Lebenstaugliche Übergebenheit

Unweit der Landungsbrücken, die ich auch weiterhin nicht (nur1) des Undefinierbaren an Kartoffelsalat und der schlichten Sehnsüchtigen an buntem Luxusuntergang wegen, dieser neuen Volksseuche namens Königin Maria, sondern ausnahmlos deshalb betrete, um hinüber nach Finkenwerder oder an Rühmkorfs Blankenese vorbei Schiffchen zu fahren, gibt es richtigen Fisch. Das Restaurant dazu liegt am Stromkilometer 626. Früher, seit Anfang der Fünfziger wurden dort laut über uns «Händler und Fischer, Angestellte, Banker, Schiffseigner und alteingesessene Bürger mit Zünftigem und Deftigem» versorgt. Es steht noch immer dort, wo sonntags in allerfrühester Frühe, meistens noch vor Sonnenaufgang, manch einer nach Nächten allerhärtestester aquavitaeischer Linien im Binnenland weiterzechen. Es gibt allerdings auch solche, die das Alter aus solchem Treiben aussortiert, die es lediglich dorthin zieht, um Schiffchen zu kucken. Und der feinen Mahlzeiten wegen natürlich, die das Fischereihafenrestaurant offeriert. Hierbei soll es ausnahmsweise nicht um mich von der dahinsiechenden Generation gehen. Kinder an die Macht. Erzählt sei vom, also dann doch, mir nahestehenden Henri II. Er gehört nämlich, logisch, zur Familie des Mädchens, das den Hummer streichelt, bevor er schwitzend im Topf errötet, um dann aus Liebe gefressen werden, zu jener Familie, deren Katze lieber Kaviar zu sich nimmt, bevor sie bei Barock und Lyrik Erklärliches zu Horkheimer und Adorno performt, gleichwohl wissend, wie's nahrungsmitteltechnisch im normalen Leben abgeht.

Henri ordert nicht selbst. Er gehört schließlich zur großen Familie derer, die sich freiwillig der Macht des Essens unterworfen haben, wo jeder von des anderen Tellers nimmt. Die Maman dieses nicht nur von französischer, sondern bereits in jüngsten Jahren schlechthin von Lebensart durchdrungenen Henri II faßt das in schlichtere Worte: Nee, das Kind braucht nichts extra, das ißt bei uns mit.

Als Vorspeise nimmt diese ignorante Erwachsenenbagage Jakobsmuscheln, für jeden zwei. Jeder der drei gibt Henri eine ab. Der freundliche Mâitre d'Hotel (altpreußendeutsch: Ober-Garçon) spendet solch kindlicher Gustation mißtrauend eine Portion Kartoffelbrei. Die Pecten, ihres Namens wegen auch Pilgermuscheln genannt, auch wenn diese hier mit dem Pfad des Ich bin dann mal weg in den Süden nichts zu tun hat, kommen sie doch vom normannischen Nordatlantik, gehört zu den größten Tierchen des Plaisirchens. Henri verdrückt sie mit Genuß. Als dann der von ihm georderte Kartoffelbreinachschlag eintrifft, bekommen die Verfressenenen um ihn herum den zweiten Gang (Scampi an, um, auf ... irgendwie so) serviert. Kurzer Blick auf die Teller seiner Mitesser: Jetzt mag ich keinen Kartoffebrei mehr — jetzt will ich Scampi.

Tags darauf ist Henri krank, viel kranker, als alle Opis dieser Welt je sein können; was ganz sicher nichts mit dem frischen toten Fischzeugs des Restaurants zu tun hat. In der darauffolgenden Nacht geht unten und oben raus, was der kleine Körper über geseligte Muscheln und Sampi hinaus sonst noch hergibt. Maman erzählt erschüttert von «fünf frischen Schlafanzügen und diverse Bezügen für Kopfkissen und Bettdecken», die gebraucht worden wären. Den Tag darauf trinkt Henri nur Wasser, übergibt sich noch zweimal und ißt bis Sonntagabend gar nichts. Fast eine Woche ist dahingegangen.

