Handgeschriebene Scham

Einem an mich adressierten DIN-A4-Umschlag liegt neben einem handgeschriebenen Brief ein ebensolcher bei, dessen Urheber ich an der Handschrift sofort erkenne. Der eine bin ja ich. Meine Güte, wie lang liegt das zurück, als ich das verfaßt habe? Dreißig Jahre? Vierzig? Dann sehe ich es: letzteres ist der Fall.

Meine Schrift hat sich mehrfach geändert im Lauf der Jahrzehnte. Früher ragte sie gerade auf, fast weiblich anmutend; wie meine kindlichen Puppenspielereien. Das waren wohl die mütterlichen Einflüsse, diese nahezu unleserlichen, aber wunderschönen, von der Literatur besessenen und von der Vielschreiberei geprägten Abstraktionen dessen, das andere eine mißratene Aneinanderreihung von Staben nennen würden. Ich konnte es entziffern, lesen, sehr früh schon. Später kippte sie nach rechts, die meine, und wurde wesentlich kleiner, bekam wohl einen leichten Sehnsuchtsdruck von der sanfteren Seite, gleichwohl sie sich disziplinierte, sich den raumsparenden väterlichen Aufzeichnungen aus dessen Gesteinswelten näherte, in die ich ihn als sein ihm nacheifernder Sohn manchmal begleiten durfte, wenn es nicht allzu weit weg und hoch oben war in herz- und hirnbelastender dünner Luft. Bei dieser Form ist sie letztlich angekommen, wenn sie auch an Volumen zugenommen hat. Eine Synthese aus den Handschriften beider. Aber auch ein sich immer wieder wandelndes Bild der Schrift, Zeichen von Wankelmütigkeit und Zerrissenheit. Denn zwischendrin muß da immer wieder das ständige Mahnen der Mutter an Höhe und Größe am Tor zur inneren Prägung gerüttelt haben, Erhabenheit: steil nach oben, hoch hinauf.

Aber auch das gesamte zur Verfügung stehende Gebiet in Beschlag nehmend. Extrem hoher Papierverbrauch. Das jetzt hier und nach so langer Zeit vorliegende Bündel besteht aus Luftpostpapier; war das nicht vorhanden, habe ich ersatzweise das immer auf Lager befindliche Durchschlagspapier genommen. Ich erinnere mich: Die oftmals geschriebenen rund dreißig und auch schonmal mehr Seiten des normalerweise benutzten hellgrauen 120-Gramm-Papiers hätten jeden zu dieser Zeit üblichen Brief in ein portoteures Paket verwandelt.

Der Absender des an mich gerichteten und meinen Brief begleitende Brief ist ein Studienfreund. Dessen Mutter ist vor einiger Zeit hochbetagt gestorben; ihr Tod war Gesprächsstoff für viele Stunden. Sie war für mich das, was ich mir von der meinen immer gewünscht hatte: zwar nie unkritisch alles hinnehmend, aber immer sanftmütig differenzierend. Sie hörte mir zu, ob als vis-à-vis — zu ihr fuhr ich die vielen hundert Kilometer, so oft es mir möglich war — oder als Adressatin meiner Briefbomben. Und nie blieb sie, die alles andere als unterbeschäftigt war, mir eine Antwort schuldig. Zwar keine dreißig Seiten lang, aber immer ausführlich genug. Auch hörte sie sich meine jugendlichen Träumereien geduldig an. Nie vernahm ich aus ihrem Mund etwas von irgendeinem Ernst des Lebens. Wer unbedingt ein Dichter werden wollte, der würde es auch.

Daß ich keiner werden würde, diese frühe Erkenntnis mag sie still in sich hineingelächelt haben. Auch oder gerade dann, als ich ihr den langen, sehr langen Brief geschrieben hatte, der nun vor mir lag, da der Freund ihn im Nachlaß entdeckt hatte, in dem und mit dem ich mich als solcher präsentierte. Alleine etwa die zwanzig Seiten, zwar von mir geschrieben, aber nicht erdacht. Abgeschrieben aus dem Buch einer Schriftstellerin, die mein Vater mir in jungen Jahren mal empfohlen hatte, da sie auf eigenartige Weise Heimat und Vergangenheit vermittle, und von der ich deshalb wohl meinte, die kennt doch kaum jemand, das merkt doch niemand. Auch nicht die Befürworterin meiner dichterischen Zukunft, der ich mein Talent beweisen wollte.

