Gefangen im Tour Pomègues

m'aidez !may day oder Es geschah nicht an einem Tag im Mai. Zwei-Tage-Intermezzo.

Raymond. Raymond Saint-Louis. Ich erinnere mich wieder — ich glaube, es war 1996. Nein. Da war ja noch alles im Lot aufm Boot, und es gab noch keine Lebensstürme. Also eher 1997. Oder doch 1998? Wie auch immer — ich war ins Wasser gefallen. Zunächst hatte er mich befreit. Das erste Mal. Ich war oben in diesem kleinen Häuschen auf der Île Pomègues. Na ja, was heißt Häuschen, doch in einer nicht ganz so winzigen Ruine, die der mittlerweile restaurierte Tour Pomègues damals gewesen war.

Obwohl eigentlich alles verrammelt war, hat meine Neugierde es geschafft, mich dort hineinzuzwängen. Also, ich hatte mich irgendwie — nein, als ich eine Stunde herumgeschnüffelt hatte, stellte ich auf einmal fest, daß die Eingangstür nicht versperrt war. Und da bin ich — der oberste aller Oberangsthasen! — hinein. Es war eigentlich nicht viel zu sehen. Müll, in erster Linie. Wahrscheinlich haben ihn alle möglichen Clochards hinterlassen. Oder auch junge Leute, die dort Parties gefeiert hatten. Vermutlich hat man deshalb den Turm auch abgesperrt gehabt. Oder weil er baufällig ist. Damals war das noch eine Ruine. Nur für mich muß ihn jemand geöffnet haben — auf daß ich in die Geschichte eingehe. Sozusagen als Turmgeist. Denn als ich wieder hinauswollte, war die Tür verschlossen.

Es war zwar glücklicherweise noch Nachmittag, wenn auch später. Aber dort ist ja eigentlich nie was los. Drüben, auf der anderen der Îles du Frioul, der Île Ratonneau, ja, da hat man zu tun, muß man sich der Dauerangriffe der Möwen erwehren. Zumindest während der Brutzeit. Und die Viecher treiben's den ganzen Sommer lang. Aber auf Pomègues, da kann man während der Woche ewig herumspazieren, ohne daß man einer Möwen-, geschweige denn Menschenseele begegnet. Herrlich. Aber nicht, wenn man Gefangener des Turms ist. Also habe ich gebrüllt und gebrüllt: Au secours ! A moi ! Aidez-moi ! — dieses falschfranzösische m'aidez ! von dem ich später irgendwo mal gelesen habe, daß aus diesem Hilferuf das internationale may day entstanden sein soll, weil die Amis oder die Engländer das so verstanden hätten und so daraus der deutsche Frühlingstag der Panik und der Maibaum-Kletter-Besäufnisse entstanden ist. Es hat natürlich nichts genutzt. Es war ja auch längst tiefer Sommer. So habe ich mich langsam darauf vorbereitet, die Nacht in meinem historischen Verließ unter Mäusen und wahrscheinlich auch Ratten verbringen zu müssen. Ein nicht eben beschaulicher Gedanke.

Das Gespenst wurde wieder zum Menschen. Denn auf einmal rief jemand: Monsieur! Monsieur. Là-dedans ?! Lá-dedans ?! Dans le tour ?! Und ich brülle wie wild in Richtung der Stimme. Und da sehe ich auf dem Gang, der um den Turm herumführt, einen tiefdunklen Herrn — und rufe. Ici, Monsieur ! Ici, Monsieur ! Délivrer, s'il vous plaît !

Es waren damals, wenn ich mich recht erinnere, gute vierzig Grad. Draußen. Im Schatten. Wenn's denn einen gab. Der einzige hier war der Turm? Und der war Glut-Turm. Auch noch ein bißchen sehr muffelig dazu. Also, er dirigierte mich sprachlich irgendwie zur Tür. Aber die war verschlossen. Irgendjemand mußte sie eben hinter mir verriegelt haben. Dem war auch so, wie ich später erfahren habe. Der Inselhüter hat die geöffnete Tür gesehen und sie ordnungsgemäß verschlossen. Wie sich das gehört. Und mein Befreier hat sie kurzerhand eingetreten. Ganz einfach so. Mit einem Tritt hat er die bevorstehende Geschichte korrigiert.

Also, ich habe mich ganz herzlich bedankt. Habe ihn gefragt, ob ich das irgendwie wieder gutmachen könnte, schließlich verdankte ich ihm ein Stückchen meines Restlebens. Er hat immer nur gelacht und gesagt, es sei schon gut. Es klang so wie das hamburgisch-holsteinische Dafür nicht, das anstelle des dankerwidernden Bitte gesagt wird. Dann wünschte er mir freundlichst einen guten Tag und rauschte ab. Er hat noch irgendwas gesagt und dabei auf die Tür gedeutet — irgendwas von réparer und so.

Da ich nun ziemlich verdreckt war, vor allem an Händen und Füßen, ging ich hinunter zum Wasser. An die Bucht, ein hafenähnliches Gebilde. Dort sollte ich meiner Dame eröffnen, meine Liebe zu France sei grenzenlos. Ich würde es anders machen als Walter Benjamin. Ich würde in Frankreich ins Wasser gehen und nicht zum Sterben ins spanische Port Bou auswandern.

An diesem Tag muß mich die Abenteuerlust geritten haben. Oder der Schwachsinn. Vermutlich eher letzterer. Ich will mich also säubern. Will zum Wasser. Doch anstatt in Richtung Fährhafen und damit zu einer der kleinen Calanques zu gehen — es war ja auch schon relativ spät —, kraksle ich die Felsen hinunter zu diesen Fischbecken. Nein, zum Hafen, offenbar. Der Weg außen herum war mir zu weit. Deshalb habe ich das Bergabsteigen geübt. Ich Übersportler. Weshalb, weiß ich nicht. Ich habe nur drei, vier Menschen gesehen da unten. Das wird wohl der Grund gewesen sein. Die Sehnsucht nach Menschen, da ich gerade dem sicheren Einsamkeitstod entronnen war. Daß es am Fährhafen noch mehr Menschen gegeben hätte, kam mir nicht in meinen Schwachkopf. Unten angekommen plätschere ich in dieser dunkelgrünen Brühe herum. Das war ja kein richtiges Meerwasser, solches für Moules eben. Schmecken tun Muscheln ja gut. Aber — na ja, ich rutsche aus auf so einem veralgten Stück Stein. Vermutlich das einzige weit und breit. Ich falle rein in diese Brühe. Und ich hänge fest.

Also wieder gefangen — in meiner eigenen Dummheit. Also wieder rumbrüllen — au secours ! au secours ! Dieses Mal geht's rascher, daß jemand angerannt kommt. Und wer ist es? Wieder mein Anderspigmentierter. Und was macht der? Er lacht. Er lacht sich fast so kringelig wie du gerade. Irgendwas von keinem guten Tag für mich, erzählt er. Und ich schäme mich fürchterlich. Was macht der?! Er hüpft hinein in die Brühe und löst mich aus irgendwas heraus. Irgendein Netz oder sowas ähnliches, was so ein Muschelangler da reingehängt hat. Aber sicher nicht, um mich altertümlichen Weißfisch zu fangen. Dann hievt er mich, mal eben so, auf die steinerne Beckenabgrenzung hinauf und steigt mir — sehr, sehr! sportlich — nach — hups, und er ist draußen. Na gut. Drinnen war ich ebenso schnell. Ich bin sprachlos angesichts solcher Güte und umarme ihn. Es war nicht weiter tragisch, denn naß waren wir ja beide. Dann schüttelte er mir die Hand. Aber nicht, um das Wasser aus uns herauszurütteln, sondern um sich vorzustellen. Sicher nannte er mir seinen Namen. Den hatte ich allerdings, wie üblich, schnell wieder vergessen. Eines blieb mir jedoch auf ewig, Absence hin oder her, in Erinnerung: Guten Tag. Ich bin hier der Hilfsneger, gemäß unserer uns zugedachten Gene: immer zu Diensten.

Es war dennoch kein endgültiger Abschied. Denn wir sollten uns noch einmal begegnen an diesem Tag. Lange sollte es nicht dauern. Vermutlich wußten wir damals schon, daß wir beide Andersgeartete sind und auch zu einer Familie gehören. Ich trotte also über den Digue Berry gen Hafen, um zum Festland hinüberzufahren. Als ich ankomme, fährt gerade ein Schiff. Es war das letzte dieses abenteuerlichen Tages. Dachte ich. Heute weiß ich, daß um Mitternacht noch eines fährt. Aber damals war ich einfach nur erledigt.

Da sitze ich nun am Anleger auf einem Poller und hadere mit meinem Schicksal. Beinahe eins mit mir. Was soll's, dachte ich mir. Besser, als im Turm gefangen zu sein. Dann werde ich mich eben windgeschützt in eine der Calanques legen und die Natur der Nacht kennenlernen. Das einzige, was mir nicht so recht war, war die Tatsache, am Abend verabredet zu sein. Doch das war eben auch nicht mehr zu ändern. Telephon hatte ich keines dabei. Aber das war damals ohnehin noch fest im Auto installiert. Doch dann kommt ein Boot um die Kurve. Dem bedeute ich nichts weiter bei. Es fahren viele Boote hier ein in den Hafen. Es liegen ja sehr viele vor Anker hier, vor allem im größeren Hafen in Blickrichtung Hôpital Caroline. Aber dieses Boot tuckert langsam auf den Anleger, auf mich zu. Und wer ist es? Mein Nicht-von-der-Sonne-Gebräunter. Und was macht er? Er lacht. Und er fragt mich, ob er vielleicht heute noch einmal etwas für mich tun könne. Er täte es gerne. Er habe sich so an mich gewöhnt, quasi wie an jemand Angeheirateten oder so ähnlich. Schmeißt mich in sein Bateau und schießt mich nach Marseille. Dort trinken wir einen gegenüber im Tabac. Oder auch zwei. Und ich lache mit ihm. Meine Verabredung sage ich ab. Es hat dann nämlich noch ein bißchen gedauert.

Auf jeden Fall war's ein wunderschöner Abend. Er hat sich nur mal eben kurz zurückgezogen, um zu telephonieren. Ich nehme an, er hat meine spätere Schwägerin angerufen, um ihr zu sagen, er müsse auf einen extrem gefährdeten Menschen aufpassen. Wir waren dann noch essen — oben, an diesem Platz, in den die Rue de Rome einmündet, wo man diese Fisch- und Austern- und so weiter Berge besteigen muß, um sie zu verputzen. Um sich einen Eiweißschock fürs Leben zu holen. Oben, ja genau, am cours Saint-Louis — ja, richtig, cours Saint Louis! Ich war offensichtlich mit Saint-Louis in Saint Louis. Ich hatte ja längst wieder vergessen, daß der auch so hieß, mein späterer Schwager.

