Aufrichtig sein

will ich, und hänge es Sie deshalb an die große Glocke, die Alle Jahre wieder das Jahr ausläutet, mangels bereits erwähnten Materials auch als Transparent (und damit Sie) aus dem Fenster, diese Kehrseite:

Gäbe es nicht familare Beziehungen engerer Art als die von Jutta Dittfurth erwähnte Familie des deutschen Adels (die ja weit in andere europäische Hochwohlmögendentümer hinein Blut gespendet hat), ich hätte keinen Sitz mehr in diesem blühenden Land, das derart verkohlt ist, daß viele gar nicht (mehr) sehen, was der Pfälzer alles an faulen oder künstlichen Blüten hinterlassen hat, beziehungsweise die meisten sich wohlfühlen in diesem mit Eigenschaften genannten Phrasen wie Leistung und Fleiß künstlich gegüllten Weltenfitzel.

* Ich hatte das Glück — als Sohn einer vom Wahn eines irren, von misanthropischen Träumen des biedermännischen Kunstwerks im Gesamten geplagten Kleingeistes eingedeutschten, aber zu fragwürdigen Zeiten nie das großdeutsche Reich betretenden Mutter und einem von Briten quasi unter der Dusche weg befreiten gelbsternmarkierten Vater, den es, weil er ein fröhlicher Herumtreiber war, mehr oder minder «zufällig» erwischt hatte — zu einem Zeitpunkt des Aufbruchs ins Land gekommen zu sein, als die Vernunft endlich begann, die Würde neu zu definieren, als deren etymologische Wurzel Wert weltlich zu werten: weg vom götterhaft bestimmten Herren- und Untermenschen, von der edlen Rasse des Deutschen und den Shmoks oder Nebbichs, als die alles andere galten. Dieser pfälzische Preßsack hat alles wieder planiert, was da an zarten Pflänzchen aus dem aufbrechenden Asphalt und Beton dieses versiegelten Landes hervorzusprießen begann; der Serientrailer zu Peter Lustigs Löwenzahn ist (hier in etwa) ein Symbol dafür, daß Pracht sich auch anders ausleuchten ließ denn als höfisches (Nach-)Geplappere oder militärisches Gerassle unter demokratischem Deckmantel.

Als ich in den Siebzigern von Berlin aus, wohin es mich nach deutschem Abitur in Skandinavien in den früheren Sechzigern, vermutlich der gemeinsamen elterlichen Zwanziger-und-dreißiger-Jahre-Schwärmereien wegen, gelockt hatte, über einige Stationen irgendwie nach München geriet, wollte ich sofort und rasch wieder weg. Die Stadt war bereits völlig verstrahlt von olympischem Glanz, der ganze Heerscharen von Provinzlern nach Isar-Athen und in trachtige oberbayerische Faschingskostüme gelockt hatte, daß vom tatsächlichen vereinzelten Charme dieser Provinzhauptstadt kaum noch etwas zu sehen war (heute glamourt auf diese Weise Berlin). Es gelang mir nicht auf Anhieb, wieder zu fliehen, die sich ausweitende Berufung ließ es nicht zu. Letztendlich trug sie jedoch dazu bei, daß ich doch fast dreißig Jahre blieb, das Ende kam erst um die Jahrtausendwende (wütender Abgesang), es wurde tatsächlich mitermöglicht durch die neuen Kommunikationstechnik eMail. Aber aus allem ergab sich eine Erkenntnis, die Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. Wenn man ohnehin ständig unterwegs ist, dann spielt es keine Rolle, wo die eigene Hütte oder Höhle steht, in die man sich zurückziehen kann. Tatsächlich bezog ich ein halbes Jahr, bevor Tschernobyl in die Luft flog, die Wohnung in einem Hochhaus, an dem ich jahrelang mit dem Gedanken vorbeigefahren war, darin nie wohnen zu wollen. Damit festigte sich die moralische, aber von den meisten nicht umgesetzte, also auch in mir bis dahin nicht wirklich oder ernsthaft verankerte Theorie, das rein Äußere habe keinen inneren Wert. Und richtig, ich durfte ins Innenleben dieses Hauses gehen, in eine der schönsten Wohnungen einziehen, die ich bis dahin gesehen hatte. Der Architekt des in den Anfängen der Sechziger errichteten Hauses hatte es nämlich geschafft, die positiven Eigenschaften der Bauhaus-Idee, die Idee des Neuen Bauens vom neuen, auch von mehr Kapazität geprägten Denken neu überdacht fortzusetzen. Es war also eine Wonne geworden, von meinen Reisen zu Renaissance-Pracht und (vor allem in den Palästen so manches Mal vermeintlicher) Kunst-Transparenz heimzukommen in meine von Helligkeit durchflutete, in schlichter Schönheit strahlende Höhle ziemlich weit oben.

