David und Olympia Als Entgegnung auf meinen Kommentar zu einer in jeder Hinsicht gesunden Skulptur präsentierte Herr Nnier eine besondere Interpretation der Abbildung von Wirklichkeit. Korrekterweise hätte ich auf der grünen Wiese des Michelangelo Vertarotti darauf antworten müssen, zumal der obendrein die Botschaft durch den Filter der Werbefreiheit gedreht hat. Aber der junge Mann bevorzugt nunmal das knappere Wort, während sich bei mir immer wieder die Assoziationsschraube derart ins Hirn bohrt, so daß die Späne der Endlosigkeit die Insel des Grünen vermutlich zuentsorgt hätten. So müllkippe ich mein Äckerlein zu; möge es Blüten treiben. Nicht, daß ich jetzt auf Abbildung von Wirklichkeit pochen oder gar Ähnlichkeiten beschwören sowie einer Sympathie für irgendwelche Altherrenbünde Ausdruck verleihen möchte — diese Skulptur, die ja nicht wirklich eine ist, sondern Teilergebnis einer neuen Maltechnik, spricht mich an — auch dann noch, wenn ich dabei assoziativ sofort bei Fernando Botero lande. Sie berührt mich eher als das Schönheitsideal nicht nur der geradezu nachhaltigen oder in gewisser Weise immer wieder erneuerten Antiken-Sehnsucht des 18. Jahrhunderts (man gehe mal sonntags in die Münchner Glyptothek, wo seit langer Zeit sich diejenigen anschauen, wie sie selbst gerne aussehen möchten). Ich bin ja keine Frau und will auch keiner diesen leicht überboteroisierten David zumuten, aber einen solchen, wie die geschätzte Dame Smartass ihn die Tage schmunzelnd präsentierte, bei dem gerate ich dann doch eher ins Glucksen oder muß an Arno Breker oder Leni Riefenstahl oder gar Alfred Rosenberg denken oder lande bestenfalls bei Herrn Winckelmann oder dessen nie dahinscheiden wollenden Gebetsmühlenbetreiber, die es bevorzugen, in die Röhre der Inhaltslosigkeit zu stieren. Als ob es nie einen Alexander Gottlieb Baumgarten oder Karl Rosenkranz gegeben hätte und die Griechen allesamt so gewandelt wären wie sie heutzutage zwar ein wenig lädiert, aber nach wie vor großartig in der Sammlung am Königsplatz herumstehen. Schon vor dreißig Jahren assoziierte ich dabei immer ein wenig estetica, wie die Italiener seit je ihre Haar-, Hand- und Fußpflegedienste nennen und die hierzulande, bevorzugt in den deutschen Ostgebieten, Nail – Beauty – Shop oder so ähnlich heißen, aber mittlerweile bezüglich anderer Körperteile auch in Hamburg und anderen Stätten der Schönheit angekommen sind. Wenn wir nur wollen und auch über die monetäre Energie (auch für entsprechende «Studios») verfügen, sehen wir dann beinahe bald alle so aus wie der antikisierte Herr bei Frau Klugscheißer. Die Bedürftigeren nähern sich dann dem Aussehen des David des olympischen Bundes (nur wenn wir nur noch Obst und nichts kalorienreich sehr Schnelles mehr essen, schaffen wir es in die Nähe der Reduktion des Michelangelo Vertarotti). Allerdings sollten wir als Frauen dann keine drei oder fünf Kinder mehr kriegen oder nur noch welche adoptieren, am besten solche aus Afrika, da wird die Idee fett- und kalorienreduzierter Ernährung quasi mitgeliefert. Auch entsprechend geschulte Kinderfrauchen oder -männchen wären quasi analog zu empfehlen; das Androgyne soll uns ja nach wie vor oder gar mehr noch als früher