Ihr wart bei Toinou.

Genau. Selbstverständlich haben wir auch Muscheln gegessen. Irgendwie war das naheliegend, sozusagen natürlich.

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählungen
 
Fr, 23.01.2009 |  link | (3732) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage



 

Tiefer Fall

6. Fortsetzung. «Lola war sein langer kleiner Tod.»

Mir fällt ein, daß ich den Tisch freimachen wollte, auch für ein nicht eben üppiges Mahl. Ich habe schließlich Besuch. Schnell schiebe ich die Bücher zusammen — und stelle dabei fest, daß hier offenbar seit Jahren keines dieser Staubmäuse verjagt worden war. Schon wieder ist mir peinlich, was mir ansonsten schnurzegal ist. Naziza steht in der Tür und beobachtet, wie ich einigermaßen fassungslos vor dieser sich auf dem Tisch angesammelten Banalvergangenheit stehe und mich bemühe, sie zu kaschieren. Ich sehe sie zu spät, um ihrem Spott noch entgehen zu können.

Ob ich Kitsch produzieren wolle, fragt sie, wir hätten wohl zuviel über Kundera gesprochen, fügt sie noch an. Aber da hatte sie bereits den Lappen in Betrieb. Meine Geistesnahrung gehöre jetzt ins Abseits, da auch der Magen mal was zu tun haben müsse. Mein fadenscheiniger Protest gegenüber der Fertigmahlzeit, gehörte sie doch längst zu meinem häuslichen Alltag, verhallt, zumal sie anhängt, das sei schließlich ein italienisches Spitzenprodukt und außerdem ohnehin die Liebe der beste Créateur. Liebe? Das gab mir Gelegenheit, das Geschehen dann doch wieder ein wenig literarisch-weltmännisch zu ironisieren.

Ach. — Und nun gab er im Weiler, auf dem Lande/uns eine Sonne. Sei der Ort gepriesen,/wo solche Frau das Licht der Welt geseh'n!

Vergebens. Ob er das geschrieben habe, auf daß ich es ihr eines Tages so schön sage? Meine Entgegnung verpufft, der Italiener habe vermutlich geahnt, daß ich mich eines Tages nach einer Laura sehnen würde. Dann läge ich falsch, kontert sie lapidar. Laura sei blond und sie schwarz, irgendwas von so schwarz wie meine Seele schickte sie noch hinterher. Vor allem aber verblüffte mich diese Äußerung und ließ mich sie fragen, woher sie als nordafrikanisch-vorderasiatische Wüstenblüte denn bitte das herhabe, das mit der renaissanceblonden Laura inmitten der Provence.

Ja, diese französische Romanze sei ihr bekannt. Aus dem Italienischen. Sie bugsiert zwei Schüsseln auf den mittlerweile einigermaßen bücherbefreiten und notdürftig gereinigten Tisch. Offenbar stört es sie nicht weiter, daß ich den Tisch nicht gänzlich freigeräumt habe. Das ist mir nicht nur angenehm, sondern auch ausgesprochen sympathisch. Denn die sogenannte Tischkultur, vor allem die, wie sie überwiegend in französischen Restaurants für Touristen obligatorisch und allerorten verbreitet ist, gehört nicht in meinen Vorstellungsbereich besseren Lebens.

Wie? Du hast Canzoniere im Original gelesen?

«Canzoniere? Rerum vulgarium fragmenta! Bon, neu — Canzoniere. Nun, einigermaßen ein wenig ich kann italienisch. Ich brauchte es für das Studium, und die Arbeit benötigt es ebenso. Ich kann es sogar recht gut sprechen und auch schreiben. Zuhause spreche ich es oft, und nicht nur mit meine geliebte Touristes. Auch mit Marseillaise et Marseillais. Im Restaurant, auf der Straße. Ich lese auch Zeitung und Bücher. Doch es reicht nicht immer für diese Langue cultivée. Mais, ich habe eine zweisprachige Ausgabe. Italo-allemand! Sie ist mir geschenkt worden von einem wunderbaren Mann. Es ist wunderschön. Ich lese sehr gerne und sehr oft darin. Es ist manchesmal — es kommt an auf meine Disposition — noch schöner als die pornographique partie du bible.

Fürwahr. Es muß ein guter Mann sein, der solches verschenkt.

Es gibt Männer, die Süße spenden. Par exemple exquis vin doux aus Maury.

Wie? Ich verstehe nicht. Dein Vater hat dir den Petrarca geschenkt? Enorm. Finde ich großartig.

Non, mon trésor. Sein Gendre — wie heißt das deutsch?

Ich muß nachdenken. Es fällt mir nicht ein. Mein Französisch ist, trotz ständiger und andauernder Reisen in dieses Land, miserabel. Die Mutter hat mit ihren Einpeitschungsversuchen dem Kind eine Mauer vor die eigene Sprache gebaut. Mühsam und seit ewigen Zeiten versucht das mittlerweile Jahrzehnte ältere Kind darin eine Lücke zu finden, um hineinschlüpfen zu können in diese Sprache, die es für die schönste überhaupt hält. Die sich ihm aber nach wie vor hartnäckig verweigert.
Gendre? — Ich greife in das Regal, das sich unter der Decke um den gesamten Flur zieht. Es ist zu weiten Teilen den Sprachen reserviert. Auf den sechs, vielleicht acht Bänden Wörterbüchern liegt ein kleiner Robert, den ich am liebsten benutze, wenn es schnell etwas nachzuschauen gilt, denn er ist sehr ergiebig. Doch ich komme nicht hinauf, ich muß den Steighocker holen. Ich will ins Zimmer nach nebenan gehen. Sie hält mich zurück.

Wohin willst du? Hier, es gibt etwas zu essen.

Ich habe dir doch gesagt, daß ich keinen Hunger habe.

Dann sitze mit mir. Ich mag nicht alleine hier sein.

Oh, Naziza. Ich will nachschauen, was Gendre heißt.

Ah! Assez de paroles! Es ist der Sohn von einem Vater. Beau-fils.

Der Sohn eines Vaters ist der Sohn — ah, ich verstehe. Du meinst Schwiegersohn!

Oui. Sitz, essen, trinken. Schwiegersohn.

Nun kehren mit einem Schlag alle langsam entwichenen Bedenken zurück. Jetzt fängt sie schon wieder damit an, obwohl sie eigentlich versprochen hatte, es zu unterlassen. Und sie macht dabei ein völlig unbeteiligtes Gesicht. Sie hat es offensichtlich nicht aufgegeben, mir auf die Nerven gehen zu wollen. Es war so angenehm ohne dieses leidige Spielchen. Und nun geht es von vorne los.

Naziza. Du hattest mir versprochen ...

Ich habe nichts versprochen. Ich habe nur ein wenig geschwiegen. Nie würde ich etwas versprechen, das ich nicht kann halten. Es gibt etwas, von dem ich sprechen muß. Und das ist das. Nicht nur über den Schwiegersohn eines Vaters, der du bist.

Ich muß über dieses lustige Deutsch dann doch lachen, das sie immer dann spricht, wenn Erregung in ihr aufkommt. Glücklich schätzte ich mich allerdings, ich spräche auch nur annähernd ein solches Französisch.

Naziza, ich ...

Fermez-la! Ich rede.

Sie wird schier unglaublich bestimmt. Ihr zartes, langgestreckt ovales Gesicht drückt wilde Entschlossenheit aus, ja Härte. — Ich nehme mir nun doch — Betretenheit? — ein paar Nudeln aus der Schüssel, die ich mit etwas Sauce beträufele, stochere aber nur darin herum.

Es ist gut. Esse. Bien. Du willst mich gerne haben. Sagst du. Ich bin hier. Du könntest mich haben. Ich bin willig. Jedoch du mußt mich nicht haben wollen. Du hast mich! So ist das. Oder was glaubst du, warum ich hier bin? Um mit einem mir ganz wilde fremde Mann in einer noch schlimmeren Stadt ...

Was soll das jetzt? Ich habe nie behauptet ...

La ferme! Tais-toi!

Es mutet mich seltsam an, wie ich kusche. Sie schaut mir fest in die Augen, wie in die eines Kindes, das bei einem üblen Streich ertappt wurde. Ich fühle mich auch so. Das Kind weiß zwar nicht, was es ausgefressen hat. Aber da es immer irgendetwas ausgefressen hat, schweigt es vorsichtshalber erstmal.

Du hast mich verlassen. Und ich bin eigentlich weit gefahren, um aus Wut zu wissen, warum ein Mann von mir geht, der mich begehrt hat, wie nie ein Mann das zuvor je hat gekonnt. Und den ich geliebt habe wie nie eine Mann zuvor. Nicht einmal meinen Papa. Und jetzt bin ich nicht mehr hier, um das zu wissen. Jetzt bin ich hier, um wieder mit ihm zu sein. Denn ich sehe, daß er mich liebt wie damals in unsere kleine Paradis. Er sitzt neben mir, aber er ist nicht bei sich. Er ist ein wenig gestört vielleicht. Es ist etwas. Ich weiß nicht, was es ist. Jedoch ich weiß, daß er nicht spielt, denn er ist nie eine grand Comédien gewesen. Und nun will ich wissen, was es war, was es ist. Und vielleicht es ist besser, ich packe diese Mann in mein Tasche und nehme ihn ...

Und verfüttere ihn an die Krabben im Vieux Port de Marseille?
Ich wundere mich über meine Gelassenheit.

Oui. Ich nehme ihn mit an den Alten Hafen von Marseille und zeige ihm, wo er mich das erste Mal hat beleidigt, weil ich wollte, daß er mich nimmt, in seinen Arm, und mich küßt und mich säugt, jedoch gesagt hat, bonsoir Madame, ich freue mich, morgen Sie zu sehen. Notre-Dame ist Zeuge! Sie hat gegenüber gestanden. Wir an die Treppe zur place du Lenche. Didier Risacher. Das war vor baldige vier Jahre. Ganz Marseille ist vor unsere Liebe paradiert, la armée, la police, les pompiers haben gezeigt mit ihre Finger an die Stirne. Le quatorze juillet 1998.