Die habe ich jetzt auch in meinem Zuhause südlich und nördlich. Nördlich jedoch wirklich nur noch wegen der bereits erwähnten familiaren Bindungen, die mir, trotz oder möglicherweise gerade wegen meiner inneren Heimatlosigkeit viel bedeuten. Im deutschen Land komme ich kaum mehr herum. Meine paar Ausflüge nach Hamburg, Lübeck et cetera reichen mir völlig aus. Nicht nur die zusätzlichen Ausreiser aufs Land tragen zum Rest bei. Herbert Achternbusch hat es zwar vorgemacht: Dieses Land hat mich kaputtgemacht. Jetzt bleibe ich solange hier, bis man es ihm ansieht. Aber weder ihm noch mir ist es gelungen. Man sieht es ihm nicht an, daß es sogenannte Andersdenkende gibt. Ich weiß, daß es sie gibt. Aber ich sehe sie, seit ich aus meinem Elfenbeinturm Berufsleben heraus bin (was ich wahrlich nicht beklage, sondern mich erfreut, weil ich nicht mehr in diese Artistenzirkuskuppeleien reisen muß, in denen nur noch monetär geturnt wird), nicht (mehr). Bisweilen komme ich in Kleinstädte. Da fühle ich mich nahezu ausnahmslos wie in Lethes Freibrief von Herbert Köhler aus dem Jahr der anderen Wende, der des Jahrtausends, in dem er von Diogenes erzählt, «der am helligten Tag mit einer Laterne über die Athener Agora spazierte und gefragt wurde: ‹Was tust du mit dem Licht?› und dann erwidert haben soll: ‹Ich suche Menschen!› » Manchmal komme ich auch ins Krankenhaus, so kürzlich. Da hatte man mir, als ich, bereits kontrastmitteldepressiv leicht geschädigt, dem angiologischen Computertomographen entronnen war, einen um einiges älteren Herrn ins Zimmer geschoben, der zunächst keinerlei Anzeichen eines größeren Schadens erkennen ließ.

Sonnengebräunt war er, ebenso seine später zu Besuch kommende Gattin, noch vom letzten Türkei-Urlaub, dreimal jährlich mindestens mit dem Superbilligflieger von Blankensee aus, zu irgendwas müssen diese von Steuergeldern getragenen Flughäfen schließlich gut sein, und, von seinem altersbedingten Schmerz abgesehen, also guter Dinge. Und da man sich des gemeinsamen Schnarchens schon sicher ist, muß man sich auch besprechen. Daraus wird dann, wenn man einen Zuhörer hat, eine Rede. Zum Beispiel eine über die faulen Griechen, denen man's vorn und hinten reinschiebt, überhaupt diesem ganzen faulen Restpack im Süden Europas. Als dann meinerseits eine leise Gegenrede kam, nämlich die, er habe noch gar nicht irgendwem etwas irgendwo hineingeschoben, sondern das seien zunächst einmal nichts als Bürgschaften, da kam fast wutschnaubender Protest. Aber so höre und lese er es doch tagtäglich im Fernsehen und in der Zeitung. Ach ja. Ich habe mich dann aufs Private beschränkt. Nicht nur der junge Mensch des Medienzeitalters erzählt ja gerne von sich. So hörte ich zwischen den Zeilen heraus, welcher Abkunft er ist: gut versorgter, mit einer Witwenrente zusätzlich aufgebesserter vermutlich traditioneller sozialdemokratischer Hausmeister, dem die Juristerei seiner Gewerkschaft wegen eines Sportunfalls in jungen Jahren durch einige Instanzen zu einem weiteren Zubrot verhalf. Ein bißchen ließ ich ihn dann noch, bevor ich erschöpft die Ohren zuklappte, über das Gesundheitswesen schimpfen, an dem alleine die da in Brüssel schuld seien. Über die Ärzte der Universtätsklinik zu Lübeck schwieg er.