faszinieren. Ob der oben erwähnte und über die Jahre etwas dicklicher gewordene, als Ästhetik nicht kleinzukriegende David des anderen — also nicht des ostwestfälischen — Michelangelo Kunst ist, darüber ließe sich mal wieder debattieren. Ist er keine, um es weiterhin mit Paul Klee einzukreisen, da er Wirklichkeit abbildet? Ist er's, da er sichtbar macht? Aber das genau sollte der Digital-Kreateur vermutlich nicht erreichen, als er die Statue in seine Computer-Werkbank einspannte und mittels Weichware sozusagen eine zweidimensionale Plastik daraus schuf (Eduard Trier: der Bildhauer «nimmt weg», der Plastiker «baut auf»). Mir scheint, es ging wohl doch eher in Richtung einer dringend erholungsbedürftigen Sportartikel- und Nahrungsmittelindustrie sowie der daran hängenden sponsorisierenden Investitionsgesellschaften oder sonstigen Professionalitäten (die mein sauer verdientes Geld via Krankenkassenkosten in irgendwelche sportlichen Aktivitäten stecken, mit denen sich Menschen zu Tode oder zumindest in teure Kliniken hetzen). — Womit wir wieder bei der anderen Auseinandersetzung wären, die ich für genauso fadenscheinig halte, da sie in derselben Kerbe landet. Es geht gar nicht um dick oder dünn und auch nicht um Kunst kommt von Können oder von Kunst, sondern um dringend benötigten neuen, ein bißchen mehr Wert erzeugenden Glamour. Nun soll das hier ja kein Aufruf zur Bewegungslosigkeit oder gar zur freiwilligen Verfettung werden. Aber man kann sich auch bewegen, ohne irgendwelchen vereinsmeierischen und vielleicht gar pharmazeutischen Anleitungen zum Selbstmord zu folgen. Außerdem bin ich nicht sicher, ob der Dicke, um den ich mich hier drehe, sich nicht längst schlanklacht ob meiner Unwissenheit. Die Photographie des Gemäldes von Fernando Botero aus dem Museo Botero in Bogotá, die ich leicht beschneiden mußte (was sich grundsätzlich nicht gehört, aber mir ging es um das Original), um sie geradestellen zu können, stammt von P_R_ und steht unter CC.
Stützen der Gesellschaft Kunst bildet nicht die Wirklichkeit ab, sie macht (das Unsichtbare) sichtbar. Paul Klee
Tizianisches Nicht nur italienische Küche (die ja die Urmutter der französischen ist) erfreut mich, auch Post aus diesem eigentlich ja großartigen Land mit wunderbaren liebenswürdigen und phantasiereichen Menschen, die aktuell zumindest für ein paar Tage bemüht sind, mittels schönem Schein in die bewegten und bewegenden Künste zu verdrängen, wen es sich da zum zweiten Mal zum Führer gewählt hat und, weiß man's, es wohl noch ein drittes Mal zu tun bereit ist, selbst dann, wenn man ihn, wie Frau Braggelmann es vermutlich ausdrücken würde, den nur noch aus Fäden zurückliegender Schönheitsoperationen zusammengehaltenen Fighetto mit der Sackkarre auf die Bühne nottransportieren muß. Ich begreife das bis heute nicht und reihe mich deshalb ebenso ein in den probaten Verdrängungsreigen mittels reiner Schönheit — ich denke einfach an Tizian*. *Vor einigen Jahren hatte ein Herr eine Verabredung mit einer Dame. Wie aber, fragte er sie, woran solle er sie erkennen? Da sie sich ohnehin in einem Museum begegnen würden, war ihre Antwort am Telephon, solle er doch einfach in der Kunst bleiben, beispielsweise an Tizian denken.
