Männer. Väter. Ein Wutausbruch. Ich finde Männer todsterbenslangweilig. Und sie mich sicherlich ebenso. Ich tue mein mangelndes Interesse an ihnen ja häufig genug kund. In letzter Zeit merken sie es nicht mehr so, da ich kaum noch hinausgehe. Genau. Sie merken nix. Mit euch Mädels kann ich fast immer über fast alles sprechen. Ihr hört zu. Ich lerne von euch, zuzuhören. Manchmal merkt ihr euch auch was. Nein. Sogar viel. Ich weiß schon, weshalb ich nicht nur gerne unter Frauen bin, sondern mit Vorliebe auch mit ihnen arbeite. Eure Intelligenz ist offensichtlich. Aber ihr tragt sie nicht vor euch her wie eine Standarte der Intellektualität. Wenn ich mich — mal wieder — wegen meiner miesen Laune schlecht benommen habe, kann ich mich entschuldigen, und es geht wieder. Männer empfinden alleine meine häufige Abwesenheit bei ihren Veranstaltungen als persönliche Beleidigung. Frauen fragen mich nach den Gründen meiner Absenz. Ich kann ihnen sagen, daß mich nicht nach der sich ständig wiederholenden Welt da draußen gelüstet. Sie verstehen es. Manche erkunden sogar vorsichtig, ob mich nach einem Gespräch dürstet. Wenn ich Autorinnen vermittle, was mir an ihrem Text nicht so gut gefallen hat, liest sich das in der Regel beim nächsten Mal weitaus besser. Männer rühren denselben Quark erneut an. Keine Zeit und so. Und kicken sich — jedenfalls bei mir — so selber raus. Anderswo dürfen sie meistens denselben Sermon wieder abgeben. In leichter Abwandlung eben. Seit dreißig Jahren ein einziges Selbstzitat. Und es wird gedruckt. Anderswo. Während die Mädels zunehmend das Terrain erobern. Mit Recht. Weil sie nachdenken, sich auch schonmal neue Gedanken machen. Zuverlässig sind sie auch noch. Jedenfalls weitaus mehr als Männer. Die können zwar einen Plan entwerfen, ihn aber nicht einhalten. Frauen fragen sich vermutlich — weitaus vernünftiger —, wozu brauche ich einen Plan, wenn ich ihn ohnehin nicht einhalten kann? Dann stelle ich fest, daß dies die wahre, die richtige, die einzige Logik ist, muß herzerfrischt lachen, nenne einen neuen, einen letzten Termin. Das funktioniert dann meistens. Meistens. Und: In einem Punkt bewundere ich euch Frauen nachgerade, weil ein Mann das nie hinbrächte: Kinder in die Welt setzen und aufziehen und dabei auch noch lieb sein zu ihnen — und trotzdem beruflich alles auf die Reihe kriegen. Ich frage mich so oft: Wie schafft ihr das eigentlich alles? Nun gut. Manchmal schafft ihr es eben nicht. Ich kenne da so einen Fall aus meiner Familie. Aber da ist ja auch ein Vater in die Kinderlosigkeit einer anderen geflohen. Doch die meisten Frauen, die ich kenne, schaffen das dennoch. Und ich erstarre in Ehrfurcht dabei. Die Väter. Daß sie jetzt mit dem Kinderwagen auf die Straße gehen und sich nicht mehr schämen müssen — und es oft genug dennoch tun? Das bißchen Windelnwickeln. Wir haben das — vor und nach der sogenannten Revolution — längst getan. Also vor über vierzig Jahren. Und andere vor dieser Zeit. Was ist denn schlimm an Kinderkacke? Wir haben sie doch allesamt mal selber produziert. Und ich sehe auch, wie sie ihre Kinder auf dem Arm halten. Möglicherweise liegt es in der Natur der Sache, daß eine Mutter ihr Kind näher an sich dran hat, als ein Mann das spüren und somit zeigen kann. Aber häufig genug sieht es aus, als ob man ihm ein Stück Gummi in die Hand gedrückt hat, mit dem er nicht weiß, was er im Heimwerkerstall damit anfangen soll. Und wenn es sich mal anders ergibt, macht er gleich wieder 'ne Riesen-Performance draus. In einem südlichen sehr großen Dorf voller schöner Menschen lebt ein Schauspieler — so ein Dauerlutschergesicht, das aus einer einzigen Einstellung besteht: schöner männlicher Mann sein. Der ungern an seine Vergangenheit als der Pimpf erinnert wird, der mir mal beim Theaterfestival aus einem Zelt entgegengekrochen kam. Der also immer so tut, als ob er bereits als Filmstar der dreißiger Jahre auf die Welt gekommen wäre. Ständig so'n cooles Kameragesicht. Dieser Mann wurde Vater. Das sah aus, als ob das Kind aus ihm, aus seinem Waschbrettbauch herausgekrochen wäre. Er hat es quasi ständig in die Kamera gehalten — auf daß man sein Gesicht sehe. Das Gesicht des Vaters! Und wenn man ihn genau beobachtet hat, dann hat man's, habe ich's gesehen: Sobald das Interesse an dem schönen Mann als Vater erlahmt war, hat er das Kind der Mama in der Arm gedrückt — hier nimm. Hab keinen Bock mehr. Alles Schau, kein wirkliches Interesse am Kind. Und die andere Version: ab und zu mal sonntags auf die Wiese und in den Zoo mit den Kleinen. Sonst ist ja keine Zeit, weil sie bis in die Nachtstunden Karriere machen müssen und am Abend die auch noch mit nach Hause bringen. Ich kenn's, wie erwähnt, aus der Familie. Und nicht nur von dort. — Es nutzt doch nichts, wenn sie mit dem Bündel nichts anfangen können. Später Auto- und Fußballspielen und was sonst noch alles, was Männer unter sich so tun. Deshalb immer Jungs haben wollen. Wer seiner Frau Entfaltung gegönnt hat, dem hat es auch früher nichts ausgemacht. Es gibt genügend Beispiele. Ich will jetzt nicht schon wieder von der eigenen Familie erzählen. Denn auch aus anderen Ecken kenne ich viele Fälle. Und ältere! Wirklich ältere. Das hat es immer gegeben. Es ist alles eine Frage der Gesinnung. Und Windeln gewickelt haben Männer früher eben auch. Sehr viel früher, als gemeinhin angenommen wird. Es wird nur nicht darüber gesprochen. Mir ist nie klar gewesen, weshalb so etwas überhaupt diskutiert werden muß. Ein Nachtrag