Von denen hatte eine gute Woche zuvor der Angiologe gesprochen, zu dem mich mein Hausarzt geschickt hatte. Der machte mir von vornherein unmißverständlich klar, daß er mich in keine dieser quasi staatlichen Krankenhäuser überweisen würde, sondern nur, der Versorgungsqualität wegen, in ein privates. Solllte ich eine Staatsklinik bevorzugen, dann müsse ich das selber in die Wege leiten. Das habe ich dann getan, wo ich sowohl die fachliche als auch die soziale Kompetenz von mindestens vier jüngeren Ärztinnen und Ärzten samt freundlichem, geradezu liebevollem Pflegepersonal feststellte. Mit allen hatte ich Gespräche, aus denen ich einmal mehr heraushörte, wie, nach meiner Sprach- und Denkgestaltung, unwürdig sie doch behandelt werden. Diese ungemein kommunikativen, im persönlichen Gespräch mit mir aufgeräumten, nachgerade fröhlichen Mediziner erkannte ich nicht wieder, als sie zur Visitenkarawane aufmarschierten. Die Köpfe zwischen die Schultern eingezogen, fast duckmäuserisch standen sie da und sprachen kein einzig Wort. Das hatte allein der Ober- oder auch Chefarzt, der mich nicht einmal anzuschauen in der Lage war, während er über mich, über meinen Körper redete.

Sechs Jahre, so erzählte mir der noch in der angiologischen Lehre befindliche angehende Internist, während er mir in geradezu liebevoller Handarbeit die nach der Operation sich nicht verschließen wollende Arterie mittels Kompression wieder dichtmachte, müsse er über seine «normale» Ausbildung hinaus ran. Auf rund zehn Jahre hochgerechnet habe ich's. Um dann als Facharzt während der Visite vor dem Chef zu ducken, der sich aufführt, als ob er von altem Adel wäre (wie diese Species sich im privaten Bereich verhält, habe ich in meinen jahrzehntelangen Erfahrungen mit ihnen häufig genug erlebt: wie jedes andere Lieschen und Fritzchen Müller auch). Da wundert sich mein in der Türkei sportiv gestählter Rentner, aber auch die täglich wegen eines Hüsterchens auf der Matte stehende Patientin von Frau Braggelmanns Chefin, daß die alle ins Ausland abhauen, weil sie dort wenigstens angemessen bezahlt werden. Aber davon, daß jetzt auch noch der letzte Rest des ursprünglichen Tafelsilbers an Investoren verhökert werden soll wie griechische Bunga-Bunga-Inseln an Berlusconis oder so, davon haben sie noch nie etwas gehört, geschweige denn gelesen, weil Information ihnen zu anstrengend ist. Die Universitätsklinik Lübeck, so las ich, soll nun, wie andere öffentlich-rechtliche Krankenhäuser auch, komplett privatisiert werden. Weg mit dem Rest des vom Steuerzahler finanzierten Eigentums in den Hals derer, die mit ihren grundseriösen Gewinnerzielungsbsichten ihn nicht voll genug kriegen können.