Kunstsuppe Kreativität geht durch den Magen. Das war eine der erkenntnistheoretischen Prinzipien des dänischen Bildhauers, genauer: Plastikers (nach der Definition von Eduard Trier*). Die Zeit der fünfziger Jahre in der französischen Metropole hatte seine Sinne wohl zusätzlich geschärft. Doch nur mit den entsprechenden Ingredienzien war es möglich, den wöchentlichen Suppentopf mit Wohlgeschmack zu füllen. Deshalb ging er als Münchner Akademielehrer in den Siebzigern bis Anfang der Achtziger mit seinen Studenten auf den Schwabinger Elisabethmarkt mit seinem für deutsche Verhältnisse ansehnlichen und auch preislich azeptablen Angebot, um frischen Fisch und die dazugehörenden Gemüse und Kräuter zu kaufen. Für die meisten war diese Uhrzeit nicht die ihre. Aber trotz müder Glieder und hängenden Augenlidern hielten sie sich daran. Es war ein wöchentliches Ritual, das die Gemeinschaft stärkte. Wie die jeweils um die Mittagszeit genossene Fissuppe; er sprach es eben so aus, daß sich problemlos eine Karikatur des Dänischen daraus formen ließ. Zwar gab es hin und wieder Gäste, aber im wesentlichen war man unter sich, um über das Geleistete und zu Leistendes zu sprechen. Und beileibe nicht immer nur über Kunst. Oder anders: Kunst ist Leben. Nicht als romantisierendes, historisierendes Gesellschaftsmodell, das aus guter alter Zeit in die neue gerettet werden sollte. Sondern als eine Gegebenheit, die sich aus gemeinsam Gerührtem nährt. Zum Ende seiner Tätigkeit erhielt der «Geburtshelfer der Kreativität» (Die Zeit) eine Ausstellung in der Stadt, die ihn eigentlich immer vernachlässigt hat; die in der Münchner Residenz wurde von seinen Studenten organisiert. Seiner Zurückhaltung entsprechend stellten seine Arbeiten auch lediglich den Fond dar. Die Zutaten kamen von seinen ehemaligen Schülern. Und alle kamen. Es war ein großer Erfolg. Dessen Abschluß wollte und sollte gefeiert werden. Mit Folgen. Robert Jacobsen ist 1993 gestorben. Heute schlich er sich in meine Erinnerung ein. Ich erinnere mich sehr gerne an ihn. * der Bildhauer «nimmt weg», der Plastiker «baut auf»
mumpitz populi Nach diesem Zitat habe ich lange in meinem Kopf gesucht, und Sie haben mir's zurückgegeben. Wie schön. Nun lese ich gerade, ein anderer soll's gewesen sein: Genie ist zu zehn Prozent Inspiration und zu neunzig Prozent Transpiration, soll der Technofix Thomas Alva Edison einmal gesagt haben. Aus Nikolaus Harnoncourts Mund habe ich es in Ihrer sprachlichen Variante auch schon gehört. Wem auch immer das Copyright zusteht, Harnoncourt und Gulda wären mir lieber gewesen, weil ich mich denen sehr viel näher fühle als diesem alten elektrischen Lichterzeuger. Selbstverständlich ist das so. Ich hatte ja auch geschrieben und es damit gemeint: «Können ist etwas anderes. Vielleicht das, was man gelernt, geübt und immer wieder geübt hat, was das Talent einst in Fluß gebracht brachte, ohne das Kunst nicht ‹funktioniert›.» Und Sie müssen auch nicht antreten, um Ihre Ehre zu retten. Geäußert hatte es ja Ihr Musikprofessor. Angeprangert hatte ich eben diese landläufige Meinung. Das ist genau dasselbe wie: Deine Bluse oder Hose oder der Fleck auf ihr ist unästhetisch. Das ist mumpitz populi. Da reagiere ich recht algerisch drauf, weil ich es ständig höre. Und deshalb habe ich etwas ausgeholt, aber