Eine einzige Welt wollten John Cage und die anderen Künstler, diejenigen jedenfalls, die sich ein paar Gedanken gemacht haben über das, das sie tun. Sie hatten eine erstrebenwerte Welt begründet. Etwas sehr frei betrachtet, wären sie deren eigentlichen Schöpfer, so es sie denn gäbe, die oder den Weltgestalter. Diese Kunst-Welt, sehr frei und im Sinne der Bewegung fließend beschrieben in S. D. Sauerbiers EurOpa, ach EurOma, benötigt keine Staaten. Da sind wir beieinander, lieber hap, da sind wir sicher (Nicht-)Mitglieder, da sind wir eine Welt. Aber die meisten wollen sie nicht. Denn was dieses Kunstkroppzeugs seit den ausgehenden fünfziger Jahren produziert hat, wurde ja in der Regel so radikal abgelehnt wie es eben die(se) Kunst war: Fluxus. Lauter Spinner. Anarchisten, meinetwegen. Hier wird einmal mehr deutlich, wie notwendig sie für die Gesellschaft sind, diese Verrückten, die lediglich von ein paar ganz wenigen gerne und zu recht Visionäre genannt werden (etwa im Gegensatz zu den Kunstmarktkunstkünstlern). Es nutzt nur nichts – sie wollen nicht eine Welt, diese, auch hier sind wir uns einig, «Idioten [...], die immer noch im 19. Jahrhundert verharren und den Nationalstaat als Ausweg sehen». Darüber hinaus, vergessen wir es nicht: das heutige sogenannt Vereinigte Europa entstand nicht etwa aus idealistischen Gründen, eine grenzenlose Freiheit zugunsten des Andersdenkenden ward nie angestrebt. Mag es heute auch Europäische Union heißen, nach den ersten Anfängen hieß sie Europäische WirtschaftsGemeinschaft – nach Schuman-Plan et cetera. Man könnte es auch nennen: Kohle zu Kohle oder Hart wie Kruppstahl. Was da in Palästina vor der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts begann und nach Ende des zweiten Weltkrieges radikal umgesetzt wurde, war die tiefste Überzeugung der Europäer und deren Helferlein, die das seit dem Mittelalter (siehe Lessing und zuvor Boccaccio) geübt hatten. Einfach nehmen, im konkreten Fall die Landnahme verordnen. Das hatten sie drauf. Es war eben die einfachste Lösung. Erst vertreibt man sie (und andere) jahrhundertelang allüberall, um sie dann, als man sich nicht mehr zu helfen weiß und möglicherweise auch, um von den eigenen, leicht euphemistisch formuliert, Unzulänglichkeiten oder auch der Erinnerung abzulenken, die auf die eigene Praxis des Menschen-Halali verweisen könnte, dorthin zu verpflanzen, wo nach der, so nennen wir sie heute, Fundamentalisten Meinung ihre Heimat ist. Die Einheimischen wurden nicht gefragt, da sie nach der damaligen Einstellung und bis heute anhaltend ohnehin nichts zu sagen hatten beziehungsweise haben. Richtig: Wir bräuchten keine (National-)Staaten. Zumindest sollten wir in den vorhandenen alle ihre Religion – und um was anderes handelt es sich nicht – in Frieden! ausüben lassen. Wenn's denn unbedingt sein muß. Ein gestrenger Laizismus wäre dabei allerdings unabdingbar. Das wäre dann der Anfang zu einer Welt (die wir auch schon früher hätten haben können). Aber dagegen zu stehen scheinen bestimmte Religionen, zumindest deren jede Vernunft ablehnenden Fundamentalisten. Und vielleicht noch ein bißchen mehr. Und jetzt haben wir die Politik. Das Bild oben rechts zeigt den Ausschnitt einer Photographie von Johannes Muggenthaler, die dessen Roman Regen und andere Niederschläge oder Die falsche Inderin quasi begleitet und eine meiner Wände ziert. Die «Sonne» stammt nicht von ihm. Sie wurde von meinem Blitzlicht verursacht. Die korrekte Ablichtung ist auf der oben verlinkten Seite des Weidle-Verlages zu sehen.
Des Hanseaten Höflichkeit Vor langer Zeit — die Vorstellung, eines Tages tatsächlich mal mit einem heimatlichen Bein auch in Norddeutschland zu stehen, war noch unvorstellbar — probierte ich in Hamburg aus, was in anderen Städten längst zu einer meiner liebsten Beschäftigungen gehörte: das Erfahren der schönen Hansestadt mithilfe der Autobusse. Einfach irgendwo einsteigen, ebenso irgendwo umsteigen, gerne mehrfach, und im Irgendwo ankommen. Angekommen, um einen Besuch zu machen in der Kunsthalle und bei anderen Freunden, war ich damals aus dem Süden Frankreich angereist, der alleine deshalb ein angenehmer Aufenthaltsort ist, da dort eine Höflichkeit im Umgang miteinander gepflegt wird, die das Leben nicht nur erleichtert, sondern nachgerade als lebensverschönernd bezeichnet werden darf. Eine sachte Berührung reicht aus, auf daß der Mensch, der den unfreiwilligen Körperkontakt hergestellt hat, sich zu einem hindreht, einem in die Augen schaut und sich dafür entschuldigt, und sei es nur mit einem schlichten Oups, Oh ! Pardon, Monsieur. In deutschen Städten, in kleinen oder großen, gehört das nicht unbedingt zum Alltag. Nicht nur, daß man keinen sonderlichen Wert auf Abstand legt, sondern, beispielsweise an Kassenschlangen, das Nachrückerprinzip auf engstem Raum bevorzugt, auch wenn nur drei Leutchen anstehen, und es so durchaus üblich ist, dem Vordermenschen seinen heißen Atem an den Hinterhals zu hauchen. Das wäre noch das Geringste. Noch weniger Freude kommt allerdings auf, wenn man den Einkaufswagen in die Hacken gefahren bekommt und sich dafür zu entschuldigen hat, daß man im Weg herumsteht. Das hat Tradition im Land der rigiden Reglementierung mit der vermutlichen Wurzel Kadavergehorsam, in dem der Autofahrer unbedingt eine durchzogene weiße Linie benötigt, um seine Fahrspur einhalten zu können, in dem man ein Knöllchen bekommt, wenn man sein Gefährt nicht exakt innerhalb der Markierungen abstellt, in dem eine höfliche Ansage, sei es im Kaufhaus oder am Telephon, klingt, als