Zementspaziergang

Ich bin in meinem Dachboden der Erinnerung auf einen Vortragstext gestoßen, der unter anderem einen Exkurs in den Beton zum Inhalt hatte. Zwar ist er etwas betagt, aber nach erneuter Lekture stelle ich fest, wie aktuell er ist. Deshalb (und des offensichtlichen Interesses wegen) stelle ich ihn als mögliche Anregung und in Ergänzung zu Von Bau- und anderen Häuslern sowie Steinbrüche der Formen unverändert hier ein. Ich warf zur Veranschaulichung — so machte man das früher — seinerzeit einige Dias an die Wand, die mir allerdings nicht mehr zur Verfügung stehen, nicht, weil sie dabei kaputtgegangen wären, sondern weil ich mal mächtig aufgeräumt und so Bild-Abfall produziert habe; aber teilweise konnte mir das nette Netz mit Beispielen behilflich sein.


Ich möchte im Rahmen meiner Rede am Rand etwas aufgreifen, das im Zusammenhang mit der Kritik an der sogenannten modernen Architektur als Verursacherin einer Katastrophe für die Menschheit bezeichnet wird. Ich meine das Baumaterial Beton.

Dazu möchte ich aus einem Aufsatz zitieren, den Dolf Schnebli, Professor für Architektur und Entwurf an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, der ETH, in der ersten Ausgabe der Zeitschrift für Architektur — Internationale Beispiele für zeitgemässes Bauen in Beton, veröffentlicht hat. Ich möchte deshalb aus diesem Aufsatz zitieren, weil ich mit Herrn Schnebli im wesentlichen einer Meinung bin und es wohl kaum treffender formulieren könnte. Er schreibt: «Schon lange rege ich mich darüber auf, wie in den Tageszeitungen über das Bauen geschrieben und am Radio darüber gesprochen wird. [...] Wenn gebaut wird und einige Treppen zu einem Eingang führen, wird nicht von baulichen Hindernissen für Behinderte, sondern von architektonischen Barrieren gesprochen. Damit werden Architektur und die Architekten zu Bösewichten gestempelt.» Er, Schnebli, «wurde recht stutzig», als er «in einem Text Friedrich Dürrenmatts den Begriff die verbetonierte Landschaft las. «Wenn selbst ein begnadeter Schriftsteller solche Clichés übernimmt, ist es an der Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, woher solche Missverständnisse kommen. Die verbetonierte Landschaft — die Stadt als Betonwüste — im Beton-Ghetto wohnen — die verbetonierte Zukunft — alles Ausdrücke, die von vielen Leuten gebraucht werden, die weder wissen, was Beton ist, noch sich darum bemühen, genau zu erkennen, woher das Unbehagen stammt, dem sie mit übernommenen Schlagworten Ausdruck verleihen.» Jetzt mache ich im Aufsatz von Dolf Schnebli* einen weiten Schritt nach vorn, einmal, um zum von mir angeführten Beispiel Olympiadorf, sprich der Möglichkeit des menschenwürdigen Bauens in Beton zu kommen (die durch immense Schludrigkeit herbeigeführten Bauschäden lasse ich aus Zeitgründen außer acht), und zum anderen, um die These — mit dem anschließenden Bildbeispiel — zu widerlegen, mit Beton könne man nicht ästhetisch bauen — was alleine sowohl sprachlich als auch inhaltlich falsch ist. Schnebli schreibt — und damit ist sowohl die aktuell praktizierte postmoderne Architektur gemeint als auch falsch verstandener Denkmalschutz: «Dem Problem der Einpassung, das etwelche geistige Anforderungen stellt, wird dadurch ausgewichen, dass alte Fassaden stehen gelassen werden und, wie es in der Fachsprache heisst, dahinter ausgekernt wird. Man tut so, als ob das Ganze ein altes Gebäude sei, und im Innern wird gedankenlos gebaut wie eh und je. Getragen von der Nostalgiewelle der öffentlichen Meinung wird das Echte vorgetäuscht und so die Welt wieder in Ordnung gebracht.»

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Exkurs mit Bild:
Texte zu den einzelnen Dias


Machen wir mal an Hand der Bildbeispiele so eine Art Lebenslauf in Sachen Beton durch. Wir können uns aussuchen, ob wir in einem Einfamilienhaus aufwachsen wollen wie in diesem von Mario Botta im schweizerischen Pregassona. Dieses Haus aus Zementsteinen steht auf einem kleinen Hanggrundstück in einer weitläufig bebauten Wohngegend des nördlichen Stadtrandes von Lugano. Das Gebäude ist innen wie außen in Sichtmauerwerk aus grauen Zementsteinen erbaut. Innen wurden die Wände weiß gestrichen. Die ebenen Deckenplatten sind aus Stahlbeton, die an der Unterseite naturfarben belassen und nur durch die sauberen Schalttafelstöße fein unterteilt sind.

Möglicherweise haben sich unsere Eltern aber entschlossen, uns in einer, mit Verlaub, Ausgeburt postmoderner Architektur aufwachsen zu lassen. Diese Stileversammlung aus Beton stammt von Ricardo Bofill und steht in der Nähe von Versailles östlich von Paris. Bei aller Kritik an dieser Formensprache muß jedoch gesagt werden, daß der Fahrverkehr, wie im Münchner Olympiadorf, außen herum beziehungsweise unterirdisch geführt wird. Kritik dann jedoch wieder an den kleinen Grundrissen von maximal siebzig Quadratmetern und der geradezu konventionellen Bauweise — und das bei zweiunddreißig verschiedenen Wohnungstypen.

Welchen Schaden wir auch immer durch die Architektur erlitten beziehungsweise in welchem Maße sie zu unserem kindlichen Wohlbefinden beigetragen hat: wir müssen zur Schule, auf daß aus uns etwas werde. Gehen wir mal davon aus, daß unsere Eltern nach Amsterdam umgezogen sind und in die Apollo-Schule von Herman Hertzberger gesteckt haben; möglicherweise zuvor in den der Schule angeschlossenen Kindergarten. Die in Typus, Größe und Erscheinungsbild fast gleichen Schulgebäude unterscheiden sich äußerlich lediglich durch die Fensteranordnung infolge ihrer jeweils anderen Lage auf dem Grundstück und etwas in der Eckausbildung am SchuIhauseingang. Die Konstruktion, als architektonisches Ordnungsprinzip aufgefaßt, setzt sich zusammen aus einem zweiteiligen Stahlbetonskelettgefüge mit Auskragungen, ebenen Deckenplatten sowie Treppen- und Stufenanlagen, die zwischengehängt sind. Die außen zum Teil das Skelett verdeckende Ausfachung besteht aus Zementstein-Sichtmauerwerk, desgleichen im Inneren.

Gesetzt den Fall, wir sind mit unseren Erzeugern in die Schweiz übersiedelt und leben in Monte Carasso. Dann ließe sich in der Turnhalle der örtlichen Primarschule, gebaut von Luigi Snozzi, der damit 1985 den schweizerischen Architekturpreis Beton erhielt, doch recht gut toben, und nicht nur in der Halle selbst. Die Turnhalle wurde nach einem neu erstellten Rahmenplan von Snozzi in das historische Klosterarreal von Monte Carasso integriert. Das neue Material Sichtbeton, so der Architekt, «führt [...] zu einem Dialog mit den alten Steinmauern und den verwaschenen Verputzen, ohne jedoch ursprüngliche Formen und Materialien durch nostalgische Interpretationen wiederzugeben».

Wir haben sämtliche Bildungshürden genommen und folgen einem attraktiven Angebot des Österreichischen Rundfunks — schließlich wollen wir nicht in der öffentlich–rechtlichen Diaspora arbeiten —, ins Landesstudio Burgenland, bedacht mit einem passablen Redakteursgehalt, um über Kunst und Architektur zu sinnieren. Wo ließe sich das besser tun, wie ich meine, als in diesem Betonbau von Gustav Peichl. Hier wurde meines Erachtens mithilfe der Grundzüge des Neuen Bauens städtischer vorgegangen als in seines Landsmanns Hans Hollein nachmodernem Museum Abteiberg im ebenso provinziellen Mönchengladbach, in dessen Schönheit man sich auch schonmal verläuft.

Es könnte aber auch sein, daß wir den Sicherheitsbestrebungen unserer Eltern gefolgt sind und einen anständigen Beruf erlernt haben, der uns alle Chancen der freien Wirtschaft bietet. Dann sind wir möglicherweise bei dem Bauunternehmen Zueblin gelandet und somit in dessen neuem Firmensitz in Stuttgart. Gebaut hat ihn Gottfried Böhm, zu dessen Architektur ja wohl weiter nichts zu sagen ist — sie spricht für sich, wie dieses Gebäude, das siebenhundert Arbeitsplätze beherbergt. Nur so viel vielleicht: Die Konstruktion der massiven Bürotrakte zeigt eine Mischbauweise. Neben den vorgehängten Brüstungselementen mit angesetzten Trennwandpfosten wurden alle tragenden Stützen, innen ebenso wie außen, und sämtliche Balken des Skelettgefüges aus Stahlbeton vorgefertigt und am Ort montiert. Lediglich die Deckenscheiben und aussteifenden Wände sind aus am Ort gemischtem Beton.

Es ist uns gelungen, nach einem mehr oder minder arbeitsreichen Leben, zu so viel Geld zu kommen, daß wir uns zu Lebzeiten einen Privat-Friedhof entwerfen und bauen lassen können — wie das die italienische Fabrikantenfamilie Brion in San Vito, nördlich von Treviso in der Region Venetien gelegen, getan hat. Der Entwurf dieser zweitausend Quadratmeter großen Anlage am Rande des kleinen Dorffriedhofes stammt von Carlo Scarpa und ist sein letztes (bis 1976) zu Ende geführtes Werk. Hier wird, so meine ich, deutlich, daß sogar eine so sakrale Angelegenheit wie ein Friedhof — auch in Beton — unpathetische Würde ausstrahlen kann.