auch, weil es ja sein könnte, daß andere mitlesen, die mit solchen Gedanken vielleicht nicht so vertraut sind. Da bricht so etwas ähnliches wie die Didaktik aus mir hervor, deren persönlicher Freund ich sicherlich nicht bin, die aber aus Gründen der Notwendigkeit in mir eingelagert ist. Kunst ohne Vorbildung, das ist ja das Problem, das die Kunst mit vielen hat. Ich hatte das mal angerissen über den Blick nach oben. Da waren Tropfkerze und ich auch bereits in den Himmel geraten, jeder auf seine Weise, ich dabei, wie des öfteren, ein wenig in Rage. Die Kunst wird im Schulischen eindeutig und seit langem als Nebensächlichkeit abgetan. Aber gleichzeitig jagen die Lehrer die Schüler in Ausstellungen wie die über Leonardo da Vinci. Mit Schwerpunkt Technik wohl, der geniale Konstrukteur, Zeichner aber nebenher, völlig außer acht lassend, daß wir uns hierbei bereits wieder bei τέχνη (téchne) befinden. Es gibt nichts zu verstehen, wenn wir uns nicht damit beschäftigen. Wie oft habe ich, gerade unter Jüngeren, Überraschung erlebt und großes Interesse ausgelöst, wenn ich historische Zusammenhänge erklärt habe. Das Grundwissen dazu zu vermitteln, ist Aufgabe der Schulen. Aber dort, in Kunst+Erziehung lernen die Kinnings allenfalls Häuschen und Bäumchen malen und zeichnen, schlimmer noch: jeder freier Gedankengang wird ihnen (zuvor bereits im Kindergarten) wegtrainiert – ein Haus hat nunmal vier- oder rechtecking zu sein, ein Baum hat einen Stamm und eine Krone. So sehen dann auch die Dörfer und Städte und die Auslagen der Kaufhäuser aus. Wie die abgewrackte deutsche Regierung, die vermutlich selber glaubt, sie habe das (Vier-)Rad erfunden. Die Kirche, vor allem die christliche, wird so gerne und penetrant und indoktrinierend als die große Baumeisterin oder Mäzenatin oder was sonst noch alles zitiert. Meine Güte, früher hatte der Mensch nichts anderes als sie und den lieben Gott. Und deren Stellvertreter auf Erden samt Vasallen hatten nunmal das Sagen und das Geld. Das hat sich mit dem aufkommenden Bürgertum kaum geändert. Einen anderen «göttlichen» Bezug konnte und wollte sich kaum jemand vorstellen, aber er ist nunmal vorhanden, worauf Tropfkerze mit Schopenhauers WWV verweist. Womit wir wieder am Anfang wären. Über das Risiko der Beschneidung staatlicher Kulturförderung ein andermal — ich bin heute irgendwie gar nicht so gut beisammen (wahrscheinlich muß ich bereits wieder an die mir morgen bevorstehende kirchliche Veranstaltung denken). Aber Sie, Frau Damenwahl und ich, dürften da ohnehin ziemlich einer Meinung sein. Was uns nicht hindern soll, am Thema zu bleiben; wozu selbstverständlich auch das Theater gehört (dem ich vor langer, langer Zeit mal als [Produktions-]Dramaturg angehörte, was aber eigentlich erst im nächsten Kapitel zum belgischen Adel zur Sprache kommen sollte — und das steht an, will ich hier doch kein reines Kulturdiskussionsforum betreiben; die Kunst hat mich schließlich lange genug immer nur getrieben). Soeben Interessantes zum Thema (Kirche) entdeckt: Religionsgeschichte
Weil Frühling gerade das Thema ist. Mit dem der reisende himmlische Bote in Afrika es allerdings nicht so hat. Ob die Dame hinter ihm ihn deshalb des Platzes verweist, ist uns nicht bekannt. Aber als Gute Hirten sind beide bereits in die Geschichte eingegangen.
