Konstante Bewegung Der hiesige Automobilist sitzt in einem faradayschen Käfig, in dem ihn kein noch so heftiges Verkehrsgewitter erreicht, geschweige denn ein Blitz in ihn hineinfährt. Nein, es erreicht ihn nicht nur nichts, er nimmt es gar nicht wahr. Verständlich, es kann ihm ja nichts passieren, es wird ihm schließlich immer wieder in Erinnerung gebracht in der monatlichen Autofahrersendung seiner bevorzugten Informationsanstalt oder im abonnierten Fachmagazin für automotorige und sportliche Beförderungstechnik, daß er das mal in der Schule gelernt hat. So fährt er seine Richtung, was auch immer um ihn herum geschehen mag. Da mag es noch so krachen und tosen neben oder hinter ihm, seine Zielgerichtetheit, das stetige, also nie überhastete Streben nach vorn zeichnet ihn vor allem beim Pilotieren seiner liebsten Freizeitbeschäftigung aus. Befindet er sich mit seinem Fahrzeug einmal auf der linken Spur der Autobahn, auf die er sich ordnungsgemäß hingeblinkt hat, ohne dem nachfolgenden Verkehr allzuviel Beachtung zu schenken, was ja auch nicht erforderlich ist, hat er sich doch an die Richtungsanzeigevorschrift gehalten, rollt er seines Weges, nur nicht zu schnell, es könnte ja die Schadstoffausstoßbilanz oder die Tankrechnung erhöhen. Ob andere Verkehrsteilnehmer wieder andere auch mal überholen und deshalb die Spur wechseln möchten, das registriert sein tranquiliertes Wahrnehmungsvermögen nicht. Zudem hat ihn mittlerweile sein Lieblingsautomobilclub, der vor noch gar nicht so langer Zeit die freie Fahrt für freie Bürger in Maximalform proklamierte und der ihm deshalb wohl bekannter ist als jede politische Partei, gelehrt: Jedes Gasgeben kostet Benzin. Und bei den Kosten ist er nunmal empfindlich, der Autofahrer. Weshalb er es rollen läßt, sein mittelklassiges Gefährt für dreißig- oder vierzigtausend Euro. Er schaut nicht nach rechts, nicht nach links, nicht nach hinten, wozu er sich nicht einmal umdrehen müßte, sein Blick ist geradeaus gerichtet. Auch an Einfahrten zur Autobahn könnte ein allzu heftiger Lastwechsel die Öko-, vor allem aber wohl die Finanzbilanz negativ beeinflussen. Und da er auch hierbei immer nach vorn und sonst nirgendwohin blickt und er es in seiner Stetigkeit nicht sonderlich eilig hat, nutzt er den Eigenschwung seines Autos und läßt es laufen, so mit siebzig, vielleicht achtzig Sachen, bis er sich irgendwann im Verkehrsfluß befindet. Egal, was kommt. Die anderen werden schon nichts falsch machen. Den Schwung nimmt er später mit auf die Landstraße. Achtzig Kilometer in der Stunde sind ja völlig ausreichend, und mit konstanten siebzig, darauf ist er stolz, verhindert er den CO²-Kollaps, den seine Bundeskanzlerin unbedingt vermeiden will (weshalb sie auch für Arbeitsplätze sorgt, indem sie die Produktion ausgesprochen sparsamer und kostengünstiger Automobile fördert). Diese für alle ausreichende Geschwindigkeit behält er bei, auch wenn auf der rechten Seite ein Ortschild auftaucht. Aber richtig, das sieht er ja nicht in seiner Geradeausrichtung, die eines der wesentlichen Merkmale seiner Mentalität darstellt. Nun ja, das kennt man von Frankreich auch. Auf Landstraßen darf dort maximal neunzig Stundenkilometer gefahren werden, die gerne auch in geschlossenen Ortschaften beibehalten wurden. Bis man die sogenannte Schikane erfunden hat. Die hat man, wie den Kreisverkehr, mittlerweile auch in deutsche Lande zuhauf eingeführt. Doch während man linksrheinisch wirklich abbremsen muß, um nicht auch ohne Abwrackpramie in der Schrottpresse zu landen, sind die rechtsrheinischen straßenplanerischen Mittel zur Geschwindigkeitsbegrenzung so ausgerichtet, daß garantiert nichts den Verkehrfluß hemmt. Die deutsche Schikane ist ein Diminutiv, nicht ernst gemeint. Die hinzukommende, wirklich drastische französische Bremse der oftmals doppelten Kontrolle innerhalb eines Dorfes mit gegebenenfalls erheblicher Geldstrafe ist ebenfalls entschärft. Das wäre dann ja auch Abzocke, die Polizei soll Verbrecher jagen und nicht harmlose Verkehrsteilnehmer. So geht's denn immer weiter, auch nach dem Ortsausgang rollt sich's immerzu so dahin. Man ist ja nicht in Eile. Sollen diese Wahnsinnigen doch überholen. Ach nein, daß es sich nach hinten kilometerlang staut, sieht er ja nicht, der vernünftige Autofahrer. Anhalten tut er nur, wenn irgendwo ganz viele Autos stehen. Das ist ihm ein untrügliches Zeichen dafür, daß es etwas Billiges geben muß. Was es ist, ob Obst oder Nippes, spielt keine Rolle, Hauptsache billig. Da muß verständlicherweise auch schonmal heftig die Geschwindigkeit reduziert werden. Abstand halten ist schließlich Vorschrift. Selber schuld. Ich muß ja nicht auch noch losfahren müssen, jetzt, nachdem während der Sommer-, also Hauptreisezeit auch noch der Umweltschutzgedanke mitfährt. In diese Phase hinein muß ich nun wirklich keine Termine machen. Außerdem könnte ich ja auch das Flugzeug nehmen. Um nach Posemuckel zu kommen.
