Nachhut der Vorhut Mit Henner Reitmeier korrespondiere ich mittlerweile ein wenig. Er hat auch einiges zu bieten. Zuletzt kam die Musik zur Schreibe. Er schrieb mir, bei den Vorlieben täte sich zwischen ihm und mir offensichtlich ein Graben auf. Ich schütte ihn ein bißchen zu, indem ich kundtue: Ich habe in jungen Jahren beinahe alles gehört. Teilweise tue ich das auch heute noch, solange es kein Pop oder sogenannter Rock oder ebensogenannte Volksmusik ist. Ich habe eher hier oder dort zugehört beziehungsweise lausche dem auch weiterhin und schalte mich auch gerne dort zu, wobei mir im Radio France musique die breiteste Palette bietet. Auch Reitmeiers musikalische Äußerungen haben etwas, bei dem ich keinen Gehörschaden erleide, wenn es meine Welt auch nicht unbedingt ist, erfuhr doch das, nenne ich Unwissender es mal so, Bardische bei mir selbst zu seinen Hoch-Zeiten nur marginale Zuhörbestimmung. Ich war dem breiteren Verständnis von Musik bereits relativ früh davongelaufen. Auslöser zur Grabenbildung dürfte allerdings mein ausgewiesenes Bekenntis zum Free Jazz gewesen sein, wobei ich die alles auslösende Encyclopedia Wikipediana allem voran in diesem Abschnitt lobend erwähnen möchte: «Der Begriff selbst kann zu Missverständnissen führen, da eine Freiheit in Bezug auf die herkömmlichen Spielhaltungen des Jazz nur bedingt genutzt wird und es neben einer völligen Freiheit in der Form (Free Form Jazz) durchaus Improvisationen gibt, die auf Kompositionen und kompositions-ähnlichen Absprachen über Strukturen beruhen.»Es mag ohnehin die Nennung des Jazz Composer's Orchestra gewesen sein, bei der Reitmeier sich möglicherweise an einem Reizwort im Wikipedia-Eintrag festgebissen hat, das ihn offensichtlich zu dieser Retoure veranlaßte: «Für mich macht der Avantgardist zumindest das Folgende. 1. sitzt er der Ideologie des Fortschritts auf. 2. unterliegt er dem Neuigkeitswahn. 3. macht er es sich bequem, ist es doch leichter, eine Form zu zerstören als eine zu schaffen. Damit ist er, nebenbei gesagt, der ideale Mann für den ‹innovations›geilen Kapitalismus. Sie werden vielleicht einwenden, das sei sehr pauschal gesagt. Recht haben Sie.»Mein möglicherweise nach hinten gerichteter tunneliger Blick: Mit der Avantgarde habe ich's eher weniger; der Wikipedia-Text über das Jazz Composer's Orchestra hebt sie in quasi historischer Sichtweise notwendigerweise ein wenig hervor, da die Vorhut in den US-amerikanisch bedudelten frühen Sechzigern der Bundesrepublik kampfgesinnter war oder schlicht zeitgenössisch voranschritt. Auch diese swinging Sixties waren noch eine ganze Weile eine neuerliche Zeit des Aufbruchs in den Fortschritt nach dem zweiten Weltkrieg, alles schrie nach Erneuerung. Zwar war es keine kunst-, aber durchaus eine kulturhistorische Zäsur, mit der nach dem großen Aufräumen das Umdenken eingestimmt werden sollte. Nicht nur in Deutschland war vieles, in den meisten Städten nahezu alles zerstört. Es mußte nach wie vor neu gebildet, neu (auf)gebaut werden. Da Henner Reitmeier in anderem Zusammenhang auf die Bemerkung von Mies van der Rohe hingewiesen hat, weniger sei mehr, komme ich auf die Architektur zurück. Darin machten sich nämlich manche das in den Hintergrund gebombte Neue zunutze, denen es nicht wirklich um Erneuerung ging, sondern die lediglich das wenig bekannte Neualte aus den Trümmern gruben und es dabei je nach Gewinnorientierung oder auch Gusto lediglich umbauten oder besser: die Idee der Teilevorfertigung ausschlachteten. Für die daran ohnehin weniger Interessierten mit