Helios hat seinen Wagen wieder aus der Garage geschoben, na ja, ein paar Stunden dauert es schon noch, bis Arno Schmidts Sonne wieder aufgeht, wenn sie sich denn überhaupt blicken läßt hier in Kurz-vor-hinter-Sibirien, aber mein etwas konfuser (Bio-)Rhythmus(-wecker) hat eben gesagt: aufstehen, Büro gehen, du solltest auch mal was sagen, hier in deinem kleinen Forum, du hast das schließlich ausgelöst. Andererseits machen die Damen und Herren das hier so fundiert, daß mir kaum etwas zu sagen bleibt, bis vielleicht auf zarten Hinweis, unterm Strich dann doch nicht über eine ganz so undifferenzierte Auffassung zu verfügen, sondern schlicht vereinzelt eine andere Sichtweise zu verfolgen, mir dabei allerdings das eine oder andere Häppchen aufzubewahren für den Fall, daß ich den Mund auch mal wieder aufkriege. Aber wer schläft, der kriegt nix. Im wesentlichen schließe ich mich an, denke hier ähnlich wir der eine, stimme dort der anderen zu oder mit allen überein oder auch nicht, überlasse ihnen das Feld, nur weiter im Symposion, vielleicht treffen wir uns demnächst, eventuell in der Nähe von Witten-Herdecke, Frau Herzbruch, oder rechts der Isar, gerne das UKE, lieber noch in dieser Gegend auf reichlich Nektar und sprechen das buchreif. Ich aber öffne jetzt ein neues Türchen in meinem lustigen Adventskalender. Einen von Mark erwähnten Aspekt will ich herausgreifen: «Werbung sei Kunst.» Davon mal abgesehen, daß ich in den achtziger Jahren die Tatsache an die öffentlich-rechtliche Pforte genagelt habe: die Werbung klaut bei der Kunst, tendiere ich auch heute noch nicht dazu, Michael Schirner rechtzugeben. Sicher, die Zeiten haben sich insofern geändert, als die Werbung sich nicht mehr nur sämtliche Anregungen anderswo herholt, sich also abgenabelt, gar laufen gelernt hat. Die Werber hatten eine Zeitlang Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl; sie wollten irgendwann auch, wie die Architekten der achtziger Jahre wieder, Künstler sein. Vielleicht haben einige auch noch heute kleine Schwierigkeiten mit ihrem Selbstverständnis und befragen sich das eine ums andere Mal nach ihrer Daseinsberechtigung in dieser Gesellschaft, aber die dürften in der Minderzahl sein, da eine Welt ohne Konsum und das nicht endenwollende Getöse um ihn heute nicht mehr vorstellbar ist. Auch sind Berührungsängste kaum noch vorhanden, fließen doch die Kreativkräfte der Künstler seit den Neunzigern häufig direkt ein, die Grenzen sind oftmals nicht nur aufgehoben, sondern sie steigen längst selber ein und partizipieren an diesem Mixed-Media, verdienen sich zwischen zwei Filmen oder Bildern ein paar Tütchen Rosinen dazu. Wie der Journalist, der auch manchmal gerne Künstler sein möchte, etwa dort, wo er sich Kritiker heißt, aber letztlich lebt der davon, wenn er seine Nahrung aus demselben großen Topf bezieht; was man Zeitungsartikeln oder Fernsehbeiträgen oft genug ansieht. Wir sind grenzenlos geworden, nicht nur innerhalb Europas. Alles fließt ineinander, gerne nennt man interdisziplinär, was nichts anderes ist als das Verwischen von Unterscheidungsmerkmalen. Es hat oftmals Unterhaltungscharakter, wenn ein pfiffiges, zudem technisch perfektes Filmchen daherkommt, das nichts anderes sein will und nebenbei auch noch die Intention des Auftraggebers erfüllt, auf ein Produkt aufmerksam zu machen. Dem entziehe auch ich mich nicht, bin ich darauf aufmerksam gemacht worden. Da habe auch ich meinen Spaß, sehe vor allem die Urwurzel dieses Genres: auf die Existenz einer mehr oder minder schlichten Sache hinzuweisen. Das kann künstlerisch auftreten. Aber in der Regel ist es nichts anderes als Kunsthandwerk. Letzteres wird nur zu gerne als Kunst bezeichnet. Da sind wir dann wieder zurück bei dem anderen Problem, dem der Bildungseinrichtung, die zwar den Unterschied lehrt zwischen ein mal eins und Daumen mal Pi, aber andere Nuancen durch den Rost eines etwas an den Rändern liegenden Alltags fallen läßt, der jedoch nicht minder zum Leben gehört. Also: selbst dann, wenn einer so einen Werbefilm perfekt gedengelt hat, mag er sich als Handwerker bewährt haben, aber Kunst ist das noch lange nicht. Und ganz arg wird es dann mit dem Selbstverständnis, wenn der Werber erstmal was Überflüssiges erfinden muß, ein paar augenwischerische (um ärgere Formulierungen zu vermeiden) Ingredienzien untermischt und das dann Kunst nennen mag. Ja doch, der Künstler produziert auch nicht unbedingt Überlebensnotwendiges, aber er tut jedenfalls nicht so, als sei es dieses. Ich mag ja ein etwas altbackenes Verständnis von künstlerischer Intention haben, aber die Formel Werbung ist Kunst löst bei mir nicht unbedingt den Prozeß der Erkenntnisfindung aus. Der eine oder andere hat sich darin vor Jahrzehnten schon an mir versucht. Manch ein Steinbruch wurde da verbal gekloppt; der Granit ist nicht weicher geworden. Und auch dann greift die Losung nicht, wenn sie von einem ehemaligen Papst der Produktplazierungsartisten mit Netz und doppeltem Boden erdacht wurde, der später auch noch mit einem Kunstprofessorentalar behängt wurde, obwohl er nichts anderes gemacht hat als Werbung. Aber letzteres wäre dann schon wieder ein neu zu öffnendes Türchen im froh und glücklich machenden Adventskalender. Falls mal wieder nicht alles gesagt sein sollte — hier ist ja Platz genug.