Immer am Flüßchen entlang ... Aber den eigentlichen Schreibanlaß — ein wenig inspiriert durch die Äußerungen von Herrn Nnier —, den erzähle ich beim nächsten Mal, hieß es beim letzten Mal. «Hinter der nächsten Kurve sozusagen. Ich bevorzuge zwar das Mäaandern, aber immerzu am Flüßchen entlang, das langweilt genauso wie das ewige Geradeaus.» Hier also die Biege für meinen dauerblinkenden Langsamkeitsrausch. Ich weiß nämlich auch, weshalb ich, will ich ins Hansestädtchen nach rechts oben (auf der Landkarte, das Navi[gationsgerät] stellt solche Bilder eher seltener her), gerne ein Viertel- oder Halbesstündchen länger unterwegs bin. Nicht nur, weil ich die teilweise zauberhafte Landschaft immer wieder gerne anschaue, die sich zeigt, wenn man in Hamburg gleich östlich über Rahlstedt hinausfährt über Mölln beziehungsweise Schmilau (wo angehalten werden muß, weil es bis Oktober Erdbeeren vom Feld und überhaupt viel Obst gibt) an den Lauenburgischen Seen vorbei hinter Ratzeburg und eintaucht in die «DDR», wo sie manchmal noch sichtbar wird in der ihr ursprünglich auferlegten Schlichtheit (besonders deutlich wird das, wenn man auch nach Berlin über die Dörfer fährt, was im übrigen auch nicht so viel länger dauert als über die mehrspurige A-nach-B-Strecke). Nur diese Fahrpraxis hat es mir ermöglicht, die eine oder andere hinter dem nächsten Busch versteckte Wiederherstellungsstation, möglicherweise gar eine der Ärmerenspeisung kennenzulernen. Das wäre nicht möglich gewesen, wäre ich in Berlin, Hamburg oder München ins Auto ein- und erst wieder in Lloret de Mar ausgestiegen, um mich anschließend drei Wochen lang grillen zu lassen. Mir war in der Pfanne zubereiteter Fisch ohnehin immer lieber. Und wie hätte ich erfahren sollen, wo Walter Benjamin die französisch-spanische Grenze überschritten hat, um sich in Port Bou ein Ende zu machen? Ich weiß nicht, ob ihm danach war, sich zuvor noch einmal diesen schier unglaublichen Blick (von da oben) aufs Meer zu gönnen, den man hat, wenn man von Perpignan aus das kleine Sträßchen am Wasser entlangfährt. Es soll Menschen geben, die anschließend nur noch leben möchten. Sicher, das sei nicht verschwiegen, auch ich hatte diese Zeiten, in denen ich ausweglos durchgefahren bin. Und oft genug auch viel zu schnell, meist nachts, durchaus auch nur um des Fahrens, vielleicht besser des Bretterns willen, oft genug in einem Akt, in einem Geschwindigkeitscoitus, dessen Interruptus durch eine millionenjahre alte Felswand und ebenso nicht durch einen von zwei Jahrhunderten gefestigten Baum auch diese ansonsten ja wirklich stählerne schwäbische Umhüllung nicht ausgehalten hätte. Zuvor auf zwei Rädern habe ich mit seinerzeit ungeheuerlichen bald hundert Pferden unterm Hintern unterwegs ebenfalls bar jeder Vernunft kapriolt. Aber irgendwann hatte es sich genug getobt, zumal man, wie nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die eigene Erkenntnis irgendwann feststellte, auf der Gesamtstrecke gerademal ein Stündchen rascher vor Ort war und vor lauter Erschöpfung nicht mitbekam, welch entzückendes kleines Hotel sich mitten im Ort befand. So hatte ich mich bald meiner Charakteristik besonnen, die sich bei mir zusehends der inneren Langsamkeit besann. Auch mit der in jeder Hinsicht großvolumigen Voiture bin ich dann selten weiter als dreihundert Kilometer gefahren, und auch die gerne noch unterbrochen durch den einen oder anderen Kaffee im netten Café im Dörfchen. Immer früh los und spätestens am Mittag im Hotel und dann das Städtchen und die Menschen darin betrachtend und bisweilen unterhaltend genießen. Das wurde mir zum Lebensglück. Gut, noch ein Geständnis: auch später konnte ich es mir hin und wieder nicht verkneifen, Kick-down zu praktizieren, wenn so ein europaweit anzutreffendes Schnöselchen meinte, diese dicke, fette Boche-Voiture zweihundert Meter vor Ortsausgang überholen zu müssen. Ja, ich gestehe, das dümmlich-erstaunte Gesicht des Formel-10-Rennpiloten genossen zu haben, als sein Autochen nicht nur zurück-, sondern stehenzubleiben schien. Weiter draußen ließ ich seinen Stinkefinger dann jeweils triumphieren (nein, Sie sind damit nicht gemeint, Sie tun sowas ja nicht). Die Raserei überlasse ich also seit langem den Jungen im etwas älteren, dafür aber mit breiteren Reifen ausgestatteten und entsprechend der Geisteshaltung nach unten nivellierten alten Auto, gleichermaßen die Angejahrten im jung-dynamischen Gefährt, aber zügig unterwegs sein mag ich schon, alleine um den Verkehr nicht aufzuhalten. Dann überhole ich eben die mit guten Hundert im kleinen Großraumautomobil ans Meer eilende Familie. Und bin dann froh, sie hinter mir gelassen zu haben. Vor allem, weil ich sehe, daß der Übervorgang die etwas steif am Steuer sitzende Fahrerin derartig erschreckt haben muß, daß sie anschließend sofort auf die linke Fahrspur ausweicht, obwohl sie eindeutig langsamer unterwegs ist und kilometerlang weiter vor sich hinnuckelpinnt. Das ist der Grund, weshalb ich ebenfalls die immer geradeaus führenden Bundes- (oder südlichen National-)Straßen meide. Denn dort sind die sommerzeitlichen Piloten und Pilotinnen derart schmerzhaft unterwegs, daß sogar ich Müßigfahrer aggressiv zu werden vermag. Sobald sich in weiter Ferne ein Kürvlein andeutet, wird die Geschwindigkeit soweit reduziert, daß ein Hinausgetragenwerden aus demselben garantiert unmöglich gemacht wird. Mit achtzig Sächlein geht's anschließend dann immer so weiter, ein gewaltiges Aggressionspotential hinter sich lassend. Und das erfordert überdies und offensichtlich eine derartige Konzentration, daß das Ortseingangsschild nicht wahrgenommen wird und sich Hund, Katz und Kleinkind in die Häuser flüchten und abwarten, bis der Deutschen und auch anderer liebste Jahreszeit endlich Pause macht. Blinken, das tun sie immer brav, auch wenn's nur ein, zwei Meter Richtungsänderung sind und's kein Mercedes ist, da gibt's kein' Jota Widrigkeit gegen die gesetzliche Blink(ver)ordnung. Ich denke bis zum Ende der Ferien- und somit Fahrenszeit derweil darüber nach, es mal mit einer anderen Art Blinker zu versuchen. Nicht nur Törtchen, auch Fische aus dem süßen Wasser mag ich gerne.