* Dolf Schnebli, Gestaltung von Betonbauten, in: Bauen in Beton, Zeitschrift für Architektur, Internationale Beispiele für zeitgemässes Bauen in Beton, Zürich 1986, S. 3

Angeregt zu diesem Zementausflug wurde ich Mitte der achtziger Jahre von Klaus Kinold, der die neue Zeitschrift gegründet hatte und die nach wie vor existiert: Bauen in Beton • Construire en béton, wenn auch unter neuer Regie. Zwar ist das Blatt neu gestaltet, aber die Inhalte mit umfassenden Aufsätzen und internationalen (Bild-)Beispielen wurde beibehalten. Es kann bei cemsuisse kostenlos bezogen werden.

 
So, 31.01.2010 |  link | (7336) | 18 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Steinbrüche der Formen

Fortsetzung der Ursachenforschung zu Bau- und anderen Häuslern

Das Prinzip Hoffnung nannte Ernst Bloch das mal. Dort hinein hat er unter anderem geschrieben: «Architektur insgesamt ist und bleibt ein Produktionsversuch menschlicher Heimat.» Zwischen 1938 und 1947 schrieb er das. Alle dahingefahrene Hoffnung scheint ein guter Nährboden zu sein. Erst kamen die Trümmerfrauen, dann wurde auf-, wurde neu gebaut. Und wie! Die Architekten und deren Helferlein rasterten sich die Finger wund. Bis in die siebziger Jahre. Doch bereits zehn, fünfzehn Jahre zuvor hatte die Kritik eingesetzt. Karl Pawek, damals Chefredakteur der angesehenen Zeitschrift magnum, schrieb von der absolut vertanen Chance, ein menschenwürdiges neues Deutschland entstehen zu lassen. Einhellig waren einige der Meinung, Architekten, Bauherren aller Art und die Bauindustrie hätten eine Tristesse ohnegleichen geschaffen. Auch der selbsternannte «Schwätzer» hatte in die Diskussion eingegriffen. Bazon Brock, später Professor für Ästhetik und Kunstvermittlung in Wuppertal und mittlerweile emeritiert, fragte laut und vernehmlich: «Wie kommt es zu dieser Kaninchenstallarchitektur, zu der Legebatterienarchitektur oder, wie ich damals geschrieben habe [wenn ich mich recht erinnere in einer Schrift der Gesamthochschule Kassel], zu dieser Pissoirhausarchitektur, sprich München-Perlach, sprich Nordweststadt Frankfurt, sprich Gropiusstadt in Berlin et cetera.» Ich fragte ihn, wie es seiner Meinung nach dazu kommen konnte. Er kam zu einer, wie er meinte, «einfachen» Antwort:

«Es kommt zu einer solchen desastreusen Architektur, weil die Architekten tatsächlich das bauten, was sie für modern hielten. Des Rätsels Lösung hieß schon damals für uns: Diese Leute haben ein falsches Verständnis des Verhältnisses von Plan und Realisierung Das sind alles KZ-Bauplaner, nämlich deckungsgleiche Umsetzung von Plänen in die Wirklichkeit. Sie sind nur am Plan orientiert, sie verfertigen das Ganze auf dem Reißbrett wie ein Schreibtischtäter, und die hundertprozentige Umsetzung in die Wirklichkeit muß selbst dann zu einem KZ führen, wenn der Täter am Reißbrett der liebe Gott persönlich gewesen wäre.»

Dieser Schelte gegen selbsternannte Architekten der Moderne pflichtete einer bei, wenn auch um Moderation bemüht. Sicher, sagte Winfried Nerdinger mir vor längerer Zeit, «die Architektenschaft hat beim Wirtschaftswunder kräftig mitgemacht und stand da an führender Stelle. Es wurden einzelne Elemente des Neuen Bauens, der modernen Architektur, formale Elemente, Oberflächenstrukturen übernommen, Glasfassaden, Skelettstrukturen und ähnliches. Die Inhalte, die dahinter steckten, die finden sich allerdings in dieser Architektur fast nicht.» Diese Architekten haben die Prinzipien der Moderne schamlos ausgeschlachtet. Der auch soziale, gesellschaftserneuernde Gedanke des Neuen Bauens, dem das Bauhaus zuzuordnen ist, blieb völlig unbeachtet, man bediente sich lediglich der technischen Möglichkeiten wie beispielsweise kostengünstiger Teilevorfertigung. Es ging also um Kostenreduktion, sprich Profit, und weniger um Heimat. Nicht vergessen werden darf: Die Berufsbezeichnung Architekt war nicht geschützt. Wer einen Bleistift halten und damit Linien ziehen konnte, der tat es auch.

Ich hatte das Glück, zu denen gehören zu dürfen, dessen Architekten behutsamer mit den Menschen umgegangen, denen Inhalte vorrangig waren. Jahrelang war ich auf dem Weg zur im Münchner Olympiagelände lebenden Freundin an einem Haus vorbeigefahren, dessen Fassade ich als derart abscheulich empfand, daß ich jedesmal laut ausrief, in ein solches Gebäude würde ich nie einziehen. Einige Zeit später tat ich es dann doch. Ich war aus meiner fündundvierzig Quadratmeter kleinen Behausung in der Maxvorstadt ausgewiesen worden, und die Gefährtin hatte die etwas mehr als doppelt so große am Rand des geschätzten Olympiaparks aufgetan. Bereits beim Eintreten in den Hausflur nahm ich alle meine Flüche zurück. Ein via Glasdach lichtdurchflutetes Treppenhaus, in das problemlos pro Etage noch einmal jeweils zwei Wohnungen Platz gefunden hätten, hatte sie getilgt. Ganz oben unterm hervorragend isolierten Flachdach in der geradezu «raffiniert» geschnittenen Wohnung verhielt es sich ebenso. Überall Licht. Die Küche, das Bad waren kleiner gehalten, aber dorthin gelangte man, wie in alle anderen Räume, über einen zentralen Flur, der viele Male als Austragungsort von Bacchanalien dienen sollte. Nach draußen blickte man durch fassadenweite Doppel-, sogenannte Kastenfenster, die nicht nur für eine äußerst angenehme Klimatisierung sorgten, sondern obendrein als Zuchtstation für alle erdenklichen Nutzpflanzen dienten, die bei entsprechender Witterung in der etwa acht Meter langen Südloggia Platz fanden: Kartoffeln, Kürbisse, Tomaten und andere mehr, mein Kleingarten. In dieser Wohnung saß alles am richtigen Platz, auch eine Kleider- oder Vorratskammer war vorhanden, nirgendwo mußte ein Schrank hingestellt werden. Für vorübergehend Verzichtbares gab es einen Keller neben der Tiefgarage, in den ich mit dem Fahrstuhl fahren durfte. Müll mußte ich keinen hinuntertragen, nicht, weil ich keinen produziert hätte, sondern weil es dafür einen Schlucker gab. Das Haus war, das hatte ich innerhalb kürzester Zeit festgestellt, perfekt durchgeplant und Anfang der sechziger Jahre ebenso gebaut. Der Architekt hatte exakt die Vorgaben des Neuen Bauens erfüllt. Bald zwanzig Jahre war ich dort Mieter zu günstigen Konditionen, und ich wäre es noch, hätten mich die Schicksale nicht in alle Winde zerstreut.

Die Architekten des Neuen Bauens wollten ihren Teil zu einem neuen gesellschaftlichen Bewußtsein beitragen. Es ging «danach» schließlich auch darum, das sogenannte Dritte Reich und dessen Wegbereitung vergessen zu machen. Das sollte nicht immer gelingen, viele Gebäude aus der Zeit des Übergangs zur Nazi-Architektur haben sich unter den Bomben weggeduckt, und manch eine dieser «gemütlichen» Kleinteiligkeiten wurde fortgesetzt. Die Bauherren der späteren Nachkriegszeit, Wohnungsbaugesellschaften und dann Versicherungsunternehmen, hatten ohnehin nur Sinn für die Immobilien des Mehrwerts. Nicht vergessen werden darf dabei, daß es die Volksvertreter in den Rathäusern waren, die Bebauungspläne verabschiedeten und Genehmigungen erteilten. Oft genug saßen sie in Juries, die über das architektonische Wohlbefinden der gesamten Bevölkerung entschieden. Der Leverkusener Architekt Ulrich von Altenstadt erzählte mir einmal von seiner Nebentätigkeit: «Ich bin häufig in Preisgerichten, wo ja immer die Fachpreisrichter, die Fachleute, mit den Laienpreisrichtern, das sind dann meistens die Vertreter des Bauherrn, ob's nun Ratsmitglieder sind, Mitglieder des Vorstands einer Industrie oder was auch immer, sich zusammensetzen, um nun eine Auswahl unter einem Angebot von Architekturplänen zu treffen. Und ich muß regelmäßig feststellen, daß über Fragen von Architekturqualität oder Baukunst bei den Laien sehr viel weniger Kenntnisse vorhanden sind wie über den letzten Tabellenstand der Fußballauseinandersetzungen oder sonstige Dinge.»

Doch die fachliche Qualifikation von Ratsherren und Vorstandsmitgliedern ist es nicht allein, die mit beigetragen hat zu Beschlüssen, über deren Verwirklichung seit Jahrzehnten geklagt wird. Es gibt diese unselige Verquickung von Architektur und Geld, die einen ganz erheblichen Anteil an dem so beklagten Dilemma hat. Der ehemalige Wiesbadener Stadtbaurat Paulgerd Jesberg verriet mir zu Lebzeiten: «Die Wettbewerbe sind ja zuallererst und meistens immer von der öffentlichen Hand, von den Kommunen, in der Nachkriegszeit meistens auch von den Kirchen ausgeschrieben worden. Nun ist es aber so: Die Gemeinde als Hoheitsträger oder der Bauherr, welcher auch immer, ist anderen Einflüssen ausgesetzt als denjenigen Entscheidungen des Preisgerichts. Und dann wird es sicherlich den vierten Preisträger oder den Ankauf bevorzugen, weil der gerade in seinem Ort ansässig ist, alle Fäden zu den ansässigen Bauunternehmern besitzt und deshalb mit Sicherheit auch den Preis dann zugespielt bekommt durch irgendwelche Entscheidungen, die die Gemeindeverwaltung dahingehend zu treffen hat. Daraus möchte ich auch entnehmen, daß von dieser Seite aus sehr viel Einfluß auf die Architektur, auf die Qualität von Architektur und vor allen Dingen auf die ästhetische Qualität von Architektur genommen worden ist.»