ihren obendrein alltäglicheren Sorgen war das, wie auch immer es angewandt wurde, in der Regel neu, zu neu, auch wenn die Wurzeln des Neuen Bauens bis ins 19. Jahrhundert zurückreichten. Im Zusammenhang mit der Architektur habe ich das hier skizziert und auch dort geschildert; es mag für andere Disziplinen gleichermaßen gelten. Ich sehe diese neue Vorhut allerdings ohnehin allenfalls stürmisch die rund hundert Jahre zurückliegende Vergangenheit berühren, etwa im in den Anfängen des 20. Jahrhunderts begründeten Futurismus, der eine neue Kultur schaffen wollte. In ihm wurde die Geschwindigkeit, «die Liebe zur Gefahr» besungen, die Vertrautheit mit «Energie und Verwegenheit», der Krieg ward, hier etwas flapsig neben der Spur, da einst mit dem Herrn ein anderer gemeint war, aber eben im zunehmend abgleitenden Wortsinn verherrlicht als «Mittel der Hygiene». Ein «Kunstwerk ohne aggressiven Charakter» durfte schließlich «kein Meisterwerk sein». Der italienische Futurismus rief das anarchistische Element aus, doch das hierarchische behielt letztendlich die Oberhand, das männliche obendrein, die «Verachtung des Weibes» mag dafür als Beispiel gelten. Es mündete recht bald in Kriegstreiberei, nicht wenige, auch deutsche Avantgardisten, zogen mit Hurra-Gebrüll in den ersten Weltkrieg, allen voran gegen die Franzosen, dafür wurde lange eine Stimmung gemacht, die in ihrer Propaganda größtenteils in den allmachtsbesoffenen napoleonischen Eroberungsfeldzügen wurzelte. Manches hinterließ deutliche Spuren im Faschismus, beispielsweise durch die Tatsache, daß Marinetti die Nähe zu Mussolini gesucht und gefunden hatte. Und es dürfte ja hinlänglich bekannt sein, wer hier letzten Endes mit wem paktiert hat. Das wiederauflebende allgemeine Hervorheben des Begriffs mag mit der neuerlichen Manie um die Geschwindigkeit zu tun haben, die uns als Fortschritt suggeriert wird. Es dürfte jedoch auch mit der allgemeinen Tendenz zu tun haben, daß eine arrière-garde, also die Nachhut, mit ihrem Halb- oder Viertel- oder vor lauter rasch reingezogener Information bald gar nichts mehr Wissen den Begriff in den Vordergrund rückt. Dazu geört gleichermaßen die Kreativität, gegen die an sich nichts einzuwenden wäre, würde sie nicht ständig gerade von denen mißbraucht, denen sie abzusprechen ich geneigt bin. Sie verwenden sie in einem Atemzug mit Inhalten, denglish oder im Germslang verbogen, indem sie von content schreiben oder reden. Diese Sinnentleerung von Begriffen nennen sie erkundend Vorausgehen. Und die Armee der nach Neuem als Beute Gierigen trottet hinterher. Dabei ist Avantgarde nun wirklich ein alter, militärischer Hut, der ausgedient und schlapp an einer alten sprachlichen Fahne hängt, von der viele, vor allem jüngere oder jungseinwollende Menschen offenbar meinen, sie müßten sie aus dem Fundus holen und aufbügeln, obwohl sie ansonsten die allerneuesten Fähnlein in den Wind hängen. Bereits vor dreißig Jahren habe ich Avantgarde mit größter Zurückhaltung eingesetzt. Mir geht es nicht einmal um einen Anflug dessen, was bei dieser anderen Musik das Vorausschreiten oder den Fortschritt assoziieren könnte. Es ist mir nichts weiter als, eben, eine andere Musik. Und so, wie ich sie kennengelernt habe, zerstört sie auch nicht unbedingt alte Formen, sondern läßt häufig in ihnen Erweiterungen, neue Hörperspektiven entstehen. Viele der scheinbar chaotischen Freejazzer, die ich kennengelernt habe, das nebenbei, haben ohnehin klassische Ausbildungswege beschritten, sowohl an ihren Instrumenten als auch in Kompositionslehre