Hansestädtchenpartie Abwechslung wollte ich von den mittelmeerischen Pappnasen, wie der Husumer Freund selig die Touristen zu nennen pflegte, denen er grundsätzlich seine ollsten Aale verkaufte, weil sie nix anderes verdienten, da sie nicht einmal einen Anflug einer dezidierten Wahrnehmung des Alten in sich trügen. Abwechslung heißt bei mir grundsätzlich, Wasser muß immer in der Nähe sein und Sand. Diese beiden Elemente unterscheiden sich immer von denen an anderen Waterkanten. Dann blicke ich über die Einförmigkeit dieser Pappnasen, die offensichtlich weltweit so verbreitet sind wie die vom Hinkenden Boten zitierten Gimpel. Wenn man aber ganz viel Glück hat, findet man sogar ein letztes Eckchen der Freiheit für Einheimische, wie es dieser genau hinschauende fränkische (?) Zuzügler in Ostfriesland so fein beschrieben hat (und dessen Seite ich traurigerweise nicht mehr finde), und gesellt sich hinzu. Hat man keines, dann gibt es immer noch das Café Glücklich. Ja, es war mal wieder das Hafenstädtchen. Und wieder bediente uns eine so hübsch anzuschauende junge Frau. Irgendwie scheint Frau Glücklich nicht nur ihre Gäste glücklich zu machen mit ihren Torten, die oftmals aus gästischen Oma-Rezepturen entstehen, die hier dann neuzeitliche Pâtisserie-Geschichte schreiben, eben so, wie's noch nie anders war unterm Sternenhimmel aller Köche aller Zeiten und in aller Welt. Auch der größte Dichter aller Kulturepochen hat sich ja seine Ingredienzien von anderswo liefern lassen. Und da gab's noch nichtmal Internet; gleichwohl das heutige Urheberschutzgesetz ebenfalls noch nicht erfunden war. Frau Glücklichs Arbeitsbedingungen scheinen zudem eine gewisse intelligente Fröhlichkeit zu fördern, die wiederum den Gast zu erheitern vermag. Mich beispielsweise hat sie quasi köstlich hochgenommen mit ihrem Tortengebot, die junge Frau: «Ungeschliffener Edelstein.» Ja! Aber ach, ich gestehe — der Anlaß war ein anderer für diese Tour, die ich normalerweise an einem Wochenende und dann auch noch zu der Deutschen liebste Jahreszeit nie und nimmer unternehmen würde. Aber er führte nunmal mittenmang in dieses rentnerische Touristenrefugium. Eigentlich sollte sie ja auch jüngere Generationen interessieren, diese außerordentliche architektonische Vielfalt des alten Hansestädtchens. Aber Geschichte ist ja nicht wirklich spannend. Und für die Alten ist die Hauptsache: alles frisch gestrichen und schön leuchtend. Weshalb man sich in den Seitenstraßen auch nicht so beeilt mit dem (Über-)Tünchen der jüngeren Historie. Hier wie anderswo. Da geht sowieso kaum jemand hin (weshalb man im Café Glücklich auch das Glück der Ruhe hat). Da ist es nicht unbedingt von Tragweite, ob man erkennt, inwieweit einem Gebäude aus der Rennaissance eine klassizistische Fassade vorgeklebt wurde oder die (im 19. Jahrhundert neu aufgelegte) Gotik fröhliche Urständ' feierte, weil das mit den Moden ja auch früher schon nicht unbekannt war, nicht zu vergessen die teilweise verzweifelten oder auch zweifelhaften Versuche der Architekten, Assoziationen aus der Vergangenheit in die sogenannte Moderne zu integrieren. Ich kann die Jugend allerdings verstehen. Sich ständig sich auf ihr Fabrikeis oder ihren ollen Räucherfisch konzentrierende zukunftsfreie Menschen angucken zu müssen, die sich alles angucken, nur das nicht, was ihnen beispielsweise die Architekturgeschichte da erzählen könnte, da würde ich es als Jüngerer auch vorziehen, am und im Wasser und im Sand müßig zu gehen oder sich sonstwie zu bewegen. Und da mir genau das während der erwähnten Zeiten zu hektisch wird, gehe ich eben in das ein paar Schritte nur abgelegene und dennoch oder deshalb pappnasenfreie Café Glücklich und lasse mich von jungen hübschen Frauen einschließlich der mitgebrachten mit prachtvoll anzuschauenden und ebenso schmeckenden Torten bespaßen. Am Sonnabend nachmittag mußten wir also hin, dann wieder zurück, und dasselbe am Sonntag nochmal. Da's beim ersten Mal rascher gehen mußte, sind wir Autobahn gefahren. Ich weiß das seit Jahrzehnten, weshalb ich sie eigentlich grundsätzlich vermeide: diese von A nach B führenden zwei- oder gar dreispurigen Verbindungsstrecken, auf denen allzu gerne diejenigen ans Steuer gelassen oder dorthin gezwungen werden, die's so gar nicht mit der Fahrerei haben, da sie ansonsten Bahn und Bus benutzen. Aber den eigentlichen Schreibanlaß — ein wenig inspiriert durch die Äußerungen von Herrn Nnier —, den erzähle ich beim nächsten Mal, hinter der nächsten Kurve sozusagen. Ich bevorzuge zwar das Mäaandern, aber immerzu am Flüßchen entlang, das langweilt genauso wie das ewige Geradeaus. Ich weiß.