Nach dem Wiederaufbau mit allen seinen Monströsitäten, die zweifelsohne Ideologien geschuldet sind, die keine Differenzierungen zuließen, kam die Postmoderne, dieser «Steinbruch der Formen», wie der Stuttgarter Architekturlehrer Jürgen Joedicke diesen Versuch der Verschlimmbesserung genannt hat. Die Postmoderne, das hieß nicht, wie ein von mir hochgeschätzter ehemaliger Kollege einmal köstlich witzelte, daß die Post nun modern baut. Es ist ein ursprünglich aus der US-amerikanischen Literaturwissenschaft kommender Begriff aus den sechziger Jahren, geprägt vom Bruder des Publizisten Charles Jencks, der ihn später in seine Branche überführte. Damit sollte, in der hier stark vereinfachten Erklärung, signalisiert werden: Es muß ein Ende haben mit diesem phrasenhaften Gedresche von gesellschaftlichen Neuerungen, die den besseren Mensch hervorbringen solle, am Ende gar mit einer neuen Formensprache (um die es hier geht, alles andere ist alles andere). Endlich sollte wieder alles möglich sein. Alles ist machbar, Herr Nachbar, so übersetzte des Volkes Mund das anything goes, bekannter geworden durch Andy Warhol. So durfte, wie eingangs erwähnt, auch die Architektur wieder Kunst sein, präziser: endlich flügges Einzelkind der Kunst werden, weg vom Rockzipfel der «Mutter aller Künste» (Vitruv), herausgelöst aus gesellschaftlichem Anspruch auch der Bauhäusler, den Begriff l'art pour l'art ganz im postmodernen Sinn aus dem Steinbruch der Geschichte nehmend und in das neue Weltbild hineinklebend.

Ein gigantischer Rummel setzte ein, den Charon treffend als «das Phänomen der ‹stararchitecture›» charakterisierte. Es war der Beginn einer Verpackungsarchitektur, die auf Inhalte keinerlei Wert mehr legte. Neben- oder Abfallprodukt waren dubiose «Phantasien», etwa die Künstlerei eines Hundertwasser, der selbst zehn Jahre nach seinem Tod von da oben herunter noch durch Städtchen und Städte eiterpickelt, nicht nur der wirtschaftlichen Gesundung, sondern auch der der lieben Kleinen dienend; und lange wird's nicht dauern, bis ein holsteinischer oder niederrheinischer oder badischer Dorfbürgermeister auf die Idee eines Gedenkbrunnens kommen wird. Schließlich hat auch Keith Haring die Schulen erobert, wie mittlerweile die Kunst die Märkte der Freiheit von jedem tieferen historischen Bezug. Wer mag denn daran noch denken, wie Charon gestern anmerkte, daß die Bauhaus-Siedlungen wie beispielweise die in Frankurt am Main «ursprünglich einmal als sozialer Wohnungsbau konzipiert worden waren, dann aber rasch von der kreativen Klasse übernommen wurden»? Die Martensteins dürften ihr nicht zuzurechnen sein, es sei denn, die monetäre Gestaltungsfreiheit der Postpostmoderne machte die Tore weit(er). Immerhin begann am «gestalterischen» Rand der geradezu ausufernden Diskussion, während der Jürgen Habermas vom (mittlerweile längst wieder vergessenen) unvollendeten Projekt Moderne schrieb, auch der Laie sich ein wenig für das zu interessieren, das ihn die vierundzwanzig Stunden eines Tages umschließt, Und er stellte fest, daß er wieder mehr liebens- und lebenswerte Architektur haben möchte, in der er sich zuhause fühlen, in der er wieder flanieren kann. Man begann wieder Passagen, Arkaden und Galerien zu bauen, entwarf wieder Plätze, die dem Miteinander dienen sollten. Doch man braucht sich nur die Prosa der Immobilienhändler anzuschauen, um zu wissen, was mit dieser «galanten» und «noblen» Architektur gemeint ist: Wohnen in der Welt des Shoppings.

Daran hatten bereits kurz nach dem letzten Krieg einige Städteplaner gedacht, als sie das planten, allerdings eher im Sinn des Produktionsversuchs menschlicher Heimat. Dafür konnte Winfried Nerdinger «ganz konkret den sogenannten Abel-Plan nennen. Adolf Abel war Nachfolger Theodor Fischers auf dem Lehrstuhl für Städtebau an der Technischen Universität München und war in den zwanziger Jahren der Architekt Konrad Adenauers für den Aufbau eines neuen Köln. Er hat im Auftrag des Oberbürgermeisters in München eine Planung entwickelt für den Wiederaufbau, der von einer konsequenten Trennung von Fahrverkehr und Fußgängern ausgeht. Und zwar wollte er die ganzen oder zumindest Teile der Wohnblöcke im Innern öffnen und Fußgängerzonen durch diese geöffneten Wohnblöcke hindurchführen. Und diese Fußgängerzonen, dafür hatte er ein ganzes sternförmiges System entwickelt, von einer neuen Stadtmitte aus, die hätten nun nach seinen Vorstellungen die Möglichkeit zu einer enormen architektonischen und urbanen Vielfalt geboten, mit Passagen, Durchgängen, Ladenzonen, mit Bereichen für Straßentheater, Straßencafes usw., all das, was man eben heute wieder künstlich versucht zu bauen.» Daß der Abel-Plan nicht realisiert wurde, erscheint fast logisch. Denn dann, so Nerdinger, hätte man «natürlich in die Besitzverhältnisse eingreifen müssen. Man hätte eben die Blöcke aufbrechen und den Blockinnenraum gleichsam verstaatlichen müssen. Und davor ist man eben zurückgeschreckt.»

Die Grundvoraussetzungen für solche Vorhaben wurden in den Länderparlamenten später verabschiedet — bis auf das bayerische, dort schaltete man sich schon damals aus dem gemeinsamen Programm aus. Doch das entsprechende Gesetzesinstrumentarium, das weniger auto- und dafür mehr menschenfreundliche Innenstädte hätte schaffen können, wurde nicht genutzt. Die Wiederaufbaugesetze vergilbten in den Schubladen der Ministerien, ohne das man je Gebrauch davon gemacht hätte. Stuttgart, Köln, Hamburg, Hannover, Frankfurt am Main, aber auch kleinere Städte machen deutlich, wie man in der Nachkriegszeit und noch viele Jahre danach die gute Stube einzurichten gedachte. Ein falsches Festhalten am Eigentumsbegriff hatte städtebauliche und architektonische Häßlichkeiten entstehen lassen, die die Menschen in die Randzonen getrieben haben. Und selbst dort, in dieser «desastreusen Architektur», wie Bazon Brock die Satellitenstädte genannt hat, mußten sie dann irgendwann Mieten zahlen, die den innerstädtischen nahe kamen, ohne jedoch die Vorteile urbaner Vielfalt genießen zu können.

In der Mietpreisentwicklung bundesweit ganz vorne steht seit langem München, früher gerne selbsternannte «heimliche Hauptstadt» oder als «größtes Dorf der Welt» bewitzelt. Dort zwackt heute, auch in Randbereichen, eine Dreizimmerwohnung vierzig Prozent und mehr eines Durchschnittseinkommens ab. Im Norden der Republik sieht es nicht anders aus. Selbst im Speckgürtel Hamburgs kommt man, je nach Lage, etwa in Lütjensee, wo die besserverdienende SUV-Gesellschaft einen Trutzberg bewohnt und deshalb alle anderen auch tiefer ins Portemonnaie greifen müssen, teilweise an Chefredakturs-Mieten heran, an die der Isestraße; etwas günstiger wird es in der Verlängerung über den Eppendorfer Baum, die dann Misestraße genannt wird. Speckgürtel, das heißt auch: mit dem Auto hinein nach Hamburg. Denn wer monatlich fünfzig Euro Miete weniger zahlen möchte oder wegen der hohen Mietkosten auf dem Land ein Kind, einen Baum, Sie wissen schon, in welcher Reihenfolge auch immer, dann der biblischen Diktion auch des Hausbaus gefolgt ist, der ist in der Regel abgehängt. Die S-Bahn fährt nicht bis ins Dorf, auch nicht der Bus aus oder in die nächste Kleinstadt, denn wenn Schulferien sind, geht gar nichts mehr, nicht einmal die vier Verbindungen täglich.

Aber jetzt befinden wir uns bereits auf dem Dorf, von dem viele Städter sich gesagt haben: Bei solchen Mieten schaffe ich mir doch lieber Eigentum — und zersiedele ein bißchen Land. Was auch die alteingesessenen Dörfler tun, «denn in so einen alten Kasten», wie Dieter Wieland das einmal beschrieben hat, «würde sie nicht hineinheiraten».


Und das ist ein Thema für sich. Das sollte ich besser gesondert behandeln. So sich überhaupt jemand dafür interessiert ...
 
Sa, 16.01.2010 |  link | (8094) | 29 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Von Bau- und anderen Häuslern

Hier hängt der Aufhänger für das da unten. Der dritte Leser wird vielleicht auch noch eintreffen.

