Rätselhaftes aus Berlin Seltsame Dinge geschehen bisweilen. Da schaue ich nach Tagen der relativen Ruhe wegen Dauermüdigkeit und sich vermutlich daraus ergebender Schreibunlust in die Klickzählmaschine meiner elektrischen Kladde, um mir die Bestätigung abzuholen, daß nach nicht täglich veröffentlichtem Plapperanfall die Einschaltquoten zwangsläufig rapide sinken, und dann sind sie in ungeahnte Höhen geschossen. Völlig überraschend haben mich seit gestern weit überdurchschnittlich viele Klicker angeklickt, die zuvor vermutlich noch nie auf meiner Seite gewesen sein dürften. Ausgelöst wurde dieser Ansturm durch den Bericht über ein Ereignis, von dem ich annahm, es sei längst ein alter Hut oder auch Schnee von gestern, den wegzuschippen ich mich ohnehin nicht sonderlich bemüht habe. Vom Menschen, der des Menschen Wulff sei, habe ich allenfalls mal etwas lauter geräuspert. Aber nun tritt bei mir ein für meine Verhältnisse riesiges Trötenorchester an. Um die Vuvuzela als Orchesterinstrument für Blasmarschmusik beim Zapfenstreich zu Ehren des altehrwürdigen ehemaligen Bundespräsidenten geht es in diesem Text im Tagesspiegel (den ich ein einziges Mal, und das vor Jahren, mit einem Kommentar behelligt habe). Aber so genau ich den offensichtlich von gestern stammenden Artikel samt den nach wie vor eintrudelnden Kommentaren immer und immer wieder lese, ich kann nirgendwo einen geschriebenen Anlaß entdecken, der zu meinem Posiealbum hinführt. Vielleicht sehe ich ja in diesem deutschen Wald voller Staatoberhäupter keinen Bundespräsidenten mehr, dem sie zum Abschied einen geblasen haben. Ob mir ein Netzgewiefter, selbstverständlich auch eine Durchblickerin, helfen kann, das Interesse an mir politisch Unbegabtem zu klären?
Abgetriebener Käse Ich kaufe solche Produkte nicht, weil ich alleine die Bezeichnung «Original französischer Bio-Weichkäse» als absurdes Verbraucher-Brimborium empfinde. Er stammt aus Andechs. Andechs liegt im Allgäu. Die geneigte Kundin und ihr gelangweilt mit durch die Wunderwelt des Alles Supermarktes schlurfender, gediegen bachalorischer Lebensabschnittgefährte denken an das Immerfrische, an saftige Wiesen, werbeilluminierte dicke Euter im Dirndl, an Nonnen und Mönche im züchtigen Kloster, da muß ein Käse gut bis hervorragend sein. Und da auch noch Bio draufsteht, ist das Vertrauen in Erzeuger und Händler endgültig hergestellt, man zahlt also gerne noch ein bißchen mehr, weil's ja so gesund ist wie eben das ganze Volk an Skistöcken in der Muckibude und vielleicht auch ein bißchen lifestyle obendrein. Vor gut zwei Wochen kam dieser Käse in mein Haus. Frau Braggelmann sorgt sich um die Aufrechterhaltung des nach der Operation immer noch leicht Behinderten, und da sie preisbewußt einkauft, nahm sie die zwei Packungen Schnäppchen mit, aber immer noch zu einem Preis, den andere für Nahrungsmittel nicht zu zahlen bereit sind, weil das Benzin schließlich so teuer ist. Mit Bio, dachte sie wohl, kann sie bei mir Käsefreund des schon etwas Älteren nichts falsch machen. Wer Fleur de Marquis oder Straßburger Munster mag, schreckt auch vor davonlaufendem Käse nicht zurück. Der Händler hatte den Preis gesenkt, da das Mindesthaltbarkeitsdatum fast abgelaufen war. Frau Braggelmann kennt mich so gut, daß sie weiß, wie wenig sich mein Magen vor irgendetwas fürchtet, schon gar nicht vor einem Stempel auf einer Verpackung, dessen Datumsangabe behauptet, ab dann und dann sei ein Lebensmittel nicht mehr verzehrbar. Ich gestehe, nicht entzückt gewesen zu sein, da mich die Erfahrung noch nie übermäßig überzeugt hat von derartig ausgewiesenen deutschen Milchgewächsen, schon gar nicht, wenn ihnen irgendetwas mit Natur aufgedruckt ist. Denn sie schmecken meist wie das, auf dem die jungfräuliche Verkäuferin im Käsestand steht, die mir gegenüber behauptete, Rohmilchprodukte seien in Deutschland nicht zum Verkauf zugelassen, weil sie die Gesundheit gefährdeten, und mir deshalb den im ganzen Land hochgradig beliebten Butterkäse empfahl. Dennoch habe ich etwa eine Woche nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums eine der