Im Sand gehen Das verstehe ich gut (leider macht mein Gestell das nicht mehr mit). Die Waldeslust hingegen habe ich nie so recht verstanden, etwa die von Joseph Roth, der sich das Tannendickicht irgendwie sogar in die Provence hineingesehnt hat, herum um seine weißen Städte (in Unterschiedliche Ansichten habe ich das mal angerissen). Nun gut, vermutlich ist es für die meisten Menschen entscheidend, in welche Umgebung sie hineingeboren wurden. Und sei es in die des «Vagabundierens», das ich ein Leben lang zu unterbinden versuchte, aber nie ankam dabei, auch wenn es mich fast dreißig Jahre in einer Stadt festhielt, aus der ich jedoch von Anfang an durch ständiges Reisen immer nur geflohen bin. Ich kannte von ganz klein auf nur Städte, und ich konnte mir auch lange nichts anderes vorstellen, als in ihnen zu leben. Aber an den Sand, irgendein Vorfahr muß es mir mitgegeben haben — ja doch: wir sind schließlich alle Afrikaner —, hat es mich immer gezogen, allerdings weniger in den der Wüste, eher an den des Meeres. An dem ist die Unendlichkeit ersichtlich, nach der ich mich offensichtlich immer gesehnt habe. Und ich habe dort am Strand das Wasser, das dieser Sehnsucht Halt gibt. Darin möchte ich auch einmal begraben, vielleicht besser versenkt sein. Begründet habe ich es vor langer Zeit damit, daß ich so viele von seinen Bewohnern gegessen habe, daß ich ihnen dann zustehe, sie auch etwas von mir haben sollen. Und ja, das Wasser — möglicherweise mochte ich das letzte Buch der See-Leben-Trilogie — Jenseits des Sees — von Werner Koch so sehr, da sein Protagonist tot auf dem Grund des Sees liegt und über die Hektiker da oben nachdenkt. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob meine Wassersucht nicht letztendlich von ihm herrührt, mit dem ich ein langes Gespräch darüber hatte Anfang der Achtziger. Dabei scheint es mir unerheblich (oder sogar naheliegend), daß es das schwäbische Meer war, nach dessen (Heimat-)Grund er sich so sehnte. Bei mir also Sand immer in Verbindung mit Wasser. Ich habe gehen in der wüste von — im übrigen von mir sehr geschätzten — Otl Aicher nicht gelesen. Vielleicht sollte ich es nachholen, weniger der Wüste eben, sondern des Gehens wegen. Wunderschön: die «allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Gehen»! Es muß also Kleist gewesen sein, der mir so oft aus einem kleinen Spaziergang ein stundenlanges Flanieren hat werden lassen: «l’appétit vient en mangeant», möglicherweise also: Die Idee kommt beim Gehen — welcher Gedankengang auch immer ... Ich bin, im Gegensatz zu Ihnen, nicht unbedingt ein Freund der Reiseliteratur. Selber sehen und Erleben war mir immer wichtiger, nach Austausch hat es mich nie gedrängt. Bei Ihnen allerdings lese ich immer. Ein paarmal habe ich schon versucht, die Gründe dafür zu finden. Sie könnten darin liegen, daß es bei Ihnen nahezu ausnahmslos um Länder, um Landschaften «geht», in denen auch ich mich wohlgefühlt habe und von denen ich vermute, mich dort auch weiterhin wohlfühlen zu können. Meine Liebe zu Frankreich führe ich auf Vererbung zurück und möglicherweise darauf, daß ich mir einbilde, es müsse (m)eine Heimat sein, die der Mensch nunmal benötigt; zudem ist es fast von Meeren umgeben. Marseille hat seine Wurzeln in der Liebe (und der Nähe zum afrikanischen Sand? — auch heißt es dort: Die Kanonen waren immer gen Festland gerichtet ...) Die Liebe ist also schuld, nicht zuletzt die zur Familie. Und damit auch die Nähe zum Mare Balticum.