et cetera. Das trifft auch auf die meisten Kreateure der Neuen Musik zu. Deren schlicht zu wenig eingängige Töne wollte ich zunächst auch überhaupt nicht lauschen, lange Zeit habe ich mich gar gewehrt, mir das intensiv anzuhören, gechweige denn in Konzerte dieser Art zu gehen. Dann hat es nach langen Gesprächen der Münchner Komponist Cornelius Hirsch tatsächlich geschafft, mich Anfang der neunziger Jahre doch dazu zu bewegen. Mir war während der darauf folgenden Musikdarbietung dann zwar klar, daß es auch weiterhin nicht die Richtung sein wird, die ich zu gehen gedenke, aber sie hat mich immerhin dazu inspiriert, wenigstens genauer hinzuhören und sie nicht mehr grundsätzlich abzulehnen. Hin und wieder habe ich dann auch neuerlich ein Konzert besucht, auch Opern zeitgenössischer Komponisten. Auch fällt es mir mittlerweile wesentlich leichter, Arnold Schönberg zuzuhören. Aber der ist der ohnehin längst ein Klassiker. Der Free Jazz, zu dem ich mich bereits in jüngeren Jahren, etwa im Alter Anfang bis Mitte zwanzig, hingezogen fühlte, möglicherweise deshalb, da ich mich von den musikalischen Zwängen des Elternhauses, genauer den dominanten mütterlichen mit der griechischen Sirene Callas und ihren Kreischsägengesängen bis Signore Carusos Geschmelze oder Monsieur Tchaïkovskis dauer-dudelndem Concerto pour piano bémol mineur numéro un, zu befreien versuchte, hat mir tatsächlich einiges an Freiheit gegeben. Bis heute höre ich Alexander von Schlippenbach sehr gerne zu, wennauch am liebsten die früheren Stücke, wohl in Erinnerung an die (mich) befreiende Maltraitierung (s)eines Konzertfügels, ebenso das Jazz Composer's Orchestra, bei dem es mir bisweilen so geht wie Herbert Köhler in dessen Platonischer Musik. Aber daß mir dabei Avantgarde destruktiv im Hirn herumsaust, das läßt sich nun wirklich nicht behaupten. Für jemanden, der das seit Jahrzehnten hört, klingt das ohnehin wie Klassik, wie erfrischende Musik, die irgendwann von alter oder überhaupt Altem ausgelöst wurde. Allenfalls drängt sie mich, genauer zuzuhören, was ich bei anderen Tönen zu vernachlässigen neige. Ideologie des Fortschritts oder Neuigkeitswahn ist dabei alles andere als treibende Kraft. Das mag mir anhand anderer, auch hier beschriebener Vorstellungen von Leben durchaus abgenommen werden.
Der Name ist geändert, «aber die Geschichte handelt von dir. Mutato nomine/de te fabula narratur. Horaz, Sermones 1,1,69 f. «Wir haben genug über die Wahrheit diskutiert. Wir wollen jetzt ehrlich werden.» So zitiert Terra Dieter Hildebrandt. Das läßt mich mal wieder ein wenig ab- und ausschweifen. Die Fabuliererin Felicitas Hoppe, deren «fiktive», welchen Wert wir dem auch immer beimessen wollen, Autobiographie kürzlich erschienen ist und zu der sie sich in Cicero ausführlich geäußert hat, lieferte zur Wahrheit eine bemerkenswerte Definition. Sinngemäß hat sie in der Sendung Lesezeichen des Bayerischen Fernsehens gesagt, jedenfalls interpretiere ich das so: Man finde sie allein in sich selbst, oder auch: sie sei eine Möglichkeit, zu sich selbst zu finden. Des weiteren hat sie Armin Kratzert unter anderem ins Mikrophon gesprochen: «Ich habe herausgefunden, dass diese Felicitas Hoppe, der ich eine neue Geschichte gegeben hatte, eine andere Kindheit, als sie realiter hatte, die ich auf Reisen geschickt habe, die sie tatsächlich nie gemacht hat, dass die Felicitas Hoppe de facto dieselbe geblieben ist. Ich habe sie nach Kanada, nach Australien geschickt und stelle fest: Egal in welche Kulisse ich diese Person stelle, sie bleibt