den Quellen der Wirklichkeit selbst.

Und in der Tatsache, daß es allen Medien in Text, Akustik und Bild gelungen ist, flächendeckend den Eindruck zu erwecken, daß Wahrheit und Wirklichkeit Synonyme sind — in dieser Tatsache steckt der eigentliche Motor für Täuschung und Fälschung.

Denn die Wirklichkeit bleibt immer das, was auf uns Menschen einwirkt. Der Wirklichkeit ist es egal, ob sie wahr oder falsch, gut oder schlecht, echt oder unecht ist. Wird also Wirklichkeit und Wahrheit synonym verstanden, sozusagen ‹Schwarz auf Weiß› geglaubt, ist auch der Wahrheitsbegriff beliebig geworden. So können wir mit Wirklichkeit und Wahrheit endlich relativ — das heißt in erster Linie situativ und launenhaft — umgehen.»
Thema war, wie könnte es anders sein, eine Ausstellung zu Von Dürer bis Dali. Meisterwerke aus der Fälscherwerkstatt Konrad Kujau.
 
Mi, 17.08.2011 |  link | (3847) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Marktgeschrei



 

Von Mauern, Gräben, Grenzwällen und Kriegen

In einem seiner früheren Leben, einem recht frühen, einem, das noch von nomadiger Kindheit gesäugt wurde und daraus eine Jugend nährte, die sich mannhaft oder auch erwachsen äußerte, wäre er beinahe mal in den Krieg gezogen. Zu Mannhaftigkeit und Erwachsensein gehörte zur Zeit seiner jungen Jahre auch, zu heiraten und Verantwortung zu übernehmen. Beides tat er, vom Alter her gesetzlich zwar befugt, aber in geistiger Entwicklung doch noch näher an jugendlichen Idealbildern von Heldenhaftigkeit. Erst trat er in den Stand der Ehe, erzählte seiner zum Zeitpunkt der Heirat noch nicht volljährigen Gattin viel von einer ihm den Rücken stärkenden großen Familie in der Levante und philosophierte über deren Erweiterung durch sie beide. Der Backfisch hörte das romantische Abenteuer heraus, in das seinerzeit viele junge Menschen sich zu stürzen bereit waren, da zumindest ein politisch veredelter Abzweig des Kommunismus noch nicht wie heutzutage als ein Irrtum eigentlich rein kapitalistisch zu schreibender Geschichte erachtet wurde. Selbst Angehörige fremder Religionen wurden, teilweise wohl auch aus einem Wiedergut-machungsgedanken heraus, Mitglieder überwiegend landwirtschaftlicher Kollektive im brennend heißen Wüstensand, den sie dort zu begrünen, also zu kultivieren mithelfen wollten. Beim Gros dieser Feldarbeiter war der Aufenthalt jeweils vorübergehend, dem jungen Ehepaar aber sollte sein über direkte mütterliche Abkunft verankertes Siedlungsrecht religiösen Ursprungs auf ewig an eine Stadt dieses Landes binden, in das, als es als Staat noch nicht existierte, bereits viele Menschen aus aller Welt zusammengezogen waren, um endlich in jener Heimat anzukommen, die über eine Schriftenrolle festgehalten und später als historisch bezeichnet worden war. Die Immigration war so gut wie geregelt, aber quasi auf dem noch virtuellen Weg und vor Reisebeginn durch das Mittelmeer fingen sozusagen im Vorhof zu Scylla und Charybdis die Sirenen an zu singen. Sie bewirkten ein Innehalten vor diesem von Wagnis gezeichneten Weg, und so hatte der alte Homer ihn davor bewahrt, in eine Odyssée zu geraten, die ihn nicht in sein gemütliches Ithaka, sondern womöglich auf den Friedhof eines schlimmeren Schlachtfeldes als Troja geführt hätte. Sein heldenhaftes Vorwärtsstreben hatte einen ersten in ihm selbst gewachsenen vernunftbestimmten Aussetzer, die Einwanderung war so gestoppt worden, und er mußte nicht in diesen Krieg ziehen, der bekannt wurde als einer, der sechs Tage dauern sollte und dem weitere folgen würden.