Später habe ich einiges und gerne gelesen von dieser dann bedeutenden und zu recht gepriesenen Autorin, die erst mit knapp vierzig Jahren schriftstellerisch tätig wurde und der ich halb so alt mich so nahe fühlte, daß ich ihre Worte für die meinen ausgab. Aber dieser Brief an meine mütterliche Muse war wie der einstmals enge Kontakt zu ihr schon lange in der hintersten Erinnerungshöhle verschwunden. Ich weiß nicht mehr, ob ich es damals nicht wußte oder ob ich es meiner spätzünderischen Naivität schlicht ignoriert hatte. Sie war, so die leicht spitze Randbemerkung des Freundes, bevor sie sich Menschen wie mir, ihm als Sohn und anderen psychisch leicht deformierten Studenten zugewandt hatte, zwischendrin mal Lehrerin an einem Gymnasium. Für Literatur.

Ich war mir nicht im klaren darüber, daß man auch im fortgeschrittenen Alter noch schamesrot in einem Mauseloch verschwinden kann.
 
Di, 14.10.2008 |  link | (1758) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inneres


hap   (14.10.08, 12:11)   (link)  
"Wer unbedingt ein Dichter werden wollte,
der würde es auch. Daß ich keiner werden würde, diese frühe Erkenntnis mag sie still in sich hineingelächelt haben."
Vasteh ick nich: Biste denn keiner geworden? Wenn du glaubst, keiner geworden zu sein: Wer oder was definiert denn nen Dichter? Dass er reimt? Dass er g u t schreibt? Heh, da kann ich dir eine Menge Namen aufzählen von Leuten, die glauben, Dichter zu sein, und die nach meiner Meinung schlecht schreiben. Also nu mach mal halbang. Im Übrigen: Hat "Dichter" nicht etwas Abfälliges? Zu Hochzeiten von "Schumann's" Bar hieß es immer abfällig, "ah, da kommt wieder der Dichter". Ich ziehe das weniger belastete "Schreiber" vor. Neulich hab ich gelesen, dass sich Peter Handke auch so bezeichnet. Vielleicht hat er ja meine Website angeklickt ...
hans-pfitzinger.de


jean stubenzweig   (14.10.08, 15:50)   (link)  
Wahrscheinlich
dachte die mütterliche Muse insgeheim, traute es sich aber nicht zu formulieren, wie's die Büddenwarderin und damit auf röhrigem Holozänisch tut: Gas, Wasser, Scheiße.

Andererseits frage ich mich dann doch:

Ist ein Dichter nicht doch der,
der reimen tut, oder wer?

Sowas wollt ich schon werden, so einer, der noch dazu auf Hexenmetern flach ausgerolltem Holz die südlichen Weltenmeere durchpflügt, sich nie vor irgendwelchen Zwillingen fürchtet und dann in einem Hain und in den Armen wohllieblicher Weiber anlandet. Irgendwie so. Und das bin ich ja dann auch nicht geworden. Sowas wie Herr Handke vielleicht. Aber der hat andererseits ja auch nicht gereimt und noch nichtmal den Nobel-Preis ...

Ich hab schon lange und ausführlich geverst, das kann ich Dir sagen! Soll ich's vorlegen?

Nein, lieber nicht.


hap   (14.10.08, 22:13)   (link)  
Soll ich's vorlegen?
Inständige Bitte: Nööö. Aber ich kann's schon nachvollziehen. Wenn einer sich aufmacht, Dichter zu werden, hat er ja die Hochachtung vor "dem" Dichter durch Kinder- und Jugendjahre mitgezogen. Als ich meinem Vater erzählt habe, ich würde fortan als Journalist tätig sein, war seine Spontanreaktion: "Ah, Dichter willst werden? Da sind wir ja nicht so weit auseinander. Ich wollt mal Pfarrer werden ."
Das lass ich mal so stehen. Und melde mich wieder, wenn mir was einfällt. Übrigens: tazblog hat Betriebsurlaub, aber falls du was über "Performativität" erfahren willst, klick mal an!
Schöne Tage!
P. S. "Wenn ich gewusst hätte, dass die Weiber mit Dichtern noch lieber bumsen als mit Schäferhunden, wär ich schon viel früher einer geworden."
Wer wohl? Charles Bukowski.
P. P. S.
I'm a poet
I know it
(Bob Dylan)


jean stubenzweig   (15.10.08, 00:45)   (link)  
Solche Sätze,
lieber Hans, diese da:

«Seit Filesharing, MP3 und Internethypes die Musik bestimmen, sind die Auratiker wieder dran, die ein Publikum durch ihre Performativität überzeugen, während die Plattenaufnahme ihren Wert verliert.»

oder ähnliche habe ich auch (ab-)geschrieben, als ich noch auf der Penne war und berühmt werden wollte. Na gut, «Filesharing, MP3 und Internethypes» vermutlich eher nicht, «Performativität» hätte der Lehrer auch nicht durchgehen lassen (wie noch vor fünfunddreißig Jahren Frau Redakteurin «Realistik»). Aber auf jeden Fall hätte der Pennäler mittels anderer aufkommender Wörter und Begriffe auf diese Weise Eindruck zu schinden versucht.

Ich verstehe, da braucht man eine Pause von der taz. Erhol' Dich gut.


mark793   (14.10.08, 23:21)   (link)  
Autsch!
So gesehen war es fast ein Glück, dass ich nie den Drang hatte, es jemandem beweisen zu müssen, dass ich zum Dichter (ich hätte wohl eher gesagt: Poeten) berufen sei. Wohl schmierte ich schuleschwänzenderweise in einem übel beleumundeten Café pseudoexpressionistische und jeder äußeren Form radikal entkleidete düstere Dichtungen zusammen. Aber meine eigentliche Berufung sah ich zu jener Zeit eher darin, ein Rockstar zu werden und früh das zeitliche zu segnen, wie sich das für eine Legende gehört. Wie wir heute wissen, klappte weder eins noch das andere. So ernsthaft habe ich es auch gar nicht versucht, das mit dem Rockstar. In ein frühes Ableben investierte ich schon einiges, aber das soll hier nicht weiter interessieren. Um mich - sei es in Vers, Prosa oder Tonsetzung - mit fremden Federn zu schmücken, wäre ich schlicht zu eitel gewesen und zu sehr vom epochalen Wert der eigenen Ergüsse überzeugt.

Ich weiß gar nicht mehr, vor welchem Umzug ich die ganzen handgeschriebenen Elaborate der Altpapierverwertung überantwortete. Vielleicht würde ich, heute unvermittelt damit wieder konfrontiert, auch einen veritablen Scham-Schock bekommen.


jean stubenzweig   (15.10.08, 00:24)   (link)  
Die Vergangenheit
ist fies und hinterhältig. Manchmal wartet sie Jahrhunderte irgendwo im Verborgenen, um einen dann irgendwann einzuholen.

Aber sehen wir's positiv. Meine Büddenwarderin würde sagen: Es gibt keine Zufälle. So lese ich eben wieder Narraute. Dann bin ich nicht mehr so überrascht, wenn sie posthum den Nobel-Preis – ach, das geht wohl nicht, die schießen ja keine Leichen auf den Dichterhügel.

Sie liest sich völlig anders als früher. Irgendwie scheint auch sie älter geworden zu sein. Und sie hat auf diese Weise ihren eigenen Mythos zerstört. Wäre sie in ihrem Vergangenheitsversteck geblieben ...

Ach ja: Ein berühmter Musiker wollte ich auch mal werden. Aber das war vor der Dichterzeit.


jean stubenzweig   (15.10.08, 10:34)   (link)  
Musiker
meint: auf jeden Fall was leiseres als die Callas, die als einzige bei uns zuhause laut werden durfte und die mir ein wenig schon meine Kindheit vergällte. Arg vergällte. Und damit also auch nichts mit Rock.

Röcketragende Musikerinnen sollten mich dann allerdings sehr wohl begleiten. Und die durften dann auch mal lauter werden. Aber erst später. Als ich in die Jahre kam, bäumte laute Lebenslust sich in mir auf.















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