Felicitas Hoppe! Und das ist eine interessante Erfahrung, denn das, was wir faktisch für so wichtig halten, ist nicht das, was die Essenz unserer Person ausmacht. Also nicht, wann wir geboren sind, wo wir geboren sind [...], sondern wer wir sind und wie wir uns in dieser Umgebung verhalten.»Die Wahrheit wird von vielen, ich nehme an, sie dürften sich in der Überzahl befinden, mit der Wirklichkeit verwechselt. Jeder ist, da ziehe ich mal die Er- beziehungsweise das Bekenntis von Arthur Rimbaud als Ausgangsbasis heran: Je est un autre, mindestens sein Alter Ego, häufig sausen mehrere Iche nicht nur in picabiascher Manier durch die deshalb runden Köpfe. Manch ein forscher und/oder forschender, mehr oder minder gescheiter Kopf hat in letzter Zeit herausgefunden, ob persönlich oder angelesen, wer will das schon noch unterscheiden (mein unentschlossener Kommentar zu copy & paste), daß das Individuum (als Produkt der Moderne) oftmals lediglich vermutet, es sei ein solches. Viele Menschen lebten ein Leben, von dem sie sich wünschten, es sei das ihre. Dabei spiele die in letzter Zeit geradezu dramatisch überhöhte Werbewelt eine nicht unhebliche Rolle, und eine solche sei schließlich dazu da, um sie wechseln, zumindest die Richtung ändern zu können. Felicitas Hoppe macht sie sich ironisch zunutze. Im auf der Fischer-Verlagsseite abgedruckten Interview vom Januar 2012 stellt sie fest: «Hoppe gehört im Grunde ihres Herzens und ihrem ganzen Wesen nach natürlich in die Werbung. Denken Sie nur an ihre Agentur für alles. Sie weiß einfach, worauf es im Leben ankommt, vor allem dann, wenn die Rechnung nicht aufgeht. Ihre Lieblingsdevise lautet: ‹Wer zögert, verliert.› Und last but not least: ‹KRÖNE DICH SELBST – SONST KRÖNT DICH KEINER!›»Aber das ist eben nur die halbe oder ein Teil der Wahrheit. Der französische Psycho-analytiker und Essayist Pierre Bayard, und auch er ist wahrlich nicht der erste, der das herausgefunden hat, ließ uns in Comment parler des lieux où l'on n'a pas été ? wissen, in der eigenen, also durchaus auch der gemieteten Hütte sei es doch noch am angenehmsten, er wies auf Immanuel Kant hin, der sein Quartier in Калининград nie verlassen und dennoch die Welt bereist hat und in etwa, dennoch geradezu manifesthielt: Willst du dich, also quasi den Kosmos kennenlernen, dann bleibe am besten zuhause. Marco Polo kommt dann noch vorbei, an Karl May führt ohnehin jeder Weg ins wilde Absurdistan, Bayard meint, der Sachse habe sich Amerika so hingeschrieben, wie es seiner Meinung nach sein sollte. Hinter diese weitaus bequemere Art des Reisens zu kommen, dafür habe ich viele an- und nachhaltige Ausflüge benötigt, um eines Tages unschlüssig meinen zu können, es sei genug. Bosch meinte daraufhin, ich sei auf dem richtigen Weg: «Irgendwann wird auch der Letzte einsehen, dass diese ewige Reiserei zu nichts führt.» Doch diese Art zu reisen, früher nannte man das «mit dem Finger auf der Landkarte», ist es längst nicht alleine. Bayard hat sich 2007 auch zur Literatur geäußert: Comment parler des livres que l'on n'a pas lus ? (Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat.). Auch da war Bayard bei weitem nicht der Erste. Anleitungen für Bildungsschwindeleien haben lange vor ihm und auch vor dem netten Netz der schnellen Information andere verfaßt. Auf diese Weise lernt man zwar nicht die fabelhafte Welt der Literatur kennen, erfährt jedoch ein wenig mehr über sich selbst, zum Beispiel, wie eingeschränkt man lebt, wenn man nicht einmal bereit ist, sich von anderen auf die Reise schicken