Dilettantisches aus Redundanzien Das meiste habe ich längst, auch mehrere Male erzählt. Aber vieles bekommt man nur durch ständige Wiederholungen in die biologischen Festplatten integriert (integration versteht mittlerweile jeder). Alles muß durch die immermahlende Mühle. Nach dem Gebet hat eine Religion sie benannt. Eine andere taufte sie um in Gehirnwäsche. Ideologien verhalten sich wie Bruder und Schwester; wobei die innerstfamiliäre Liebe sicherlich die angenehmere Variante der Inzucht darstellt, vielleicht weil oder gerade deshalb, weil die Oberideologen sie verboten haben. Davon etwas gelöstere und allzugerne plappernde Dilettanten wie ich nennen die Wiederholung — ich bin so frei — vorgangsspezifisch Redundanz. Das ist das, was viele so überhaupt nicht mögen. jedenfalls nicht im sogenannten Print. Vermutlich lesen sie deshalb lieber Hörbücher. Die Technik des Redundierens habe ich während meiner Zeit beim Dampfradio gelernt. Dort hatte man ihre Notwendigkeit erkannt, da der Mensch an sich bei weitem nicht all das verdauen kann, was ihm da vorgesetzt wird, schon gar nicht in diesem Schnellsprech, der inhaltlich obendrein keinen Mut zur Lücke mehr erfordert, sondern letztere nur noch zu erfordern scheint. Und wie das eben so ist im Leben des copy and paste, wie das lebenslange Lernen heute genannt und praktiziert wird, sammle auch ich durch immer neues Lesen des Alten und zusätzlichem (Be)Lauschen des Nachbartischs und Hören im Äther nach Ätherischem neue Erkenntnisse, mittels derer ich das bereits Vorhandene auffülle. Und abgerufen wird das alles durch den Austausch. Berühren Sie mit dem Mauszeiger die Fußnotenziffern. Ich durfte nämlich durch ein bißchen Hinzulernen von HTML auch in der digitalen Welt zu einer alten logorrhoeischen Leidenschaft zurückkehren: der Anmerkung, hier der «versteckten», auf daß es niemandes Lesefluß störe (auch wenn's typographisch etwas verwackelt ist, was ich nicht verstehe, warum das so sein muß). Korrigieren muß ich Sie, beste(r) Einemaria. Erstens: Auch ein «Blogger-Hooligan», als der Sie sich bezeichnen, gehört zur Kultur, zur Civilisation; Kultur, lehrte mich einer meiner Lehrmeister, der allwissende Herr Brockhaus, ist die Gesamtsumme der Lebensäußerungen eines Volkes.1 Letztlich sind es die meist mißachteten Randfiguren, die der Mitte die Würze gaben und geben, die eine breiige Masse eßbar werden läßt. Also zu zweitens: der Viehwirtschaft beziehungsweise der «Zucht von Bakterien und anderen Lebewesen auf Nährböden»: Die Rohmilch lassen Franzosen sich nicht verbieten. Die sind nämlich, Laizismus hin oder her, zuallererst mehr oder minder gläubige (etwa fünfzig Prozent) Katholiken (zwar gibt es noch ein paar von der Medici übriggelassene Hugenotten [circa ein Prozent] im Land, und lediglich die Protestanten [circa dreißig Prozent] im ehemaligen deutschen Kaiserreich Elsaß-Lothringen kriegen auch nach der 1905 erfolgten Trennung von der Kirche noch Geld vom Staat und unterrichten an den Schulen in Religion). Was also den Genuß betrifft, da konnten und können auch Religionen die Bürger nicht entzweien. Für den Käse (und noch einiges anderes, etwa die cuisse de grenouille oder, wie er bei Tetsche heißt, Froschschenkel) geht man im Land auf die Barrique; so heißen nicht nur die Behältnisse für den Wein (auf den ich noch zurückkomme), sondern auch die Barrikaden. Zum Beispiel gegen diese Ursupatoren unserer Verfassung, gegen diesen zusammengewählten Haufen an Landsknechten, der unter dem Namen Europäische Union firmiert. Da war man sich abseits jeder