Über Architektur wird eigentlich nur geschrieben, wenn es um die solitären Ereignisse geht. Wenn es nicht heißt höher (alle vier Wochen ein neuer Wolkenkratzer kurz vor dem Endkilometer) oder weiter (Landnahme des Luxus und der Moden in den Golfstaaten) et cetera, dann dreht es sich um das Kunstwerk, das die Architektur spätestens seit den achtziger Jahren wieder sein darf. Kürzlich erst habe ich in einer dieser feuilletonistischen fernseherischen Huldigungen eines der vielen neuen Museen, von denen es bald mehr geben dürfte als Kunst, gehört, wie der Sprecher des Autors (Autorin?) die für unsere Zeit symptomatischen, absolut ironiefreien Worte sprach: Ihm (ihr?) wäre so, als störe bei Zaha Hadids neuem Kunstmuseum in Rom die Kunst ein wenig. Das erinnerte mich an das Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt am Main, entworfen vom von mir durchaus geschätzten Richard Meier, der anfänglich das Aufstellen von Vitrinen und das Anbringen von lichtabweisenden Jalousien untersagen wollte. Bisweilen unterliege ich dem Eindruck, daß das letzte Museum, das ausschließlich für die Kunst als Präsentationsort gebaut wurde, die in den sechziger Jahren von Hanns Schönecker entworfene Saarbrücker Moderne Galerie ist. Aus dieser ablenkungsfreien Architektur weht ein wenig vom Lüftchen des Bauhaus, das in seiner Intention Licht und Durchblick verhieß, aber letztendlich nur noch als Epoche wahrgenommen und oft genug bespöttelt wird, gerne von Qualitätsjournalisten, deren Blick von keinerlei Sachkenntnis getrübt ist. Herr Martenstein bildet da keine Ausnahme, wenn er für ein paar Tage in ein als Torso gerademal einigermaßen gerettetes Denkmal einzieht und aus der Perspektive des Bewohners luxus-modernisierten Alt- oder schlichten Neubaus seine flotte Feder richten läßt. Die fachlich fundierteren Kommentare zum Text, die etwas Hintergrundwissen vermitteln, interessieren da nicht weiter. Heutzutage hat die Verpackung einen höheren Stellenwert als der Inhalt.

Eigentlich geht es beim Wohnen ja meistens weniger um das denkmalerische Bauhaus an sich; es wird letztlich häufig stellvertretend für das Neue Bauen genannt, das den meisten, die darüber lesen oder auch schreiben, nicht unbedingt bekannt sein muß. Angefangen hat es mit den Nöten der Menschen, die im ausgehenden 19. Jahrhundert in den Hinterhöfen der Städte zu hausen gezwungen waren. Im selben Jahr, in dem der größte Bauherr aller Zeiten deutscher Reichskanzler wurde, verabschiedete der Internationale Kongreß für Moderne Architektur, die sogenannte CIAM, die Charta von Athen. Mit ihr wurde unter anderem auch für diejenigen menschenwürdiger Wohnraum gefordert, die mit dem Beginn der Industrialisierung eingepfercht worden waren in Gebäude, die nach Gesichtspunkten der reinen Unterbringung entstanden. Billigheimerwohnen. 1909 hatte Adolf Loos, auch bekannt als der Mörder des Ornaments, gefordert, die Architektur sei aus der Kunst herauszulösen, da sie nicht Privatsache des Künstlers sein dürfe. Es folgten im Wien der zwanziger Jahre Arbeitersiedlungen, über die Ilja Ehrenburg in Iswestija schrieb: «Ihr habt nicht mit Gewehren begonnen, sondern mit Zirkel und Lineal.» Andere Städte folgten dem nach. Dem hinzuzurechnen sind, wenn auch nur bedingt, da sie via Bauhaus bereits höhere Wohnqualität aufwiesen, beispielsweise Siedlungen in Frankfurt am Main oder Stuttgart. Gerne hat man diese erhöht, vor allem in der Nachkriegszeit, indem man Türen und Fenster durch hochwertigere Materialien wie Kunstschmiedeisernes oder Glasbaustein ersetzte. So erlangte man unter anderem mehr bunte Gemütlichkeit.

Wohnraum sollte geschaffen werden, der erschwinglich war. Das hatte beispielsweise kleinere Räume zur Folge, auch engere Türen und vieles dieser Art mehr, was aber im Vergleich zu den vorigen Bedingungen geradezu üppig zu nennen ist. Wenn ein heutiger Hüne des Journalismus, noch dazu mit den etwas runderen Hüften des Fortschritts mit seiner Schreibe da nicht durchkommt, dem wird das tatsächlich zum Problem. Ich war einige Male zu Gast in Gebäuden des Bauhauses und bin überall durchgekommen. Wohlgefühlt habe ich mich obendrein. Aber ich bin ja auch kein Germane. Einem solchen hatte Le Corbusier nach der beklagten Deckenhöhe in den fünfziger Jahren geschrieben: Selbst bei einem Meter achtzig passe noch ein zwanzig Zentimeter hoher Helm auf einen Germanenkopf, und dann wäre immer noch genug Platz; ich meine für eine Feder, so genau weiß ich es nicht mehr, und der Briefwechsel ruht auf meinem Dachboden der (Architektur-)Geschichte. Ich habe aber auch Jahrzehnte unter solchen Decken verbracht, ohne daß sie mir auf den Kopf gefallen wären. Davon mal abgesehen, daß mittlerweile sogar die ganzen besserverdienenden Martensteins ihre Altbauwohnungen tieferlegen, weil die Gehälter nicht so schnell wachsen wie die Gewinne der Energiekonzerne.

Aus dieser Perspektive möge das betrachtet werden, wenn von Bauhaus et cetera die Denke ist, vorausgesetzt, sie findet statt vor der Schreibe. Man war noch nicht an der energiepolitischen Erkenntnis angelangt, das Klima werde es schon richten mit der Wärme. Damals waren noch so Problemchen zu bewältigen wie etwa die Teilevorfertigung, dieser Art des Bauens mit Beton, das die Kosten enorm senken sollte. Die ganzen Martensteins schreiben sich einen Wolf gegen diesen Baustoff, der bereits von den alten Römern eingesetzt wurde, auf deren hohe Baukunst man sich so gerne beruft. Richtig eingesetzt gibt es kein besseres Material für die Massenbauweise. Und das haben uns die Bauhäusler beziehungsweise die Herren des Neuen Bauens gelehrt. Was später daraus gemacht werden sollte, steht auf einem anderen Blatt (das ich noch vollschreiben muß). Deshalb wohl wird er allüberall verblendet, auf daß sie verschwinde, diese Geisel der Architektur, städtisch gerne unter unter Granit oder gar Marmor. Die norddeutschen Häuslebauherren kleben ihre traurigen Kisten aus Gasbeton mit Klinkern zu, um regionale «Authentizität» sowie eine stabile Bauweise aus Backstein zu vermitteln. Innen drinnen haben sie auch nicht mehr Platz als die zu Zeiten des Neuen Bauens. Und meistens hängen sie im Randbezirk der großen Stadt oder im ohnehin völlig zersiedelten Land als Appendix eines kaputten Dorfes so dicht aufeinander, wie es die Sparkassen erlauben. Und abends in der Kneipe, so sie überhaupt noch eine haben oder sie sich dort noch ein Bier leisten können, wettern sie gegen das Material, das ihnen ihren Traum vom Eigenheim überhaupt ermöglicht. Denn für das Holz, in dem sie neuerdings so gerne wohnen würden, hätte es nicht gereicht. Außerdem brauchen sie das jetzt fürs Verheizen in ihrer hochmodernen Feuerstelle. Preislich ist da kein Unterschied.



Ich mache jetzt erstmal Pause. Es scheint doch länger zu dauern.

Überarbeitet um 12.05 Uhr.

 
Mi, 13.01.2010 |  link | (8268) | 17 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Mensch, Freundlichkeit und (Sinn-)Bild




Da ich bei mir selbst nie so recht weiß, woran ich mit mir bin, betreibe ich ja unter anderem diese Freizeitbeschäftigung hier. Ich schreibe etwas auf, ohne zu wissen, wohin die Gedanken führen. Oder ich versuche alte neu zu denken. Immer wieder mal. Sonst werde ich am Ende noch zum Ideologen. So wege ich mich zum Ziel, völlig desinteressiert daran, ob es überhaupt eines gibt. Das ist ja das Angenehme an diesem Zustand (hier). Ich bin überdies alleine deshalb zum Lehrer völlig ungeeignet, da ich nie genau weiß, ob es richtig ist, was ich lehre. Das weiß ich so genau jedoch erst, seit ich das nicht mehr tue. Das ist das Angenehme am Älterwerden, man nähert sich unaufhaltsam diesem Zustand der Glückseligkeit, der das Fragen wieder erlaubt, ohne die Ängste, sich selbst infrage zu stellen. Deshalb spielt es auch weiter keine Rolle, ob man weiß, woran man ist.

Leichte Bedenken habe ich bei der angeführten Menschenfreundlichkeit. Oder mal so herum: Was dem einen freundlich erscheint, muß dem anderen nicht unbedingt dasselbe bedeuten. Mich zum Beispiel stößt eine gewisse Form von Kitsch besonders ab. Sicher, der Begriff wird ohnehin nie zuende definiert sein, da das Denken sich wandelt; ob nun durch Täuschung von außen gesteuert oder hausgemacht (mittels der Zutaten vom Discounter). Es gibt, in Frankreich übrigens noch sehr viel ausgeprägter als in Deutschland, diesen quasi ecken- und kantenlosen Kitsch, der von Luigi Colani stammen könnte, wäre er nicht so durchideologisiert in die Nähe von Marius und Jeannette (vergleichbar mit Lieschen und Fritzchen Müller) gerückt, der östlich des Rheins gerne Gemütlichkeit genannt wird und westlich davon jene Intimité ausstrahlt, die den (heutigen) Idioten der Antike bestimmt: Doch wie's da drinnen aussieht, geht niemanden etwas an, meinte einst Franz Lehár. Ein bißchen was hermachen können, wenn Besuch kommt, das möchte dann aber doch sein.