kämen die rhetorisch nach Wünschen Fragenden geradewegs aus einem juristischen Repetitorium. Als ich damals bei meiner Erkundungsreise mit dem hamburgischen öffentlichen Nahverkehr tatsächlich im (N)Irgendwo gelandet war, weit draußen am Rand der Stadt, an einer Endstation und ich als übriggebliebener Fahrgast sitzenbleiben wollte, da ich keine Lust verspürte, diese triste Einfamilienhaussiedlung auf ihre Freizeitmöglichkeiten hin zu untersuchen und wieder mit zurückfahren wollte, wurde ich höflich aufgefordert, den Bus zu verlassen. Es sei leider Vorschrift, und die müsse eingehalten werden, meinte der Fahrer. Meine weit ausholende Handbewegung in Richtung des Pladderregens draußen vor der Tür quittierte der Chauffeur mit einem mitleidsvollen Nicken und einer Entschuldigung. Er bat mich, dennoch auszusteigen und um Verständnis, der Fahrer, er befahl nicht. Gerne würde er mir drüben an der Abfahrtstelle die Tür öffnen und mich wieder einsteigen lassen, auch wenn das ebenfalls gegen die Vorschrift verstoße, denn er müsse seine Halte- und Pausenzeiten einhalten, aber hier draußen am Ende der hanseatischen Welt sähe das ja kein Vorschrifteneinhaltungskontrolleur. Sagte es, ich stieg aus, er fuhr einmal im Kreis herum und ließ mich ins Trockene. Nachdem wir beide eine viertel Stunde später wieder losgefahren waren, kam von etwa hundert Metern her wild fuchtelnd eine mittelalterliche, nicht unbedingt als potentielle feierabendliche Beschäftigung für einen durchaus gutaussehenden städtisch Uniformierten erkennbare Frau angerannt. Sie wollte auch mitfahren, der nächste Bus wäre etwa fünfundvierzig Minuten später angekommen. Wieder mißachtete der Fahrer die Vorschriften, hielt an, öffnete die Tür, begrüßte die Mitreisende mit einem freundlichen hamburgischen Scherzchen und setzte die Reise in Richtung, sag ich mal, Blankenese fort. Das kannte ich nicht. Anderswo öffnete einem niemand die Tür, um ins Trockene zu gelangen, oder unterbrach gar seine Fahrt, um Heraneilende doch noch mitzunehmen. Im Gegenteil. Oftmals hatte ich das Gefühl, der Vorschriftenstoiker am Volant wartete, bis die Abgehetzten am Bus angekommen waren, um kurz vorher die Tür zu schließen und abzufahren. — Doch, selbstverständlich kannte ich es. Aber nicht aus deutschen Landen (sehe ich mal von der französischen Exklave ab, in die ich mein deutsches Büro einpflanzen durfte). In Frankreich gehört es zum Alltag. In Marseille stehen sogar häufig freundliche Menschen an Haltestellen und stellen ihre Hilfsbereitschaft zur Verfügung. Nicht nur einmal habe ich es erlebt, daß in Paris einer dieser städtischen Rennpiloten aus voller (An-)Fahrt in die Eisen gestiegen war, um Zuspätgekommene mitzunehmen. Ein solches Verhalten deckt sich mit dem erwähnten Umgang miteinander. Ernstgemeinte Freundlich- und Höflichkeiten vermögen die Tristesse des Alltags aufzuhellen. Es sind nicht nur die Hamburger, sondern durchaus auch die anderen Menschen aus dem gesamten norddeutschen Raum, jedenfalls dem bundesrepublikanischen, die menschenähnlicher miteinander verkehren. Zumindest verbal. Seit dieses eine Bein dort drinnen steht, hatte ich immer ein bißchen Frankreich-Gefühl. Und wie dort im Südwesten sind sogar die vielen kleinen Straßen, jedenfalls in Schleswig-Holstein, bis hin zu schlagloch- oder altpflasterübersäten Feldwegen frei durchfahrbar. In Bayern beispielsweise ist das nicht auszudenken, da ist eigentlich alles gesperrt, da dürfen allenfalls Bulldoggen oder Milchlaster durch. Und will man die Abkürzung trotzdem nehmen, muß man für die Privatstraße entweder Maut entrichten, oder es steht immer einer hinter einem Baum, der Anzeige erstattet wegen Übertretung der Straßenverkehrsordnung oder Mißachtung der Freiheit des Eigentums. Aber in letzter Zeit trübt sich dieses Licht norddeutscher, weltoffener Höflichkeit. Der grundsätzlich zur Milde neigende kid37 moderiert das zwar: « ... sind doch meist die selektiv als besonders ärgerlich wahrgenommenen Momente, die in Erinnerung bleiben. Wie die schönen eben auch.» Doch ich stelle seit einiger Zeit eine Tendenz fest, nach der sich auch des Hanseaten Höflichkeit rapide in die Schweigsamkeit verabschiedet. Nein, es ist nicht nur die Vorphase des christlichen Wiegen- und Friedensfestes, in der man es tunlichst vermeiden sollte, die Innenstadt zu betreten. Auch zu anderen Zeiten und an anderen Orten werde ich zunehmend, wahrlich nicht nur von Jugendlichen, angerempelt, kriege ich Taschen und Rucksäcke an den Kopf gehauen, werde ich von sportkinderwagenpilotierenden Müttern als Zielobjekt in Angriff genommen, als wären sie auf der Landstraße mit ihren mit zweihundert PS völlig untermotorisierten Rennsemmeln unterwegs, werde ich, mich brav eingereiht habend, aus der Warteschlange gekickt und kriege den Einkaufswagen hintenrein geschoben. Nirgendwo ein Durchkommen, man bleibt und läßt seine Kiste stehen, wo man gerade angekommen ist. Sich auf die Seite zu bewegen und sein Schwätzchen dort halten, um anderen ein Weiterkommen zu ermöglichen, ist mittlerweile ebenso undenkbar wie eine Entschuldigung für die ausgeteilten Rempler. Zunehmend habe ich das Gefühl, mich in Berlin zu befinden. Obwohl das doch Hamburg oder auch Lübeck ist. Es muß Gründe geben für diesen zunehmenden Verfall der guten Sitten auch im Hanseatischen, für diese ausufernde Ich-Sucht, den sich verlierenden Blick für den Anderen oder auch das Andere. Ich fürchte, ich kenne sie. Am Alter liegen sie nicht. Diese Erfahrungen machen auch weitaus Jüngere.