beiden Verpackung geöffnet und vom Inhalt gekostet. Er schmeckte, nun ja. Weggeworfen habe ich den Rest nicht, ich tue so etwas nicht. Manch einer würde jetzt sagen: Aha, Kriegskind. So richtig das ist, aber ich bin nicht im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen und habe auch nie Not gelitten. Aber ich habe es schon immer als befremdlich empfunden, Lebensmittel wegzuwerfen, es sei denn, sie sind derart verdorben, daß man sie nicht einmal mehr der Haussau vorwerfen würde. Die würde dann auch nicht mehr schmecken. Ich verbrenne auch keine Bücher, auch wenn sie noch so uninteressant oder gar schlecht sind wie das Volk der Afghanen, von deren Heiligtümer ein von Weichbrötchen und Gen- und Klonfleischklopsen hirnvergifteter GI meinte, sie in den Ofen stecken zu müssen. Ich weiß, irgendjemandem wird nicht schlecht davon oder hat sogar noch Genuß dabei. Ich habe, nicht eben mit Genuß, aber den Käse schließlich gegessen. Die zweite Packung habe ich liegengelassen. Irgendwann, dachte ich mir, würde ich kurz vorm Verhungern oder von einer alles verschlingenden Freßgier sein. Dann verschwände es in meinem abfallresistenten Magen. Heute war so ein Giertag. Ich habe die zweite Packung geöffnet, gerade noch das Papier vom Käse entfernen können, auf das per ungeschriebenem französischen Käsegesetz eigentlich vorgeschriebene Abschneiden oder Wegschaben der Haut verzichtet und hineingebissen. Bereits während dieses Vorgangs kam mir etwas anders vor als beim Verzehr des ersten Stücks vor zwei Wochen, ein paar Tage nach Ablauf des Mindest-haltbarkeitsdatums. Die Konsistenz war eine weichere. Und richtig, der Käse, na ja, kaufen würde ich ihn nicht, aber er schmeckte passabel und ich würde ihn ohne Scheu wieder essen. Mir war rasch klar, in nochmal einer Woche würde er wahrscheinlich sogar gut schmecken, der Bio-Cremige aus Andechser Natur. Die Natürlichen aus dem Allgäu hatten ein Produkt an den Handel ausgeliefert und zu einem Tag für tot erklärt, an dem es noch nicht einmal richtig zu leben begonnen hatte. Wie soll ich mich dann noch darüber wundern, daß die Deutschen jährlich über achtzig Millionen Tonnen Lebensmittel «entsorgen», wie es so schön politikerdeutsch euphemistisch heißt? Und in diesen wohl bald hundert Millionen Tonnen seien die, noch so ein großartiger Euphemismus, «Tafeln» noch nicht enthalten. Ich werde mich in Zukunft wohl nächtens an die Abfalltonnen der neuen Hausschweine der Nation schleichen und in ihnen nach Allgäuer Naturprodukten aus vermutlich emsländischer Kuhmilch wühlen. Mit etwas Glück finde ich welche, deren Haltbarkeitsdatum drei Tage über die Zeit ist. Dann lasse ich sie noch drei bis vier Wochen liegen und habe dann etwas passabel Genießbares für meinen nächsten Freßanfall. Mindesthaltbarkeitsdatum. Am vergangenen Wochenende sprach der Papi von Opis Henri, dem Bruder derjenigen, die Hummer streichelt, bevor sie ihnen genüßlich in den Schwanz beißt, auf Packungen von Salz ein solches gesichtet zu haben. Sein Appendix, Salz könne zwar minderer Qualität sein, aber es verderbe nicht, ging in des Kleinen Lustschrei mit anschließendem, schier ewig lang anhaltendem orgiastischen Stöhnen unter, der von einem Stück frischen Räucheraals («statt Würstchen», wie Mutti meinte) ausgelöst worden war. So bleibt mein Weiterwundern über die Frage: Was ist das für ein Volk, das sich nicht nur von der Industrie, sondern auch vom Handel so vergiften, sprich verdummen läßt? Die Gewinne oder meinetwegen Renditen der Nahrungsmittelglobaliker, so tönt es aber nun wirklich ständig über die öffentlich-rechtlichen Lautsprecher des Fernsehens ins Land, seien unaufhörlich am Steigen. Wegen der Benzinpreise wird es vermutlich demnächst zur Revolution kommen, so ähnlich wie vor ein paar Jahren in Bayern, als man die Sperrstunde für die Biergärten vorverlegen wollte. Aber daß die Drecksbrezn wie die Bier genannte Großindustrieplörre aus der Fabrik kommen, die der Herr Müller an alles kahlfressende Heuschrecken verkauft hat, das interessiert es nicht, das Volk. Man sollte ihm ein Mindest-haltbarkeitsdatum aufbrennen ...