«Kleine Chaisennostalgie» betitelt der Dauerreisende Periplus in seinem Fahrtenbuch seine Verwunderung über meine (Alt-)Träume (mit anschließendem Abgesang auf französische Transportmittel). «Sie träum(t)en von einem Gefährt aus solid-nüchternem Schwedenstahl? Ich bin überrascht, dachte ich doch, für Ihre automobilistischen Schwärmereien kämen allein Chaisen vom linken Rheinufer in Betracht ...» Um ihm sein Logbuch nicht vollzukritzeln und hyperionisch zuzuverlinken, versammle ich meine ansatzweisen Assoziatiönchen hier. «Solid-nüchternen Schwedenstahl», muß ich Ihnen zurufen, nennen Sie solch ein filigranes, durch und durch durchdachtes Gebilde? Das möchte einer wie ich ja fast gleichwertig neben die Déesse stellen, der Roland Barthes in den Sechzigern eine kritische Hymne geschrieben hat. Außerdem bin ich nach recht intensiven kindlichen Herumtreibereien sozusagen stählern in die Autofahrerwelt geworfen worden. Papa kaufte mir einen PV 544 zum Abitur, nicht zuletzt deshalb, da ich meine ersten Bewegungsversuche auf einem solchen machte und weil man an diesem Alltagstraktor nicht viel kaputt machen konnte, selbst nicht bei Eis und Schnee. Wir waren keine Gefahr für den Autoverkehr, denn so etwas gab es in den Anfangssechzigern noch etwas weniger als heute im leicht abgelegenen Land. Und als der Schneewittchensarg in der automobilen Welt aufschien — längst gehörte ich in Berlin mit meinem Renner der gegen die altertümliche Bauernschaukel angetretenen Fraktion der fortschrittlichen Moderne und hoffentlich bald Besserverdienenden an —, da war ich nur noch verzückt ob des Anblicks und wollte und wollte. Allein am benötigten Geld mangelte es mir. Als ich es dann hatte, gab's so gut wie keine dieser entzückenden Särge mehr und ward zwischenzeitlich auch noch gezwungen, mich deutschbesternt zu bewegen; im Süden Frankreichs, wo ich mich häufig aufhielt, mehr als kritisch beäugt. Zuvor eben war er schon sehr teuer, dieser Traum — vor dem ich heute noch manchmal verzückt stehe, etwa im Holsteinischen, wenn ich ein Restaurant aufsuchen möchte, dessen Besitzer genau so einen hat, wie Sie ihn bei sich da unten abgebildet haben. Aber der hat auch noch eine schwarze Cabriolet-Göttin, die ich dann allerdings anhimmle. Mit diesem Herrn spreche ich dann manchmal nicht nur über seine Küche und seinen Koch aus La Rochelle, der den Sternenhimmel anstrebt ausgerechnet in der ländlichen Heimat vom Willen zum Grillen (norddeutsche Griller sind eben härter). Auch zum R 4 hätte ich ein Menge zu erzählen und habe ich bereits (wenn auch viel mehr über das andere Gerät), nicht nur über den des alten Vert, sondern auch über ständig defekte Antriebswellen beispielsweise, und zwar bei allen vieren, die ich jeweils neu gekauft hatte, sie haben es nicht in den Griff bekommen, nach 15.000 Kilometern war'n sie hin. Aber er hat letzten Endes ja auch nicht überlebt. Im Gegensatz zum Döschwoh, den ich mittlerweile — eigentlich unvorstellbar — sogar in Frankreich schon restauriert habe herumfahren sehen. Mit französischen Kennzeichen! Es ist dahingeschieden, das gute alte Frankreich mit den Kreidemalereien.
Kultur-Vogel Die Freundin ist nach fünfzehnjähriger Tätigkeit im Dienst des wirtschaftsbelebenden Tourismus gekündigt und in die Verbannung geschickt worden. Nicht weil sie wie weiland Napoleon irgendwas vorangetrieben hätte. Es ist schlichter: sie weiß zuviel. Das meint nicht unbedingt ihre Einblicke in die sklerotischen Strukturen einer kommunalen Behörde. Eine hierfür erforderliche Verschwiegenheit hätte sich ja noch durch eine Erhöhung des Salairs erledigen lassen können. Aber genau das ist mit diesem Zuviel an Wissen gemeint: Kein Mensch interessiert sich mehr für diesen ganzen Kulturkram bis hin zum Antikenwissen. Für die drei immer wieder gestellten Fragen nach der schönen Welt des Shopping, der menschenfreiesten Calanque oder des billigsten Restaurants benötigt man niemanden mit zehn Jahren Studium. Wer will denn noch wissen, warum die ganze Stadt auf einem riesigen Griechenklo hockt? Das wird ohnehin nach und nach und still und leise zugeschüttet. Sie ist überqualifiziert — und damit zu teuer, wohl auch, weil zu alt. Meine Güte! Da sitze ich nun in der sich zusehends friedlicher gebärdenden Dunkelheit der Autoroute und denke nach über «neue» Kündigungsmöglichkeiten am französischen Arbeitsmarkt. Da lachen ja die Bresse-Hühner um mich herum, die auf der Stange sitzen und vermutlich darüber grübeln, was das für ein seltsamer Vogel ist, der da über so so seltsame Dinge sinniert, anstatt mit sich über den Geschmack ihres Fleisches oder wenigstens über den dazu passenden, in der Nähe wachsenden wunderschönen Wein zu philosophieren, wie das jeder normale, anständige Mensch aus diesem Kulturkreis mit verzücktem Gesicht tut, wenn er an ihnen vorbeifährt.