Ob es an dieser Absage durch ihn lag, das ist bis heute, einiges über vierzig Jahre danach, nicht wirklich geklärt, aber relativ kurz nach diesem einsamen Beschluß, nicht in den Krieg und dessen angrenzenden Gebiete zu ziehen, war die Ehe gescheitert, zunächst die Trennung von Tisch und Bett vollzogen, so nannte man das damals, die gerichtliche sollte sehr viel später erfolgen. Es belastete ihn nicht übermäßig, zumal er es war, der anschließender Unmöglichkeit weiteren Ehevollzugs denselben böswillig interruptiert hatte. Überhaupt hatte diese Zäsur in seinem Leben ihn in ein neues geführt. Es sollte ein gänzlich eigenes sein, unbelastet von allen Belastungen, die familiare Bindungen häufig mit sich bringen, wenn sie von traditioneller hierarchischer, sozusagen vorbildlicher Prägung sind. Niemand sollte mehr darüber bestimmen, an was oder an wem er sich zu orientieren habe, seine geographische Zielrichtung war eine eher okzidentale geworden. Alle ihm blutsverwandtschaftlich injizierten Werte wurden geprüft und in weitesten Teilen für die Zukunft verworfen. Sämtliche Brücken in die familiare Vergangenheit wurden gesprengt, spätere, mehr oder minder zufällige Begegnungen bestätigten ihm die Richtigkeit seiner Abrißarbeiten (Ungleiche Brüder).

In seiner Welt entstanden zuvor nie gesehene Bilder, die ihm eine Kindheit und Jugend lang vermittelte Farbenlehre verlor ihre Gültigkeit, alle einst reinen dualistischen Nichtfarben nahmen in seinem Kopf die Gestalt einer Spektralpalette an, die ihm vorher allenfalls durch den erzieherisch etwas aus dem Abseits, aus der rechtsfreien Zone der Unehelichkeit wirkenden Vater angedeutet worden war. Fernseh- und damit Freizeitphilosophen vulgärkommunistischer retrospektiver Prägung nennen das gerne ein Kessel Buntes. Für ihn bedeuteten es erste intensivere eigene Gedanken zu einer Vielfalt, die er während seiner vorherigen unfreiwilligen Wanderjahre zwar kennengelernt, über die er zuvor jedoch noch nie nachgedacht hatte. Als Multi-Kulti hat sie sich umgangssprachlich verbreitet, als Interkulturalität taucht sie in Versuchen auf, eine seit Jahrhunderten gewachsene Realität zu beschreiben und zu begründen. Häufig geschieht das zum mehr oder minder erregten Mißfallen von Ideologen oder auch Dogmatikern, die im Beibehalten oder neuerlichen Ziehen von Grenzen die alleinige kulturelle Rettung der Welt sehen. Die tiefsten Gräben scheinen dort immer wieder aufs neue geschaffen zu werden, wo die verbreitetsten Religionen offenbar so unversöhnlich gegenüberstehen wie beispielsweise am Rand des Landes, dessen Einwohner aus den entlegensten Winkeln der Erde kommen.

Bei einem seiner letzten Besuche in Nahost begegnete er einem renommierten Künstler, der die vereinigten Staaten, in die er als Kind umgezogen worden und in deren Kultur er aufgewachsen war, verlassen hatte, um fortan nahe der Grenze die andere, die Mischkultur in seinem Mutterland zu leben. Das sollte sein Beitrag zum Frieden, sein Versuch sein, auch religiöse Grenzen zu überwinden. Denn seit langem betete er, wie noch zu Zeiten seiner Kindheit und Jugend, keinen Gott mehr an. Ein solcher existierte nicht mehr für ihn. Aber er war von einem kulturellen Umfeld geprägt worden, das auf Religion gründete. Dem konnte und wollte er sich nicht entziehen. Doch ebenso wollte er Mauern niederreißen und Gräben zuschütten, auf daß die Kulturen nicht nur besser aufeinander zugehen, sondern sich auch vermischen konnten, zumal er wußte, daß es auch auf der anderen Seite der Grenze Menschen gab, die den ihnen in jungen Jahren verordneten oder auch befohlenen Gott nicht mehr anzubeten bereit waren, zumal sie alle wußten, daß alle Kulturen sich früher schon einmal miteinander vermischt und zu Einheiten geworden waren. Fortan nannte der Künstler sich Kulturjude und seinen Freund von der anderen Seite der Gräben und der Mauern Kulturmuslim. Manchmal erhalten sie Besuch von Kulturchristen und anderen Kulturnichtgottsuchern, die ebenfalls gegen diese in Europa und den USA neu errichteten sowie in Asien fast schon althergebrachten politischen Grenzwälle und Bollwerke gegen das Fremde sind. Und wenn sie nicht gestorben werden, dann leben sie noch morgen.
 