Sie spuckt mir ein paar Krümel italienischer Europa-Nudeln ins Gesicht. Sie merkt es, aber es ist der ansonsten überaus höflichen und gesitteten schönen Frau offensichtlich völlig schnurz. Ich wische mir ostentativ die aus diesem offenbar wutschnaubenden Mund kommenden Partikel vom Nasenrand. Doch es zeigt keinerlei Wirkung.

Contenance. Madame, sage ich, so gelassen wie möglich.

Merdemerdemerde. Contenance. Je n'en ai rien à foutre ... Je faire ...

Die Furie springt auf und zischt ins große Zimmer, an den Ort unserer ersten Kämpfe. Es ist mir unklar, weshalb ich immer ruhiger werde. Normalerweise bin ich derjenige, der mehr als leicht schnell erregbar ist und sofort oben ist. Empfinde ich das gar als angenehm, wenn sich über mich jemand so aufregt? Das kann nicht sein. Wenn, dann muß es an dieser Frau liegen. Sie muß der Grund dafür sein, daß ich mir das, ohne mit der Wimper zu zucken, bieten lasse. Und mich auch noch seltsam wohl dabei fühle.
Sie kehrt fliegend zurück, baut sich vor mir auf und schüttelt etwas in der rechten Hand. Es ist unschwer als französischer Reisepaß zu erkennen.

Was ist das!? Monsieur Risacher.

Es sieht aus wie ein Ein- und Ausreisepapier der Grande Nation République Française.

Sie macht nun ein fast abfälliges, geringschätzendes Gesicht. Sie sieht beinahe vulgär aus. Das gefällt mir nicht. Ich nehme mit betonter Lässigkeit das Weinglas und einen nachgerade überdosierten Schluck. Ich hatte ja sowieso vor, mich ein bißchen zu betrinken. Vielleicht hatte ich jetzt Grund dazu, denn das zarte Pflänzchen Hoffnung auf Liebe, das in mir zu keimen begonnen hatte, scheint sich bereits wieder in sich zurückzuziehen. Adieu le paradis sur terre. Das war's denn wohl. Nun denn, wenn sie sich jetzt so aufführte, würde es mir nicht allzuschwer fallen, sie rauszuschmeißen. Aber traurig machte es mich doch. Ich nehme schnell noch einen gewaltigen Schluck, trinke das Glas leer, stehe auf, um es in der Küche nachzufüllen. Als ich zurückkomme, steht sie immer noch da. Wie Notre-Dame de la Garde. Doch die Härte verschwindet aus dem Gesicht, es erhält zunehmend seine fragile Zartheit zurück, die Augen öffnen sich weit, sie werden sehr groß, noch größer, da die Augenbrauen sich weit zur Stirn hin aufheben. Sie intensivieren sich fragend. Hartnäckig hält sie den Reisepaß in der Hand.

Was steht hier darinnen. Monsieur Risacher?!

Es irritiert mich jetzt doch sehr, daß sie mich nicht mehr duzt, nein, schlimmer, mich offensichtlich bewußt unpersönlich anspricht. Gleichwohl sie nicht mehr so schäumt wie noch vor vor wenigen Augenblicken.

Ich nehme an, Ihr Name, Madame, Ihr Geburtsdatum ...

Oui. Monsieur Risacher. Mein Geburtsdatum, meine Name. Und wie ist meine Name?

Ich weiß es nicht. Naziza. Mehr weiß ich nicht. Sie waren nicht höflich genug, sich mir mit Ihrem kompletten Namen vorzustellen. Es kommt mir gerade — das hätte ich nicht von Ihnen gedacht.

Sie schlägt den Paß auf, biegt in um, auf daß er eine einigermaßen plane Fläche bekomme. Sie kommt auf mich zu. Sie drückt mich sanft auf den Stuhl. Sie beugt sich zu mir hinunter. Ihr Gesicht rückt extrem nahe an meines. Sie riecht gut. Nicht wie Parfum. Wie ein Mensch. Nein, wie eine Frau. Mit Innenleben. Ich lasse es mit mir geschehen. Sie legt den Paß auf den Tisch.

Schaue hinein, Monsieur Didier Risacher. Hier steht geschrieben, wie ich heiße.

Ich will mich erheben.

Non. Arrêt des émissions. Sitz. Ich hole deine Brille. Aber du wirst sie nicht benützen müssen. Er steht groß genug dort, der Name. Und du kennst ihn sehr gut. Du hast ihn sehr oft gesagt in deinem Leben. Einmal mit eine sehr kräftige Stimme. Dans le mairie de Marseille.

Sie geht dennoch flugs ins Zimmer an den Tisch, neben dem ihre schöne Handtasche steht, aus dem sie ihren Paß geholt hat. Sie kommt mit meiner Lesebrille zurück, schaut sie kurz an, nickt, sagt kurz: Ah, bleu, comme Maman Risacher. Sie reicht mir die Brille und lächelt dabei.

Mir ist nicht ganz geheuer. Ich spüre, daß Unheil im Anzug ist. Sie ist mir zu selbstsicher. Ich schaue in den Paß. Ich lese Al Arfaoui. Na ja, war irgendwie klar: Araberin. Schöner Name. Paßt gut zu ihr. Klingt irgendwie so, wie sie aussieht. Wie eine schöne orientalische giftige Narzisse. Naziza Al Arfaoui. Nein, halt — née Al Arfaoui. Lieu de naissance: Arles. Jour de naissance: Septembre 16, 1960. Ich schaue weiter. Ich lese. Ich stocke. Ich fühle mich seltsam. Ich hätte mein Medikament doch nehmen sollen. In meinem Kopf melden sich Anzeichen eines sirrenden Kreisens. Wie damals, zu den ersten Anflügen eines Gefühls, das ich damals noch nicht kannte und das ich später als elysisch bezeichnen und das ich des öfteren herbeisehnen sollte. Ich weiß nicht, ob es das wieder ist. Ich wünsche es mir. Ich möchte wieder verschwinden wie damals. Denn es steht Unfaßbares in diesem Paß. Es steht geschrieben: Naziza Latifa Marietta Taline Risacher, née Al Arfaoui. Ich verliere mich. Ich spüre gerade noch, wie ich vom Stuhl rutsche.

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
 
Di, 20.01.2009 |  link | (2347) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage



 

Welkendes und Welkes

Aus irgendeinem unerfindlichen Grund bin ich kaum zur place de Lenche hinauf, fast, als ob ich sie gemieden hätte. Obwohl ich früher so gerne dort saß, ja sogar zwischenzeitlich dort wohnte, im ziemlich engen achtzehnten Jahrhundert, sitzend auf den zweihundert und viel mehr Jahre älteren Fundamenten der rue de l’Évêché. Als ob ich Angst gehabt hätte — nach Hause zu gehen? Seltsam.

Überall bin ich herumgewandert, wie auf der Spurensuche nach mir selbst. Bin mit dem Bus dann immer wieder Rive Neuve, den Boulevard Charles Livon entlang, Wasser gucken. Wie einst im sommerlichen Mai. Als ob ich mich darin finden könnte. Oft auch zu Fuß in Richtung Pharo, unten vorbei an der Plage des Catalans wieder zur Corniche. Aber länger aufgehalten habe ich mich in dieser Gegend eigentlich weniger. Dieses Terassenleben, vor allem in der Gegend hinter Malmousque, etwa an der Segelschule, dieser Exhibitionismus der mondänen Möchtegerne oder andersrum, das ist nicht das meine. Es hat aber wohl mit den Menschen dort zu tun. Sie stoßen mich eher ab, wie sie sich und ihre Körper dort präsentieren und auch noch Eintrittsgeld dafür bezahlen, daß man ihnen von oben auf die hochgezurrten verwelkenden Titten glotzen kann. Sie sehen halbnackt auch nicht anders aus als halbangezogen in ihrem teuren Tinnef aus der Budengasse Rue Saint-Férréol mit ihrem Markennamenterror. Dort habe ich einst das Fremdschämen gelernt.

Dabei mag ich das Welkende. Nicht nur verwelkende oder verwelkte Rosen, die ich manchmal fast altarisiere. Auch erschlaffende Haut hat etwas Sinnliches. Je nach Trägerin sogar durchaus etwas Erotisches. Doch was da vorgeführt wird, ist eine unerträgliche Eitelkeit des Nichtseins oder die kunderasche Definition von Kitsch, nämlich die Kaschierung von Scheiße, vielleicht sogar deren versehentliche, aus Unwissenheit entstandene Umkehrung, auf jeden Fall absolut nichts als Eitelkeit. Ansonsten hohl im Kopf. Schaut alle her! Bin ich nicht schön? Schön dämlich vielleicht. Ich mag auch keinen Strip tease. Das ist nichts anderes als Schaufenstergucken. Alles Drapierte ist mir unangenehm. Als ob man ihnen die Knochen verrenkt hätte, stehen sie da oder sitzen, wie in meinem Blütensternengärtchen. Welkendes kann ich als erotisch empfinden, weil, besser: wenn es natürlich ist. Doch wer als alte Fregatte mit angefressener Takelage und schlaffen Segeln auf einem Laufsteg für Volksbegehrlichkeiten herumdümpelt, um sich begaffen zu lassen, ist nicht von anderem Format als die Mami, die ihre Kinder in Play-back-Shows oder zum Eiskunstlauf oder zum Hundefriseur schickt oder über den Tennisplatz jagt oder am Klavier oder als hoffentlich kommende Ballerina maltraitiert, weil sie möglicherweise an sich Versäumtes oder für sich selbst Erträumtes in ihre Brut hineinprojiziert.

Aber die Jungen nicht anders. Dieses Geprotze, diese in Kürze aufplatzenden Früchte. Nur Muskelgeglitter. Beflieg mich, aber nur, wenn du ein starker Brummer bist, zumindest aber einen solchen hast. Körper wie aus riefenstahlschen Strahlgewittern. Zeitgenössisches Design. Außen Plastik und innen 1+0-Elektronik. So geistlos wie ein Computer eben. Oder die Wiederbelebung winckelmannschen Ästhetizismus': Nur Form, innen hohl. Fettfreies Fleisch: geschmacklos, da seines Aromentransporteurs beraubt. Da soll einem der Appetit nicht vergehen.

Ich geh' jetzt trotzdem zu Toinou, lasse einen ganzen Kutter frischer Früchtchen in mich hineingleiten, lasse sie in mir weiterschwimmen in Sandwein.

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählungen
 
Mo, 05.01.2009 |  link | (2360) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage



 

Kunst. Musik.