Das ist ja nun alles nichts neues. Aber dieses ewige Geschimpfe und Gegreine hierzulande, dieses ständige Schuldabschieben auf andere, diese, das ist das Allerärgste, diese gehorsam in diesen Kadavern steckende Schicksalsergebenheit, die macht mich fertig. Wird in Frankreich, in Italien, Spanien oder sonstwo zu recht gestreikt, weil ihnen diese ganzen weltweiten Wirtschaftswachstumskapitäne mit ihren politischen provinziellen Lotsen, die gerne auch ein wenig von diesem Glanz abhaben wollen, die Kähne auf Grund gesetzt haben, dann wird gemault, dieses faule Gesocks vernichte deutsche Kaufkraft. Um dann wieder mit dem koreanischen Dieselrennpanzer von Billigheimer zu Billigheimer brettern, um noch billiger Bio aus China einzukaufen. Und im Sommer düsen sie dann wieder nach Türkesien, um sich zu beschweren. Denn das können sie, das hat ihnen das Fernsehen, nicht nur das öffentlich-rechtliche, eingetrichtert, wie der Gans und der Ente den Maisbrei zu Weihnachten: Sie haben Rechte! Aber solche Sauereien essen sie ohnehin nicht. Denn das ist Tierquälerei. Im Gegensatz zum preisgünstigen, kiloweise nachhause geschleppten antibiotischen Geflügel, Rind und Schwein.

Vorhin rief mich Frau Braggelmann an und erzählte einmal mehr begeistert vom schönen Leben im Hotel. Seit einiger Zeit greift sie mein Genuß-Prinzip auf, nach dem es einem selbst und auch anderen wohler tut, sich selbst Gutes zu tun, zum Beispiel lieber etwas weniger zu nehmen und dafür Besseres. Und da sie ein freundlicher und überaus kommunikativer Mensch ist, kommt sie immer auch mit Menschen ins gute Gespräch, die Dienste leisten, weil es ihnen Freude bereitet, dienstzuleisten. Und wie das eben so ist, wenn man gerne von innen heraus ein höflicher Mensch ist und zuvorkommend und mit den Menschen auch ohne Gewinnerzielungs- oder sonstige Absichten dieser Art spricht und so gute Kontakte sich ergeben, dann kann's ohne weiteres geschehen, daß man zu Silvester zum Normalpreis in eine Suite eingewiesen wird. Wer andere als Personal behandelt, das gefälligst zu tun hat, was man fordert, wer als Möchtegern-Adliger den Diener braucht, den man anzublaffen gedenkt, dem wird's das Pauschaltouristenhirn vertrocknen.

Ich aber, ich habe den Kanal voll. Ich mache Schluß mit Achternbuschs Ansichten. Ich mache es auch nicht wie seinerzeit Franz Josef, der das Land verlassen wollte, um Ananas zu züchten in Alaska. Das klingt mir zu sehr nach Arbeit. Ich bin nämlich ein adoptierter Südländer, eine faule Sau, auch noch eine jüdische, und dann noch so eine durch und durch säkularisierte. Ich lege mich in die Hängematte. Aber nicht in diesem Land, in dem spätestens seit der vereinigten Kohl-Düngung definitiv keine Bäume mehr wachsen wollen, wo man sie festbinden könnte. In dem man überhaupt Hängematten nicht mag, weil sie eine Gefahr wider Fleiß und Ordnung symbolisieren. In dem man fränkisch arbeitssame Freiherren über alle Maßen schätzt, die zwar nicht einmal abschreiben können, dafür von edlem Blut sind. Wie hat mir gestern unser Jüngster erzählt, wie die Jugend mittlerweile spricht? Spieken heißt jetzt Gutenbergen.