Dem Bartel sein Taktstock ... Mit Nnier halte ich es, der geschrieben hat: «Ich freue mich an sprachlicher Vielfalt und unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten ...». Aber vom Eigennutz solcher persönlichen Wohlfühlgedanken mal abgesehen: Da hängt eben weitaus mehr dran, das hatte ich ja bereits ausgeführt: Verlust des Artenreichtums et cetera, das wäre das eine, vor allem aber die Schulung, die zu mehr Unterscheidungsvermögen führt und sich oftmals in nuancierterer Sprache ausdrückt. Auch ließe es sich so betrachten: Wer viel liest, das müssen nicht unbedingt die Klassiker sein, auch deren Nachfolger sind Menschen mit Wissen und Erkenntnissen geworden, dem wird gegeben werden. Nicht nur Vermögen im Ausdruck, sondern auch in der Unterscheidung. Wenn ich aber zusätzliche Mittel, so Frau Wissenschafts- und Bildungs-Schavans eben in den Nachrichten gehörte Verkündung von der «Milliardenausgabe», an die Renovierung von Schulen (für jede einzelne 100.000 Euro) festmache, dann macht das zwar einen Mehrwert fest für den Handwerksbetrieb und den verarmten Staat, aber es belegt auch meine immer wieder geäußerte Hypothese, daß es den meisten Politikern nicht ernsthaft darauf ankommt, das Allgemeinbildungsniveau anzuheben. Nicht jedem ist es gegeben, trotz mäßigem Deutsch im Elternhaus (und alldem, nochmal, was da dranhängt!) «jede Menge hochgelahrte Fremdwörter anzueignen und später schreibenderweise meinen Lebensunterhalt zu verdienen». Es ist angenehm und selbstverständlich zu begrüßen, wenn von zuhause was kommt, aber da es in sehr vielen und zunehmend mehr Fällen eben nicht geschieht, kann das nur die Schule leisten, ausgestattet mit entsprechenden Mitteln, die kleine Klassen et cetera ermöglicht, beziehungsweise einem curricularen System, das weniger gestreßten Lehrern die kleine Freiheit bietet, Freude zu haben am Vermitteln unterschiedlicher Ansichten. Die dazugehörende Sprache und die (mögliche) Freude am differenzierenden Ausdruck stellt sich dann in der Regel ein. Daß das derzeitige deutsche Schulsystem das nicht leisten kann oder deren Befürworter auch deshalb so hartnäckig daran festhalten, weil sie gar keine Änderung anstreben, das ist bereits auf vielen anderen Seiten festgeschrieben. War es nicht der damalige baden-württembergische Ministerpräsident oder gar der deutsche Bundeskanzler Kiesinger? der geäußert hat, irgendwer müsse ja auch die einfachen Arbeiten verrichten. Dorthin laßt uns alle streben ... Komme mir keiner, daß ein freudvoller und umfassender Unterricht nicht ginge! Ich weiß, daß es geht. Ich habe es selber erlebt, zwar nicht als Lehrer, aber als Beobachter. Da sind dann zwar auch Kinder dabei herausgekommen, die, logisch, «im ÖPNV syntaktisch und semantisch krudes Zeug von sich geben», aber später die ihnen gegebenen Möglichkeiten genutzt haben, syntaktisch und semantisch gerade Sätze abzusondern. Zugestanden, da waren Gymnasien vor, zudem bestückt mit Pädagogen, die einen Heidenspaß an der Freud hatten, aufzuklären und frische Aufklärer hinauszuschicken in die sich abzeichnende neue Welt. Und weshalb, bitteschön, soll nicht auch der Handwerker und, sei's drum, auch der helfende Arbeiter, nicht über ein Bildungsniveau verfügen, das ihm zu einer aufrechten Haltung gegenüber denen verhilft, die ihn lieber weiterhin in gebückter Form sähen. Gerne erinnere ich mich an Gespräche mit dem Berliner Maurer, der gerne Maurer war, oder an den Camionneur in Nantes, der gerne LKW-Fahrer war, mit denen ich mich über politische Systeme und die Liebe zu den Expressionisten oder die Rezeption Joseph Roths in Frankreich und die unterschiedlichen Bildungsangebote unterhalten habe. Beide hatten, auch dies sei zugestanden, Abitur. Und ich erlebe es, seit ich wieder etwas jüngerer Vater bin (die Älteren sind mit vierzig und etwas darunter sozusagen aus dem gröbsten raus), wie Interesse an Wissen und der damit verbundenen Ausdrucksmöglichkeit geweckt wird, wenn nur jemand da ist, der's tut, das Wecken. Die Hauptschule hat miserable Noten erbracht, da dort grundsätzlich davon ausgegangen wurde, mehr als das kleine Einmaleins sowie die Bestellung eines Computerspiels im Internet sei nicht gefragt. Nun schaut der Junge sich mittlerweile freiwillig Dokumentationen auf arte oder in 3sat an, klärt den Alten über die Unterschiede zwischen weißen und schwarzen Trüffeln auf, baggert Mädels an, indem er sie erst bekocht und dann, wir wissen schon, ißt nicht nur nach wie vor riesige Schinken, sondern liest sie auch noch; man hört's bereits an der Syntax und der Semantik. Nach Beendigung der Tischlerlehre in einem halben Jahr will er mit einem Mal nicht mehr seine Karriere als Rockmusiker fortsetzen, sondern das Abitur nachmachen. Junge, sag ich ihm, überleg' dir das gut, das ist harte, sehr harte Arbeit, das Lernen nach der harten Arbeit. Er will sich nicht abbringen lassen davon. Ein Pferd kann nicht kotzen, meint er. Gut, es ist Einfluß vorhanden. Die Exfreundin hat's ihm vorgemacht, hat ihn wohl auf diesen Weg gebracht, die gutbefreundete Ehemalige, die nach Schule und Job ins Theater geht und sich vorher bei mir Minna von Barnhelm oder den Faust ausleiht, aber bereits vorher schon die Geschichte der französischen Revolution aus dem Regal gezogen hat und sogar Peter Weiss' Marat in Arbeit hatte. Und es zeichnet sich bereits Wirkung auf die Freunde ab, die nicht mehr nur abhängen oder chillen oder sonst noch alles, sondern anfangen, komplette Sätze zu sprechen. Vielleicht liegt's ja am Erfolg, der sich einstellt, wenn man immer zu gut zu den Frauen ist (ich hab ihm das gute Stück von einem meiner Lieblingsschriftsteller in die Hand gedrückt, aber er hat sich dann doch was anderes darunter vorgestellt, weshalb er weiter nach eigenen Rezepturen vorgeht). Aber es ist doch viel schöner, über Nebenwege nach Rom zu kommen. Und unser Spätentwickler, wenn man das bei einem Zwanzigjährigen überhaupt sagen darf, also unser Bedächtiger, der bis vor kurzem immer noch erstmal was essen mußte, bevor er in Bewegung kam, der gibt auf einmal Gas und hat dabei bereits Vorbildfunktion übernommen ... Alles schonmal dagewesen. Ja. Aber es muß ja nicht immer so traurig enden wie in Es gibt keinen Neuschnee. Man könnte den jungen Menschen ja von vornherein bessere Möglichkeiten bieten. Auch im kleinen polnischen oder holsteinischen Dorf. Ob sie dann Maurer oder LKW-Chauffeur oder Rockmusiker werden oder Tischler bleiben, das spielt letzten Endes keine Rolle in diesem Theater. Doch sie sollten allemale die Möglichkeit bekommen, die Hauptrolle zu übernehmen und dem Intendanten zu zeigen, wo der Bartel den Most holt oder der Dirigent seinen Hammer hinhängt.