Resonanzkörper Gerade bescherte mir france musique mit Gerd Albrecht eine Geschichte. Zu Zeiten war's, als das Leben dem jungen Mann noch übel mitspielen konnte. Aus der noch recht frischen Ehe war er geflohen, einfach so, sich ins Auto setzen, wie zum Zigarettenkauf, und nicht mehr wiederkommen. Bis hin zur Vermißtenanzeige durch die Verlassene. Was er sehr viel später erfuhr. Tagelanges zielloses Herumfahren. Quer durch Nordeuropa. Immer auf der Suche nach Gründen. Für ein verpfuschtes Leben. Endlose Trauer. Oder Selbstmitleid. Damals wußte er noch nicht, daß es so etwas gab. In einer Backfischehe lernt man solches nicht. Das Bedürfnis, sich mitzuteilen, vielleicht eher, etwas über sich zu erfahren. Aber wem gegenüber? Freunde hatte er keine. Deshalb hatte er ja wohl geheiratet. Dann fiel ihm, irgendwo frierend am Skagerak stehend und die Kopulation von Ost- und Nordsee beobachtend, die Dame ein, die ihm mal Blumen geschenkt hatte. Einfach so. Ihm, einem Mann, Blumen. Für solche Ereignisse hatte er keine Vase parat. Mit schlichten Blumen wußte er nichts anzufangen, die kannte das Großstadtkind nicht. Zuhause gab es nur edle exotische Gewächse zur standesgemäßen Dekoration. Sie aber hatte auf einer Wiese einen bunten Strauß gepflückt und ihm diesen mit einem liebevollen Lächeln in die Hand gegeben. An sie erinnerte er sich mit einem Mal. Er fuhr ins winterlich vereinsamte Städtchen und radebrechte, unter Zuhilfenahme von scheinbar dänisch parlierenden Händen und Füßen, die Frage nach einem Telephon zusammen. Es war schwierig. Entweder gab es nur im Sommer Fernruf oder man schätzte seine leicht mitgenommene Anwesenheit nicht. Oder es lag am Sand, den er überall hineintrug in die gewohnt blitzsauberen Stuben. Dann fand er ein kleines Hotel. Da er sich nicht getraute, einfach nur nach einem Telephon zu fragen, mietete er ein Zimmer. Von dort aus rief er in die fast tausend Kilometer entfernte Ferne. Er hatte den Eindruck, mit seinem Anruf nicht unwillkommen zu sein. Fast sah er durch die Leitung dieses Wiesenblumenlächeln, das ihn dann auch noch daran erinnerte, daß sein Geburtstag bevorstünde. Schon damals überraschte es ihn, wenn Menschen sich so etwas merken konnten. Das Gespräch floß so dahin. Es würde sicher sehr teuer werden, war kurz sein Gedanke, der jedoch hinweggewischt wurde von ihrer Frage, ob er sie nicht besuchen wolle. Er setzte sich über die Frage hinweg, woher sie denn wissen könne, worum es ihm ging, und antwortete, durchaus gerne, aber er habe noch einiges zu erledigen und wann es denn recht sei. Komm halt her, kam es weich und warm aus dem Telephon, sie sei immer da, sie müsse sich ja um die kranke Mutter kümmern, und der Vater sei auch nicht mehr der Jüngste mit seinen siebzig. Und Platz genug sei auch im großen Haus. Er erneuerte seinen Hinweis auf zu erledigende Dringlichkeiten, ging an die Rezeption, zahlte Zimmer und Ferngespräch, achtete nicht auf die Kosten, setzte sich ins Auto und fuhr in Richtung Süden. Wieder wurde er mit Blumen empfangen, keine von heimischer Wiese, denn dazu war nicht die Jahreszeit. Er brauche gar nicht groß auszupacken, eröffnete sie ihm nach einem oder zwei Gläsern Weißwein, es mögen auch mehr gewesen sein, denn morgen ginge es direkt weiter in südlicher Richtung. Sie müsse dringend in ihr Haus nach San Valentino alla Muta. Und er würde doch sicherlich gerne mitkommen. Sie legten sich schlafen, und nach einem wohligen Traum fuhren sie los. Die weiteren achthundert Kilometer schreckten ihn nicht. Er war seit frühester Kindheit an Entfernungen gewohnt. Sie kamen den Hohlweg gerade noch hinauf, und das, obwohl er seit frühen Jugendtagen ein geübter Schnee- und Eispilot war. Dann würde man das Auto nicht mehr benötigen, meinte sie erleichtert, denn ab sofort erledige man alles zu Fuß. Zwar würde der Bauer den Weg morgen so gut es gehe freiräumen für die weiteren Besucher, aber insgesamt werde man die nächsten drei Wochen so leben wie die Menschen, die vor dreihundert Jahren dieses Haus aus Holz zwischen die Felsen gesetzt hatten. Die am nächsten Tag Anrückenden schafften es dann doch nicht, mußten ihre Autos unten im Ort stehen lassen und zu Fuß den Hohlweg hinaufgehen. Aber der Bauer lud das Gepäck, die wertvollen Musikinstrumente vorsichtig lagernd und alles kälteschützend abdeckend, auf den Anhänger und zog den mit seinem Traktor hinauf. Er war etwas verstört angesichts der vielen Musikanten, hatte er doch auf das ruhige Vorspiel der Cellistin gehofft. Doch allesamt waren sie angenehme Menschen. So kam er zwar nicht dazu, seinen Lebensschmerz loszuwerden, aber die allgemeine Fröhlichkeit heiterte ihn dann doch irgendwie auf. An einem der nächsten frühen Abende bat seine Gastgeberin ihn, hinunterzugehen zu den beiden Alten vom Wirthaus. Der Wein sei