* Gelbstern auf halbierter Verlegenheits- oder auch Notbehelfs-Kippah, hergestellt von einem handwerklich begabten, mehr oberbayerisch als katholisch, sich trotzdem keineswegs als Künstler verstehenden Steinmetz-Freund zur Veröffentlichung bzw. von Redaktionsmitgliedern handgefertigt als Beilage zu Referenz und Gedenken zweier Freunde und überhaupt in Laubacher Feuilleton 5.1993
 
Fr, 30.12.2011 |  link | (3386) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inneres


kopfschuetteln   (30.12.11, 22:19)   (link)  
ähm. "das letzte programm ist die erfindung des schweigens"? (heiner müller)

nicht, dass ich ihnen die hängematte nicht gönnte.


jean stubenzweig   (31.12.11, 19:18)   (link)  
«... wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.»
Ach, wissen Sie, die Hängematte ist ja nicht erst mit dem Älterwerden, sozusagen mit der Weisheit unter mich gekommen. Da wäre ich bereits als junger Mensch ein Philosoph gewesen. Nie lag mir etwas ferner, als mit «Stolz» zu verkünden, ein harter Vielarbeiter zu sein. Ich gestehe, manchmal viel gearbeitet zu haben, aber auch nur, weil es aus terminlichen, etwa drucktechnischen Gründen anlag, weil es sich nunmal so ergeben hatte. In etwas späteren jungen Jahren, als mir das Schicksal um des Überlebens willen das Töten zugeteilt hatte, war ich einmal einem noch jüngeren Mann untergeordnet worden, heute ein wohltuender Kinderarzt, der wegen einer hundsmiserabligen bayerischen Abiturnote etwa neun Parkstudien vom Forstwirt bis zum Kabelschleppassistenten «absolvierte» und den Rest seiner immer noch üppigen Zeit damit verbrachte, alle erdenklichen, von der Schwester aus den USA zugesandten Neuheiten wie Skate- oder Surfbord auszuprobieren, gelangweilt mit mir Tennis zu spielen oder das Geschenk seines Vaters, eines in dritter Generation, also in der Tradition des Landarztes Verwurzelten, einen Fiat 500 regelmäßig zwischen Murnau und Kohlgrub, einer damals sehr schmalen, kurvenreichen und huppeligen Strecke, an einen der zahlreichen Felsen zu setzen, ihn wieder zu reparieren, um ihn dann erneut an den Fels zu knallen und so weiter, bevor man ihn zum Medizinstudium zuließ, der also war es, der mir ein Prinzip vermittelte, das mich an das meines seinerzeit bereits seligen Vaters erinnerte: Immer konzentriert, aber nur das tun, was getan werden muß. Dann immer erstmal Pause.

Der also noch alles mögliche lernende junge Mann und ich akademisch bereits ordentlich Graduierter, wir befreiten gemeinsam — er im Ferienjob zwischen den Parkstudiengängen Sinologie und Maschinenbau bei seinen Onkeln, die eine gutgehende Kammerjägerei betrieben, ich als ein ins Boot Gehievter, der zwar bereits berufen war, aber davon nicht dauerhaft leben konnte, weil Verträge oft auslaufen, ohne daß sie, womöglich wegen angeborener Faulheit, auch in der goetheschen Verlängerung als Hilfslehrer für belgischen Adel verlängert werden — , die oberste Etage eines Hauses in der Münchner Altstadt von Käfern, die sich die zwischen Decke und Fußboden als Isolation eingestreute Mischung aus Erde und Stroh als ihre Welt auserkoren hatten und, wie das eben so ist bei Überbevölkerung durch ein insektenpäpstliches Verbot des Capote anglaise und wenn auch das allerletzte Halmrohr in der Raffinerie für andersweltliche, hier menschliche Fortbewegungsmittel verschwunden ist1, die ihre Erde tragenden Holzbalken auffraßen. Man hatte uns einen Lastenaufzug ins Fenstergebälk geklemmt, an dessen Seilen sich fröhlich turnen ließ, bis die von Passanten herbeigerufene Feuerwehr zu unserer Rettung kam, die allerdings nicht wssen konnte, daß es sich um Arbeit handelte. Wir transportierten damit nämlich die immer eine Stunde lang heftig in Eimer geschaufelten Käfer samt Restmüll (den Begriff kannte man seinerzeit noch nicht) nach unten. Dann war jeweils zwei Stunden Pause. Mein Freund, der auch im Mathematischen weit über seine schulischen Leistungen hinausragte, hatte errechnet, daß wir nach diesem Prinzip immer noch mehr leisteten als andere, die so den lieben langen Tag vor sich hinwerkelten. Angesichts dieser Arbeitsergebnisse sahen sich die obersten Kammerjäger veranlaßt, uns einen Lehrling zuzuteilen, auf daß er effektives und effizientes (ebenfalls ein damals noch nicht so verbreiteter Terminus der Betriebswirtschaftslehre) Arbeiten erlerne. Der hatte diese Effektivität derart verinnerlicht, daß er für die Zusammenarbeit mit anderen Notschlachtern von Ratten und Kakerlaken fortan nicht mehr zu gebrauchen war. Die anderen Tierbeerdiger hatten nämlich das System nicht verstanden und meinten, das hohe Anfangstempo des Kollegen sei von den Chefs auf Dauer angeordnet, und fürchteten, die zweite Brotzeit mit der inniggeliebten Lektüre ihres vierbuchstabigen Bildungsblattes nicht mehr erleben zu dürfen.