Glaubensrichtung einig, man war bereit, den Bittgang zu gehen, zu dem, den die purpurnen Kittelträger auf den Stuhl gesetzt, also in den weißen Rauch gewählt haben wie weiland ohne Volksbefragung die antikischen Erfinder der Demokratie ihren Weltführer, baten den unter Androhung, der neuerlichen Verlegung des päpstlichen Amtssitzes nach Avignon, um das, was er am besten kann: heiligsprechen. Er hat's zwar trotzdem nicht getan, vermutlich, weil er dem französischen Verständnis von Ästhetik mißtraute und vielleicht auch befürchtete, daß dann die sparkässlichen Abteilungsleiter in Bruxelles und Strasbourg keine Wochenendreisen ins römisch-katholische Lourdes mehr veranstalten würden, aber die revolutions- und multikultigeübten Franzosen haben einfach von Lutetia (das ich von Asterix' Erzählungen her kenne, einem weiteren meiner Lehrmeister) aus eine allerhöchstheilige Sure des französischen cuisinalen Rosenkranzes in diese synthetischen Metropolen der Heimatlosen gesandt: Mein Käse gehört mir. Oder: Alles ist Käse zwar, aber nicht gleich. Das allerdings kann sicherlich nur beurteilen, wem's via Mamans Brustduftdrüsen injiziert wurde. Ich hatte das Glück. Und das bei einem Vater, der aus einem hintersten (oder, je nach geographischer Einordnung, vordersten) russischen Frontschtetl kam, in der die versaftete und vergorene Kartoffel bis heute als einziges Grundnahrungsmittel bekannt sein dürfte, zu einer Zeit, als es Rußland noch gab, also nicht das heutige, das sich der Verführung durch den Westen hingibt. Gleichwohl das nur konsequent ist, denn das, was man darunter versteht, ist nunmal okzidentale Orientierung. Die Kompaßnadel schlägt nach Westen aus. Aber nicht übern großen Teich in die USA muß man wißbegierig rudern, sondern bereits in Frankreich gilt es auszusteigen in dieser Tour de connaissance. Von dort nämlich kommt sie, die Verführung, mit der das konstruiert wurde, unter dem die mehrheitliche Welt heutzutage Lust definiert: der Kapitalismus, der alleine aus diesem fröhlichen Irrsinn besteht, alles Erdenkliche kaufen zu wollen, das man garantiert nicht braucht, und man irgendwann private Insolvenz anmelden muß, dafür aber andere reich macht. In BiBook oder EiFrau? habe ich dieses Au Bonheur des Dames angerissen. Zweifelsohne entstand durch diese Verlustierung der Damen der Gesellschaft auch die Emanzipation der gekechteten Landmädels, die in Paris für einen Hungerlohn schufteten, aber immerhin nicht mehr auf den Strich gehen mußten.2 Auf diese Weise einen Teil der Prostition abgeschafft hat, wie auch die Anfänge von Arbeitszeitregelungen, Renten et cetera angelegt, der Gründer des Au Bon Marché. Aber nicht um der Sache selbst willen sondern, wie die Verführung an sich, nur, um noch mehr Geld zu scheffeln, auf daß Lieschen Müller ihr Licht nicht darunter stellen muß, H & M, Clamotten-August oder wie sie heute sonst noch alle heißen, die billigheimlichen Verführer. Das eine oder andere Lichtlein ist mir bei dieser grandiosen Dokumentation aufgegangen. Das ist es — mutige (fragwürdige?) Lücken hin oder her3 —, was ich unter Fernsehen verstehe; der unterhaltende4 investigative Journalist Emile Zola hat dabei sicherlich eine hervorragende Vorlage gegeben; als zur Metapher Neigender und ausnahmslos schönes Spiel Mögender rufe ich Günter Netzer ab: Der Diagonalpaß (auch) als Textkultur. Es war zweifelsohne ein Ereignis, wie so oft in meinem durch die Choucroute choreographisierten Blütensternengärtchen (das ich dank der sogar bis zu mir vorgedrungenen endgültigen Digitalisierung kurz vor meines Vaters