5. Fortsetzung. «Sie wissen sehr viel. Seltsam viel.»

Ich meine es, weil wir nur schwierig einen Zugang zur Phantasie außerhalb des geschriebenen Wortes haben. So zur Beaux-arts, Art contemporain, Art plastique. Es war bei mir früher genauso. Vielleicht ich hätte früher genauso gesprochen wie Izzo. Doch ich habe durch dich sehr viel kennengelernt im Zusammenhang mit der Art plastique, Art contemporaine. Ich habe sie früher nicht gekannt, unsere herrliche Verrückten: Arman, Raymond Hains, César, obgleich er Marsaillais ist. Es macht mich sehr zufrieden, daß wir sie haben in France! Seitdem gehe ich auf eine andere Weise an diese Kunst, an diese Gedanken. Dadurch habe ich auch viel gelesen und bin mit anderen Augen dorthin gegangen. Ich habe sehr viel von unseren gemeinsamen Gedanken gefunden, die wir im Romanisme gebildet haben. Du hast mir diese formidable Essai gegeben von diesem Mann, der geschrieben hat darüber, daß es zwischen Artistes nie eine Frage nach Europa gegeben hat.

Sauerbier? EurOpa ach EurOma?

Oui! Er hat geschrieben, daß die Kunstler nie Grenzen hatten, daß es bereits Europe gegeben hat in den fünziger Jahren. Liberté des arts. Jedoch es ist eine Freiheit, die wir nicht so gerne haben, wir Franzosen. Sie ist nicht wohlgeordnet. Schrift ist mehr systematique, hat mehr Methode.

Wobei gerade die vorhin besprochene Écriture automatique Ausbruch bedeutet. Das Innere bricht nach außen.

Dennoch es ist Schrift. Es kommt von dort. Das ist entscheidend. Kunst ist nicht genug Vernunft. Wir sind alle Bourgeois geworden. Vernunft der Nützlichkeit. Wir möchten haben alles erklärt. Malerei et cetera ist viel mehr Anarchie. Jedoch nicht politische Anarchie. Anarchie als ein Chaos. Freiheit von innen. Wie César. Peinture der dritten Dimension. Der sie hat auch außen gezeigt. Deshalb wohl hat Jean-Claude Izzo das nicht gemocht. Ich bin damit ein wenig durcheinandergeraten. Doch ich weiß, daß du meine Orientation mit diesen Vergleichen verstehst. Er schreibt nie wie du, auch nie, wie du es nennst, zwischen den Zeilen. Es gibt keine Zwischentöne bei ihm, keine Nuances. Seine Phrases haben weniger Farben, vielleicht nur die reinen Farben. Dennoch kommen, wie ich es sagte, viele Worte, sehr lebhafte Bilder dabei hervor. Ich habe jedoch lieber mehr Farben, mehr Noten, mehr Töne, mehr Orchester, aus dem ich manchesmal dieses Instrument heraushöre, einmal ein anderes, oder eine Stimme. Ein wenig mehr Léo Ferré in der Sprache, mehr Modulation, mehr Spiel um nicht nur einen zentralen Punkt, mehr Prélude. Vielleicht mehr Préliminaires sexuelles? Puh! Ich mag mehr Register. Auch wenn es nur ein Klang ist, so muß er herumkreisen in mir, auf mir. Es fällt mir Bergson ein dabei: Wenn die Anmut die Kurven den gebrochenen Linien vorzieht, so kommt es, weil die gekrümmte Linie jeden Augenblick die Richtung ändern kann.1 Alles ist verbunden miteinander. Und ein Klang soll haben einen Nachhall. Wie guter Wein, der nach dem Öffnen immer wieder einen neuen Geschmack annimmt und ihn wechselt. Doch Izzo geht sehr direct voran. Mais — es ist eine andere Genre de littérature. Es ist mehr Rhythmus und weniger Harmonie. Es ist mehr auf den Punkt gesetzt. Dann kommt der nächste. Und so fort. Seine häufigen Beschreibungen von Musik zielen dorthin. Zumindest habe ich diesen Eindruck.

Wie meinen sie das? Welche Musik?

Es ist durchaus Vielfalt. Jedoch, ich weiß es nicht genau, wie ich es sagen soll. Ich kenne mich in dieser Musique nicht so gut aus. Irgendwo habe ich diesen Begriff im Zusammenhang mit Jazz einmal gelesen, über das er viel schreibt — ehrlich, vielleicht auch aufrichtig sind solche Begriffe. Wie die Menschen, über die er schreibt. Es sind eher schlichte Menschen. Also alles — Chanson bei ihm weniger. Etwas Ferré, einmal, glaube ich, Aznavour. Mehr, ich sagte es, Jazz, meistens alte Kompositionen, von Miles Davis, John Coltrane, sogar Abdullah Ibrahim, ein Arabe, der Jazz ...

Nix Araber. Zu dem bin ich schon in die Konzerte gerannt, als er noch als Dollar Brand in kleinen Clubs auf dem Flügel zauberte. Er ist Südafrikaner.

Ouf. Ich wußte es nicht.

Macht ja nichts. Er ist, das glaube ich zumindest, einer von vielen Künstlern, viele Musiker, die schon vor dreißig Jahren zum Islam konvertierten. Muhhamed Ali hieß ja auch mal Cassius Clay. Wegen der friedlichen Botschaft.

Didier! Frieden? Er ist ein Boxeur! Er schlägt andere Menschen in ihr Gesicht! Wo ist Frieden?

Na ja. Sie haben zwar irgendwie recht. Und meine Sache ist das auch nicht, diese Kloppereien. Aber auch bevor die Antike in Marseille eingezogen ist, haben sie sich ja bereits sportlich geprügelt. Oder massakriert. Nur gab's damals eben die Bewegung der Black Muslims. Black Power. Da ging's dann allerdings um weniger wettbewerblichen Kampf.

Es ist ein Kampf, den ich mehr respektiere als diese Schläge.

Ach ja. Aber bei den Künstlern war es — das glaube ich zumindest — anders. Obwohl — Südafrika. Zu der Zeit, als Dollar Brand zum Islam konvertierte, saß Nelson Mandela wegen der sogenannten Terroristenvereinigung ACE schon ewig im Knast. Später wurde sie Regierungspartei und ihr Führer Präsident der Republik Südafrika. Aber er hat eben keinen Buren ...

Buren. Was ist es?

Meine Güte. Sie stellen Fragen. Ich weiß doch nicht, wie diese hochherrschaftlichen weißen Herrscher aus den Niederlanden über die Nigger auf französisch ...

Ah. Oui. Les Boers. Jedoch es waren auch Deutsche! Es waren nicht nur Néerlandais! Sie sind seit die Mitte des 17. Siècle dort. Und so wie du es sagst, ich habe auch die Vermutung, daß unser Artiste français Daniel Buren von dort seinen Namen hat.

Donnerwetter. Was sie alles wissen. Es ist ärgerlich, daß ich da nicht selber draufkomme. Alsdenn. Die heißen, wenn ich nicht irre, original auch so. Es ist sogar ein Name: de Boer, der Bure. Wie auch immer. Ich weiß es also nicht genau. Nun: Solidarität? Aber vielleicht ja auch, weil der Islam mehr Mysterium bietet. Ich weiß es nicht. Ich habe mich da nicht weiter mit beschäftigt. Ich höre außerdem auch nur noch selten Jazz.

Du hast es auch zuhause nie gehört ...

Zuhause?

Didier. Merde! Zuhause! D'accord. Du hast fast nur unsere Chansons gehört. Manchesmal auch etwas Musique classique. Sehr viel Baroque! Opéra. Und Jazz? Puh. Es sind Namen, die ich in Erinnerung habe aus diesen Büchern von Izzo — und die auch hier bei dir stehen. Es ist deshalb durchaus etwas seltsam, das hier zu sehen. Auch diese viele spanische Namen und ein paar italienische. Sogar Raï hast du in Deinem Regal und Khaled oder Chaba Djenet. Sogar Massilia Sound System. Es ist verrückt. In diesem Moment fällt es mir ein. Zuvor es hat mich überhaupt nicht überrascht. Es war wie normal. Doch nun — woher hast du es alles?

Na? Woher wohl. Meinen sie etwa von hier? Meinen sie, Chaba Djenet oder Massilia Sound System gibt's hier zu kaufen? Aus der Heimat eben. Aus der Rue du Capucins, dem arabischen Gewusel. Nee, warten's mal. Chaba Djenet habe ich ich in einer völlig abgefuckten Bar im ersten Arrondissement gehört, in der man besser nicht auf die Toilette hinterm Vorhang ging, weil man sonst leicht in ein Griechenklo fallen konnte. Nähe Rue Colbert, zum Centre Bourse hin. Die Brasserie du Centre. Die Bedienung, eine sehr, sehr dicke blondierte Algerierin, hat meine glücklichen Augen gesehen, hat sich darüber gefreut und es lächelnd andauernd gespielt. Die Wirtin, eine ansehnlichere ebenfalls Algerierin, hat ständig mürrisch dreingeschaut, vermutlich meiner kuhäugigen Musikwünsche wegen. Oder weil ich erkennbar kein Algerier war. Sie hat mich wohl deshalb nicht rausgeschmissen, weil ich ihr vermutlich einen Wochenumsatz verursacht habe. Trotz dieses Dauerhörens habe ich das Band am nächsten Tag gekauft und später noch eine CD. Und die Wahnsinnigen aus Marseille habe ich letztes Jahr aus der Altstadt von Pérpignan rausgetragen. Ich habe das Plakat gesehen und bin sofort rein in den Laden, in Harmonia Mundi. Nein. Es stimmt nicht. Das Plakat hatte ich zuerst in Marseille gesehen. Aber gekauft hab ich die CD in Pérpignan. Dreimal. Zwei hab ich gleich verschickt. Um den Barbaren meine Liebe zu meiner Heimat zu verdeutlichen. Auch wenn es kaum zu verstehen ist in seiner Mischung aus Provençalisch und dem neuen Dialekt der Marseillais, der jungen Abgedrehten. Aber man spürt deren Hirnströme. Sie fließen in den eigenen Kopf.