Gut, Anekdötchen eines Menschen, der neben dem Backen von kleinen Brötchen und dem Töten von nicht so nützlichen Tieren und Verkaufen von großen Bieren auf riesigen Tabletts mitten durch Touristen (Burschenschaftslokal, ich weiß nicht mehr, ob's der Rote Ochs war oder der Weiße Schwan oder so etwas ähnlich klingendes, auf jeden Fall in Heidelberg, wo ich kurzzeitig als angehender Philosoph, gleichermaßen als medizinischer Proband und fröhlicher Trinkgesell gastierte) und Betanken von Automobilen alles mögliche getan hat, um über die Runden zu kommen, nachdem der letzte monatliche elterliche und über lange Jahre sicherlich zu üppige Scheck verzehrt war; es ist schwierig, sich von viel auf gar nichts zu nivellieren. Später sollte ich ja dann gut, noch später sehr viel guter verdienen, bis es den Managern des Verlagshauses zuviel wurde und sie meinten, ich hätte doch nun wirklich das Ruhestandsalter erreicht, andere gingen schließlich viel früher in Frührente als knapp fünf Jahre vor dem Fünfundsechzigsten. Der eigentliche Anlaß ihres Aufbegehrens dürfte jedoch die Tatsache gewesen sein, daß die Jüngeren heutzutage nunmal alles für die Hälfte tun, was getan werden muß, um die hohen Gewinne nicht zu gefährden. Lange Jahre zuvor hatte ich dagegen anzukämpfen begonnen, daß unterbeschäftigte Nebenserwerbskunsthistoriker, allen voran von ihren steuer- und rechtsberatenden Gatten bestens versorgte Innen, für den damals noch nicht so berühmten Apple and'n I die Preise derer kaputt machten, die dafür zehn Jahre mit Assistenten in den Kellern der Universitäten Tischtennis spielen mußten. Ich habe zum Ende hin noch ein wenig gestritten mit den Herren und mir für die fünf entgangenen Jahre noch ein bißchen was geben lassen.

Sie konnten aber auch nicht wissen, daß ich bereits selber seit einiger Zeit darüber nachdachte, ob es nicht an der Zeit sei, aufzuhören mit dieser Raserei, die ich mittlerweile als fremdbestimmte Plackerei empfand. Ich hatte schon länger keine Lust mehr, zwischen eigenen Schreibtischen und denen anderer hin und her zu hüpfen und das zu korrigieren, von dem ich der Meinung war, es sei falsch. Manchmal war es nicht richtig, das lag aber sicherlich daran, daß ich so ganz tief innen nicht für das geboren war(d), was sich als Arbeit äußerte, weil's ein Tun für andere war. Ich wollte eigentlich immer nur das tun, was mir Spaß machte. Das konnte einen noch so erheblichen Zeitaufwand bedingen, als Arbeit kam es mir dann jedoch nie vor. Und so sitze ich heute herum und tue nur das, was mir Freude tut. Dazu gehört keinesfalls Rasenmähen und Unkraut jäten, jene Tätigkeiten, von denen beispielsweise meine Mutter immer meinte, es gehöre zu den Liebesdienereien eines potentiellen Erben. Da ich meine Mutter nicht liebte und das Dienern gleich gar nicht, habe ich früh darauf verzichtet. Ich kann Abhängigkeiten nicht ausstehen.