Land Sibirien auch radikal linksrheinisch empfangen kann). Allerdings kam mir dabei, wie in den Anmerkungen notiert, einiges Wissen zu kurz. Auch die parisischen Suffragetten blieben mir historisch ein wenig zu sehr im Hintergrund.5 Wobei nicht verschwiegen wurde, daß sie sich vom Herrn des Kaufhaus mißbrauchen ließen, indem sie sich zu dessen Werbezwecken kaufen ließen. Aber nun, es war schließlich in erster Linie eine Illustration der Entstehung des Kaufrausches, von dem letztlich auch die sogenannten besseren Hälften nicht verschont blieben — und nicht nur als Geldgeber. Sämtliche Moden hat uns das gebracht, der heute mehr denn je alle, auch die Männer mit ihrer ebenfalls von diesen Kaufhäuslern erzeugten Sehnsucht, endlich auch emanzipiert und somit ein bißchen Frau sein zu dürfen, jeden erdenklichen Kram kaufen, und sei es, wie ich es nicht nur in meinem Stammkaufhäusern in Schwabing6 oder der Hamburger Mönckebergstraße oder anderswo einige Male beobachten durfte beziehungsweise von Kassiererinnen erzählt bekommen habe, zwei Jahre jungen Premier Cru aus dem Bordelais für achtzig Mark oder mittlerweile fünfzig Euro die Flasche erstanden, um sie dem abends zu Besuch weilenden Chef zu kredenzen, der selbstverständlich genausowenig weiß, das solch ein Wein, einer dieser Güteklasse in dieser Jugend schmeckt wie ein Doppeladler für neunundneunzig Centimes. Ich selber hab's mal ausprobiert und Billiggesöff gekippt in geleerte und aus Glücks- und Dankbarkeitsgefühl nie weggeworfene Flaschen eines 89er Château Laroque, diesem wirklich schönen Grand Cru aus St. Emilion, getrunken nach zehn, zwölf Jahre Reifung. Gekauft hatte ich den Wein vermutlich in La Rochelle, wo ich beinahe mein Generationenheim bezogen hätte und ich eine Zeitlang günstig abgeräumt hatte, weil dieses ganze Bordeaux-Zeugs da in den Regalen herumlag wie Blei, weil zu teuer. Die Gäste des Cave in Saint Nicolas, als es noch von den alten Wirtsleuten betrieben wurde, tranken lieber das Glas für achtzig Centimes. Dessen Inhalt schmeckte passabel. Linksrheinisch kann man ja glücklicherweise auch billigeren Wein trinken. Rechts des großen Grenzflusses sollte man das unterlassen. Oder Gästen kredenzen, die, aus welchem Grund auch immer, ungebeten ins Haus gekommen waren, oder solchen, die gerne mit ihren Weinkenntnissen höflich, aber bestimmt hofieren gehen. Die haben die Etiketten gesehen, genickt und kräftig Sauerstoff gesogen. Einer meinte, er schmecke erstaunlich jung, dieser nach zwölf oder mehr Jahren getrunkenen 89er Château Laroque. Ich habe den Herrn nie wiedergesehen. Es gibt allerdings auch wirklich schlimme Erlebnisse, wie sie Frau Braggelmann einmal geschildert hat. Deren, wie sie ihn selbst nennt, bessere Hälfte, muß aber auch ein ausgesprochener Kenner sein nicht nur des Weines, sondern auch einer der Gewieftesten in der biologischen Abwehr von Dieben. — Man könnte das jetzt schlicht unter Kreuzzüge der Märkte abtun. Ähnlich wie beim Wein, von dem längst auch französische Winzer meinen, man müßte ihm Duftstoffe beimischen, die dem gehobenen Trinker weltweit (aber besonders gerne im deutschen Land des gehobenen Geschmacks) die Ahnung von eichenem Barrique naturähnlich in die Geschmacksknospen zaubern. Aber es ist schon ein wenig mehr. Es ist Gastrosophie. Während ich mit Kleist7 so vor mich hinverfertige beim Denken, fällt mir ein Aufsatz von Rick Fantasia ein, der um das Jahr 2000 offensichtlich zu neuer Erkenntnis gelangt war und notiert hatte: «...daß die Fastfood-Industrie in Frankreich vor allem das Werk französischer