Es gibt mir zuviel Angebot an Menschentümelei, die sich vor allem deshalb gut verkauft, weil andere Möglichkeiten unbekannt sind. Sie bietet in erster Linie (Schein-)Identität an, oft massenhafte. Und die kann, die Geschichte belegt es, gewaltig in die Irre führen. Man wählt, was man kennt und am meisten Bequemlichkeit verspricht. Oder ein wenig eigener Möchtegernsehnsucht. Wenn Menschlichkeit etwas ist, das von innen kommt und sich draußen als völliges Durcheinander zeigt, fernab jeder fremden Formbestimmung, sondern auf Eigenheit beruht, dann geht mir das Herz auf, und ich setze mich mittenrein in die Herzenansammlung. Ich habe mich beruflich bedingt in so manchem Haus aufgehalten, in dem nicht eine Spur eigenen Lebens zu sehen war, so daß ich gänzlich unberührt von Feinem oder Unfeinen wieder gegangen bin. Das war allerdings nie der Fall, wenn der Aufenthalt von der Bereitschaft zur Auseinandersetzung begleitet war. Dabei hat mich manch ein Baumschüler positiv überrascht. Die meisten Kitschiers des Mitfühlens sind mir dort über den Weg gelaufen, wo gerne von Bildung gesprochen wird — in der Interpretation dieses Begriffes, die Wachstumsförderung im Sinne raschen Einsatzes an der Front des Bruttosozialproduktes meint. Mit Geschmack hat das nichts zu tun.

Ist Inhaltsleere tatsächlich eine «dumme Ausrede»? Was geschieht, wenn das dezent kleingehaltene arabeske Schriftbild in Anusnähe auf dem Popöchen der Akademikerin, im Sommer der Mode wegen für alle sichtbar am algerischen Strand, derselben übersetzt wird? Etwa, nur mal als Beispiel: «Dies ist ein Hort der Lust.» Sicher, das ist interpretierbar. Aber der Mann mit dem elektrischen Farbhämmerchen hat's auch nicht gewußt, daß sein Kumpel aus Marseille, dieser Beur oder wie dieser Kanake heißt, sich ein Scherzchen mit ihm und jetzt mit ihr erlaubt hat, obwohl ihr Hintern gar nicht gemeint war. Ebensowenig wußte der münchnerische Kollege des Meisters aus Wanne-Eickel, was es bedeutet, das maorische Tatoo, das er verewigt hat auf den Oberarm des jungdynamischen Sparkassenangestellten, früher Beamter, heute eher Banker genannt — etwa so, wie der Schütze Arsch, der in Afghanistan das deutsche Grundgesetz verteidigt, mittlerweile landläufig als Militär bezeichnet wird —, der nicht nur der Kleiderordnung seines Instituts wegen im Sommer ungern kurzärmelige Hemden trägt, daß dieses hübsche und reizvolle, während eines Pauschalurlaubs gesichtete und abphotographierte polynesische Ornament aussagt: «Scher' dich aus meinem (Neusee-)Land, du europäischer Verbrecher.» Ich weiß nicht so recht — manch ein Zeichen hat sich so in seiner (Be-)Achtung verschoben und ruft nach Entfernung, seit dessen Bedeutung erklärt wurde.

Allen anderen ist das egal, klar. Aber, architekturrevoluzzerisches Gepoltere hin oder her, in diesem Bereich stimme ich Adolf Loos auch heute noch zu, der im übrigen mit seiner Polemik dem Zeitgeist entsprechend etwas übersteigert weniger das Ornament zum Verbrechen als mehr den Träger dieser Dekoration für minderbemittelt erklärt hat. Aber das haben Sie ja bereits gesagt. Wenn auch etwas anders. Doch es ist ja längst nicht alles so mit Bedeutung aufgeladen wie hier.

Ich höre übrigens allen gerne zu, die etwas zu sagen haben.
 
Mo, 26.10.2009 |  link | (2479) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Nicht nur um Adolf Loos

geht es ja (beispielsweise), lieber Herr Prieditis (ich tu's der Länge wegen vorne reinheben) um dessen sprachlich heute nicht mehr so recht in die Zeit passende flammende architekturrevolutionäre Rede vom Ornament als Verbrechen.

Selbstverständlich hat zum Beispiel ein Dankwart Guratzsch recht, wenn er meint, es sei keines. Aber verstanden hat dieser feuilletonistische Rosenzüchter (gleich dem Bundeskanzler seiner ach so heimeligen, mittlerweile politisch ein bißchen [was von allem] denkmalgeschützten Kindheit), wie so viele Autoren des weltlichen Qualitätsjournalismus nicht sonderlich viel von dieser Intention. «Der moderne Mensch», schrieb Loos damals, «der sich tätowiert, ist ein Degenerierter oder Verbrecher.» Na ja, das mit dem Verbrecher hatten wir bereits, aber die Degeneriertheit unterschreibe ich auch heute noch. Nicht nur als Geschmacksfrage. Dieser Tage sah ich in einem Fernsehbeitrag, daß ganz Fortschrittliche des Körperdesigns sich mittlerweile insofern ihrem Verständnis von Globalisierung unterwerfen, als sie sich Löcher in die Ohren bohren, mit deren Hilfe sie dann baumstammgroßen Schmuck transportieren können.

In gewisser Weise bringe ich dafür sogar Verständnis auf. Als die Punks, die ich als zwar laute, aber teilweise ungemein sympathische Menschen mit hohem sozialem Ethos kennengelernt hatte, mit ihrem Körperschmuck von der Modeindustrie vereinnahmt worden waren (und mittlerweile sogar als politisch rechts eingeordnet werden) sich neue Bemalungsfelder suchten, hat unsereins das resignierend registriert. Aber manch einer war unter ihnen, der wußte, was das eine oder andere Zeichen bedeutet, das er sich unter Schmerzen sonstwohin hat farblich einhämmern lassen. Da rennt bald die gesamte durchindustrialisierte Menschheit enthaart, dafür aber ganzkörpergezeichnet herum wie die Maori — und hat nicht annähernd eine Ahnung, daß jeder einzelne schmerzhafte Stich in die Haut eine bestimmte Bedeutung hat, die anschließend mit hocherhobenem Haupt gegenüber den (immer noch oder schon wieder anwesenden) westlichen Missionaren ein Leben lang getragen wird. Hierzulande möchte sich das eine oder andere dereinst revoluzzerische Pastorentöchterlein darüber beklagen, daß die Krankenkasse die Tilgung des auf die Schulter gerutschten Arschgeweihs nicht übernehmen möchte, das nach einem Flatratebesäufnis bei irgendeinem Studivz sichtbar wurde und nun die Karriere als Personalberaterin gefährden könnte.

Es ist wohl das Hauptproblem, daß sich kaum jemand Gedanken darüber macht — und, einmal mehr, auch keinerlei Anleitung findet, das zu tun. Nehme ich nur das Beispiel des mit den Mauren ab dem fünften Jahrhundert nach Europa eingewanderte Ornaments. Der Islam verbietet die Darstellung von Mensch und Tier. In der jüdischen Religion verhält es sich ähnlich; angerissen hatte ich das mal unter Fremde Federn. Deshalb wird abstrahiert, es entsteht etwas, das wir als zwischen den Zeilen bezeichnen, also in einer geistigen Krypta verstecken würden: es kryptisch zu nennen haben wir uns angewöhnt. Es geht eben weit über die reine «inhaltsleere», rein behübschende Dekoration hinaus; deren Existenz nicht bestritten werden soll.

Sie wissen es, andere eben nicht. Vielleicht hole ich für die auch hier bei Gelegenheit mal weit aus. Aber gerne lese ich auch von Ihnen darüber. Ich bin ja nicht lernunwillig. Andererseits sollte man vielleicht beispielsweise erstmal den Auszug aus Ornament und Verbrechen lesen. 1908 veröffentlicht, hat dieser Aufsatz eine außerordentliche Aktualtät. Ein wenig weiterhelfen könnte er beim weiterdenken. Auch wenn man nicht damit übereinstimmt.
 
So, 25.10.2009 |  link | (5534) | 18 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Holzgeschnitzte Schwelgereien

Nie ohne Zusammenhänge

Nein, nicht schon wieder diese ganze Natur mit diesen ganzen Naturbeflissenen, und dann auch noch alles zu Fuß, drumherum diese ganzen Jungdynamischen mit ihren eigentlich unbesteigbaren Geräten. Auch die Glücksidylle hatten wir doch gerade erst. Meine urbanistischen (irgendeinen Ismus benötige auch ich) Wurzeln ankern tief, nach Pflastertreten war mir, wie in alten Zeiten. Und fahren wollte ich auch, mit dem Schiffchen, endlich mal wieder das tun, was Herr Kid vor einiger Zeit wiedererweckt hatte in mir. Zauberhaft war es, der Oktober leuchtete uns gülden die Köpfe aus. Und neu erlebt habe ich auch, wie schnell ein Kind seine Angst umwandelt in abenteuernde Neugier, etwa vor fremden Ungetümen wie gewaltig brummenden Fähren, die in Hamburg herangedonnert kommen wie die Busse in Paris, ein bißchen Schaulaufen der Piloten für die vielen Omis und Opis im Sonntagsanzug auf Besuch in der Stadt, die allerdings an eine derartige Gewandung gewöhnt ist, wenn auch überwiegend alltags. Nie äße ich anderswo, was hier als Nahrungsmittel angeboten wird, aber an den Landungsbrücken, in Finkenwerder und in Teufelsbrück ergebe ich mich meinem Schicksal: in der Friteuse angerührter Bratfisch und Pommes mit einer Mayonnaise, die einzig geeignet ist, sie den süßen Schratzen aus dem Gesicht, ach was, vom gesamten Körper und dessen Nachbarschaft wegzuwischen. Ein schöner Tag war es, und nicht einmal die vielen Pappnasen störten mich, wie der Husumer Freund selig diejenigen nannte, die ihm sein Städtchen verunstalteten, von denen er aber gezwungen war zu leben mit seinem selbstgeräucherten Stinkefisch, bis er ihn nicht mehr riechen konnte und mit dem Motorrad ungebremst an einen Baum fuhr.