Mon Dieu! Mais évident. Wie geht es anders. Dann bei Izzo sehr viel Hispanique, auch Musique von Gitanes. Mais oui, sein Held Fabio Montale, er liebt eine Zigeunerin sehr. Sie begleitet ihn — Jean-Claude Izzo? — durch seine Trilogie. Es ist Lole. Sie ist seine große Liebe. Sie verläßt ihn. Und er trauert immer um sie. Es ist überhaupt immer sehr traurig. Ich habe viel geweint. Erst nachdem du gegangen warst, habe ich seine Bücher gelesen. Es geht mir wie dir. Ich mag auch nicht so sehr Kriminalgeschichten. Doch dann hat Mirjam gesagt, daß ich ihn lesen soll. Deshalb. Weil ich immer an uns denken mußte. Sein Held Fabio Montale sucht immer. Er sucht seine Frau, die ihn verlassen hat. In jeder Frau sucht er sie. Fabio Montale hat nur den Tod gefunden. Erst war er einen kleinen zuvor gestorben. Und dann den großen. Ich hatte un petit mort. Er war so sehr schlimm, daß ich mir manchmal gewünscht habe, ihm nachzufolgen.

Wie? Sie und er? Madame haben mit Fabio, ähem, Jean-Claude ...

Oh! Didier. Non! Arrête! Ich glaube, es liegt hier ein Mißverständnis vor, eine Verwechselung. Diesen bin ich nicht gestorben mit Jean-Claude Izzo. Ich habe ihn nur ein paarmal gesehen. Man grüßt einander. Ich kenne seinen Sohn.
Wir sagen zwar kleine Tod zu diesem wunderschönen kleinen Tod, den du nun meinst ... Es ist jedoch auch ein kleiner Tod, von dem es heißt, daß nur Männer ihn sterben, weil etwas abreißt, weil etwas vergangen ist, während eine Frau nach diesem kleinen Tod des Mannes ein schwebendes Leben weiterführt, das gelöst ist von dem ihres Geliebten. Doch ich empfinde ihn manchesmal genauso, weil ich dann auch vergangen bin, etwas abgerissen ist, ich mich fühle, als ob ich gefallen bin in eine sehr tiefe dunkle Grube. Nicht immer, jedoch oft. Mit dir. Doch dieses Abreißen eines Lebens ist ebenso bei eine Divorce, bei eine Trennung. Es ist identique! Die Psychologie hat un petit mort als Terminus technicus für eine Trennung, Scheidung. Und diesen meinte ich auch bei Izzo. Lola war sein langer kleiner Tod.

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
 
Mi, 31.12.2008 |  link | (3416) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage



 

Romantik

4. Fortsetzung. «— ich nannte sie schon meine Narzisse.»

Didier. Bei mir du benötigst keine Capote. Capote anglaise. Mon Dieu! Ich muß immer so lachen, wenn die Deutschen dazu Pariser sagen. Empêchement parisien, mais vrai. Didier! Wir haben das nie gebraucht. Wir beide waren immer nackt. Wie unsere Seelen. Werde es wieder! Ich möchte es wieder sehen, dein Herz! Bitte. Ich will nicht streiten. Es macht mich traurig.

Ach so — laß die Grammatik den Leuten, ich studier’ den Geliebten? Es lebe der alte Mystiker Qadi Quadan. Oder wie?

Oui, Didier! C'est ça! Juste au milieu. «Und eine einzige Letter les' ich, und les' sie immer wieder!» Immer und immer wieder dieses eine Zeichen lesen. Nur so lerne ich ein verborgenes Gesicht kennen, wenn ich es immer und immer anschaue. Dein Gesicht schaue ich immer wieder an! Ich habe es getan, als du mit mir warst. Als wir waren ein glückliches Paar. Und ich habe es immer angeschaut, nachdem su weggegangen warst. Du hast mir zwar keinen Brief wegen deiner Flucht gelassen, doch dein Gesicht. Es ist bei mir geblieben, es ist immer bei mir. Es befand sich immer, über diese ganze drei Jahre und mehr, meinem gegenüber. Die alten Mystiker — à l'ouest ou à l'est, tout le monde! — haben ihr Wissen nur deshalb erlangt, weil sie intensiv die Herzen des Menschen betrachtet haben, immer dieses eine Zeichen. Und der Mensch ist dieses eine Zeichen. In gleichem Maße innen und außen. Die Grammatik ist ihm nicht zunutze, wenn er das Geheimnis dieses Chiffre nicht kennt, aus denen die Zeichen entstehen, die er später im Alphabet zu beugen vermag. Nur so entsteht Geschichte — Geschichten in den Herzen, aus denen Histoire wird in den Köpfen der Menschen. Non. Dans le fonds de cœur. Nicht diese Seele der deutschen Romantique, die nur in Männern wohnt. Bereits diese Ondine von Fouqué hatte gesprochen: «Es muß etwas Liebes, aber höchst Furchtbares um die Seele sein. Um Gott, mein frommer Mann, wär' es nicht besser, man würde ihrer nie teilhaftig? Schwer muß die Seele lasten, sehr schwer! Denn schon ihr annahendes Bild überschattet mich mit Angst und Trauer. Und ach, ich war so leicht, so lustig sonst!»

Meine Güte, was sie alles im Kopf haben! Da grüble ich mich dann doch durch mein Staunen. Sie hecheln die Romantik durch?!

Didier! Ich habe es einmal gelernt. Und es ist verdammt, daß du es nicht weißt. Nicht mehr weißt. Alle unsere Gespräche. Es war einmal die Wissenschaft. Die Romantique, die Reception des Romantisme. Es ist vorüber. Lange. Die Theorie. Nun habe ich es in meinem Herzen. Tief. Mein Herz ist auch in meinem Kopf. Denn es ist das, was mich vorantreibt. Das Thema der Melusine — du hast mich eine Nymphe genannt! deine Nymphe, Didier! Friedrich de la Motte Fouqué nach Paracelsus, Heinrich Heine, dann Oscar Wilde, Jean Giraudoux — der Médiateur franco-allemand par excellence! Nicht Kohl et Mitterand. Alles dieses. Und wir haben es einmal gemeinsam getrieben. Vor ein paar Jahren. Écoute! Giraudoux' Ondine, Ihr Hans war ein Pataud. Non. Er war nicht ein Pataud, nicht ein — wie heißt es? Ah! Tolpatsch —, er war ein Vaniteux, ein Mann voll Eitelkeit. In einer Weise, wie ihr Männer es so oft seid. Er war nicht einmal denkende Seele. Wie sagte es Ingeborg Bachmann? Diese Logik habe ich gelernt, daß ein Mann Hans heißen muß, daß ihr alle so heißt, einer wie der andere, jedoch nur einer. Es ist immer nur einer, der diesen Namen trägt. Mon Dieu! Didier! So oft habe ich an diese Worte denken müssen: Und wenn eure Küsse und euer Samen von den vielen großen Wassern — Regen, Flüssen, Meeren — längst abgewaschen und fortgeschwemmt sind, dann ist doch der Name noch da, der sich fortpflanzt unter Wasser, weil ich ihn nicht aufhören kann zu rufen, Didier, Didier ... Eh bien, passé. Das ist die Erinnerung, aber nun ...

Ich darf doch sehr bitten ...

Pah ! Didier. Du bittest mich? Du darfst es. Vor kurzer Zeit erst hast du Bachmann gelesen. Ich habe es gesehen. Ich habe dein Buch in der Hand gehabt. Auch ich habe darin gelesen ...

Das ist doch nun wirklich die Höhe ...

Oui. In der Höhe. Sie steht weit oben bei dir. Oben in deinem Regal. Vor Balzac und neben Gottfried Benn. Darüben in dieser kleinen Bibliothek. Dort stehen offenbar alle deine persönlichen Freunde. Alle diese. Unsere, Didier! Ich habe gesehen, daß du ...
Sie rast — hinüber ins andere Zimmer. Sie kennt sich offensichtlich gut aus bei mir. Und sie kommt rasend schnell mit Ingeborg Bachmanns Buch Das dreißigste Jahr zurück. Sie hat es aufgeschlagen.
Ici! Écoute. Hierin habe ich eine Taxirechnung gefunden. Aus Paris! Hier ist sie. Sie ist eine Woche alt! Erfreulich nicht aus Marseille! Hier ist etwas angestrichen. Es sieht aus, als ob es sehr oft gelesen ist. Diese Histoire ist verknickt. Écoute:
«Denn ich habe die feine Politik verstanden, eure Ideen, eure Gesinnungen, Meinungen, die habe ich sehr wohl verstanden und noch etwas mehr. Eben darum verstand ich nicht. Ich habe die Konferenzen so vollkommen verstanden, eure Drohungen, Beweisführungen, Verschanzungen, daß sie nicht mehr zu verstehen waren. Und das war es ja, was euch bewegte, die Unverständlichkeit all dessen. Denn das war eure wirkliche große verborgene Idee von der Welt, und ich habe eure große Idee hervorgezaubert aus euch, eure unpraktische Idee, in der Zeit und Tod erschienen und flammten, alles niederbrannten, die Ordnung, von Verbrechen bemäntelt, die Nacht, zum Schlaf mißbraucht. Eure Frauen, krank von eurer Gegenwart, eure Kinder, von euch zur Zukunft verdammt, die haben euch nicht den Tod gelehrt, sondern nur beigebracht kleinweise. Aber ich habe euch mit einem Blick gelehrt, wenn alles vollkommen, hell und rasend war — ich habe euch gesagt: Es ist der Tod darin. Und: Es ist die Zeit daran. Und zugleich: Geh Tod! Und: Steh still, Zeit! Das habe ich euch gesagt. Und du hast geredet, mein Geliebter, mit einer verlangsamten Stimme, vollkommen wahr und gerettet, von allem dazwischen frei, hast deinen traurigen Geist hervorgekehrt, den traurigen, großen, der wie der Geist aller Männer ist und von der Art, die zu keinem Gebrauch bestimmt ist. Weil ich zu keinem Gebrauch bestimmt bin und ihr euch nicht zu einem Gebrauch bestimmt wußtet, war alles gut zwischen uns. Wir liebten einander. Wir waren vom gleichen Geist.»
Darüber haben wir sehr oft gesprochen. Und auch darüber, daß du es nicht mehr möchtest. Dieses, das zuvor war, bevor Ondine gekommen war und gesagt hat: Steh still, Zeit! Bevor ich gekommen war, denn du hast mich so gerufen: Ondine. Und, écoute, auch dieses war unser Gespräch:
«Ich habe keine Kinder von euch, weil ich keine Fragen gekannt habe, keine Forderung, keine Vorsicht, Absicht, keine Zukunft und nicht wußte, wie man Platz nimmt in einem anderen Leben. Ich habe keinen Unterhalt gebraucht, keine Beteuerung und Versicherung, nur Luft, Nachtluft, Küstenluft, Grenzluft, um immer wieder Atem holen zu können für neue Worte, neue Küsse, für ein unaufhörliches Geständnis: Ja. Ja. Wenn das Geständnis abgelegt war, war ich verurteilt zu lieben; wenn ich eines Tages freikam aus der Liebe, mußte ich zurück ins Wasser gehen, in dieses Element, in dem niemand sich ein Nest baut, sich ein Dach aufzieht über Balken, sich bedeckt mit einer Plane. Nirgendwo sein, nirgendwo bleiben. Tauchen, ruhen, sich ohne Aufwand von Kraft bewegen — und eines Tages sich besinnen, wieder auftauchen, durch eine Lichtung gehen, ihn sehen und ‹Hans› sagen. Mit dem Anfang beginnen.»
Wir haben mit dem Anfang begonnen. Es war auch, weil ich anders war als diese Ondine von dieser armen Ingeborg Bachmann. Mein Herz war nicht so schlimm verwundet wie das ihre. Gar nicht war es verletzt. Es hat nicht geblutet. Jedoch es hat gebrannt. Non. Wie heißt es deutsch — ah! es war entflammt. Denn meine Liebe war frei. Sie hatte gewartet. Und mein Hans war gekommen. Du und ich, Didier, wir haben einen Teil dieser Seele, die bei uns ein Herz ist, einmal den Männern, deinem verehrten Novalis, die religieux-schwebende Seele in etwas verwandelt mit ein wenig mehr Lust auf Fleisch, vielleicht auch mit viel mehr, mit Lust auf Opulence, sie herausgeschnitten und in die Frau hineingeformt — nicht mehr nur dieses: «Mag die Flamme der Liebe und Sehnsucht auflodern und dem Geliebten Schatten, die liebende Seele nachsenden.» Allons donc! Mais non! Was sage ich?! Ihr kommt aus uns! Die Frauen, so waren wir beide uns einig, verstehen nicht nur sehr viel, sondern sehr viel mehr von der Gemeinschaft als Männer. Bereits Fouquè hat keinen Zweifel daran gelassen, daß Ondine ihrem Ehemann überlegen ist. Er ist unfähig, das Absolute ihrer Liebe zu erwidern oder auch nur zu verstehen. Bei Giraudoux es gibt keine Zeit für sie und keine Ewigkeit. Lassen wir also Staat, Kirche und Öffentlichkeit dem Mann, haben wir laut gerufen. Für die Gemeinschaft ist die Frau Geborgenheit. Aus ihrem Leib ist sie geboren. Lassen wir auch diese Ondine française eingehen in ihr Idéal von einer philosophische Liebe für das grand Amphithêatre, für ein Staunen von einem großen Auditoire. Wir haben sie mit Oscar Wilde in uns hineingeführt — Liebe ist besser als Weisheit. Wie Merleau-Ponty geschrieben hat, Lévinas, Riccœur gedacht haben — Leib und Seele stehen nicht contraire zueinander, sie sind Einheit. Der Leib ist Nature, er gibt dem ein Gesicht, was wir Culture nennen, was sich in deiner fühlenden, nicht alleine in deiner denkenden Sprache, was sich in unserer — deine und meine! — Sprache Liberté d'esprit, auch Valeurs spirituelles, vielleicht auch nur das Spirituelle nennt — alle Bedeutung in einem, in fühlendem Denken und denkendem Fühlen. Wir haben der Seele, diesem deutschen Geist des Romantisme einen anderen Namen gegeben. Liebe ist besser als Weisheit, das haben wir mit Oscar Wilde gerufen, als wir hinübergefahren ...