Firmen war, die auf diesem amerikanischen Terrain noch besser sein wollten als die Amerikaner selbst.» Auch die Italienerin Medici meldet sich erneut mit der Anekdote8, sie würde diesen provençalischen Bauernfraß nicht zu sich nehmen. Und dann setzt sich André Glucksmann dazu und gibt einmal mehr in dieser Runde zum besten: «Im 16. Jahrhundert blieb Frankreich zwischen Rom und Luther unentschieden. Im 17. Jahrhundert war es damit zu Ende – weder Rom noch Luther. Der ‹Langzeitidentität› Italiens überließ Frankreich die Suche nach dem Schönen. Haben nicht heute so manche Italiener vor allem vor der Häßlichkeit Angst? Der deutschen Kultur überläßt Frankreich die Sorge um das Gute, den Wunsch, gut zu sein, das engelgleiche Dasein eines Gretchens, das so lebt, als gäbe es das Böse nicht, und außer Fassung gerät, wenn es ihm doch begegnet. Dagegen ziehen in Frankreich auf lange Zeit das Schöne und das Gute die Aufmerksamkeit nicht mehr auf sich. Das Häßliche und das Böse wird nicht verbannt und macht weiter kein Aufsehen. Aber die Dümmlichkeit, die mir ein anderer nachsagt, die ich mir selber attestiere, wird zur Kapitalsünde und zum schlimmsten Schimpfwort. Seit es um den gesunden Verstand geht, habe ich keine Möglichkeit mehr, mich auf irgendeine Wahrheit zu berufen. Mit gemischten Gefühlen kann man zugeben, man sei nicht gut, und sich damit abfinden, daß man häßlich ist. Aber kann man sich als dumm akzeptieren? Das ist im normalen Leben wenig wahrscheinlich. Das Prahlen damit, daß man nicht dumm ist, setzt einen aber, heimtückig genug, der höchsten Form der Dummheit aus, deren Geheimnis, vor Moliére, bereits Montaigne, boshaft genug, gelüftet hat: ‹Die Franzosen schienen Affen zu sein, die rückwärts von Ast zu Ast auf einen Baum hinaufklettern und oben angekommen den Hintern zeigen.›»8Da gab's doch gerade ein deutsch-französisch-italienisches Treffen. Und wer ist Wortführerin? Eine Frau aus der Uckermark. Nichts gegen Frauen, nichts gegen die Uckermark. Mir gefällt sie. Die Uckermark. Aber ich muß dabei gleich wieder an Holstein und Erbsensuppe denken und weniger an Pisam farsilem. Aber das Wesen, an dem die Welt genesen soll. hat's längst geschafft. Aus ist's mit den langen Mittagspausen. Gerademal gut zehn Jahre ist es her, daß sogar im gegenüber der Weltmetropole Berlin zugestandenermaßen ziemlich provinziellen Paris nicht nur der gemeine, sondern auch der gehobene Franzose mittags im Büro den Anrufbeantworter ein- und das Telefaxgerät ausschaltete, um im Bistrot seine vier Gänge zu sich zu nehmen (weitere sechs würde es am Abend geben). Heute sind dort die meisten dieser wundersamen Restaurationsstätten abgewickelt. Alleine 2002 gingen davon rund zwanzigtausend ein. Das Volk hat keine Zeit mehr und muß wegen der Konzerngewinne Sparbrötchen essen. Der Sargnagelschmied merkte mal an: «Es wäre doch ganz einfach, Frau Merkel — [...], übertragen Sie einfach die deutsche Rentenformel, das deutsche Gesundheitssystem und das deutsche Pensionssystem auf alle anderen europäischen Länder ... » Jetzt reichts aber wirklich. Bei der Gelegenheit: Ein kleines Dankeschön stellt das hier auch dar — an die (für meine Verhältnisse) recht hohen Einschaltquoten gerade im Bereich Frankreich, Essen und Trinken (was, logisch, ohnehin zueinandergehört; die Kunst nur am Rande), an die vielen Leser, die seit einigen Wochen hier bei mir immer wieder anklicken.