Heiner Müller, ja, unbedingt, ich bin ein Freund nicht nur seiner Literatur. Ich habe überhaupt früh relativ viel von Schriftstellern von drüben gelesen. Peter Hacks zum Beispiel schätze ich ebenfalls sehr. Aber vermutlich lebe ich Heiner Müller (hier ein kleiner Lesehinweis) eher noch in der Zeit seiner Hamletmaschine, die ich in den Siebzigern in Paris zu sehen das Vergnügen hatte, als ich noch ein Theatermensch war und mir mit großer Freude auch den zadekschen Hamlet oder seinen Othello sowie die zu dieser Zeit köstlich neuen Verrücktheiten anderer mehrmals gönnen durfte. Ich bin also weniger einzuordnen im Sinn von «selbstquälerischen Protokollen des Nicht-mehr-Schreiben-Könnens (Germania 3 )», wie's Wolfgang Engler schrieb. Aber ich bin schließlich kein Dichter, und schon gar keiner aus der DDR. Mir geht auch der historische Ekel ab, den Müller beispielsweise in Mommsens Block gehabt haben soll, in dem er, wie in Wikipedia zu lesen ist, «das vereinte Deutschland mit der römischen Kaiserzeit nach Cäsar» vergleicht und in dem er eine «Parallele zur eigenen Situation» sehe.

Ich bin ein Plauderer, und sei es einer des Dampfes. Deshalb habe ich von jeher am liebsten gefeuilletont. Vom Hundertsten ins Unenendliche kommen, nicht aufhören zu müssen oder sagen zu können, wie einmal Günter Metken, der einen «zu kurzen Text» geliefert hatte und auf die Bitte, zu verlängern, antwortete, ihm fiele dazu nicht mehr ein, weil er sich gerade Gedanken mache über den aktuellen Küchenplan, das ist es, was mir Freude bereitet, mir Spaß macht, das ich darf, nachdem ich nicht mehr auf Etikette und diplomatische Fußnoten achten muß, wenn sie auch von früher her Bestandteil meiner sind. Heute bin ich froh darüber, zum Beispiel auch mal einen krummen Satz über Heiner Müller abliefern zu können oder zu dürfen, ohne daß ich mich anschließend vor einem Experten-Gremium für Finanzwesen dafür rechtfertigen muß, dem zugetragen wurde, meine Äußerungen könnten dem Ruf des Haues abträglich sein. Hin und wieder kommen Anfragen bei mir an, ob ich dies oder das schreiben möchte. Dann lasse ich den Gedanken an Arbeit — und präzises Schreiben ist Schwerstarbeit — erstmal sich setzen, Pause machen, vorab Schreibblockade verhindern, die eintreten kann, jedenfalls bei mir, wenn ich mit einem Thema nicht zurechtkomme, und dann gegebenenfalls in die Tastatur greifen. Nachdem der Preis geklärt ist. Für lau arbeite ich nicht. Der Dekorationsmaler streicht mir sein Wändeweiß auch nicht umsonst hin. Also streicht auch das Verlagswesen nicht viel Geld ein für meine werte Tätigkeit. Wenn andere das tun, dann ist mir das zwar nicht egal, aber es soll mir wurscht sein. Wer sich selbst erniedrigt, der soll nicht durch Ruhm erhöht werden. Lieber tot als solche Not. Dann sollen sie eben auf die Barrikaden steigen. Die Luft da oben ist zwar frisch, aber gesund. Einmal einen Tag Generalstreik. Dann merken sie, wer die Arbeit gemacht hat. Bei mir gibt's nichts kostenlos. Mal mehr, mal weniger, je nach Kassentstand. Und sei's in der Naturalienregelung. Ich schreibe auch für Wein und Schinken. Geldwert heißt das in der Sprache der Finanzbeamten. Kostenfrei geht's nur auf diesen Seiten hier. Die sind für mich und meine Freunde. Aber nicht solche der Species zwitschernde Followers. Eher für die, die meinem leisen, wirren Getöse zwischen den Zeilen folgen wollen. Nun gut, ich bin Privilegierter, weil ich nicht mehr muß.