noch mehr Holz

Da saßen wir nun, nicht mehr so ganz im Zentrum der schönen Stadt, rekapitulierten kurz den ereignisreichen Tag ohne besondere Vorkommnisse. Möge ein solcher gern bald wiederkehren, meinte ich und klopfte auf Holz. Es klang jedoch nicht so, sondern eher, als ob ich auf einen Karton geklopft hätte. Das brachte mich zur Frage, ob denn demnächst richtiges Material gewerkt würde? Schließlich sprach ich das an einen Tischler, als hoffnungsloser Idylliker, dessen Augen zu leuchten beginnen, wenn ihm fein gefertigte Tischlerarbeit unter dieselben kommt. Sowohl Langzeit- als auch Kurzzeitgedächtnis gerieten ins Schwelgen. Damals, vor dreißig Jahren, als der Freund, der in Oberammergau Herrgötter schnitzen, aber zuvor richtig Schreiner gelernt hatte und danach ein wunderbarer Künstler wurde, mir zum Geburtstag ein Regal schenkte, das ich zuvor beinahe im Urzustand sehen durfte, als wahrlich nicht rohen, sondern sehr feinen und obendrein geradezu wunderbar duftenden Holzblock, und mich dann deshalb am Jubeltag jubeln ließ, weil dessen fein verarbeitete Einzelteile millimetergenau von Hand aufgestellt und eingepaßt wurden. Und viele Jahre später dann die Arbeitsplatte für ein ganzes Computerarsenal, aus schlichter Fichte, die er selber, als Lehrling noch, für mich unzählbar oft mit Bienenwachs poliert hatte und die ich nach wie vor so gerne anschaue und anfasse wie den danebenstehenden ledernen Papierkorb, den die andere Freundin, zu einem anderen der dreißiger Geburtstage für mich angefertigt hatte, nach der Schreibtischauflage ein oder zwei Jahre zuvor.


Auslöser für meine schwelgerischen Erinnerungen waren letztendlich die anstehenden Anschaffungen der mittlerweile sechsköpfigen Familie für das im Bau befindliche Haus unweit des Sees am hamburgischen Stadtrand, das sich als arbeitsreiches Weihnachten erweisen dürfte. Es sei doch naheliegend, daß er quasi qua Berufung sich das alles selbst baue. Dasselbe habe ihn sein Chef auch schon gefragt, kündigte sich eine mich ziemlich erschütternde Entgegnung an. Aber er könne sich das nunmal nicht leisten, alleine das erforderliche Holz für einen Küchenausbau koste erheblich mehr als alleine die notwendigen Geräte wie Geschirrspüler oder Kühl- und Gefrierschrank. Also kaufe er bei einem wie dem schwedischen Chinesen, von denen es ja viele gebe, nicht nur den weltverbreiteten einen.

Eigentlich wollte ich einwenden, daß ebendiese Billigheimer, die ja längst keine mehr sind, sondern übermäßig teure Müllhändler, die gnadenlos ganze Landstriche abholzen und dennoch nichts daraus produzieren als von Pappe umhüllte verseuchte Luft und dabei zu Lasten völlig unterbezahlter ehemaliger Kleinbauern auch noch Gewinne machten, als ob sie mit bestem Mobiliar aus Rosenholz handelten, daß ebendiese Verheißer heimeligen Glücks unter anderem aus seinem Beruf eine Handlangerei der weltweit operierenden Konzerne gemacht hätten, deren Geschäftsführer nichts anderes anstrebten als Margen jenseits jeden Wertes, egal ob sie Bücher verkauften oder sogenannte Lebensmittel oder Fernsehen oder Flatrates für alle möglichen Besäufnisse. Ich ließ es sein, wußte ich doch, daß er es wußte. Wir sprachen dann ein wenig darüber, welch ein großartiger Beruf das doch sei, in dem er manchmal tätig sein durfte, wenn sein Chef einen Auftrag ergattern konnte, dessen Erfüllung auch noch dreißig oder viel mehr Jahre danach noch leuchtende Augen zu bewerkstelligen vermögen, wie beispielsweise den hundert Jahre alten Apothekerschrank da oben, den er mir vermacht hatte.

Doch dann bewölkten mich wieder die Gedanken an diese Handwerkermärkte, auf denen die Menschheit wie besessen diesen unsäglichen Tinnef kauft, von dem ihr weißgemacht wird, er sei von Schmieden oder Töpfern hergestellt, aber aus den gleichen Fabriken kommt, die unsere Kulturlandschaften plattwalzen, deren Direktoren sinnentleertes Fachwerk und Ornament produzieren lassen, weil das Volk es eben nicht weiß, weshalb es nicht schön sein kann. Etwa, weil ihm die Information vorenthalten wird, die früher mal beispielsweise im Ornament steckte, aber nur für diejenigen lesbar war, die sie auch lesen konnten ...


Aber auf diesen daraus möglicherweise entstehenden Gartenzwerg in der Boutique komme ich irgendwann nächste Woche. Vielleicht.
 
Fr, 23.10.2009 |  link | (3378) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Handwerk und Konjunktur
Mi, 21.10.2009 |  link | (2770) |  |  | abgelegt: Form und Sinn



 

Kunst und Handwerk

Ein Tusch für alle Trittauer auf der ganzen weiten Welt.

In einer eMail von gestern schrieb mir ein Autor, zu dem ich nach fünfzehn Jahren (endlich!) wieder Kontakt aufgenommen hatte:

«ihre mail ist ein sturz zurück in vergessene zeiten. diese geschichten waren für mich sehr wichtig. ich hab da erstmals knapp zu schreiben versucht.
wenn ich so was heute wieder mache, kriege ich die versammelten klugscheißer auf den hals. grad bescheinigte mir einer, meine alte geschichte über die edelweißpiraten sei grob und holzschnitzartig geschrieben.
der arme wicht suggeriert natürlich, holzschnitte wären das schlimmste, was es geben kann.
was da die alten holzschneider sagen würden, die ich so schätze? die expressionisten, und die mittelalterlichen und erst recht der reutlinger hap grieshaber?»


Der Zufall will es, gerade erst vor einer Woche auf diese alte Technik gestoßen zu sein. In Trittau war es, einem Städtchen im Hamburger Speckgürtel, wohin ich mich von meiner Kulturreiseführerin Frau Braggelmann auf einen dieser obligatorischen, vermeintlich dem Erntedank gewidmeten Herbstmärkte schleppen ließ. (Kann man ja mal machen, hieße es bei Frl.deVille.) Zu einem Bratwurststand ließ ich mich quasi um die Ecke bringen, ein ganz bestimmter mußte es sein, meinte die Fachfrau für den Verzehr nach und von diesen seltsamen Lukullitäten. Die Kurve kriegend tat sich mir mit einem Mal eine Fata Morgana auf. Ich konnte es nicht glauben, aus diesen ganzen Tinnef-Büdchen und -zeltchen ragte ein kleines hallenartiges, geradezu angenehm lichtes Gebäude heraus, das bald ein Stück von Herrn Nannens Emdener Kunsthalle assoziierte. Darin eine etwa 100 mal 150 Zentimeter große Holzplatte, die derart beschnitten dalag, als ob sie gleich losdrucken wollte.

Holzschneider, da sagen Sie was, darauf werde ich meinen alten Bekannten hinweisen müssen. Das Publikum, wenn es sich nicht überhaupt abwendet von diesem schrecklich modernen Ding, das sich wahrscheinlich Architektur oder so ähnlich nennt, und lieber unter dem später angeklebten klassizistischen Giebel in die gemütliche fachgewerkte Wassermühle aus dem sehr frühen 18., fast noch 17. Jahrhundert tritt, ob es denn weiß, welch alte Technik da angewandt wird? Die sich allerdings in zeitgenössischem Gewand zeigt: Vexierspiel* ließe es sich nennen, was von der Platte runter auf die großen Papierbögen gedruckt ist, das mit jeder Bewegung des Betrachters immer neue Formen annimmt, sogar, wenn die Phantasie es zuläßt, figurative, weil man ja sonst nichts erkennt. Ohne die didaktische Maßnahme des Vorzeigens der Holzplatte aus dem Baumarkt funktionierte das wohl auch nicht. Das Interesse wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch dann rasch enden, wenn demnächst die eigens gekaufte Druckpresse aufgestellt sein wird, wenn die Technik erklärt ist. Das Produkt selbst, das man ansonsten für so eine Pinselei halten würde, erregt nicht unbedingt das Interesse der Öffentlichkeit. Man wendet sich lieber dem Herbstmarkt und dessen Produkten zu: tönern glasierte oder gläserne Kugeln oder eherne rostige Verbiegungen, die das gute alte Handwerk suggerieren. Daß diese versammelten Kunsthandwerker ihre Vorgartenverletzungen in der Regel aus einer chinesischen Fabrik für den europäischen, ach was, für den globalen Dekorationsmarkt beziehen, das ist nicht von Belang. Hauptsache, es ist schön.

Bereits seit 2006 steht dieses verhuschte Teilchen dort, das an eine Moderne erinnert, mit der die Post nicht unbedingt zu tun hat. Des öfteren war ich an diesem Platz, und sei's, um das bei mir immer übrigbleibende Weißbrot — meine Herkunft verlangt immerzu Frisches — von den Schützern der Tierwelt ungerngesehenerweise zu verfüttern. Auch bei mir bricht die Idylle sich manchmal Bahn. Nie habe ich dieses Gebäude wahrgenommen. Vermutlich deshalb, weil ich immer beglückt den Enten zugeschaut habe, wie die sich prügelten, als ob die Trittauer sie allesamt schützten, indem sie ihnen nichts zu fressen gäben, also immer die Weite des Sees im Blick. Deshalb wohl blieb mir die dortige, in Trittau angekommene Tragweite der Moderne bislang verborgen. Es brauchte also eine verrostete Bratwurst, um mir zu beweisen, daß das Jahrhundert des Lichts auch dort zaghafte Durchsetzungsversuche unternahm.