Diplomatie der unteren Stände Höflichkeit ist eine Zier, doch besser geht's auch ohne ihr. Mutter schmeißt Baby aus dem Fenster, so oder so ähnlich schlagzeilt das Blatt, bei dem ich immer daran denken muß, daß es sich zu nichts anderem eignet, als damit allen möglichen Menschen mal in diese vier Buchstaben zu treten. Es ist jedoch keineswegs nur dieses Blatt, von dem ich seit Jahrzehnten gerne sage, daß ich nicht einmal als seit Tagen toter Fisch darin eingewickelt sein möchte. Das geht bis zur Weigerung, Opa aus der Nachbarschaft dieses lediglich mit allerärgstem Analogkäse in Verbindung zu bringende Blatt mitzubringen. Die Millionen Fliegen, die nicht irren können, assoziiere ich, wenn ich seniler Bettflüchtling beim vermutlich einzigen Bäcker in ganz Norddeutschland, der ein sogar recht wohlschmeckendes Ciabatta produziert, Espresso (nun ja) trinkend auf den Lieferwagen warte, im Blickfeld den Verkaufsständer mit vier verschiedenen Zeitungen, aus dem Hereinkommende nahezu ausnahmslos zu diesem Osservatore pauperum greifen. Doch nicht nur das greift ständig zu diesem Kammerton des gesunden Volksverstandes, genügend andere, weitaus mehr als die drei darbenden seriösen Zeitungen in diesem Blätterwäldchen bedienen sich dieser immerwährenden Volksweise, die allerorten erklingt, auch in bewegenden TV-Bildermagazinen, mögen sie nun Brisant oder Leute heute heißen: Wie das nur geschehen konnte! Dabei war sie doch so höflich und zuvorkommend, die Mutter. Nie kam laute Musik aus der Wohnung, und ihren Müll hat sie immer sauber getrennt. Wie ich darauf komme? Der gute alte, auch nach seinem zweihundertsten Todestag noch jünger daherkommend als die renaissancierten, ewig nach hinten Klagenden dieses Wider die Theaterverhunzer, das sind diejenigen, die so ahistorisch und werkungetreu Geschichte in die Aktualität (ver)zerren, dieser Claus Peymann hat es ausgelöst, er hat's endlich mal wieder zurechtgerückt, was anläßlich dieses ganzen andächtigen Todestagsgeschwurbels in den Medien völlig untergegangen oder auch von ihnen unterdrückt worden zu sein scheint: Heinrich von Kleist war von den Nationalsozialisten vereinnahmt worden, die sich ohnehin alles mögliche angeeignet hatten, was ihnen in den Rahmen ihrer scheußlichen Ideologie paßte, nicht nur, weil dieser preußische Offizier gegen die Franzosen kämpfte. So einer darf sich sogar umgebracht haben, auch wenn das eigentlich streng verboten ist im Land der christlich-jüdischen Leidkultur. Er war schließlich deutscher Dichter, da spielt ein unstetes Leben quasi als Landfahrer ohne festen Wohnsitz, sozusagen als Zigeuner lediglich eine Nebenrolle. Auch wenn er den Geheimrath zu Weimar mal duellieren wollte: Er ist schließlich deutsche Volkskultur. Man kennt es: Michael Kohlhaas, den Ernst Bloch einen «Don Quijote rigoroser bürgerlicher Moralität» nannte. Und dann Der zerbroch'ne Krug, für den man gerne sein Tourneetheaterabonnement nutzt und sich dann überhaupt nicht darüber wundert, welch ein höflicher und zuvorkommender Mensch dieser Dorfrichter Adam doch eigentlich ist; als Musical täte der sich sicherlich auch gut eignen tun. Nicht schließlich dieses Über das Marionettentheater, für dessen Bewegung man ebenfalls abonniert hat im städtischen Marionettentheater für Kinder, weil die von der Einheit von Kunst und Leben eher eine Vorstellung haben, die in ihrer Anmut nachgerade romantisch daherkommt, wie im Mittelalter, in dem der Franzosenkaiser Charlemagne, der im anderen Nationalbewußten eigentlich ein deutscher Führer war, auch wenn diese Lande bis fast zu den Preußen noch als Kleinstaaten immer fröhlich und bunt wie beim heutzutagigen mittelalterlichen Handwerkermarkt vor sich hinträumten oder sich, je