Sorgen machen? «... dass es immer noch schlimmere und existenziellere Sorgen gibt, ist geschenkt». Das beispielsweise ist der Punkt, bester Nnier, an dem ich nicht mit hap und letzten Endes auch nicht mit Frau Herzbruch, sondern mehr mit Ihnen übereinstimme. Ich möchte das ein wenig um den einen oder anderen Aspekt erweitern. Sorgen mache ich mir darüber keine (mehr), da ich mich, wie erwähnt, mit meinen alltags- und wirklichkeitsfernen Nickeligkeiten einigermaßen fröhlich aufs Jenseitige vorbereite. Vielleicht sollte ich es dennoch tun, da ich ja «ordentlich» mit dafür gesorgt habe, daß die Menschheit nicht ausstirbt und auch die Nachrücker immer weitere produzieren und der eine oder andere sich wider besseres Wissen ins Unglück stürzt, weil es ihm den ganzen Tag von scheinbar kompetenterer Seite, den Wirtschaftsankurblern, vorgebetet wird und auf meine Warnungen nicht gehört wird, weil ich ja so ein dämlicher Kopfgesteuerter bin, der davon so gar keine Ahnung hat, weil ja so ein übersteigertes Unterscheidungsvermögen nur trottelig oder gar so dumm macht, all diese Zeitungen abzubestellen, in denen schließlich diejenigen schreiben, die's wissen müssen, diese ganzen Experten, die obendrein auch noch Fachleute sind. Und überhaupt hat er's dicke, sich ständig diese ewigen Konglomerate anhören zu müssen, aus deren Löchern immer nur das Negative rausströmt. Oder so ähnlich. Erkenntnisse? Pah! Daß viele bald nichts mehr zu beißen haben, daß die einen materiell immer reicher und die anderen trotz Arbeit immer ärmer werden, das ist das eine, das aber das andere nicht ausschließen darf. Oder so herum: Je größer die beiden Schneiden der Bildungsschere auseinanderklaffen, um so leichter haben's diejenigen, die den anderen das ohnehin schon dünne Fell über die Ohren ziehen. Das habe ich schon vor dreißig und mehr Jahren geäußert, und es hat sich nicht nur nichts geändert, sondern es ist sehr viel schlimmer geworden. hap führt ihn an: den Konsumgutschein, der der Wirtschaft, also Industrie und Handel, aber nicht dem (unschuldig) ebenso in die sogenannte Schieflage Geratenen aufhelfen soll. Früher nannten die Ruhigstellungsmittel sich «Zweitkühlschrank» oder «Drittstaubstauger» oder «Viertbremslichter», heute heißt es: So froh, daß du Arbeit hast, du brauchst zwar mittlerweile drei Arbeitsplätze, um überhaupt (über-)leben zu können, aber dafür hast du ja die vielen Konsummöglichkeiten. Und genau das ist es ja: Das Volk ist so dämlich und giert nach Tinnef. Beispielsweise für das neu zu bauende Haus, das frühestens abbezahlt sein wird, wenn die Jüngste auf dem höchsten Managerinnenthron sitzt. Wenn nicht vorher ein anderer von einem anderen Hochsitz aus den Kuckuck auf die Hütte geschossen hat und das Töchterlein die Billigheimerkasse bedient und danach anderswo Regale auffüllt und anschließend putzen geht. Und weshalb? Weil es sonst nichts anderes im Kopf hat. Weil mit Bildung hierzulande oder auch anderswo nichts anderes gemeint ist, als: schneller die Schule, wenn es, siehe oben, gutgeht, das Studium absolvieren, alles unter einem unglaublichen, krankmachenden Druck und einzig und allein zu dem Zweck, die Wirtschaft anzukurbeln beziehungsweise deren Wachstum zu beschleunigen. Shoppen! nicht etwa das einkaufen gehen, was man zu einem angenehmen Leben benötigt. Was dabei herauskommt, haben die letzten Wochen gezeigt, in denen ja nicht nur die Altvorderen, sondern durchaus auch deren gerademal dreißgjährige Brut zunächst einmal Milliarden Luftgeld produziert und das auch noch hat platzen lassen: Nichtmal rechnen können sie, und nicht einmal über ein annäherndes Abstraktionsvermögen* verfügen sie gleich gar nicht, weil niemand ihre intellektuelle Bildung betrieben hat, die tatsächlich dazu führen könnte, den Sinn des eigenen Tuns zu hinterfragen (hier ist der Begriff wirklich mal angebracht). Geschichte interessiert sie deshalb nicht, für solchen Nebbich haben sie keine Zeit. Der hat sie schon in der Schule nur aufgehalten. Hätten sie besser aufgepaßt oder mal nachgefragt, dann wüßten sie, daß es in der Regel das Wissen und das sich daraus ergebende Unterscheidungsvermögen* war, das große Kulturen und deren Wohlstand begründete, aber der Tunnelblick des geistig Zurückgebliebenen, der nach immer höheren Gewinnen schrie, in seiner grenzenlosen Gier die Quellen, heute gerne als Ressourcen ins Allgemeinverständliche übersetzt, zuschüttete und alles versiegen ließ. Heraus kam und kommt dabei besagte «Verarmung und Verflachung». Hier muß ich Nnier nicht nur rechtgeben, wenn er sich dann «doch Sorgen macht», wenn es ums «Abschleifen und Normalisieren» geht, wenn «Ausdrucksmöglichkeiten verlorengehen, wenn wir nur noch einheitliches Pidgin sprechen»: Nicht nur der Artenreichtum geht verloren, sondern irgendwann wir alle unter, weil wir in unserer grenzenlos dummen Zündelei nicht nur die eine oder andere Kultur, sondern den gesamten Planeten abfackeln. Jetzt habe ich mich doch wieder Sorgen gemacht und mich ereifert. Ich sollte das nicht tun. Es erhöht nur den ohnehin zu hohen (Alters-)Blutdruck und führt zu nichts. Es sei denn, noch früher ins Jenseitige. Wo auch immer das liegen mag. * Intellektualität = intellectualitatis: die Fähigkeit, etwas verstandesmäßig zu erfassen; auch: intellegere: wahrnehmen, erkennen; deshalb: Wesentliches voneinander unterscheiden können; auch Abstraktion = abstractus: etwas abziehen, auch: Wesentliches von Unwesentlichem (et vice versa) trennen.