Tod und Wissen Ich habe keinen «sicher bis 400 hochgehenden Totenkopf». Also nicht diesen, von dem die Auktionatorin meint: «Ah na. Des Süscheed is ned jedamans Sache.» Einen anderen eben (von dem hier nur ein unfachmännischer Schuß zu sehen ist). Aber auch dieser bestätigt die Fachfrau und den Fachmann gleichermaßen. Der erste, der dieses Monstrum sah, war eigentlich vom Fach. Der Mediziner hatte dem befreundeten Galeristen geholfen, das stahlrahmenbewehrte doppelköpfige Monstrum fünf Stockwerke hinaufzutragen, da es nicht in den Fahrstuhl (hineinpassen) wollte. Als es von der Schutz- und Sichtfolie befreit war und endlich sicher an der Wand hing, meinte der Pathologe: Na, ich weiß nicht. Ich hab zwar ständig mit diesen Dingern zu tun. Aber ob ich den Tod ständig über meinem Kopf hängen haben mag ...? Als ich ihm dann ein bißchen was über Malewitsch erzählte und auch noch ein paar Schritte in die Romantik ging, da nickte er dann und meinte: Na, wenn man das so betrachtet ... Einer der freundlichen und sorgfältigen Berliner Möbelpacker, die den Doppeltotenkopf vor ein paar Jahren dann vom größten Dorf der Welt in das Büro im kleineren umziehen durfte, war sofort einverstanden: Ich weiß zwar nicht, was es bedeuten soll, aber es hat was. Es erinnerte mich ein wenig an den Maurer, der meine jugendlich-eheliche Wohnung in der weitab vom kulturellen Schuß gelegenen Spandauer Schönwalder Allee auftragsgemäß vom Ballast des Jugendstils zu befreien hatte, da die Vermieter meinten, der würde solch eine jugendliche Ehe sicherlich über Gebühr strapazieren. Mit außergewöhnlichem Grimm sprach der Handwerker damals über diesen ruchlosen Auftrag, über das Banausentum dieser allein durch Erbschaft neureich Gewordenen. Oftmals ließ er Hammer und Kelle liegen, um gemeinam mit mir in euphorische Gesänge über Kunst und Kultur zu verfallen, um anschließend nicht noch ein Stückchen Stuck abzuschlagen, sondern (nach Absprache mit mir; ich würde es schon regeln) lediglich für eine knappe (Sicht-)Verblendung vorzubereiten. Der kurzen Ehe war's nicht eben zuträglich. Aber die Erinnerung an kulturerhaltende Maßnahmen und wunderbare (Kunst-)Handwerker hat's konserviert. Auch die beiden ansonsten für Arbeitsplatten und Regale zuständigen Tischlermeisterfreunde, die berufsfremd den Hunstein festgemauert in die Erden, hier in die Wand betoniert hatten, bestätigten Monsieur Alphonse: «Gerade das Morbide zieht [...] an.» Aber ob das hier auch der Fall war? Der Rede über die Verbindung von Vanitas*-Stilleben zur Blauen Blume und dem ganzen anderen romantischen Begleitgewächs hätte es gar nicht bedurft, Vater und Sohn hätte es auch so gefallen. Aber mitgenommen haben sie die Information gerne. Wie der kürzlich hier als Gast sitzende Kieler Kleinbauunternehmer, der zwangsläufig auch ihm seltsam erscheinende Sanierungswünsche erfüllt, zum Beispiel das Verlangen einer Hausbesitzerin nach Ornamentbändern, dem er nicht so recht folgen konnte. Doch nachdem er infolge eines kleinen Exkurses vom Stilleben in eine noch weiter zurückliegende Vergangenheit weiß, daß das heute zur reinen Dekoration verkommene (und im Baumarkt