Ach! Doppel-Merde! Mystifikation. Ich und Mystifikation. Was hab ich denn mit dieser Gottsucherei zu tun?! Ich halte es eher mit Diogenes. Der hat mit seiner Laterne in die Ecken der Athener Agora hineingeleuchtet und Menschen gesucht. Und bei Jean Baruzi heißt es, es gibt keine mystische Entzückung der Seele ohne vorherige Entleerung. Aber Wildes Fischer hatte außerdem ein Verhältnis mit seiner Seele, une liaison avec ihr, mit der war er eigentlich eher verheiratet. Und er hat auch gesagt, daß diese Liebe nicht nur besser ist als Weisheit und kostbarer als Reichtum, sondern auch schöner ist als die Füße der Töchter der Menschen, daß die Feuer sie nicht zerstören können und die Wasser sie nicht ertränken. Und? Was war dann? «Keine Blumen wuchsen dann mehr auf dem Grab.» Der Pfaffe ist sogar hops gegangen, ist irre geworden daran, hat sich Chorhemd und Stola abnehmen lassen ...

Oui! Weshalb opponierst du? Weil du es mußt? Auch Marquis de Sade hat es betont. Nichts würde gehen, ohne daß beides ist in Harmonie, eine Einheit. Vielleicht ist es dir lieber? Weil du meinst, in Opposition gehen zu müssen? Als einen Grundsatz deiner selbst?

Aber der Marquis de Sade hat die Pfaffen niedergemacht! Er hat sie allerdings nicht ermordet. Er hat sie niedergeschrieben. Er hat's zumindest versucht. Wenn's auch nix geholfen hat. Das einzige, an das de Sade geglaubt hat, war der Mensch. Hier de Sade und seine Laterne. Aber nix Sonne, Mond und Sterne als Produkt eines göttlichen Wesens. Er hatte mit diesem Mystifikationskram nichts am Hut. Alles Lug und Trug.

Sogar die Révolution hat Gott wieder erscheinen lassen. Monsieur!

Uff! Als ob ich je ein Anhänger der Revolution gewesen wäre! Jedenfalls nicht dieser Revolution. Nicht des Terrors ...

Dein von dir nicht sehr geliebter Goethe? Ist es möglich? «Weil ich nun aber die Revolutionen haßte, so nannte man mich einen Freund des Bestehenden. Das ist aber ein sehr zweideutiger Titel, den ich mir verbitten möchte.»

Ach du meine Güte! Eckermann. Das halt ich ja im Kopf nicht aus. Herr Gott Goethe und sein gelehriger Lehrling Eckermann. «Eckermann und Goethe — Blaserohr und Flöte.» Nikolaus Lenau. Und wie schrieb Heine so schön:

«Zu Weimar, dem Musenwitwensitz,
Da hört ich viel Klagen erheben,
Man weinte und jammerte: Goethe sei tot
Und Eckermann sei noch am Leben!»

Und dann noch der Hauch von Anton Kippenberg:

«Auf Winsen sich die Ruhe legt;
Kein Windeshauch die Luhe regt.
Da hebt Gemuh', Gemecker an:
Die Herde heim treibt Eckermann.»

Es ist ein Phénomène! Ein sehr komisches, das muß ich betonen. Wann immer man dir gibt das Stichwort Goethe, es kommt aus dir wie eine springende Quelle. Es ist, als ob man ein Zauberwort spricht, als ob man wäre im Buch Harry Potter. Man muß nur die beiden ersten Buchstaben sagen, und es kommt zu einem Ausbruch, wie aus einem Gefängnis. Es sind enorme heiße Quellen in diesem Anti-Goethe-Vulkan Didier. Es ist mir also wieder gelungen. Wie früher. Es ist alles noch in Funktion. Wenigstens dieses.

Sie wissen sehr viel. Seltsam viel.
 
So, 28.12.2008 |  link | (2578) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage



 

Faschiertes

Alle Lichtlein brennen ... Eine Ergänzung zu Den Zahn ziehen ..., hier aus Zwei Tage.

Ja. Höchst interessant. Sie irren nicht: Fascis, das Rutenbündel der altrömischen Liktoren, das zum Symbol der italienischen Arbeiterbewegung wurde, aus dem der Faschismus entstand, der heute ständig falsch angewandte Begriff. Heute nennt jeder Dahergelaufene jeden dahergelaufenen Arbeitsplatzvernichter Faschist. Also, Faschiertes. Das ist österreichisch. Paßt ebenfalls zur Geographie des Schreckens. Ich kann den etymologischen Zusammenhang leider nicht erklären. Ich vermute jedoch, daß es damit zusammenhängt. Es meint Hackfleisch. Haché. Also volksmundgerecht hachierter Wille zur Macht. Nun denn. Ich für meinen Teil befand mich zu dieser Zeit jedenfalls in einem Stadium, in dem ich spürte, daß das Selberdenken tatsächlich weitaus spannender sein kann als Denkenlassen, also das Repetieren von Wahrheiten, die durch den reinen formellen Akt des Gebets nicht wahrer werden. Nochmal, da wir ja beim Thema sind, Nietzsche, quasi assoziativ: Das Gedankenbild besteht aus Worten, ist etwas höchst Ungenaues, es hat gar keine Hebel, um Bewegungen zu veranlassen – an sich. Nur durch Assoziation, durch eine logisch unzugängliche und absurde Beziehung zwischen einem Gedanken und dem Mechanismus eines Triebes (sie begegnen sich vielleicht in einem Bilde zum Beispiel dem eines streng Befehlenden) kann ein Gedanke (zum Beispiel beim Kommandowort) eine Handlung hervorbringen. Es ist nichts von Ursache und Wirkung zwischen Zweckbegriff und Handlung, sondern dies ist die große Täuschung, als ob es so wäre![1] Und damit meine ich eben auch diesen Glucksmann, der in seinen Meisterdenkern geschrieben hat, «in makabrer Modernität sei Deutschland, kein Territorium, keine Bevölkerung, sondern ein Text und ein Verhältnis zu Texten, die lange vor Hitler aufgestellt» und verbreitet wurden. Die «Einigung durch Texte» sei einhergegangen mit der «Auflösung des Territoriums»[2]. Und wir wie gesagt — unter anderem und bei aller Kontroversität oder vielleicht gerade deshalb — den alles anderen als kakanischen, selbsternannten Obersten Gefreiten damit überhaupt erst verstanden haben — in meinem Fall: begonnen haben zu verstehen. Es mußte also ein Franzose kommen. Ein jüdischer von deutschem Blute noch dazu. Der mir das ins vom Deutschen verdickte Judenblut gekippt hat, um's wieder fließen zu lassen. Sozusagen kurz vor der Thrombose. So ist das!

Didier! Glucksmann — das war vor tausend Jahren! Heute ist er selber ein Oberwahnsinn ...

Dieser Oberwahnsinnige hat in seinen Meisterdenkern, also 1977, immerhin diese denkwürdige Propheterie niedergeschrieben: «Alles, was herumvagabundiert, das ist die Frage. Mitsamt den Juden wird diese ganze kleine Welt veurteilt, die sich dem Staat entziehen könnte, wenn sie über die Grenze geht und bei ihrem Überschreiten die Disziplinargesellschaft vor den Kopf stößt. Das Europa der Staaten versucht alle auszuschließen, die an den Rändern der Gesellschaft leben.»[3]

Damit hat er das Europa aus der Zeit der Nazi gemeint! Das ist Klitterung!