Sa, 13.08.2011 |  link | (2774) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 

Bis an des Wassers Scheide

Photographie: © Jean Stubenzweig

Neulich in Marseille, das sich von mir zu entfernen beginnt wie eine langjährige Geliebte, die sich einem vermeintlich Jüngeren zugewandt hat, der seine Attraktivität aus einer Anhäufung von Neuerungen nährt, die Stadt, die ihre in weit über zweieinhalbtausend Jahren gewachsene Natürlichkeit innerhalb kürzester Zeit drangibt, indem sie in scheinbar neue Gewänder schlüpft, die doch nicht mehr sind als die haarscharf an eigener schöpferischer Leistung vorbeikopierten Billigklamotten eines schwedischen sogenannten Modehauses, die Metropole kurz vor Afrika, die wie deren Einwohner jetzt unbedingt auch welteuropäisch sein will wie ihre Schwesterstadt Hamburg: Inmitten der Berge an Austern, Muscheln und Schnecken von Toinou am Cours Saint-Louis, direkt neben der inzwischen schön- und plattgebügelten Canebière, dem alten Hanfboulevard: die nicht endenwollende Eloge eines sportiven Jungmodernen mit Apfelphone und Funköffnung für ein schwarzes bayerisches Cabriolet auf dem Tisch neben der Flasche eines Rosé, der hier inmitten dieses Synonyms für eine aus einer unteren Mitte gewachsenen gastronomischen Heterogenität seines Preises wegen vielleicht zwei-, höchstens dreimal im Jahr verkauft wird. Er will der kürzlich aus Paris zugezogenen Marianne gegenüber gar nicht mehr aufhören mit seinem Lobgesang auf die Partnerschaft. Nein, keinen Antrag auf das mittlerweile multi- oder interkulturell gewordenen Bis-daß-der-Tod-euch-scheide stellt der Beur der Jungdirigeant aus der mittleren Etage der zum attraktiven Gebäude luxussanierten einstmaligen Seifensiederei im Anschlußgebiet des neuen Hafens, das eine erschreckende Ähnlichkeit mit der Wohnqualität der Hamburger Speicherstadt aufweist. Selbst im katholischen Frankreich ist man ethisch längst im Temporären angelangt. Von der Beziehung zwischen der Commune und dem Capitale schwärmt er seiner Gegenüber vor, von der er vermutlich hofft, daß sie nach der reichlichen Zufuhr von eiweißen Aphrodiasika und rosénem Wein unter ihm und er anschließend schnaufend neben ihr liegt. Der am Nachbartisch versteckte Lauscher sieht ihrem ihm bekannten Gesicht deutlich an, wie wenig sie inzwischen einer solchen Lagerung zugeneigt ist. Doch der Vortragende hat wohl nicht die richtige Perspektive, um den Tatsachen in die Augen zu sehen und ist wohl auch ein wenig zu sehr in seine These verliebt, die er vor ein paar Tagen der der Privatwirtschaft sehr nahestehenden größeren der beiden örtlichen Tageszeitungen La Provence entnommen oder auch unüberprüft verinnerlicht hat.