Der Herr Geheimrath! Ich hatte vergessen, eine weitere, nicht unwesentliche Beobachtung des vorgestrigen Einkaufstages weiterzugeben: Zwei extrem schlanke Herren, unverkennbar Relikte der hippieesken siebziger Jahre, vermutlich in einer ländlichen resthofartigen WG-Gruft von einem langanhaltenden Trip runtergekommen, kauften mit Hilfe eines großformatigen Kochbuchs ein. Sie schlurften innerhalb der Obst- und Gemüseabteilung von Stand zu Stand, prüften jeweils die einzelnen Erzeugnisse, lasen darüber in ihrem Buch nach, besprachen die Situation in aller Bedächtigkeit, um dann die eine oder andere Frucht in den Einkaufskorb zu legen. Ohne zuvor ein iTüpfelchen zu bemühen. Allerdings konnte ich nicht genau erkennen, wer das Kochbuch verfaßt hatte. Aber eines weiß ich gewiß: Goethe war's nicht. Hat's ihm was gebracht, dem Namensgeber alles Deutschen, daß er Goethe geschrieben hat?! Auf sein Sozialverhalten hatte es jedenfalls nur mäßig günstigen Einfluß. Immer nur rumschäkern und -saufen in und mit der Society und auf dem Heimweg zur Christiane in der Postkutsche, dem damaligen Intercity, dann lange Poeme an junge Mädchen und edle Damen et vice versa und wirre, vermutlich unter Mutterkorneinfluß, Teufeleien schreiben, während zuhause sein Weib immerfort sehnend das Bett zu wärmen hatte, wie überhaupt er zu seinem Wohle alles hat die andern machen lassen. Was hat er vollbracht, als den Fürsten und Paukern zu dienen und Schüler zu verunsichern? — Oder so: Ich habe ihn gelesen, zumindest einen Teil der von ihm verfaßten herzöglichen Anna-Bibliothek und durchaus freiwillig, und bin dennoch kein besserer Mensch geworden. Wobei hinzuzufügen wäre, daß das auch kein Kochbuchautor schaffen würde. Ich lese keine Kochbücher. Ich verabscheue sie. Schreiben, darüber denke ich nach. Im übrigen verursachten diese modernen Kommunikationsgeräte bereits vor gut zehn Jahren bei dem einen oder anderen sowas ähnliches wie Blockaden.
Älterwerden Daß er sich «manchmal gar nicht so drauf» freue, las ich dieser Tage beim Herrn über Mumien, Analphabeten und Diebe, «alt zu werden». Froh sei ich, sagte ich gestern zu der schönen jungen Frau, die mir von ihren etwas über vierzig Jahren viele wunderschöne geschenkt hatte, ähnliches nun seit längerem einem anderen sympathischen Herrn gegenüber tut, was sich in einem schon sehr, sehr dicken Bauch quasi ausdrückt, der demnächst sozusagen plumpsartig wieder verschwinden wird, alt, na ja, älter zu sein.* Das habe ich nicht zum erstenmal, sondern des öfteren und auch schon vor vielen Jahren geäußert. Nicht so sehr, weil ich es nicht erwarten konnte, endlich von der Jugend unbeäugt der Alterslust («essen ist der sex des alters.») frönen zu können. Aus dieser Brille betrachtet wäre ich schon sehr lange und obendrein steinalt. Die erwähnte schöne junge Frau und der werdende Papa an ihrer Seite im übrigen ebenso, übersetzen doch auch sie (und glücklicherweise noch ein paar andere) das französische Wort Restauration ins Deutsche nicht unbedingt mit Hauptsache sattwerden oder (wenngleich im beschriebenen Fall allerdings berechtigt) mit «nicht schön, aber sättigend». Sicher doch, wie anders, der Auslöser meines relativen Frohseins über meinen Status war, mal wieder, das Essen. Wir hatten über unseren gemeinsamen mittäglichen Restaurantbesuch in Uhlenhorst gesprochen, und ich hatte rekapituliert: Drei Gänge inclusive Apfel- oder Rebensaft, ein feines Süßkartoffelsüppchen, der Fisch war aus der Nordsee in die Pfanne geschwommen und wurde in Butter gebraten, das Parfait an sich und auch die Spritzer des leicht süßenden Sößchens darüber perfekt, alles zusammen zu einem Preis, der mit seinen siebzehn Euro beinahe an das kleine Mittagsmenu in Frankreich heranreicht, nicht ganz an den der Ärmerenspeisung, aber die Revolution ist in Deutschland ja ohnehin nie angekommen, jedenfalls nicht in der Form, die einschneidende Verbesserungen fürs Volk erbracht hätte. Am Schluß, aber nicht zuletzt stand da die Bemerkung zur natürlich-freundlichen, eben nicht servilen oder auch hochnäsigen Bedienung, die, wäre sie nicht so jung gewesen, durchaus an Madame hätte erinnern können, die sich trotz der Geschäftigkeit noch Zeit nimmt für ein Schwätzchen, wie ein jeweiliger plauschiger Gaumenkitzler zwischen den Gängen. Warum denn das nicht geschätzt würde im Land der wie so vieles so gerne von unseren überseeischen Freunden übernommenen Selbstbedienung, fragten wir uns. Tagaus, tagein nehmen die Besucher der Wiederherstellungsstationen den Besitzern dieser Schnellfreßläden die Arbeit ab, ob bei Bratklops zwischen zwei Pappbrötchenhälften in Tristesse oder irgendwo baltisch gewickelten original japanischen Fischreisröllchen inmitten edler Hölzer, vermeiden dringend benötigte Geldverdienplätze, maximieren den Ketteninhabern die Gewinne, indem sie ihr Essen nicht nur selbst abholen am Tresen, sich das durch Zusatz von Kohlensäure vom Leitungs- zum Tafelwasser Aufgehübschte am Automaten abfüllen, Flaschen selber öffnen, Besteck nachpolieren et cetera, erstmal den Tisch säubern und am Ende alles auf-, also brav abräumen sowie beinahe auch noch die Spülmaschine bestücken. Nur so sei das günstige Preisleistungsverhältnis zu halten, heißt es da. Ach ja, die Lohn(neben)kosten. Dieselben Schnellrestaurantbesucher bedienen dann im Bahnhof beziehungsweise Flughafen den Automaten, wenn sie's nicht ohnehin bereits via Internet erledigt haben wie auch den Kauf der erforderlichen Utensilien für die schönsten zwei, vielleicht drei Wochen des Jahres. Sollten sie die tausend oder zweitausend oder noch mehr Kilometer mit dem Auto absolvieren, wiederholt sich das Sparprocedere in den Raststätten. Gehören sie einer gemächlicheren Gattung an, checken sie ein- bis dreimal an der Autobahn oder Autoroute oder Autostrada oder Autopista ein in Hotels genannte Naßzellen mit angeschlossenen Betten, garantiert frei von lästigem Personal, alles mit Hilfe von Karten und Nummern. Möglicherweise haben sie auch das