nach Geisteshaltung, gegenseitig massakrierten wie Karl der Große einst die Sachsen, die daraufhin endlich zu christlichem Kreuze krochen. Da darf man auch schonmal die Fäden aus der Hand verlieren und ihm andichten, er hätte schließlich aus Liebe erst seine Gefährtin und anschließend sich erschossen. Wie bei Petra Kelly und ihrem deutschen Offizier Gert Bastian, wenn die auch nicht unbedingt in diese Art der Märchenvermittlung paßten. Ein Weltverbesserer sei er gewesen, dieser Kleist, meinte Peymann, ein Revolutionär. Und er, Peymann, und noch ein paar andere wissen auch, daß dieser Kleist nicht unbedingt einer gewesen war, bei dem keine laute Musik aus der Wohnung gekommen wäre und Zweifel daran bestehen dürfen, daß er seinen Müll immer sauber getrennt hätte. Selbst in der ständig auf der Suche befindlichen Erinnerungsarbeit meines Dachstübchens hat er seine Spuren hinterlassen, seine Denkpraxis habe ich mir angeeignet, wenn auch nicht ganz so werkgetreu, bei der allmählichen Gedankenverfertigung. Oder so: Feuriger Schutz ... Französisches ExerzitiumParis, den 14. Juli Zitiert nach: Heinrich von Kleist: Werke in einem Band, hrsg. v. Helmut Sembdner, Carl Hanser Verlag, München 1966, Anekdoten, Seiten 782f. So langsam darf die Gesellschaft die berechtigte Frage stellen, ob ich auch so ein Mörderbube bin, der vielleicht heimlich Kleinstkinder aus dem Fenster schmeißt und andere, nur weil sie Fremde sind und deshalb keinen Nationalstolz haben können, einfach umbringt. Ich bin verdächtig, alleine deshalb, weil ich ein immer höflicher und zuvorkommender Mensch bin. Weshalb das so ist, spielt dabei keinerlei Rolle. Es ist nämlich alles nur gespielt. Da mag das noch so seine Wurzeln haben. Ich bin nämlich französisch erzogen worden. Man stelle sich das in der Art vor: Ich habe im Supermarché jemanden versehentlich touchiert, drehe mich herum, schaue den Berührten in die Augen und entschuldige mich gerührt für diese Tat. Und zwar von Herzen kommend. Denn ich bin verzückt von Schönheit. Doch die ist eine Frage der Ästhetik, kommt also von innen und will draußen als Anmut gefallen. So gesehen hat sie mir oftmals geholfen beim Erstürmen von Herzen. Stehe ich in einem Berliner oder Münchner (Hamburg und sein, nicht nur der geldfette, Speckgürtel scheint die Ausnahme von der Regel) Supermarkt und jemand schiebt mir den Einkaufwagen in die Achillessehne, wird er mich fragen, warum ich hier so dumm herumstehe. In Frankreich, dem Land der köpferollenden Revolution geht man höflich miteinander um. Im deutschen Land des Gehorsams trennt einem der Kadaver die Achillessehne ab, wahrscheinlich, um nicht mehr flüchten zu können. Aber es ist wohl alles eine Frage der Auslegung des Begriffes Ästhetik. Es mag daran liegen, daß diese Höflichkeit sozusagen eine urfranzösische Angelegenheit ist. Trotz allem wird sie häufig auch rechts des Rheins als Kompliment mißverstanden. «... il soutint sa thèse pour le doctorat d'une façon si remarquable, qu'elle lui valut les compliments des professeurs», schrieb Gustave Flaubert in seinem 1869 erschienenen Buch Lehrjahre des Gefühls, da buckelt einer, in meiner wirren Auslegung, vor den Professoren. Ich bin zwar ein höflicher Mensch, mache mir aber nichts aus Komplimenten und verteile sie auch höchst ungern, da ich sie mit dem Höfischen, den Höflingen in Verbindung bringe. Das sind diejenigen, die vom Sonnenkönig in den goldenen Käfig von Versaille gesperrt wurden, wo sie nichts anderes durften, als ihm ehrerbietig Komplimente zu machen. So ist das bis heute geblieben. Wo man