ausgegangen, und ohne ginge ja wohl gar nichts hier, das wäre ja wohl einzusehen, und die anderen seien alle so beschäftigt, da müsse er wohl ... Zwar war er nicht eben begeistert, aber weniger der knapp zwei Kilometer langen und recht kalten Strecke, sondern ihrer Dunkelheit wegen. Er fürchtete sich. Aber dann nahm er allen seinen Mut zusammen sowie die große Weinkanne und stapfte hinunter ins Dorf. Dort stellte man ihm zunächst mal ein Glas Wein hin, es würde etwas dauern. Es dauerte dann doch drei Gläser lang, bis das bucklicht Männlein, der jüngere Bruder der beiden Schankwirte, es geschafft hatte, wieder aus dem Keller hervorzukommen. Der kräftige Südtiroler Rote gab ihm Kraft, das sich hinauf zu den Felsen ziehende Dunkel zu besiegen. Nach etwa der Hälfte des Weges vernahm er für die nächtliche Natur ungewöhnliche Klänge. Er schaute hinauf zu den Lichtern des abgelegenen Bergbauernhauses, von dorther schienen sie zu kommen. Und tatsächlich, als er davorstand, meinte er vor einem riesigen Klangkörper zu stehen, die kleinen Fenster wirkten wie die Schallöffnungen des Korpus einer Violine, eines Cellos oder einer Bratsche. Wie verzückt fühlte er sich, umgeben vom dunkelbläulichen Schnee und dessen Klängen, alle Kälte war gewichen, die Musik wärmte ihn, als ob sie direkt aus dem jahrhundertealten Kamin käme. Dann endete das Spiel, aus einer der Öffnungen des Resonanzkörpers lehnte seine Gastgeberin sich heraus und bat ihn, ins Haus zu kommen. Dort angelangt, erhob sich das kleine Orchester, die erste Geige streckte kurz den Bogen nach oben, gab einen Ton vor, dann sangen sie ihm a capella zum Geburtstag, dirigierten ihn zu einem Stuhl mittendrin und begannen wieder zu musizieren. Er war Musik.
Wohltemperierter Punk Von einem letzten Gruß in Blankenese (in diesem Hamburger Vorort leben überwiegend etwas noch ein bißchen besser Verdienende) kommend in der S-Bahn in Richtung der pekuinär-konsumistischen Landungsbrücke Jungfernstieg, quasi zwischen beidem der neue hanseatisch-chinesische soziale Wohnungsbau Hafencity. Darin ein junger Mann im Protestgewand des zwar eher angedeuteten, aber durchaus als ernstgemeint erkennbaren Punk, zurückgezogen in (s)eine autistische Welt, die ohne Musik nicht mehr zu ertragen sei, allerdings und verblüffenderweise in einer Lautstärke, die andere nicht teilhaben ließ an seiner Angewidertheit von eben diesem unserem Planeten. Ich vermutete bereits, der etwa Zwanzigjährige höre am Ende gar nicht das, was häufig als Geräusch empfunden, sondern wohltemperiertes Klavier, als es sich auch schon ereignete: Er zog irgendwo zwischen Ketten und antifaschistischer und propalästinensischer Halsumwicklung sowie friedensbewerten und antirassistischen Knöpfen einen Briefumschlag hervor, nahm mit zartfühlenden Fingern den vermutlich nicht zum ersten Mal gelesenen Brief heraus und las still und immer wieder. Zwar hielt ich trotz schier übermächtiger Neugier diskreten Abstand, doch die vom Alter zunehmend beeinträchtigten Augen stellten sich überraschend scharf, um sowohl auf dem Umschlag als auch dem dreiblättrigen, vor- und rückseitig beschriebenen Brief zu erkennen: in akkurater, feiner Mädchenhandschrift die Botschaft, nach der es (vermutlich) einen denkenden und fühlenden Mikrokosmos gebe und glücklicherweise nicht alle jungen «Frauen des 21. Jahrhunderts: Matt, unklug und irgendwie selber schuld» seien. Mit einem leichten Lächeln im Gesicht stieg unsereins dann am S-Bahnende in das weitab der Stadt, bereits provinziell parkende und ridende Gefährt, um einen anderen Zwanzigjährigen aufzunehmen und ihn zu einer jungen Frau zu kutschieren. Und da erzählt dieser junge Wilde, bis vor kurzem noch selber Punk, doch tatsächlich davon, er müsse dringend dorthin zu ihr, um die letzten hundertfünfzig eines dort liegenden, geschichtlich bedeutsamen, gestern begonnenen, insgesamt vierhundert Seiten dicken Buches zuende zu lesen. Nein, keine Piratengeschichte wie zu früheren Zeiten, von Störtebeker etwa und dessen tobenden Enteignungen, keine zeitvertreibende Weltablenkung, sondern bildungsvertiefende Lektüre mit wissenschaftshistorischem Hintergrund, und die auch noch als spannend bezeichnend. Und da, die Verblüffung hatte sich noch nicht gelegt, kehrte es in die kalkigen Alterswindungen zurück: Seine Michelle liest ja selber so einen Kram, und zwar mit soviel Genuß, daß offensichtlich die Lust sogar überspringt auf junge Männer, die vor gar nicht allzu langer Zeit nichts anderes zu tun hatten, als mit rollenden Bügelbrettern über die Koppel zu fliegen und dem Ortsbullen sowie den Restdörflern Ängste vor der vor nichts zurückschreckenden Jugend einzujagen. Ach ja, beinahe wär's in Vergessenheit geraten: Die spannende Lektüre hat er von einer Frau in die Hand gedrückt bekommen, von Mama.