vorausschauend bereits zuvor übers flotte Netz gebucht, man weiß ja nie während der Hauptreisezeit, und Zeit will man letztlich ja nicht verlieren, was ein Ausritt ins nächste Dörfchen oder gar Städtchen nämlich zur Folge hätte, am Ende gar noch eine wegen des lahmarschigen Kellners und den sonstigen Gängen viel zu lang dauernde Abfütterung in einem Bistrot oder einer Trattoria oder einer Hosteria, nicht auszudenken. Der Strand wartet (nicht). Gebräunt bis verbrannt und von ein paar Rettungsringen verziert, aber weniger aus dem nautical shop als aus der Gastronomie, somit rundum glücklich zurückgekehrt, berichten sie beseelt von den südlichen Serviceoasen und deren Gemächlichkeit. Herrlich war's, sich den lieben langen Tag reihum bedienen zu lassen. Und so freundlich waren die alle dort. Das bekämen die Deutschen einfach nicht hin, sie seien einfach kein Volk der Dienstleistung. Da könnten sie noch so schön herbeireden wollen, die Politiker. Schlimm, das alles. Ein paar Tage nur gehen ins Land, dann helfen sie ihnen wieder sparen, auch sich selbst, Zeit und damit Geld, den schnellen Restauratoren und den Billig- oder Nichtsobilligheimern, reihen sie sich ein in die Kassen- oder sonstigen Warteschlangen, drücken ihnen zur Kostenreduktion und sich zur Zeiteinsparung wieder alle erdenklichen Knöpfe, touchen die Screens, im Nah- oder Fernverkehr, ob öffentlich-rechtlich oder privat gewinnorientiert, updaten Behördenformulare, aus Gründen der Papierersparnis, sagt der mittelalterliche Finanzamtsleiter, und druckt die zweizeilige eMail aus, um sie aktenkundig zu machen. Ich stehe lieber beim deutschen Dorfkramer (oder dem arabischen in der Stadt) an der Kasse, die ja ebenfalls längst hochelektrisch scannt und mir, entgegen der landläufigen Meinung, obendrein keinen höheren Preis abverlangt als der augenwischerische Supermarkt und bei dem's auch nicht länger dauert als dort, obwohl er noch dies und das aus dem Hinterstübchen oder der Kühlung holt, um Sonderwünsche zu erfüllen. Mittlerweile haben ein paar wenige kluge jüngere Menschen sich der Lebensqualität erinnert, die die Älteren mal hatten mit ihrem zeitraubenden Rumgequatsche. Das wäre eine Zukunftsperspektive. Madame Reverchon im beschaulich-betulichen hochprovençalischen, etwa eine Autostunde vom Meer entfernten touristenfreien Dörfchen, wies mich in einem Gespräch über südfranzösische Gepflogenheiten ausdrücklich darauf hin, daß es in Marseille erst gar keine Papierkörbe gebe. Es würde sie ja doch niemand benutzen. Die etwa fünfzigjährige, sehr gepflegte und nicht minder bürgerliche Dame setzte dann noch ein d’accord drauf: Das ist in Ordnung, da haben die Menschen Arbeit, und der Dreck kommt zweimal täglich wieder von der Straße. Und, nebenbei, an vielen Busstationen stehen freundliche, nicht nur auskunftsbereite Helfer, die nicht nur den kleinen Französinnen in die Kiste helfen, sondern durchaus auch schonmal der damenbehaarten Fischersfrau oder deren Altem nach dem zehnten, sozusagen aus dem Ruder gelaufenen Pastis. Die machen das einfach so, man muß sie auch nicht betasten oder drücken. Angesichts der hiesigen Verhältnisse muß man allerdings froh sein, nicht mehr jung sein zu müssen. * Ja, das war jetzt der klassische deutsche Satz im Sinne von Mark Twain, wie ich ihn manchmal sehr gerne mag, ihn und ihn.
Langzeiterinnerung Mich träumt's vergangene Nacht, ich befände mich in einem Bild von Lyonel Feininger. Dabei war ich gar nicht auf dem Berliner Kunstmarkt. Wobei diese Assoziation gar nicht funktionieren kann, da man dort einen solchen gar nicht hätte kaufen können. Allenfalls einen schallen Rauch, bei dem sich die Perspektiven zwar auch ziemlich verschoben haben, aber eher historisch als bildarchitektonisch. Liegt's an letzterem, der Architektur, an die ich die letzten Tage zu häufig rückblickend dachte? In meiner in der Romantik wurzelnden Vorstellung vom Menschen als Winzigkeit in der «Natur» der Großstadt? Oder ist's die vermehrt einsetzende Langzeiterinnerung? Quasi das nahende Ende? Zumal das Bild, in dem ich mich befand, eher diesen Viaducten ähnelte, die er gezeichnet und gemalt hat. Das wird's eher sein. Die Erinnerung. Ausgelöst durch das Gespräch über den Bekannten, der hochbegabt und voller Phantasie noch jede seiner vielen herausragenden Ideen, mittlerweile samt der eigenen Tischlerei weggekifft hat. Und meine weltfremde Frage, ob denn immer noch so viele Menschen an dem Zeugs zögen? Denn ich befände mich ständig in der Vermutung, das sei ein Phänomen der Siebziger, ja, auch noch der Achtziger. Und dann die unvermeidliche, fragende Entgegnung des Jüngsten: Du etwa nicht? Selbstverständlich auch ich. Das ging ja gar nicht anders. Man wollte sich ja nicht isolieren. Das habe ich gerade in Sven Regeners Neue Vahr Süd gelesen, dessen Lehmann Bier auch nicht sonderlich mochte, es aber aus diesem Grund trotzdem trank. Also nahm man hier einen Zug, stopfte sich dort eine Pfeife. Aber mir ging er in der Regel bleischwer in die Knochen, dieser schwarze Afghane (dem ich später im Herkunftsland nie begegnen sollte). Ein einziges Mal ging's tatsächlich fröhlich zu, und zwar stundenlang, ohne Unterlaß gackerten wir uns eins, in der Sonne sitzend auf einem Hinterhofbalkon. Doch rauchten wir dabei auch nicht dieses dunkelbraune, im Vorgebrauchszustand krümelige Zeugs, sondern etwas, das ich heute eher als getrockneten Estragon identifizieren würde. Lachgras sei das, klärte man mich während einer dieser fortwährenden Albernheitsanfälle auf. Das war lustig. Und ich kann durchaus verstehen, daß man dabei jede Lust verliert. Irgendwas zu arbeiten. Oder zu studieren. Das ist das Stichwort, das mir die nächste Phase der Erinnerung gibt, mich näher an meinen Traum heranführend. Aus unerfindlichen Gründen fühlte ich mich eine Zeitlang zu Medizinern hingezogen, die seinerzeit zwar noch keine richtigen waren, es aber bald werden sollten. Sie besuchte ich während meines Gastaufenthaltes gerne mal während ihrer Nachtdienste