Das ist weniger Klitterung als vielmehr Aktualität oder auch der Nachweis, daß diese Merde-Gesellschaft, die dauernd nach dem Staat ruft, den er ja verrissen hat in diesem Buch — im übrigen ja auch die ganzen aufklärerischen Geistesgrößen Dostojewski oder Schiller oder Hegel oder Proudhon oder wie sie sonst noch alle heißen der Meinung waren, daß Untermenschen wie die Juden ...

Hegel hat die Juden nicht gemeint. Das weißt du genau!

Na ja. Gemocht hat sie jedenfalls nicht sonderlich, und seine Kritik an ihnen hat er drastisch genug geäußert. Was soll's. Und er hat die zu «keiner Entwicklung und Bildung»[4] fähigen Neger mal eben so bezeichnet. Das ist doch daselbe. Die Juden, die Neger und die Schwulen und die Araber ...

Schlechte Polemik ...

Schiller, der Demokrat und Philosemit: Der «nichtassimilierbare Kaftan».[5] Oder aber: «Ist dies auch ein Deutscher?»[6] Wie auch immer — von diesem Glucksmann habe ich mir Nietzsche-Unterricht erteilen und mir nochmal bestätigen lassen: «In dem Maße, wie sie alle vom Staat aus denken, legitimieren sie schließlich die rassistische Überwachung, die der Staat auf seinem Territorium einrichtet.» – Wenn das kein Weitblick ist?! — «Der Jude ist der Inbegriff dessen, der vernichtet werden muß. Entweder weil aus Kleinlichkeit des Geistes der Sinn ihm nicht nach Staat steht» – oder weil er als Staat im Staat seine Funktion als feindlicher Agent erfüllt.[7] Ist das etwa nicht hochaktuell? Ist dieser Glucksmann etwa ein Depp?!

Ah! Ihr, die ihr erlebt habt, wie er und ein paar andere eure Maman Siècle des lumières den Rock angehoben haben, um zu zeigen, daß auch sie, die so sehr verehrte Reine Raison, einen Unterleib hat und nicht nur eine Construction aus Eisen ist oder nur aus Haut und Knochen, die nicht Kinder gebären kann, und sie hat ein wenig philosophisches Parfum français auf euch gesprüht, seither glaubt ihr genauso an ihn wie an die Heiligkeit des Bordeaux, diese Nebelmaschine in einer Comédie für Besserverdienende. Ihr kauft ihm alles ab, auch wenn in der Flasche sich die letzte Auswaschung aus dem Tank aus Stahl befindet, in dem er transportiert wird. Er, Glucksmann, oder andere. Manchmal glaube ich fast, daß das französische Volk recht hat, wenn es auf die Têtes intellectuelles schimpft, weil sie sich so entfernt haben. Oder vielleicht sogar, wie Martin Page es in seinem Buch Comment je suis devenu stupide und nach einem chinesischen Sprichwort geschrieben hat, das völlig zu übertragen sei auf die Intellektuellen: Ein Fisch wisse auch nie, wann er macht Pipi.[8]

Ach, Madame! Schon wieder Tucholsky! Sozusagen in Abwandlung. Na ja, vielleicht hat's Tucholsky in Unwissenheit ja bei den Chinesen abgeschrieben. Aber ich will dem tatsächlich witzigen und klugen jungen Mann aus Paris — bei uns trägt das Buch den Titel Antoine oder die Idiotie — ja gerne Tucholskys Neuschnee zugestehen. Es gibt keinen Neuschnee! Nichts ist mit eigenen Gedanken, alles ist bereits einmal gedacht.[9] Der Jude Kurt Tucholsky hat geschrieben: «Gewisse frankfurter Juden führen täglich ihre Klugheit spazieren. Die bellt munter umher, und an jedem Baum macht sie ein bißchen Pipi.»[10] Was soll's. Madame! Wir kaufen Glucksmann doch schon lange nichts mehr ab! Glucksmann ist doch, im Gegensatz zu vielen seiner französischen Kollegen, gar nicht mehr präsent. Nicht Gott, sondern Glucksmann ist tot. Weil ihm, ganz im Sinne Nietzsches, die Luft ausgegangen ist für die Alternative zum Modell Gott. Von mir aus auch zum Modell Gott in Frankreich. Also lebt Gott zwangsläufig weiter. Nicht nur in Frankreich. Wo er wenigstens was Ordentliches zu essen und zu trinken abwirft und keine vom Militär aussortierten, in fundamentalprotestantische Sterne und Streifen eingewickelten Würstchen vom Plastikschwein. Aber da kommt er ja sowieso her, wie wir wissen. Unser Gott in Frankreich. Wo er immer noch lebt. Wahrscheinlich, weil er seinen Lebensunterhalt selber verdienen muß. Das haben diese ganzen Trottel, die diese Versatzstücke hinausposaunen, ja eben nicht begriffen. Wie gesagt. Der Wille zur Macht. Die ewige Wiederkehr. Übermensch. Et cetera. Nichts haben sie verstanden, diese Kaninchenzüchtervereinsverbandsfunktionäre des linken und des rechten Nationalsozialismus. Glucksmann aber eben schon. Damals jedenfalls, vor fünfundzwanzig Jahren. Mir hat's geholfen. Auch bei seinen Gedanken über den Marxismus. Ich teile sie bei weitem nicht. Da gebe ich ihnen völlig recht. Es ist viel zu sehr aufgeblasener Zeitgeist. Ein früher Postmoderner eben. Oder auch: Glucksmann hat die sogenannte Postmoderne von Jencks — des Literaturwissenschaftlers, wohlgemerkt, sein Bruder Charles hat ihm den Begriff geklaut — aus den sechziger Jahren bereits aufgegriffen und verwurstet, als die Leute bei uns noch glaubten, der Begriff meine, die Post würde jetzt modern bauen. Sehr flockig, quasi mit naßforschem Spirit, Spititismus sozusagen hat er Marx' Idee des Kommunismus abgefackelt. Aber als Anregung stimmen die Gedanken. Zum Selberdenken. Und sie mögen ja durchaus recht haben, wenn sie meinen, Glucksmanns geistiger Schließmuskel — oder der anderer — funktioniere mittlerweile nicht mehr. Doch ich muß dem immerhin entgegenhalten, wenn ich genau darüber nachdenke: Er stellt sich immerhin vor ein kleines, friedliches Volk, das eben keine palästinensischen Kamikaze in Discotheken oder Supermärkte fliegen läßt.[11]

Anmerkungen
1 Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, München, Berlin/New York 1980, Fragmente, vol. 9, p 289
2 zitiert nach: Willi Jasper, Der dämonische Held. Der ‹Faust› und die Deutschen – eine verhängnisvolle Affäre, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 5. Februar 1999
3 André Glucksmann: Die Meisterdenker, Reinbek 1978, p 117; français: Les maîtres penseurs, Éditions Grasset & Fasquelle, 1977; allemand ici
4 ibd., p 119
5 ibd.
6 ibd.
7 ibd.
8 Martin Page: Antoine oder die Idiotie, Roman, aus dem Französischen von Moshe Kahn, Wagenbach Verlag, Berlin 2002, p 73 (auch Buchrücken); français: Comment je suis devenu stupide, Le Dilettante, Paris o. J.
9 Kurt Tucholsky: Es gibt keinen Neuschnee, in: Gesammelte Werke 1925 – 1926, Rowohlt, Reinbek 1811993 (181. Auflage), vol. 9, p 74f.
10 Tucholsky: Schnipsel, G. W., ibd., vol. 10, S, 108
11 Die Ereignisse, auf die hier angespielt wird, fanden in den neunziger Jahren statt.

Gerne empfehle ich den das Thema erhellenden Abriß der Geschichte des Antisemitismus.

Als lesenswert erachte ich auch die weihnachtliche Betrachtung zu Juden- und Christentum von Rudolf Krause, darin ein paar Anmerkungen zu Fichte, Hegel, Kant und Nietzsche.

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung

 
So, 21.12.2008 |  link | (1512) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage



 

Annäherung.

3. Fortsetzung. «Aber entfernt hatte ich das Bild nie! Seit damals.»

«Entschuldigen Sie — sind Sie es wirklich? Fadila? Sie haben mich gesucht? So wundervoll das ist» — ich verfiel völlig gegen meinen Willen in eine fast unzumutbare Dümmlichkeit — «aber weshalb?»

Es war, als ob Vater Zeus statt eines seiner blitzenden Speere eine seiner schönen Töchter vor mich hingeschleudert hätte, um einen Fehler der Weltliteratur und des mythischen Theaters zu korrigieren. Als ob er das richtige Licht eingeschaltet hätte. Auf einmal sah ich genau — im Bruchteil einer Sekunde war alles Blut aus dem Gesicht entwichen. Der lange, schlanke Hals trug einen Kopf, der wieder zurückgekehrt war ins Reich der Bildhauerei. Das war keine Haut mehr, es war Elfenbein. Winckelmanns Antikenideal hatte gesiegt. Alle Tiefe hatte sich in der inhaltlosen Form aufgelöst. Oder war das zuvor schon so, und ich hatte es im Düsteren nur nicht gesehen? Auf jeden Fall sieht das Gesicht aus wie der definitive Nachweis dafür, daß neuerlich jedwedes Leben aus der Kunst gewichen ist. Das Leben gehörte also wieder sich selbst. Doch dann kehrt es phasenweise wieder zurück in die Skulptur. Es beginnt am Mund und setzt sich zuckend in den Bereich der Augen fort. Ich meine, etwas Wässriges darin zu sehen.

«Warum tust du das, Didier? Weshalb tust du mir so weh? Ist es so schlimm, war ich so böse dir gegenüber, daß du dieses mir tun mußt?»

Was für ein miserables Stück. Und offensichtlich war doch wieder Leben in die Kunst gefahren. Der Sprachperfektionismus war dahin, das Korsett löste sich auf. Ich spüre, wie ich meinen Kopf wieder an die Luft bekomme. Doch weshalb war sie traurig gestimmt? Ich hatte ihr doch nichts Übles angetan. Sie war schließlich damals diejenige, die mit ihrem schönen schwarzen Krieger nach Spanien an den Urlaubsstrand fuhr und mich Schmachtenden in die deutsche Wirklichkeit zurückstieß. Doch nun spüre ich, daß ich tatsächlich etwas nicht ganz Korrektes gesagt haben mußte.