zu lassen. «Denn wenn man Erzählungen schreibt oder liest, sieht man Landschaften, sieht man Gestalten, hört man Stimmen: Man hat ein naturgegebenes Kino im Kopf und braucht sich keine Hollywoodfilme mehr anzusehen.»Und immer mehr oder weniger Wahrheiten treten zutage. Die Gebrüder Grimm beispielsweise haben sich keineswegs, wie man seinen Kindern früher weismachen wollte oder mußte, weil das Wissen fehlte, auf Wanderschaft begeben, um die fabelhafte oder auch mythologische Welt des Erzählens, letzteres ohnehin eine Tautologie, zu ergehen, man hat ihnen die Märchen zugetragen, sie haben sie größtenteils zu sich nachhause bringen lassen. Viele dieser über lange Zeit hin überlieferten Geschichten kamen von weit her, nicht wenige aus Frankreich. Die Grimms haben sie ein wenig redigiert, also umgeschrieben, ihnen wie später einst May ein bißchen deutsche Moral hinzuparfumiert, wie heutzutage sozusagen die Liebe durch den Magen lebensmittelig synthetisiert, so daß sich daraus zwangsläufig andere Er- und Bekenntnisse ergaben. Der Mensch an sich unterliegt ohnehin in weiten Teilen dem Glauben, also dem Geahnten, das haben ein paar Psychologen und einige weitere sie begleitende Randwissenschaftler herausgefunden, er habe das alles selbst erlebt, was er in die weite Welt hinausposaunt, aus welchem Grund auch immer. Und wenn dem nicht so sein sollte, dann will er's häufig unbedingt annähernd erleben. Immer häufiger müssen Schauspieler sich für ihre Rollen, Literaten sich für ihre Romanfiguren rechtfertigen oder öffentlich beteuern, sie hätten mit ihren Protagonisten nichts zu tun. Dem steht im Weg, was Jochen Gerz einmal auf die Frage nach der, der Zeitgeist gebietet es wohl, es so zu heißen, Authentizität entgegnete: Alles ist autobiographisch. Es ging dabei unter anderem um die Romantik, die akut auch aus anderem Licht betrachtet wird, also überwiegend alles andere als authentisch. Aus dieser Erkenntnis geht vermutlich auch eine in letzter Zeit häufiger aufkommende literarische Gattung hervor, die diese Vermischung von Selbsterlebtem und Fiktivem nicht nur ausdrücklich zuläßt, sondern auslebt, nenne ich's subjektive Authentizität. Ein Beispiel dafür liefert Marcy Goldberg. «‹T.› könnte man als Thomas Imbachs Abrechnung mit sich selbst verstehen, als die Verkörperung einer Schattenseite aus Schwächen, Scheitern, Schuldgefühlen.»Wahrheit ist demnach nicht, wie am Beispiel Fiktive Realität behauptet wird, gleich Authentizität. Mir scheint das überholt wie so vieles, mit dem zum Beispiel ich aufgewachsen bin. Sie kommt allenfalls der Wirklichkeit nahe. Um an die Wahrheit zu gelangen, muß man mittlerweile schon etwas tiefer in sich und sein Weltgefühl tauchen. Ich kann mich des Eindrucks nicht entziehen, Altmeister Nietzsche könnte in bisher ungeahntem Maße (post)modern, also neuzeitlich, gegenwärtig sein: «Die Lüge erfordert Erfindung, Verstellung und Gedächtnis, sie setzt mehr Kenntnisse und Fähigkeiten voraus als die Wahrheit.»
Eine Laterne für Wikipedia Als Autor war ich nicht von der ersten Stunde, aber Mitte des letzten Jahrzehnts ward ich von einem solchen gebeten worden, doch hin und wieder hineinzuschauen, was die Wikipedianer aus seinen Texten gemacht haben, und gegebenenfalls einzugreifen, er selbst sehe sich dazu nicht in der Lage, da sein Herzensarzt ihm als pensioniertem Fachmann des Versuchs nicht einmal mehr die Verliebtheit im literarischen Essay gestatte, also jede Aufregung strengstens untersagt habe. Das habe ich dann auch versucht, es jedoch bald wieder aufgegeben. Da