auf der Intensivstation, die weit nach draußen ausgelagert worden war aus dem innen universitär gesunden Städtchen. Halbe Hähnchen hatte ich jedesmal mitzubringen. Die breiteten sie dann, fleißig berufsbedingten Zynismus übend, in der Regel auf den Frischoperierten aus. Man durfte den Raum ja nicht verlassen, da sonst die Kontrolle verlorengehen könnte. Außerdem überlagerte der etwas angenehmere Geruch den unangenehmen. Und die eine oder andere Hähnchenunterlage würde ohnehin nichts spüren. Die mache es nämlich nicht mehr lange, habe man sie doch gleich wieder zugeklappt, als man der Massen an Metastasen ansichtig geworden sei. So wurde auch dort herumgegackert, unter der von Herrn Jahn hergestellten Droge. Ausreichend pharmazeutische Wirkstoffe dürfte darin enthalten gewesen sein. Über solche wurde häufig gesprochen an dem Tisch, der frühmorgens immer reserviert war in der Kneipe inmitten der romantischen Universitätsstadt. Denn nach der Nachtschicht wollte dann doch der eine oder andere Exitus mit der einen oder anderen Halben runtergespült werden. An den Nachbartischen saßen allenfalls ein paar Überbleibsel aus dem Jazzkeller um die Ecke. Die hatten vermutlich auch was wegzutrinken. Shit und danach ordentlich Bier war die Kombination, wenn ich mich recht erinnere. Doch am Expertenstammtisch war davon nicht die Rede. Hier war eines frühen Tages der Stoff eines dieses Jahr hochbetagt gestorbenen schweizerischen Chemikers das Thema. Der Stoff, aus dem die Träume sind. Zumindest einer, den ich vermutlich hatte vergangene Nacht im Viaduct von Herrn Feininger. Voller Begeisterung erzählte einer aus der Runde von den phänomenalen Wirkungen, die diese Säure bewirke beim Studieren. Seit er sich in der Vorprüfungsphase befände, nähme er regelmäßig eines dieser winzigen Tablettchen, pauke den Stoff und lege für die Nacht auch noch das entsprechende Buch unters Kopfkissen. Es handele sich dabei um eine außerordentliche Erinnerungshilfe, nichts, aber rein gar nichts vergesse er vom Gelernten. Ich vermutete ja, es läge eher am Kopfkissen beziehungsweise am darunter liegenden Pschyrembel. Die anderen waren allerdings mehr dem Selbstversuch des Kommilitonen zugeneigt. Eigene Erfahrungen hatten sie nicht aufzuweisen. Und wie das so ist unter Medizinern: sie benötigten einen Probanden. Und wer eignete sich da besser als ein Fachfremder? Der ist heute von der Erinnerungswirkung des Lysergsäurediethylamids überzeugt. Zu plastisch ist ihm dieser Horrortrip in Erinnerung, in dem er vor etwa achtunddreißig Jahren durch die Gassen der romantischen Universitätsstadt schwebte, hinunter zum Fluß und wieder hinauf in Richtung Einwurfstation, kein Klingeln der Straßenbahn mehr hörend, nur noch sich ständig verschiebende Flächen wahrnehmend, in permanenter Farbveränderung, fliegenden, ja einstürzenden Bauten entfliehend während der Heimsuchung in seine Behausung, die über einer anderen Kneipe lag, die schmale Treppe dort hinauf nicht so recht findend, da sie andauernd eine andere Richtung nahm, sie wieder hinunterrennend, wiederum Musikboxen und Schnapsregalen ausweichend, die auf ihn zugeflogen kamen. Stundenlang ging das so. Und es legte sich erst wieder, nachdem die Expertenrunde, aus der sich glücklicherweise immer jemand in der Nähe befand, festgestellt hatte, es sei wohl besser, die Notbremse zu ziehen. Vor allem, nachdem sich jemand hinzugesellt hatte, der meinte, man solle dieses Zeugs grundsätzlich nie unausgeschlafen und um des lieben Himmels willen nicht unter Alkoholeinfluß einwerfen, das sei nicht ganz ungefährlich. Ein anderes Pillchen bremste dann auch die schier unaufhörliche Raserei. Es war keine Vollbremsung wie bei einer Intercity-Entgleisung, sondern eher ein Ausrollen über viele lange Kilometer hinweg. Und schließlich ergab sich sogar ein wunderschönes, sozusagen multiples (An-)Kommen, eine Art Nebentraum, alles andere als alp, indem ihn die zauberhafte Freundin empfangen hatte, schier endlos. Aber das ist eine andere Geschichte. Und die gehört nicht hierher. Ich möchte mich nicht mit der Gerichtsbarkeit (Dank an kid37) konfrontiert wissen. Ob Feininger damals dieses Zeugs genommen hatte? Aber das war damals ja noch gar nicht entdeckt. Andererseits: Das Mutterkorn gab's ja schon seit ein paar Jahrhunderten und hat so manch einen Künstler beflügelt. Aber vermutlich tue ich denen jetzt Unrecht. Die haben schließlich von jeher andere Eingebungen als so ein schlichter Proband, wie ich einer war und der seither nie mehr einer sein wollte. Schöngeträumte Ankunft hin oder her.
Auch stille Winkel gehören zum Thema uns umgebender Geborgenheit. Hier einer ohne die «prunkvollen Grabdenkmäler, keine überdimensionierten Statuen, kein Mausoleum. Nur schlichte Kreuze aus Holz oder Schmiedeeisen, schmale Steinplatten und, an einem Grab, einen Gekreuzigten aus Bronze. Im Bogenhausener Friedhof zählen Kunstsinn und der Name des Verstorbenen.» Hans Pfitzinger gibt ein Stückchen aus seinem Buch Stille Winkel in München preis: Edel ruht der Mensch. Ich möchte dort zwar nicht unbedingt überm Zaun hängen, aber sollte es irgendjemand schaffen, mich mal wieder in diese Stadt zu bringen, das könnte ein Örtchen zum Verweilen sein. Aber grundsätzlich gehe dann doch lieber dorthin, wo's mehr richtige Ruhehäuser gibt, Marie Duplessis besuchen oder La Goulue oder Mary Marquet. Aber daß da keine Mißverständnisse aufkommen: Streut mein Herz in die Küsse des Flusses! Gerne darf's auch dort sein, wo Fabio Montale geangelt hat, wo quasi um die Ecke sein Häuschen stand.
In Verts Haus, da drüben, im lindgrünen, da erzählen wir uns gerade was über das, was uns Masse Mensch eigentlich am meisten angehen sollte, da wir darin leben, worum wir uns aber dann doch eher weniger kümmern, weil die doch mit uns machen, was sie wollen. Da «fragt man sich schon so manches mal, wo bomber-harris ist, wenn man ihn mal wieder braucht». Thema: Architektur und Alltag
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