angebotene) Ornament in früheren Zeiten und an anderen Orten unter anderem Informationsträger war**, quasi Datensatz zur Erklärung der Welt, hat er sich ein kluges Buch gekauft und entwickelt, wenn's schon sein muß, der (im positiven Sinn) leicht esoterisch, also von altem, ursprünglich geheimem Wissen angehauchten Dame Stuckbänder mit ins Zeichenhafte reduzierten Totenköpfen. Und die wundert sich nun über diesen klugen und weisen und wissenden Technicus (téchne: Kunstfertigkeit), also (Kunst-)Handwerker. So bereitet es durchaus Freude, daß man mal was über Theorie zu brotlosen Künsten gelernt hat. Und so der eine oder andere nicht immerzu bei Wikipedia nachschlagen muß ... *Vanitas bedeutet Eitelkeit. Aber nicht eitel, wie es heute verstanden wird, sondern es war gleichzusetzen mit wertlos, vor allem vergänglich. Ein Vanitas-Stilleben verweist auf die Güter dieser Welt vor dem Hintergrund der Vergänglichkeit alles Irdischen. ** «[...] Das kind ist amoralisch. Der papua ist es für uns auch. Der papua schlachtet seine feinde ab und verzehrt sie. Er ist kein verbrecher. Wenn aber der moderne mensch jemanden abschlachtet und verzehrt, so ist er ein verbrecher oder ein degenerierter. Der papua tätowiert seine haut, sein boot, seine ruder, kurz alles, was ihm erreichbar ist. Er ist kein verbrecher. Der moderne mensch, der sich tätowiert, ist ein verbrecher oder ein degenerierter. Es gibt gefängnisse, in denen achtzig prozent der häftlinge tätowierungen aufweisen. Die tätowierten, die nicht in haft sind, sind latente verbrecher oder degenerierte aristokraten. Wenn ein tätowierter in freiheit stirbt, so ist er eben einige jahre, bevor er einen mord verübt hat, gestorben. [...]» Adolf Loos: Ornament und Verbrechen
Lustiges Cabinett Einigermaßen überrascht war ich im Juni über das Interesse an dem Beitrag über die Kunst und Luxus. Zunächst dachte ich ja, die hohe Klickzahl — der bis heute mit Abstand meistgelesene Beitrag meines Logbüchleins — habe mit der suchmaschinenoptimierten Janis Joplin zu tun, die vom Guten Stern auf allen Straßen umgestiegen war auf Gerhard Richter. Rock geht ja immer, allemale, wenn er in die Geschichte (rück-)blickt. Ein Richter auch, ist er doch der teuerste von allen, weitaus teurer noch als eine dieser besternten Karossen für den gehobenen Mittelstand. Sowas interessiert infolgedessen und verständlicherweise den unteren. Doch dann gab's auch noch Kommentare zur Kunst im allgemeinen. So glaubte ich mich letztendlich mit einem ungemeinen Zuwachs an Sachinteresse konfrontiert. Bis ich sah, was und wer die Flut ausgelöst, sie zu meinem bescheidenen Sabbeleckchen weit hinten am Flohmarkt der aufklärerischen Kleinrevoluzzerei hin kanalisiert hat: Monsieur Alphonse vom Tegernsee. Und was er anbietet, wird nunmal genommen. Der Rest interessiert dann nicht weiter. Sei's drum. Aber angenehm ist's durchaus, von ihm empfohlen zu werden. Nicht nur, weil er als Multiplikator, sondern eben nicht zu diesen Kunstmarktkunstsaugern zählt (klar, sonst hätte er dazu nicht seine Visitenkarte abgegeben). Vor allem, weil er jemand ist, der eine Verbindung herstellt zwischen dem