Am Sonntagabend hat Papa Carpaccio vom wilden Lachs und Jabobsmuscheln zubereitet, ist dafür zuvor noch in den eigenen Garten geeilt, um Kräuter und Salat zu ernten. Henris Augen leuchten, als er Fisch und buntes Grünzeug sieht, wird wild und nimmt reichlich. Auf die Frage, ob er denn auch Jakobsmuscheln essen wolle, entgegnet er: Die mag ich nicht. Die esse ich nur in einem feinen Restaurant!

Ende des Monats fährt Henri, ein paar andere dürfen mit, nach St. Peter Ording, um jemanden aus der Großfamilie zu besuchen, der sich dort zur Kur befindet. Der berichtet, wie das eben manchmal so ist bei Menschen, deren Leben sich in die andere Richtung neigt, bei solchen, die von alterswegen mit Donald Sutherland darüber philosophieren, wie das fröhlicher enden könnte, wenn's andersherum ginge, den Mitreisenden über seine Verdauungsprobleme. Henri, aus eigener Lebenserfahrung: Ich war auch schon mal krank. Ich hatte eine Übergebung.


Eine Erziehung kann zu seltsamen Weltanschauungen führen, etwa zu der, daß essen und trinken auf hohem Niveau zum Lebensstandard gehören sollte. Linksrheinisch ist man davon überzeugt. Rechts vom Rhein gibt man den Gewinnmaximierungsbestrebungen der sogenannnten Nahrungsmittelindustrie den Vorrang: Hauptsache billig.

Henri aufm Klo ist copyrightet by © édition csc 2012.
Es zeigt, wie er auf die Hamburger Pfeffersäcke scheißt. Die einen lesen Micky Maus oder Batman, während er Nachrichten von der niedergehenden hanseatischen Wirtschaft studiert, die für viele chinesische Dörfer bedeuten.

 
Do, 02.02.2012 |  link | (3633) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kinderkinder


jean stubenzweig   (03.02.12, 09:21)   (link)  
Eilkorrektur
Die Maman von Henri rügt mich schmunzelnd, vermutlich eher um meine nachlassende Aufmerksamkeit besorgt: Zwischen dem Donnerstag der Jakobsmuscheln und dem Sonntag des Lachscarpaccios läge keine ganze Woche. Irgendwie scheint sie recht zu haben. Ich habe es anhand einer Hand nachrechnen können. ich werde vermutlich zu recht demnächst des Kindsmißbrauchs angeklagt werden.

Nein, es handelt sich nicht um eine aufziehende Demenz. Würde ich zuviel fernsehen, gekoppelt mit Werbung, ich würde sagen: Überdosierung. Nein. Es ist wohl schlicht so, daß ins Alter kommende Menschen der Gattung Opi und Omi der Meinung sind, durch Übertreibungen eine verstärkende Wirkung herbeiführen zu können. Oder ist das eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung? Denn selbst so junge, frische, liebreizende, also geradezu jugendliche Damen wie Frau Braggelmann haben anscheinend diese Neigung. Sie forderte mich gestern telephonisch auf, dafür Sorge zu tragen, daß mein Vorratskeller bis zum Bersten aufgefüllt werde, da bereits Schleswig im Schnee untergehe und man sich einer Katastrophe wie Ende der siebziger Jahre nähere. Sie muß wohl die Welt-Nachrichten gelesen haben. Schleswig liegt immer noch nicht in Mecklenburg-Vorpommern. Da liegen Welten dazwischen.

Henri ist mir trotzdem nicht böse, daß ich ihn in Todesnähe gerückt habe.


seemuse   (03.02.12, 11:25)   (link)  
wie niedlich!
ein kleiner klugscheißer.


jean stubenzweig   (03.02.12, 13:55)   (link)  
Nicht nur oben
und unten, auch anders vorne raus: «Warum fährt der eine Ente? Kann die auch fliegen? Aber ich glaub, ich mag die aus dem Ofen noch lieber. Die kann nämlich nicht wegfliegen.» Ich entwickle mich anscheinend in Richtung Märchenerzählopa. Aber durchaus mit Vergnügen. Und es gibt noch mehr von der Sorte, die mit mir langsam, aber gewaltig ins Gespräch kommen. Da kann ich Slow Speaker oft nicht mithalten.