Mikrokosmisches Frühjahrslamento Niemand, aber auch niemand, meinte mein, gleich meinem Anwalt, Haus- oder Zahnarzt persönlicher Autoschmied, als ich meine Voiture à Deux Chevaux, die neunundzwanzig-spännige, mit vier gemütlichen Gartenstühlen (im)möblierte Ente abholte, die er von einem Verein geprüfte und somit gesetzesgerecht wieder zurechtgedengelt und hin- und hergerichtet hatte, auch weil so ein Viech im Norden sich gegen die permanent nässende und obendrein versalzte, weil durch die paar Zentimeter winterlichen Flöckchen völlig verängstigte Gesellschaft sich mit Rostblasen wehrt und wir im Laufe unseres Gesprächs vom hundertsten der immer neuen Abgas- und sonstigen Vorschriften kommend in der zunehmend verdrossenen Welt angelangt waren, niemand, sagte er fast wütend, aber auch niemand in seinem Bekannten- und Freundeskreis unterläge den Irrtümern, die über die Politiker ständig als das einzig richtige Leben vorgeschrieben würden. Ja, manchmal schreibe ich gerne nahezu atemlos lange Sätze auf, so, wie sie mir manchmal schier punktlos und komatös für andere ins Gehirn dringen, die ich notieren darf, weil mir kein Verein zur Reduktion von Denkluft vorzuschreiben hat, in welcher Form ich über kurz oder lang meinen Ärger in den Äther lasse. Alle wüßten, sprach mein Entenrichter, daß Vorschriften und Gesetze vorange- und weiterbetrieben würden, die durch Untersuchungen und Gutachten und was sonst noch alles längst widerlegt seien. Er, der sinnvollen, besser noch, vernünftigen Maßnahmen zur Rettung der Welt wahrlich aufgeschlossen gegenüberstünde, sowohl im ökonomischen, was schließlich nicht alleine raffgieriges oder turbokapitalisches Vorgehen bedeute, sondern in seinen Vorstellungen Erzeugung von Produkten und deren Handel zur Verbesserung von Lebensqualität, aber mehr noch im ökologischen Sinn, denn auch er wisse, daß er, wie es fast sprichwörtlich heiße, obschon es in Vergessenheit zu geraten scheine, die Erde von seinen Kindern lediglich geborgt bekommen habe, auf daß er sie, weshalb er stets bemüht sei, sie auch oder gerade in seinem Mikrokosmos zu erhalten, sehe nicht ein, daß die global alles Kleine kaputtherrschende Groß- oder Sonstwasindustrie ihren von Politikern gesegneten Dreck ungehindert in noch jedes winzige Mittel zum Leben hineinblasen darf, während er bemüht sei, Altes im Kleinen zu bewahren und er damit auch noch dem übermäßigen Verbrauch von Rohstoffen vorbeuge, der etwa durch die Produktion von kurzlebigen Maschinen entstünde, die die Menschen nicht bräuchten, aber dennoch von ihnen gekauft würden, weil sie sich, aus welchem Grunde auch immer, wohler fühlten im kreditierten Schein einer höfisch anmutenden Karosse mit mehrhundrig Gäulen davor und mit ihr dann auf den Hof derer führen, die alles zu geizgeilen Knickerpreisen verhökerten, auch die Botschaft, nur billig sei das Leben zu genießen. Genau so hat er's nicht gesagt. Aber so ähnlich atemlos und wütend und in zwei, drei Sätzen gesprochen ist mir's im Gedächtnis geblieben, dem ich sicherlich unwillentlich noch ein wenig beigefügt habe. Worum ging's eigentlich? Ach ja, niemand in seinem Freundes- und Bekanntenkreis glaube an die Weltheilsoffenbarungen nahezu aller Politiker mit deren Regulierungen, die alles und alle kleinmachten, nur nicht die großen Alleskaputtmacher, irgendetwas mit Feinstaub- und sonstigen Ausstößen der Kleinen, die die Umwelt belasteten, es aber längst nachgewiesen sei, daß nicht sie, sondern es die Großen, die dicken Gewinnbrummer des Globalen es seien, die den Dreck produzierten. Und dennoch, wagte ich anzumerken, würden nahezu alle immer wieder denjenigen die Mehrheiten verschaffen, die sie kaputt machten. Warum, lud ich die Frage nach, weshalb und wieso komme eigentlich kaum jemand auf die Idee, kaputtzumachen, was sie kaputt mache? Aber ich Mikroko(s)miker, resignierte ich schließlich, verstünde von all dem nichts. Mein hühnerhaftes Dasein sei von schicksalhaftem, petitbourgoisem Wutbürgerdasein gekennzeichnet. Aber alles egal. Hauptsache, die Ente flöge wieder. Schließlich nahe der Frühling. Seine gleichwohl noch unrasierten vorbotischen Bande seien bereits eingetroffen: die Müdigkeit, die komplizierte Gedankengänge in klaren Sätzen einfach nicht zulasse.
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