Stück Torte, das es umgebende und bereichernde Silberbesteck und dem Blick und der Teilhabe an dem von ihm genüßlich als Rätsel arrangierten Stilleben, das eben nicht nur ein paar Äppel und Birnen und ein bißchen Federvieh zeigt, sondern darauf verweist, daß jede Kunst ihre Geschichte hat, der auch vermittelt, daß ein Stilleben dann doch etwas tiefer in der Historie schürft als das, was einer dieser gedruckten Wissensbriketts mal über das spanische Bodégon freigab: «Ein lustiges Cabinett mit allerlei Eßbarem, was im spanischen Klima wächst.» Wobei das Charakteristische des Bodégon gleich mit weggelassen wurde: Der Begriff Bodégon entstammt dem der Bodéga, jener ärmlichen Spelunke, in der jener billige Wein ausgeschenkt wurde, der die Armut vergessen ließ (und in der man urlaubstechnisch auch heute noch preisgünstig essen kann). Das war nicht etwa eine Fremdenverkehrsdirektorenassistentin — oder besser: langjährige Praktikantin? —, die diese auf Volkslexikonformat reduzierte Informationsflut in brillantem Deutsch auf die kunstbegierige und schlangestehende Gemeinde abließ. Kunsthistoriker waren es allesamt, mehr oder minder gestandene spanische und deutsche, die ihr Wissen auf diese Formel gebracht hatten. Knapp und prägnant. Noch unter dem Twitterlimit. Die Menschheit bloß nicht mit diesem ganzen Hintergrundkram verunsichern, sondern sie sanft an die schönen Künste heranführen. Denn wen interessiert das schon: Die dargestellten Gegenstände der Stilleben verweisen in symbolischem und theologischen Sinn auf den Menschen, deuten in Bildern die Welt oder erinnern an die Vergänglichkeit alles Irdischen. Im Bücherstilleben eines unbekannten Meisters geht eine konkrete politische Aussage auf die Bewegtheit des ersten Drittels des (spanischen) 17. Jahrhunderts auf. Zwar erklärt besagter, von Fachleuten zentnerschwer armenbibelartig befrachtete Katalog, daß die zerlesenen Bücher römische Rechtsschriften sind, verdeutlicht aber nicht, daß hier die Vergänglichkeit, die Auflösung des Rechts in Spanien symbolisiert ist. Weder in einem der fünf Katalogaufsätze noch in einer der Bildbeschreibungen wird auf die religiöse, ergo politische Symbolik der Stilleben hingewiesen. So zum Beispiel, daß im Granatapfel die Einheit der Kirche mit ihrer großen Menge an Gläubigen aufgeht oder er auch als Zeichen der Auferstehung gilt. Die Schwertlilie deutet auf Marias Schmerz hin, Blumen stehen für die fünf Sinne, die den Menschen so stark an das Irdische binden, und Früchte sind Nahrungsmittel der Armen und deshalb am Hof als Dessert verpönt. Solches torkelt mir durch die Ganglien, wenn ich in einer Zeitungsanzeige ein Arrangement vor Landschaft (Orchideen in chinesischer Vase vor Golfplatz) sehe und darunter lese: ein wunderschönes Stilleben, ganz in der jahrhundertealten Tradition dieses Genres. Die Agenturpraktikantin, die diese hochinformative Bildunterschrift im Auftrag des mecklenburgischen Achtzehnlochkunden verfaßt hat, sollte ihr Wissen vielleicht doch weniger aus Kunstkatalogen beziehen und des öfteren mal in elektrischen Tagebüchern stöbern.
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