jagothello   (03.02.12, 20:19)   (link)  
Rohes Fleisch mit Eichen drauf
Also, ich weiß nicht, ob das kein arges Klischee ist: Der Gourmet hüben, der Kraut & Kartoffelfresser drüben. Gut erinnerlich ist mir der uninspiriert hingekleisterte Mettteller in Arles mit dem rohen Ei obendrauf... Interessant schon, aber ungenießbar. Die feine Lebensart ist doch eine Frage von Geschmack und Gelegenheit; als Linksrheiner (wenn auch östlicher) meine ich das zu wissen.


mark793   (04.02.12, 15:59)   (link)  
@jagothello:
Da sagen Sie was. Selten so oft hintereinander mit völlig uninspiriertem Essen konfrontiert worden wie voriges Jahr in der Normandie. Wenn man da mit den ewiggleichen Muscheltöpfen zufriedenzustellen ist, dann hat man ein gutes Leben, aber ansonsten: bonjour tristesse. Wäre vielleicht was anderes, wenn man sich nur durch erlesene Sternerestaurants durchfutterte, wo man mit Krawatte hingeht. Aber was man zu halbwegs erschwinglichen Preisen vorgesetzt bekommt, wenn man nicht vielleicht gerade einen Geheimtipp gefunden hat, spottet alle Klischees vom Gott in Frankreich Lügen. Selbst in Estland haben wir auf dem platten Land weit weg von Tallinn oft besseres Essen bekommen - und noch dazu für weitaus weniger Geld.


enzoo   (05.02.12, 18:43)   (link)  
früher
war ja bekanntlich alles besser, auch die zukunft. und das essen sowieso, davon ausgenommen sicher das von den fernsehköchen.

erstaunlich ist, dass gleichzeitig die sendezeit von kochfernsehen und der absatz von fertigfutter steigt. warum ist erstes so beliebt, wenn die menschen immer mehr zum mikriowellengewärmten greifen statt zu in ihren kochpfannen gebrat/gekocht/geschmortem? ist die begründung sentimentalität und trauer nach etwas verlorenem?

auch beim essen gilt: niveau sieht nur von unten nach überheblichkeit aus.


jean stubenzweig   (06.02.12, 13:48)   (link)  
«Perspektive des Grases»
nannten wir das früher, im Gegensatz zum Blick von der Burg. Es gibt keinen ernsthaften Klassenkampf mehr, die Linke steht vor dem Verbot, die Klasse definiert sich über den Erwerb dessen, was sie nicht braucht oder nicht mehr im Griff hat. Aber Ihr feiner Satz «niveau sieht nur von unten nach überheblichkeit aus» galt für mich früher wie heute.

Ich muß für mein Poesiealbum keine Leserbriefe selber schreiben, mir wird guter Stoff reichlich geliefert. Er (re-)generiert mein Erinnerungsvermögen. Ich werde Sie, die Beantwortung, die Erweiterung Ihrer feinen Zeilen auf Seite eins setzen, Das gebührt Ihnen, zumal es (fast, zur Gänze, schließt man meine Erkenntnisse aus, nach denen es ohnehin nichts ohne Zusammenhänge gibt) bereits wieder eine neue Thematik im ewig Alten beim Schopf ergreift. Irgendwann heute (oder morgen), wenn mein nahezu tödlicher Infekt (nach noch mehr Schlaf?) wieder ein paar Schreibgeister freigelassen haben wird.


enzoo   (07.02.12, 10:12)   (link)  
mit fremden federn
schmücke ich mich nur ungern, drum tut es mir leid, dass ich vergessen habe zu erwähnen, dass der feine satz mit niveau und überheblichkeit nicht von mir ist, sondern ein zitat, wenngleich ich den verfasser oder die verfasserin dazu nicht nennen kann, weil mir der dazugehörige name nicht mehr einfällt.

der satz bleibt dennoch ein schöner und weitgehend wahrer, wenn auch in den oberen randbereichen durchaus diskussionswürdiger. (wenn wir die "getrüffelte rauchschwalbenwangen an natternzungensorbet-region" betreten, wie ich die hoch(preis)gastronomie gerne nenne, spätestens. dass natternzungen nicht das lispel-werkzeug der kriechlinge sind, sondern auch in europa heimische farne, ändert daran nichts. gutes essen muss nicht teuer und schon gar nicht "exotisch" sein.)















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