Das ist das Schöne am Älterwerden (wobei ich die Gnade der früheren Geburt keineswegs vergesse, die es uns leichter gemacht hat, beruflich sanft zu landen) — ich darf wieder zurück auf den Spielplatz. Eigentlich müßte ich sagen, ich darf endlich auf ihn. Denn als Kind hatte ich keinen, da mußte ich immer nur brav sein und Bücher lesen und durfte selten spielen, und schon gar nicht mit anderen, Fußball zum Beispiel. Geselligkeit. meinte meine Mutter, mein Vater hielt sich raus bei der Erziehung des ganz jungen Jungen, sei der geistigen Entwicklung nicht förderlich. Womit auch geklärt sein dürfte, welche Summen der Psychotherapeut in Miami Beach an mir hätte verdienen können, wäre ich nicht bereits als junger Mensch davor davongelaufen, als Onkel und Tante bereit waren, zu zahlen.

Mir mangelt es auch an pädagogischem Ehrgeiz. Zwar habe ich mich, da es als Angebot an mich herangetragen wurde, auch als Hochschullehrer betätigt, aber angestrebt habe ich es nie. Ohnehin dürfte ich bei dieser Tätigkeit mehr gelernt als gelehrt haben. Das mag an meiner Neigung liegen, am liebsten mit mir genehmen Menschen gesellig an einem großen Tisch zu setzen und zu plaudern. Dort, wo ich zugange war, in Lateinamerika, war das möglich. Wenn ich mir den hiesigen, vor allem den heutigen Hochschulbetrieb anschaue — und das tue ich hin und wieder, zumal ich einige dort tätige Freunde habe —, dann überkommt mich die Furcht vor einem bösen Ende, denn das, was dort vermittelt wird, werden muß, ist von meinem Bildungsverständnis zu weit entfernt — eben so weit wie das Studium in den sechziger und siebziger Jahren von der aktuellen oder auch gesellschaftlich zwang-, ja krankhaften Verlängerung der Schule zugunsten des Wirtschaftswachstums. Aber solange das Volk das alles hinnimmt, muß das wohl seine Ordnung haben.

Aber ich bin da raus. Ich streike nicht mehr und gehe auch auf keine Demonstrationen mehr. Jedenfalls nicht, weil ich kaum noch gehen kann. Rechtsrheinisch nicht mehr, etwa bis zu Oder und Neiße. Woanders ginge ich auch auf Krücken. Aber die hier, die machen mir zu sehr brav immer alles, was ihnen Frau Merkel samt Entourage befehlen. Bald dürften, sage ich's salopp, auch zwischen Rhein und Polen ungarische Verhältnisse herrschen.

Ich motze nur noch. Nennen Sie's meinetwegen Resignation.

Gestern abend habe ich den Jahresrückblick von Urban Priol gesehen und gehört. Passagenweise hatte ich im nachhinein den Eindruck, ich hätte bei ihm sozusagen vorab gegutenbergt.


kopfschuetteln   (02.01.12, 21:46)   (link)  
ich muß mir das, wollte ich darauf angemessen antworten, erst ausdrucken. ich bin einfach unfähig, das am bildschirm zu "verdauen". nur kurz so viel, das hab ich jüngst festgestellt, beim programm im tv - im ritual der dauerwiederholungen anläßlich einschlägiger festtage - daß mir der motzki fehlt (ein kurzes lob auf youtube, obwohl ich via internet am allerliebsten radio höre).
#
ich will es gar nicht bennenen. ich hatte nur die sorge, sie würden aufhören, uns ernsthaft zu unterhalten.
#
das bloggen: mißverständnisse inbegriffen.
#
gegutenbergt ist seit anno 2011 realsatire.















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