Hätte er getan, was mittlerweile alle Welt tut, nämlich via Internet ein bißchen was über seine vor drei Tagen getroffene Verabredung herauszuschnüffeln, was im technikverrückten und scheinbar gänzlich kontrollfreien Linksrheinischen noch leichter zu bewerkstelligen ist als rechts des Rheins, wüßte er, daß sie den Aktivistinnen zuzurechnen ist, die noch als Studentin per Unterschrift mit dafür gesorgt hat, daß das Pariser Wasser nach fünfundzwanzig Jahren wieder in den Besitz der Stadt, also der Einwohner übergegangen ist, daß gerade sie als studierte Wirtschaftstheoretikerin dieser Art von Partnerschaft eine radikale Absage erteilt hat. Denn sie hat sich einen Teil des im sozialistischen Elternhaus vermittelten Wissens bewahrt, nach dem zumindest menschliche Grundbedürfnisse wie Energie, Lehre, Transport oder Wasser nicht in die Portemonnaies gewinnorientierter Konzerne, also nicht in private Hand gehört beziehungsweise man es ihr wieder wegzunehmen hat, wenn es dort hineingeraten sein sollte wie fast seit je üblich in den meisten Kommunen des Landes. Der hormongesteuerte Kulturmuslim aus dem bei Jean-Claude Izzo immer wieder beschriebenen Norden der Stadt, je nach Zuneigung oder Fluchtwillen Heimat oder Ghetto der Beurs, könnte das ebenfalls wissen, läse er manchmal das eine Zeitlang von Izzo edierte kleinere Blatt La Marseillaise und hörte wenigstens hin und wieder France Inter und nicht fortwährend Mucke auf Beur FM und manchmal, wenn die hartgegelten Kumpels nicht in der Nähe sind, heimlich Cherie FM oder Radio Nostalgie. So wird die junge schöne Blonde, die sich von dieser Begegnung eine andere Art der Annäherung erhofft hatte, nicht im schwarzen Cabriolet des sportlichen Redners nach Hause ins von Papa lange vor Umbaubeginn gekaufte Apartement fahren, sondern mit der Tram, die mittlerweile bis ans Ende der Rue de la République an der Joliette an jenem Teil des Hafens vorbeiführt, von dem aus nach Korsika oder Afrika übergesetzt werden kann, und am neuen, europäisch gestützten Medienzentrum ihr Ende findet.

Die oben geschilderte Begegnung hätte auch in Hamburg stattfinden können, auch hier eine Speicherstadt, anscheinend gar eine mit Vorbildcharakter für die südliche Metropole. An der Elbe ist man zwar nicht so nahe am Kontinent der Armut, dafür näher an China, dieser kommunistischen Volksrepublik, der ein Großteil des Hamburger Hafens gehört und ohne deren Geld man nicht soviele schöne Menschen hätte speichern können in der Stadt, in der auch ein Sozialdemokrat als solcher nur gewählt wird, wenn er zumindest charakterlich ein Pfeffersack ist. Die Vorzeichen hätten ähnlich sein können, der Typ vielleicht ein anderer, sowohl der der Abstammung des PKW als auch der des Gesprächspartners. Die Unausgewogenheit zwischen Wissen und Uninformiertheit dürfte sich die Waage halten. Die einen bilden sich eine Meinung, die anderen lesen Bild. In letzterer und Artverwandten wird im unerschütterlichen Glauben an die Hoffnung des eines Tages vielleicht doch noch erreichbaren Reichtums gebetsmühlenhaft das Rad von der partnerschaftlichen Beziehung zwischen Mensch und Geld gedreht.

Hier war vor einiger Zeit bereits einmal die Rede davon: PPP, neudeutsch Partnership, von mir vor langer Zeit mal abgehandelt im Zusammenhang mit Privatwirtschaft als Kunstsponsor. Unverdrossen wird propagiert, von dem längst erwiesen ist, daß es immer nur einen Gewinner beziehungsweise Verlierer gibt. Letzterer ist der Bürger, jener Mensch, der in deutschen Medien fast nur noch als Steuerzahler erwähnt wird. Die von ihm gewählten sogenannten konservativen Politiker, gerne auch solche aus dem sozialgefärbten Lager, verscherbeln, um die von ihnen gerissenen Haushaltslöcher zu stopfen, die vor und von Generationen angeschaffte und — conservare — bewahrte Aussteuer (es könnte ja eines Tages noch der richtige Partner fürs Kind kommen) samt Tafelsilber.