auch hinschaut in diesem Land, das ich, ja nun, da halte ich's eher mit einem Deutschen, der zum «Vaterland» gesagt hat, er liebe seine Frau, aber ich tue mich da auch leicht, schließlich ist's ohnehin mein Mutterland; doch ich vaterlandsloser Geselle bekomme bereits bei dem Begriff Patriotismus Probleme. Kurzum, alljährlich feiert man mit riesigen Aufmärschen La Révolution, von der schon Kurt Tucholsky anmerkte, die meisten wüßten kaum noch, weshalb sie am 14. Juli auf die Straße gingen. Und doch sehnt man sich kaum nach mehr, als selber ein bißchen alter Adel sein zu dürfen. Es gibt dazu keinen Kitsch, der zu schade wäre, nicht doch ein sonniges Plätzchen in der durchgeistigten Haltung zu finden. Da hilft nicht einmal die (fast) strikte Trennung von Kirche und Staat. Einmal katholisch, immer katholisch. Wer an den Himmel glaubt, der will hinein in ihn, will wenigstens ein bißchen Niederadel, unterer Stand sein. Das sind diejenigen, die am niederen Wild nagen durften, den Karnickeln und Wachteln et cetera. Und so etwas wird heutzutage wohl deshalb gezüchtet in den euroglobalistischen Bachelor-Aufzuchtstationen. Daß ich solch ein höflicher Mensch geblieben bin, gleichwohl nie katholischer und auch kein hugenottischer oder was es sonst noch gibt auf diesem Schlachtfeld christlich-jüdischer Liebe zum Andersseienden, dafür kann ich nichts. Wir schon Heimito von Doderer bemerkte: «Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.» Um meinen guten alten Bekannten werde ich mir keine Gedanken mehr machen müssen, der in seiner unhöflichen Art jedes Dankeschön gegenüber Dienstleistern mit der Begründung verweigerte, er bezahle schließlich dafür. Diejenigen, die sich nicht so benehmen, wie es die Gesellschaft von ihnen verlangt, stehen nicht mehr unter Verdacht. Jetzt sind solche Höflinge wie ich dran, allesamt Mörder, aber höflich und zuvorkommend. «Man stürmt heute keine Bastillen mehr. Das äußerlich greifbare Symbol ist seltener geworden, und man muß schon ein bißchen künstlich nachhelfen, wenn man einer modernen revolutionären Bewegung zu Gedenktagen verhelfen will. Die Unterdrücker sitzen nicht mehr in einem einzigen Palast der Stadt, der zu stürmen wäre, Banken stehen an jeder Ecke, selten gerinnen Reaktion, Nutznießertum und die Pest der Unterdrückung zu einem Mann, zu einem Haus, zu einer Fahne. Das Leben spielt sich heute auf dem Papier ab, in Telefondrähten, an der Börse. Schwer, das zu stürmen und den Sturm kenntlich zu machen.» Verwirrt ab zum Sturm ins Nickerchen.
Wünschelrutengänger sucht erquickenden Quell «Wer schreibt, um Bildung zu zeigen, muß Gedächtnis haben; dann ist er bloß ein Esel. Wenn er die Fachwissenschaft oder den Zettelkasten benützt, ist er auch ein Schwindler.»Karl Kraus Gesucht und gesucht habe ich in meinem Archiv, ich wußte, daß ich es irgendwo in meinem etwa ab 1992 angelegten Lagerschuppen der irgendwann wieder verwertbaren krummen und verrosteten Geistesnägel anderer, gegen den der vielzitierte Heuhaufen mit seiner berühmt-berüchtigten Nadel ein geradezu (be)dürftiges Häuflein darstellt, digital gestapelt hatte. Schließlich gab es seinerzeit noch keine Maschinen wie etwa Kuckel, das kam erst einige Zeit später, bis es zum Monster wurde, das ich nur noch in Blaulichtfällen ab Seite 139 an mich heranlasse, wenn alle anderen nichts mehr abzugeben in der Lage sind. Seinerzeit mußte noch alles aus Büchern abgeschrieben und in Zettel's Kasten gelagert werden, zu dem meine letztlich saudoofe Festplatte mißraten ist, in der ich offensichtlich immer noch nach