fanden Debatten statt, die ich nicht nachvollziehen konnte und auch nicht wollte. Einmal noch tat ich's dann doch. Vor ein paar Monaten habe ich's doch nochmal gewagt, wie ich es Einemaria mitteilte. Lediglich den Präsidenten einer Kunstakademie wollte ich tilgen, da er ein solcher seit längerem nicht mehr war. Man hat's dreimal wieder rückgängig gemacht, aus mir nicht ersichtlichen Gründen, die ich erst gar nicht mehr erforschen mag. So habe ich mir vorgenommen, von der Encyclopedia Wikipediana zu lassen, auch wenn die akademische Welt sich ihr mittlerweile gar gerührt hingibt. Nun bin ich gestern auf einen Text gestoßen, der all das zusammenfaßt, das mir und anderen zugestoßen ist innerhalb dieses basisdemokratischen Nachschlagewerks des Wissens. Henner Reitmeier, kürzlich zugezogen ins hiesige Bloggerdorf und eine Bereicherung für die Freunde des nicht so knappen Wortes, hat es mit ordentlich Fleisch an den Knochen ausgeschrieben. Ich erlaube mir, einen Auszug zu veröffentlichen, diesen hier vor allem deshalb, da mich diese Scheinneutralität immer seltsam anleuchtete und nach meinem Kenntnisstand nie sonderliche Erwähnung fand: Der Versuch, der menschlichen Subjektivität ein Schnippchen zu schlagen, gleicht Calinos Taktik, eine Laterne anzuzünden, damit er sehe, wie dunkel es in der Höhle sei. Man soll die eigenen Augen nicht benutzen, weil sie einen möglicherweise trügen könnten. Nur der objektive Autor hat das geeignete Instrument, die Wahrheit der dunklen Höhle zu ergründen. Er hat die wunderbare Laterne, die noch nie ein Mensch gesehen hat. Aber die WP-Neutralitäts-Apostel lassen nicht darin locker, den Anschein von Objektivität zu erwecken, um ihn als die Objektivität selber ausgeben zu können. Denn darauf belaufen sich diese „sachlich-korrekten“ Artikel mit den 20 Schubladen und den 60 Fußnoten. In Wahrheit sind sie natürlich stets von Jemand geschrieben worden, und zwar von einem, der wie wir alle seine Befangenheit, seine Vorurteile, seine Launen und diese ganze Verworrenheit hat, in die ihn die 100 Milliarden Neuronen und 100 Billionen Synapsen seines Gehirnes stürzen können, sofern es ihnen gerade gefällt. Und natürlich sind wir auch stets parteilich. Vor allem wünschen wir recht zu behalten, unser Gesicht zu wahren, in möglichst günstigem Licht dazustehen. Doch die wenigsten geben es zu. Und ähnlich wenige machen dann lieber aus der Not eine Tugend, indem sie gleich bewußt und erklärtermaßen parteilich sind. Für die erwähnten Kommunisten ist es selbstverständlich, einen Aufsichtsrat eine Ausbeuterbande zu nennen, es sei denn, sie haben in der Ex-PDS mit dem unaussprechlich anmaßenden Namen überlebt. Der WP-Kommissar dagegen möchte es sich weder mit dem Kommunisten noch mit dem Aufsichtsrat verderben. Er möchte es allen recht machen. In einer Welt, die vor Gegensätzen schreit und die bereits die halbe Milchstraße blutig gefärbt hat, möchte er die mindestens afrikagroße Insel der Wissensseligen schaffen — und natürlich auch verwalten.Man lese den gesamten Artikel, er ist so lohnenswert wie manch anderes dieses Autors, der mit seinem «essayistischen Stil» teilweise direkt aus meinem Kopf zu schreiben scheint. Nachhaltig erheitert hat mich seine verbindende Argumentation zwischen Kommune und Hund: Freilich kann ich es inzwischen, nach 15 Jahren der rotgrünen Restauration, irgendwo auch wieder verstehen. Die Kommunen kämpfen ums Überleben; sie haben wenig Zulauf; man sollte ihnen nicht auch noch die Hunde wegnehmen.
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