Anbetungswürdiges Geplagt sind diejenigen, die mit mir unterwegs sind, allen voran jene, die alle zwanzig Minuten was Warmes in den Bauch brauchen, und sei es eine verhärmte Bratwurst. Kaum gerät irgendein Kirchlein in irgendeinem trou perdu ins Blickfeld, wird die Voiture auch schon langsamer, um dann möglichst direkt vor dem Gebäude vollends abgebremst zu werden [...]. Seltsam, klagt die Büddenwarderin, kaum ein paar Meterchen Einkaufssträßlein kriegt man ihn entlang, immer aufs fußlahme Gebein verweisend, aber kein noch so riesiger gotischer Auswurf großkirchlichen Machtgehabes, der nicht stundenlang begutachtet sein möchte. Die ganzen romanischen Gebetsstättenvorläufer nicht nur nicht berücksichtigt, sondern bei denen bekommt die Kondition gleich Höhenflüge. Angesichts derer könnte man gar glauben, er würde an irgendwas in dieser Richtung glauben. Genau. Die zur Touristenperversität verkommene Notre-Dame mit ihren nichts als die Devotionalie anbetenden Schlangenmassen lassen wir links liegen und gehen ein paar Schritte hinüber zum 5., zu Saint Séverin. Das entzückende Architekturgeschöpf mit seinem stillen Garten samt Gebeinhaus ist zwar auch gotisch, aber man spürt, daß hier zuvor in der Romanik gepriesen wurde, daß dort noch weit vor dieser Zeit Séverin le Solitaire eingesiedelt war, dessen Zeitgenossen ein Christentum nach Frankreich brachten, das mit einem Billigheimerjahrmarkt wie dem von gegenüber wahrlich nicht gerechnet haben kann. Stille inmitten des Brodems der Metropole. Still erzählende Geschichte. Anschließend gehen wir die paar Schritte durchs Juden- und Schwulenguckviertel Marais. Aber hindurch! Außenherum würden die müden Knochen dann doch nicht mehr mitmachen, und außerdem stehen da zu viele Bouquinistes herum. Müder Griff ins Archiv, so tun, als ob es mich noch gäbe. Um nicht in Vergessenheit zu geraten. Als die Welt in Paris wieder in Ordnung gebracht war. Von Monsieur Haussmann (ungeprüftes Material!), dem Erfinder sanfter gesamtfranzösischer Sanierungspraxis.
Linien Was hat die seit den Achtzigern in Paris lebende Freundin aus Israel — selber eine wunderbare, köstliche Chaotin von genetischen Gnaden, die freundlicherweise nicht ans Lenkrad darf — mal wieder geschimpft auf «diese Franzosen». Die können alle nicht Autofahren! Schau mal, wie die da stehen. Alle kreuz und quer! Es geht nicht voran! Richtig. Alles steht kreuz und quer. Im 1. Arrondissement von Paris ebenso wie in dem von Marseille. Und es geht, meiner Meinung nach, dennoch wunderbar voran. Keiner regt sich auf. Es wird auch weitaus weniger gehupt, als das rechtsrheinisch kolportiert wird. Manch einer weiß es vielleicht nicht: Das ist alleine das Privilig der Italiener. Und da die Deutschen die italienische Lebensart bevorzugen, machen sie's gerne nach. Irgendwie bewegt es sich dann doch. Mit oder ohne Linien. Die man in Deutschland immer benötigt. Und dennoch nicht vorankommt. Wenn man den Deutschen keine Linien auf die Straße malt, machen sie ganz schnell aus drei zur Verfügung stehenden Spuren eine. Franzosen halten sich grundsätzlich nicht daran. Alle Linien sind runter-, abgefahren, da sie als Maßregelung gelten. In Deutschland gibt es überall, aber wirklich überall Fahrbahnmarkierungen. Wo auch immer du hinschaust. Alles ist zugemalt mit diesen weißen Strichen. Es gibt keinen Winkel mehr, in den nicht ein Fahrbahnmarkierungskommando geschickt würde. Wenn keine vorhanden sind, bei einer neuen Asphaltierung beispielsweise, darf man nur noch Schrittempo fahren. Vermutlich weil sie sich sonst verfahren. Neue Fahrbahndecke — Dauerstau. Weil sie keine Hilfslinien haben. Deshalb kracht’s auch dauernd. Das Überfahren einer durchzogenen Linie ist verboten und wird nicht unter bestraft. Und wenn du Dein Auto nicht innerhalb einer solchen Markierung parkst, also das Heck ein bißchen über eine dieser Linien hinausreicht, kleben sie dir ein Knöllchen an die Windschutzscheibe wegen Übertretung der Parkzone. Mehr als einmal ist mir das passiert. Hier in Paris klemmen sie einem auch ständig Zettelchen hinter den Scheibenwischer, doch sie benötigen dazu keine Markierungen. Denn es gibt schlicht keine Parkplätze. Zumindest keine freien. Dafür braucht es also keine Linien. Also, wie auch immer — ich empfinde es ohne diese zugestrichelten Straßen als angenehmer. Es lebe die unlinierte Zone. Ob der Verkehr nun steht oder rollt. Und wenn er dann wieder läuft, macht es mir Spaß, an der Place d’Italie herumzuzischen, und daß es meistens bei Handzeichen bleibt, wenn's mal ein bißchen schabt am Kotflügel. Wie meinte bereits 1926 unser Freund über sein geliebtes Paris, von dem aus er seit zwei Jahren nach Berlin korrespondierend telegraphierte: «Hier fahren die Autos glatt und schnell. Und geraten sie wirklich mal aneinander mit leichtem Buff, dann sagt keiner: ‹Dir hol ick jleich runter vom Bock, du oller Mistkutschenfahrer, pass mal uff ...!›»* * Kurt Tucholsky: Pariser Dankgebet, Gesammelte Werke Bd. 4, p 446
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