Genauer: Konzerne bieten ihnen Geschenke an. Der Erste Bürgermeister oder Ministerpräsident erhält für die Stadt, für das Land ein paarhundert Millionen, und dafür dürfen sie ins Wasserwerk einziehen. Zur Miete sozusagen, denn alles bleibt offiziell und zu dessen Beruhigung in des Staatsbürgers Besitz, wenn der Mieter auch so tun und handeln darf, als gehöre alles ihm. Deshalb schaltet und waltet er nach Belieben, setzt beispielsweise Defektes nur instand, wenn der Gewinn von annähernd dreißig Prozent dadurch nicht in Gefahr gerät. Und daß das anfängliche, in Frankreich mittlerweile verbotene Geldgeschenk aus einem gigantischen Kredit besteht, den samt Zinsen der Wasser- und später dann auch noch Abwasserkunde im Fluß zu halten hat, das unterschlägt der rechnerische Hochleister Homo Politicus geflissentlich, denn wenn diese Flut dem Wähler erst bis zum Hals steht oder dann als Tsunami alles wegreißt, sind die Gewählten längst nicht mehr im Amt, sondern eher in später Rente oder bereits auf dem Friedhof. Verschwiegen wird auch, daß die in der Regel Investoren genannten Konzerne so gut wie kein eigenes Geld in die Hand nehmen müssen, um den Kunden das ihre aus der Tasche zu ziehen, damit wie in Italien seltsam anmutende Milliardenberge anlegen, die in anderen Branchen wie etwa kommunaler Verwaltung oder Bildungssponsoring wundersame Reinigung erfahren. Längst haben diese Unternehmen Zugriff auf private Daten und bestimmen mit über die Finanzierung von Lehrstühlen. Ich vermute, daß es ohnehin nicht mehr lange dauern wird, bis in Deutschland Städte in die Namen der Konzerne umbenannt werden, die an der Gesetzgebung mitschreiben. Im Ballspielsport wird das längst praktiziert, das österreichische Modell des Namensadelns per Penunze wird bereits umgesetzt: die roten Bullen rollen mittlerweile den Osten auf.

Am ärgsten schaudert mich bei alldem der Gedanke, daß ein ganzes Sparbuch- oder Bundesanleihenvolk in Panik gerät, wenn ein paar rachitische Aktienviren durch die Medien gejagt werden, aber überall dort, wo es mittels Wahlzettel oder Wutbürgertum etwas gegen die Machenschaften von Ganovenverbünden tun könnte, es genau diese als Segensreichtum begrüßt. Es sind beileibe nicht nur die radikalen Konsumenten der Verbreitungsblätter der Agentur- und Regierungsnachrichten et vice versa oder der privaten Radio- und Fernsehsender, in dessen Wahrnehmungsfenster solche Gelddruckmaschinen nicht sichtbar werden. Das mag zum einen an der Überbeschäftigung mit der Suche nach dem preiswertesten Bioprodukt aus einer kommunistischen Volksrepublik oder einem erzkapitalistischen Ausbeuterland liegen, das beim Kaputtmacher des Einzelhandels erhältlich ist. Egal woher, Hauptsache gesund, vor allem aber billig. Es kann aber auch der Realitätsverlust einer Nation sein, die längst dazu übergegangen ist, den Werbeverlautbarungen der Anbieter vollst zu vertrauen, obwohl es dazu in keinster Weise Anlaß gibt. Gestern bot der WDR eine (ausnahmsweise aktuelle) Reportage über ein sozusagen sattsam bekanntes piemontesisches Süßwarenunternehmen mit rechtem Sitz in Luxembourg, familiengeführt und arg zurückhaltend mit Auskünften, mit dem mittlerweile üblichen Umfrage- und Probierbrimborium. Was da an geradezu ehrfürchtigem Vertrauen in das Imperium mit einem im Vergleich zu anderen geradezu unglaublichen Werbetat zutage trat, war erschütternd. Selbst einer wie ich, der diesen Pappkram nicht kauft, weil er nichts ist als das Geschmacksempfinden ganzer Völker zerstörende Massenware, war besser über Inhaltsstoffe und Produktionsbedingungen informiert als diese ganzen gut- bis besserverdienenden Mütter und Väter, die ihren Kindern und sich selbst fortwährend und bei völlig überteuerten Preisen die Mäuler damit vollstopfen und die Fettleibigkeit fördern.

Da fällt es nicht weiter ins Gewicht, nicht darüber informiert zu sein, was es mit diesen alchimistischen Operationen dieser Konzerne auf sich hat, die sich aus dem ihnen nicht gehörenden Element Wasser goldene Aussichtstürme bauen. Die Leutchens sind auf diese Werbeweise so sehr daran gewohnt, alles zu glauben, auch daran, grundsätzlich doppelt und dreifach bezahlen zu müssen, daß sie mittlerweile auch noch freundlich lächeln und sich verbeugend bedanken, wenn ihnen vor ihren Augen das eigene Portemonnaie aus der Tasche gezogen wird.

Wasser als Handelsware
Marseille und die Einwanderer
Mamans Brustduftdrüsen

 
Di, 09.08.2011 |  link | (6880) | 11 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 







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