Sicherlich ist das Industriearchitektur, die dort steht (und die obendrein, auch das ist bemerkenswert, studentisch entworfen ist). Aber das ist ja kennzeichnend für die Moderne (nicht unbedingt das Studentische); sogar ein Sheed-Dach ist angedeutet (was wiederum auf eine erfreuliche Beobachtungsgabe aufs Historische schließen laßt). Und daß der glasfreie Teil des Gebäudes verklinkerter Beton ist, ließe sich in freundlichem Wort als landschaftsangepaßt bezeichnen. Jeder Häuschenbauer dieser Region macht das so — ohne Klinkerlitzchen geht hier gar nichts. Béton brut? Widerlich. Da steckt ja bereits das Brutale drinnen, die Brut des Bösen. Nun ja, Napoleon hat's in diese Ecke irgendwie nicht mehr so recht geschafft, und so richtiges höfisches Leben gab's auch nie in der Gegend. Sonst könnten sie's anders aussprechen: brü, ein wenig wie [ʒyː], aber dahinter dann ein sanftes, dennoch deutliches t. Brut wie roh, auch rein, etwa wie wirklich guter trockener blitzsauberer, also echter, nach solchem schmeckender Champagner; den man hier verständlicherweise auch nicht so mag. Art Brut wäre noch zu erwähnen, nicht die Kapelle, sondern die Kunstrichtung, nach der die sich genannt hat. Und dann eben Béton brut. Womit wir wieder bei einer Kapelle wären. Die von Ronchamp wäre beispielsweise zu erwähnen, gebaut von Le Corbusier, dem gerne nachgesagt wird, er hätte die(se) Brutalität erfunden.

Im Gebäude zeigt man ein wenig davon, wie schön dieser Baustoff sein kann, mit dem bereits die alten Römer die Gegend verschandelt haben. Deshalb wollen die meisten ihn nicht sehen, diesen häßlichen Kasten. Weshalb man auch nicht hineingeht. Wenn man ihn überhaupt bemerkt in seiner Zurückhaltung. Fast verschämt steht er im Gärtchen, nahezu verdeckt von der guten alten Zeit namens Wassermühle. Nichtmal eine Photographie dieses Gebildes kriegen sie ganz vorne auf ihre Seite gestellt, winzig abgebildet ist ein wenig Innenleben des Alten, das Neue zeigt sich auch nach gut drei Jahren seiner Eröffnung noch in Form einer Zeichnung, und nach der dann, endlich, ganz am Ende, unter den Honoratioren, zwei dürftige Bildchen, an die gelangt man allerdings auch nur über quasi monetäre Umwege. (Und ich war ja auch zu faul ... Nein, ich begründe das jetzt mal mit dieser Natur, die zur Zeit noch überall im Weg herumwächst. Aber dann, wenn sie erstmal beseitigt ist von der Natur!)

Nun, so ist es eben im Leben: Wer immer nur auf den Ameisenpfaden seinem Gewerk nachgeht, dem bleibt das Meiste verborgen. Zum Beispiel der angenehme Kontrast, der Nachweis, daß das Alte mit dem Neuen korrespondiert, wenn es behutsam eingesetzt wird (und konveniert). Sicher, so richtig getraut haben sich die Trittauer nicht, sonst hätten sie es nicht verklinkert. Aber das ist ein Kompromiß, mit dem sich leben läßt, zumal der Blick nach Ostfriesland den Gedanken trägt. Auch die kleinen Fehler sind läßlich, wenn man nicht gerade Künstler ist und dort eingemietet arbeitet. Die Sonne, die ab mittags die drei Ateliers heftig bescheint, gehört eigentlich ausgesperrt, des Artisten Licht ist das aus dem Norden, weil gleichbleibend und schattenfrei. Aber, na ja, wann scheint dort schonmal die Sonne. Doch vermutlich, werte ich jetzt mal zugunsten des Objekts überhaupt und somit positiv, war das planerisch nicht durchführbar. Im Alter wird man vermutlich kompromißbereiter ...

Und somit: Ohne jeden Zweifel ist das Licht angekommen in Trittau. Die Sonne ist aufgegangen. Ex oriente lux. Und das im Westen.


* Sie möge mir bitte verzeihen, die (dort eingemietete) Künstlerin, deren schöne Arbeiten wir gesehen und mit der wir lange gesprochen haben, deren Name mir jedoch entfallen ist und den die wassermühlige Informationsseite nicht preisgeben will. Aber die erwähnten Arbeiten sowie die schattenspielenden Malereien auf Plexiglas habe ich noch in Erinnerung ...
 
Do, 15.10.2009 |  link | (2654) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Heim und Heimat

Folgendes sollte eigentlich drüben bei Vert hinein, wo gerade die Rede ist über Architektur im allgemeinen und Postmoderne im besonderen. Aber ich möchte ihm seine Seite nicht zustellen mit anderer Leute Zeugs. Deshalb also hier einiges, was Mitte der achtziger Jahre gedacht, aufgeschrieben und gesagt wurde.

In Ernst Blochs Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung ist die Architektur, die Umweltgestaltung ein Punkt der Auseinandersetzung, ein Teil seines philosophischen Utopia'. Nach Bloch ist die Architektur ein «Produktionsversuch menschlicher Heimat». Heimat ist Blochs Gegenbegriff zu dem der «Entfremdung». Die Symptome der Entfremdung führt Adolf Max Vogt in seinem Buch Architektur 1940 – 1980 auf die in steigendem Maße veränderte Arbeit durch den Industriekapitalismus mit der Folge der Umweltbedrohung zurück. Dadurch, daß der Arbeiter, vor allem der Fließbandarbeiter nichts Ganzes mehr herstelle, sondern nur noch endlos wiederholte Teile, trete eine Sinnentleerung ein: Arbeitsentfremdung. «Die Techniken», so Vogt, «verhalten sich zur Umwelt aggressiv — sie irritieren und unterbrechen die zyklischen Abläufe: Umweltentfremdung.» Bauen müsse deshalb sein oder endlich werden — und damit greift er Blochs Begriff auf — «ein Produktionsversuch menschlicher Heimat».

Friedrich von Schiller unterscheidet in seinen Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände so: «Das Angenehme vergnügt bloß die Sinne und unterscheidet sich darin von dem Guten, welches der bloßen Vernunft gefällt. [...] Das Gute, kann man sagen, gefällt durch die bloße vernunftgemäße Form, das Schöne durch vernunftähnliche Form.»

Schillers Betrachtung des Ästhetischen erinnert an das Postulat der Bauhaus-Künstler zu Beginn der zwanziger Jahre. Es war — unter anderem — die Forderung nach der guten Form, die auch das industriegefertige Produkt ausweisen sollte, die sich ergibt aus vernunftbestimmtem Materialeinsatz und entsprechendem Gebrauch.

Mit der positivistischen Ästhetiktheorie des Bauhauses zeichnete sich allerdings auch die Gefahr ab, daß es in der Folge weniger auf systematische Durchdringung und vielmehr auf die Verschleierung des Aggressionspotentials industrieller Fertigung ankommen könnte. Bauhaus-Kritiker wie der US-amerikanische Architekturhistoriker Alexander Tzonis machten Bauhaus-Lehrern wie Walter Gropius, Mies van der Rohe oder anderen den Vorwurf, sie machten «aus jedem Teeglas ein Problem konstruktiver Ästhetik». Doch bei aller — bereits postmodernistisch anklingenden — Kritik am Bauhaus: Wenn Mies van der Rohe geäußert hat, «wir sollten neue Formen entwickeln», so bezog sich das nicht nur auf eine Vereinfachung der Produktion, sondern sie sollte auch eine Veränderung politischer Verhältnisse spiegeln — hin zu mehr Demokratie.

Ein weiterer Apologet und Mitbegründer einer neuen, durchdachten Form um einer neuen Lebensqualität willen war Le Corbusier, der Schöpfer des Beton brut , also des ‹reinen›, unverhüllten, sichtbaren Betons (auch) als preiswerten und jederzeit verwendbaren Baustoff. Er äußerte 1937, allerdings kaum ahnend, welche (teilweise bewußten) Mißverständnisse, ja gezielte Fehlinterpretationen das zehn, zwanzig Jahre danach hervorrufen sollte: Da die Innenstädte dem zunehmenden Individualverkehr keinen Raum mehr böten, müsse man sie abreißen und nach außen verlegen — die Ville verte, die grüne Stadt oder Stadt im Grünen.

Diese Argumentation kam in der Phase des Wiederaufbaus manch einem Großbauunternehmen, in Abstimmung mit euphorisierten Politikern, gerade recht. Zwar ließen sie im Einvernehmen mit Städteplanern und Architekten die Innenstädte oder das, was von ihnen übriggeblieben war, nicht ganz abreißen, ließen ein paar Reste doch noch in unseren Zentren stehen. Doch Satellitenstädte setzten sie zuhauf in den Sand — und nicht nur in den märkischen, sprich (zum Beispiel) Märkisches Viertel in Berlin. Bazon Brock (und vor ihm andere) gab diesen zubetonierten Stadtrandgebieten drastische Namen: Kaninchenstall-Architektur, Legebatterien-Architektur oder Pissoirhaus-Architektur, sprich Gropius-Stadt in Berlin, sprich Nordwest-Stadt in Frankfurt am Main, sprich München-Neuperlach et cetera, et cetera.