analogen, utopischen (Land, das nirgends ist) Unsystemen suchend alles mögliche finde, jedoch meist nicht das, was ich suche. In der Kunst wird das das objet trouvé genannt. Bin ich denn ein Künstler!? Wer, wie oder was auch immer — während der intensiven Räumsuche bin ich kurz vor dem Fenstersturz beinahe letztes Ende darauf gestoßen: Ist Genialität etwas anderes als Wiederfinden?Georg Christoph Lichtenberg Nun schätze ich das nach Südniedersachsen emigrierte bucklicht Männlein aus dem südhessischen Ober-Ramstadt ja durchaus. Alles Erdenkliche läßt sich mit ihm ausschmücken. Und Erdenkliches hat er schließlich ebenso von sich gegeben. Das Allererdenklichste hat wohl der nicht minder geschätzte Sangesphilosoph Mauri Antero Numminen (der übrigens besser deutsch schreibt als so mancher deutscher Skandinavistik-Experte bei Radio Hirn will Arbeit schwedisch spricht und weitaus mehr vom Tango Tango versteht als die Darsteller meines Lieblingsfriseusensports, die sexy Turniertänzer, indem er Platon sagen läßt: «Ich habe mit meiner Empfehlung gemeint, daß ein Mann vor seinem fünfunddreißigsten Lebensjahr eine Frau überhaupt nicht berühren soll. Du hast dich, und das ist in der Tat lobenswert, bis zu deinem fünfunddreißigsten Lebensjahr von den Frauen ferngehalten. Aber was du jetzt treibst, gehört bereits zu dem, was man den Liebesakt nennt. Der Nichtvollzug des abschließenden Teils bringt dir keinen einzigen zusätzlichen Punkt.»)dazu beigetragen. Aber das, stelle ich gerade fest, ist ja dann doch wieder etwas anderes, die beiden bringe ich nur zu gerne durcheinander, der hier hieß nämlich Wittgenstein, dieser andere Logiker. Man muß das Wiedergefundene nur richtig einordnen. Nenne ich das mal Chaostheorie. So sieht es aus mit meinem Navigationssystem, das mit meiner Weltkarte im Oberstübchen offensichtlich ebensowenig klarkommt wie das elektrische, das auf der Autobahn zur Uni Bochum ständig und immer lauter werdend flötend mahnt: Bitte wenden! In diesem Sinne, und so weiter. Aber ich bin schließlich eine Antwort schuldig, für die ich letztlich in den Irrgarten meiner archivierten Gedanken anderer eingestiegen bin. Die Frage derjenigen, die einen meiner Aufsätze gelesen hatte, die ich mich hier einzustellen nie getrauen würde, weshalb ich denn so unendlich viel zitieren und das auch noch mit «unerträglich übermäßigen Anmerkungen» versehen würde. Irgendwann bin ich dann doch auf die Quelle gestoßen in meinem Wünschelrutenverfahren, und zwar ohne mit Hilfe des Elephantenfußes adoleszent-halsbrecherisch den Gipfel des Apo-Thekenschranks zu erklimmen und gar den linnenen Wälzer aus der Anderen Bibliothek (als sie noch eine andere war) nochmals von vorn bis hinten durchlesen zu müssen; es wäre nicht das erste Mal, ich habe auch schon monatelang nach einem Buch mit grünem Einband in den Regalen gesucht, aus dem ich zitiert hatte und meinte, da ich mich so angenehm im Schreibfluß befand, die Fußnote könne ich später nachtragen, und das ich — und somit auch nicht die entsprechende Seite — nie wiederfand. Kurzum: «In meinen Zitaten lasse ich andere sagen, was ich selber nicht so gut ausdrücken könnte, sei es aus Mangel an Sprachgewandtheit, sei es aus Mangel an Scharfsinn.»Michael de Montaigne «Was sich mir nicht auf Anhieb erschließt, tut es um so weniger, je mehr ich mich hineinbohre.» (II, 10)Eine Suchmaschine zu bedienen, ist nicht schön, auch nicht die des eigenen Hirnstübchens. Denn es macht viel Arbeit. Mehr noch als die Kunst, über die Kunst zu schreiben.
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