Nachdem Adolf Hitler das Tausendjährige Reich ausgerufen hatte, bediente er sich, um die Bevölkerung darauf einzustimmen, in hohem Maße der Architektur und der Kunst. Mit entscheidend war dabei, daß er seine Lieblingsdisziplin Architektur wieder heimholte ins Reich der Künste — ein Akt gegen die von ihm so gehaßte, vom Sozialen und Aufklärerischen bestimmte Architektur-Avantgarde. Die hatte 1933, dem Jahr, als der Möchtegern-Kunstmaler aus Braunau am Inn Reichskanzler wurde, die Charta von Athen veröffentlicht. Mit ihr forderten die Vorreiter einer neuen Architektur nicht nur Licht, Luft, Sonne und Grün auch für die weniger Betuchten, sie wies den Architekten auch eine neue Aufgabe im sozialen Bereich zu: Nicht mehr als Künstler sollten sie sich verstehen, sondern als Ingenieure, die kostengünstig möglichst viel Wohnraum schaffen. Dieser Modernen Architektur, auch Neues Bauen genannt, machten Hitler und seine Vasallen im Reichsbauministerium mit einer ‹Baukunst› den Garaus, deren Palette von der biederen Verzerrung des wieder aufgenommenen Heimatschutzstils hinreichte bis zum gigantomanischen Staatsstil im Sinne eines Hauses der Deutschen Kunst in München oder eines Zeppelinfeldes, dem von Hitlers Leibarchitekten Albert Speer geplanten Nürnberger Reichsparteitagsgeländes. Dieses auf Ewigkeit getrimmte Bauen nannte Dieter Bartetzko in seinem Buch Illusionen in Stein «Stimmungsarchitektur».

Nachdem während der ersten zwei, drei Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein Teilaspekt der Modernen Architektur, nämlich das kostengünstige Bauen durch rationelle Planung und Teilevorfertigung, zugunsten eines Bauwirtschaftsfunktionalismus schamlos ausgeschlachtet wurde, verkündeten Stimmungsarchitekten den Tod der Moderne, einer Moderne, die in der Bundesrepublik architektonisch so gut wie nicht stattgefunden hat. Trotzdem nannten sie und ihre Apologeten diese dann folgende, als neu propagierte Ansammlung von Versatzstücken aus den verschiedensten vergangenen Architekturepochen Postmoderne, also Nach-Moderne.

Als «historische Requisitenschau» ist diese Stil -Richtung der Architektur zu bezeichnen, die nach Charles Jencks benannte Postmoderne (im übrigen ein Begriff, den er aus der Literaturwissenschaft übernommen hat), von ihm untertitelt mit Radikaler Eklektizismus — eine Architekturrichtung, die zwar von der Fachwelt theoretisch als «abgefeiert» gilt, jedoch in der Praxis in voller Blüte steht, und nicht nur, weil kommunale Planungen oft zwei Jahrzehnte überdauern. Unter der Postmoderne werden die unterschiedlichsten historischen Alternativen zusammengefaßt. In seinem Buch Die Sprache der postmodernen Architektur mißt Jencks der regionalistischen Architektur große Bedeutung bei. Nach ihm benutzt der Radikale Eklektizismus «im Unterschied zur modernen Architektur das volle Spektrum kommunikativer Mittel — metaphorische und symbolische ebenso wie räumliche und formale». Der Radikale Eklektizismus mische alle Stile und Subsysteme in einem Bauwerk.

Architektur als Massenmedium? Architektur fürs Volk? Die Wissenschaftler Umberto Eco (identisch mit dem Romanautor) und Renato de Fusco zweifeln, zumindest unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen, an den Möglichkeiten der Architektur als Massenmedium. Drastischer ist die Absage der Architekten Maurice Culot und Leon Krier — wobei hinzuzufügen ist, daß Leon Krier von seinen Thesen abgewichen und ein heftiger Verfechter des klitternden Bauens ist — an die Jenckssche Formulierung. In ihrem Aufsatz Der einzige Weg der Architektur stellen sie fest, daß «der provokatorische formale Eklektizismus [...], der seinen Höhepunkt in dem Kitsch findet, der jetzt schon alle Bereiche des Lebens und der Kultur beherrscht und das wichtigste kulturelle Phänomen der industriellen Zivilisation darstellt». Und der Architekturhistoriker Frank Werner ist in seinem 1981 erschienenen Buch Die vergeudete Moderne der Meinung — wie recht er behalten sollte —, die Postmodernismusideologie entpuppe sich auf Dauer als neuer gesellschaftlicher Konservativismus. Wobei jener Konservativismus gemeint ist, der einer Popularästhetik das Wort redet, das unter der Flagge Geschmack fährt.


In der hier vorliegenden Version ursprünglich verfaßt für und veröffentlicht 2006 auf der im Mai 2008 eingestellten Seite Schmoll et copains.
 
Mi, 05.11.2008 |  link | (3683) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Biederb(r)aumeister

Weil's ein Thema ist und aus gegebenem Anlaß auf die Seite 1 gehoben.

Auf Helmut Jahn aufmerksam wurde ich mit dem Messeturm in Frankfurt am Main, der um 1990 eingeweiht worden sein dürfte. Da überkam mich jenes Schaudern, das mich nach wie vor überkommt, wenn von postmoderner Architektur (von verbeamteten oder demokratisch gewählten Baukunstexperten immer noch) gesprochen wird — dieser von Jonathan Borofskys global aufgelegtem hämmernden Mann illustrierten Mainhattan-Tower stellt für mich das Symbol dieser trivialeklektizistischen Baukunst dar. Nun gibt es sicherlich erträgliche Ergebnisse dieser Postmoderne (übrigens ein Begriff, der mit der Literaturtheorie der sechziger Jahre aufkam und vom Architekten Charles Jencks in eine Sprache überführt wurde, die bald von vielen gesprochen werden sollte: so etwas wie das Denglish oder der Germslang des zeitgenössischen internationalen Bauens der Siebziger bis Neunziger). Aber was Jahn an weiterentwickeltem Architektur-Kauderwelsch überall hingestellt hat und stellt, war und ist die Ausgeburt dessen, was da gerade zusammengekracht ist: der Geld-Schein. Nicht beton brut im Sinne eines (oftmals bewußt mißverstandenenen) Le Corbusier, also der reine Beton, das sichtbare Material, sondern das protzig zugehängte derer, die dem Volk zeigen wollen: Schaut, hier ist euer Geld gebunkert. Sicher. Und da das Volk sich nunmal gerne beeindrucken läßt, im besonderen die kleinen Bankschalterangestellten, die sich gerne Bänker nennen und für mich in der Achtung weit unter den zeitgenössischen Bäckern stehen, weil die nämlich wissen, daß sie den Leuten Chemiegemisch als Brötchen zusammenrühren, klebt Jahn hier eine Applikation aus edlem Gestein hin und stülpt dort ein bißchen Tand über schlichten Entwurf und banalen Baustoff, nennt es, meinethalben, Phantasie des Fortschritts und wird von den vielen Bankkaufmannsgehilfen oder BWL-Bachelors und den ein bißchen Rendite begehrenden Sparanlegern auch staun- und glotzäugig und letztlich auch noch stolzbrüstig so wahrgenommen.

Gerade am Beispiel der jahnschen Architektur wird deutlich, was in den Köpfen ihrer Bauherren vorgeht: so stellen sich die Lieschens und Fritzchens Müller bis hinauf in die Vorstandsvorsitzendenetage vor, würden Ludwig der Vierzehnte, besser vielleicht der Bayern-Kini vermutlich gebaut haben, lebten sie in der Jetztzeit. Es ist das Architekturdilemma schlechthin, daß immer wieder ein solcher (Ver-)Blender wie Jahn seine protzige Einfallslosigkeit aus einer seiner drei Schubladen ziehen darf. Aber vom Schein lebt diese Gewinnmaximierungsgesellschaft nunmal. Und ausgerechnet der Moderne werfen diese aber auch rein garnix wissenden Apologeten der Nachmoderne ff. vor, sie sei der Verursacher der Unwirtlichkeit unserer Städte; von dieser Formel haben sie irgendwann mal gehört. Daß die sogenannten Highlight-Towers in München ausgerechnet an der Mies-van-der-Rohe- beziehungsweise Walter-Gropius-Straße liegen (dürfen? müssen?) — am Ende hat man diesen Bau mit diesen Namen aufgewertet (die beiden können sich ja nicht mehr wehren) —, schlägt der Architekturgeschichte die Wirklichkeit der Ignoranz in die Bücher. Das wäre ein Grund gewesen, die Stadt zu verlassen, um in Kurz-vor-hinter-Sibirien Ananas zu züchten. Aber ich war glücklicherweise schon weg, um im tiefen Süden das Stangeneis zu produzieren, das meine Wut über diese Art von Kultur(-verständnis) runterkühlt.

Bremen im schönen jahnschen Schein. Das ist, mit Verlaub, so provinziell, wie's provinzieller nicht mehr geht. Es deckt sich mit den Eindrücken, die ich noch jedesmal hatte, wenn ich dorthin kam: irgendwie eine etwas zu groß geratene Kleinstadt. Über das neue Bremen muß ich mich erst noch richtig informieren, aber so viel sehe ich jetzt schon: Hamburg holt sich die meines Erachtens zu recht gepriesenen Herzog und Meuron für die Elbphilharmonie, die eine Synthese aus alter und neuer Architektur bauen; das ist, wenn's denn durchdacht ist, ein immer erstrebenswerter Ansatz, da er Fortschreiten und Rückblicken zugleich zeigt, da in der Zukunft auf die Vergangenheit verwiesen wird (ein Beispiel). Bremen aber läßt diesen Kerla bauen, der ständig auf der Suche nach Mitteln ist, sein fränkisch-kleinteiligiges Denken zuhängen zu können. Nie möge der Verdacht aufkommen, eigentlich säße er ja lieber im Bratwurstglöckla oder braute und/oder söffe beim weit- und weltfernen Schlenkerla Rauchbier. Dieser provinzielle Nörmbärcher Provinzzubetonierer (nichts gegen Betonfacharbeiter aus der Provinz!), dieser (Vor-)Gaukler, der so gerne bei Hofe auftreten möchte, aber immer nur vom hinterwäldlerischen Niederadel eingeladen wird, der nichts zu bieten hat als niederes Wild, also Karnickel und ein paar aufgeschreckte Hühner, weshalb die unteren Grade der höfischen Gesellschaft auch so heißen, er möge dem unterworfen werden, was Herr Pfitzinger als weltweites Motto vorgeschlagen hat: «No Jahn inside». Womit nicht der mit den Hendln gemeint ist! Aber dessen Architektur ist ohnehin längst zusammengebrochen ...
 
Mi, 08.10.2008 |  link | (826) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 







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