«Ich bin mir durchaus im klaren, daß du während unserer Trennung nicht abstinent warst. So seid ihr Männer, und dabei bist du sicherlich Mann. Doch daß du mich mit den Namen deiner Liasion ansprichst — c'en trop ! Allerdings es ehrt mich, daß du offensichtlich innerhalb meines Blutes geblieben bist. Jedoch — so gleichklingend sind die Namen Fadila und Naziza nun doch auch wieder nicht, daß du nicht hättest ein kleines Maß an Feingefühl beibehalten können.»

Hatte ich mich wirklich geirrt? Es war nicht Fadila. Und jetzt, im besten Sinn des Wortes, bei Licht betrachtet: Es wäre ja mehr als kitschig, würde diese Frau mich nach zwölf Jahren sozusagen abholen. Aber wer? Und richtig: Fadila sprach ja kein Wort Deutsch. Wenn es mit meinem Französisch hakte, weil ich es als Kind ebensowenig mochte wie das mütterlich verordnete Klavierspiel, schon aus Trotz dem väterlichen Russisch zugeneigt war und mich auch später mehr im Geschriebenen bewegen sollte, sprach ich, wenn ich nicht weiterkam, einfach englisch, und sie antwortete französisch. So lief es denn passabel, das Gespräch über Literatur und Welt, da ich doch das eine ums andere Mal peinliche Ausspracheprobleme hatte, auch aus Bequemlichkeit und weil sie es zuließ, zunehmend Englisch und Französisch mischte. Und dennoch waren es mehr als erspriesliche Unterhaltungen gewesen. Aber sie konnte unmöglich in dieser Zeit so gut Deutsch gelernt haben. Obwohl: zwölf Jahre? Wer weiß, was seither geschehen war? Vielleicht hatte sie ja mit einem Deutschen oder Schweizer das Kopfkissen geteilt. Es gibt ja genügend, die herüberfahren, um sich hier sattzuessen. Beispielsweise in diesem sehr feinen Restaurant mit dem typisch französischen Namen Mungo Park, in dem ich mit ihr essen war. Wo ich vor lauter Begeisterung — und vielleicht oder auch mit Sicherheit auch ein wenig großspurig — dem Kellner sämtliches Kleingeld in die Hand geschüttet hatte, das sich in meinen Taschen immer ansammelt, da ich grundsätzlich mit Scheinen bezahle, weil ich die aus den aus den Mündern herausratternden Zahlen nie verstehe. Da kommt einiges zusammen. Er ist recht eingeknickt, dieser aufrichtig freundliche Gastgeber, der an unserem prachtvoll großen runden Tisch für uns beide immer ein wenig gelöster war als an den leicht höher dimensionierten Hockern der anderen Gäste. Wahrscheinlich war er froh, mal jemand anderen bedienen zu dürfen als diese unangenehmen Pfeffersäcke aus dem Osten. Dafür hatte Fadila die Augenbrauen bedrohlich nach oben gezogen. Fast ebenso abfällig wie beim Anblick meiner fetten Voiture. Also ist mein Gedanke schon leicht abwegig, sie auf einem solchen Kissen zu vermuten, von dem mir mein guter alter Grigorije einmal versichert hatte, auf ihm lerne man fremde Sprachen am schnellsten. Doch wer weiß? Vielleicht wurde aus der Not eine Tugend. Und nun hat sie sich der Tugend wieder entledigt und trägt wieder die leichte Baumwolle ihres tatsächlichen Wesens?
Aber, ach was, auch nach zehn Jahren spricht doch niemand das Deutsch einer Auslandskorrespondentin. Doch wer weiß? Ich sollte nicht von meiner Minderbegabung ausgehen. Außerdem könnte es ja tatsächlich auch Fatima sein, die hier vor mir sitzt. Die schien mir schon eher in Richtung des Gutsituierten orientiert zu sein als Fadila.

«Also nicht Fadila. Gut. Dann sagen sie mir doch endlich, wer sie sind. Ich bin nicht willens, diese Schmierenkomödie weiterhin mitzuspielen. Sie sind, das sei gerne zugestanden, eine schöne, eine durchaus reizvolle Frau, und ich gebe zu, daß sie dem Schönheitsbild angehören, daß mir die Sehnsüchte oder die Gene oder das Schicksal oder sonstwas im Lauf der Jahrzehnte zurechtgemalt oder hingetöpfert oder was auch immer haben. Aber unter diesen Umständen kann ich nicht einmal entfernt daran denken, daß ich in einem Film von Rohmer sitze. Ich sitze in einem dieser vielen schlechten deutschen Filme, die gekennzeichnet sind von der Dramaturgie des dualistischen Prinzips, sozusagen der Eingesichtigkeit des Mediums hierzulande. Es reicht. Entweder sie rücken jetzt mit ihrer schönen Sprache raus, oder ich rücke sie. Hinaus. Durch die Tür.»

Ich gehe in die Küche, um mir noch einen Pastis zu holen. Doch als ich ihn eingeschenkt, Eiswürfel ins Glas getan und mit Wasser aufgefüllt, die nervös-maßlose Oberflächenspannung abgetrunken hatte, merke ich, daß er mir nicht schmeckt. Pastis schmeckt nur, wenn man gelöst, gut gelaunt ist. Wenn man im südlichen Sommer sitzt. Zumindest im Hirnkino.
Er schmeckte mir nicht wie diese gesamte Situation. Und am wenigsten gefiel mir mein Verhalten, meine Ängstlichkeit, in etwas hineingeraten zu sein, zu dem ich möglicherweise doch beigetragen hatte. Tatsächlich war ich ja ein Meister des Verdrängens. Immer wieder geschah es, daß ich mich an Widrigkeiten, die ich anderen Menschen ins Leben gesetzt hatte, nur unter äußersten Schwierigkeiten erinnerte. Interessanterweise kam jedoch nach meinem Um-Fall, wie ich meine Hirnabschaltung nannte, die mir vor vier Jahren diesen wahrhaftig unglaublichen Zustand des Neben-mir-Stehens und der Selbstbeobachtung bescherte, zunehmend mehr weit Zurückliegendes in mein Gedächtnis, teilweise sogar bis in meine verschüttete Kindheit. So wäre es geradezu absurd, daß ausgerechnet diese Quellnymphe nebenan nicht einen Jota Vergangenheit in mir wachrufen sollte. Es war also ein abgekartetes Spiel. Anderes war nicht möglich. Ich schiebe den immer noch dort stehenden Rollkoffer zur Seite, schütte den Pastis ins Spülbecken und gehe in die Kammer, um nach einer der Situation gemäßen Flasche Weines zu schauen. Ich benötigte jetzt etwas Kräftigeres. Vielleicht ein Schluck aus dem Südwesten, einen Madiran, mit dem man herrlich Krebse knacken kann. Vielleicht ja auch diesen Fall — der allerdings seltsamerweise begann, mich immer weniger zu beunruhigen. Obwohl es das doch sollte. Denn so gut kann eine Schauspielerin gar nicht sein, daß ihr alles Blut und jede Bewegung entfährt, nur weil man sie nicht bei ihrem Rollennamen genannt hat.
Bei allem Ärger, den sie mir bereitete, wollte ich dann doch nicht allzu unhöflich sein. Wäre es ein Mann, dann säße er längst vor der Tür. Nun, es saß aber eben kein Mann bei mir in der Wohnung, sondern eine Frau. Und was für eine! Ich gehe also quer durch den Flur, bleibe an der Tür stehen und will sie fragen, ob sie einen besonderen Wunsch habe, denn ich würde eine Flasche Wein öffnen. Da sitzt diese Statue. Nein, es war die Blutspenderin persönlich, Anadyomene, wahrhaftig, die aus dem Fruchtschaum des Meeres Emporgetauchte, die mich eingetaucht hatte. Still sitzt sie da, raucht unentwegt und blickt hinunter auf die Straße, auf die großstädtische Kreuzung, auf der es langsam ruhiger wurde. Ja, das war das Gesicht. An ein solches Gesicht soll ich mich nicht erinnern?!

«Ich möchte ein Glas Wein trinken. Sie auch? Haben sie einen besonderen Wunsch?»

»Oui. Jedoch es ist nicht die Zeit für Vin rosé. Wenn du das dachtest. Keine falschen Reminiszenzen an Toten Fisch, wie Du ihn nennst, auch nicht an Cocquillage. Und es ist auch nicht gekühlt. Meinen Gefühlen nach wäre ein schwerer Bordeaux der Wehmut gerecht.»

«Madame», entgegnete ich, den Kopf weltmännisch nach hinten werfend und die Götter der geistig Armen anrufend, «über dieses Erinnerungsvermögen verfüge ich noch! Das von einer Französin! Ein alter Bordeaux. Selbst wenn ich einen fände, was durchaus im Bereich der warmen Kammer läge, so benötigte dieser doch um einiges an Atem mehr, als ich zur Zeit habe.»

»Ah! Didier. Das sind doch nur diese Deutschen mit Portefeuille, die eine solche grande Cérémonie vollziehen. Vielleicht noch Anglais oder Japonais. Sie benötigen dazu jedoch eine Anleitung für den Gebrauch, die übertragen ist von diesem französischen Händler, der Savoir vivre à la français in feines Papier geschrieben hat. Wir Menschen nehmen es da nicht so genau. Unsere Besessenheit ist nicht von dieser rituellen Profanation des Wahren. Wir Menschen aus dem Süden sehen darin keine Compensation für eine Langeweile, die in uns ist. Wir beten Wein nicht an, wir trinken ihn. Hat er eine Stunde, wird er sich mit Lust in unsere Capillaires begeben. Ob aus Bandol oder aus Bordeaux.»

«Ich möchte aber nicht einmal eine Stunde warten.»

»Jeder Wein nimmt Luft und genießt für uns seine gewonnene Freiheit, wenn er hinausdarf aus seinem Verlies. Dann er wird sich dir en permanence in einem neuen Kleid zeigen. Du magst diese schillernden Gewänder der zu trinkenden Düfte. Ich weiß es.»

Sie hatte mich schon wieder rhetorisch in die Ecke getrieben. Woher hat sie das bloß. Aus der Banlieue ist die nicht. Klar. Bei diesem Deutsch. Papierdeutsch. Nein, Bühnendeutsch. Nun gut, sie könnte ja auch was Deutsches in der Familie haben. In diesem Mischlingsland ist alles möglich. Vielleicht tatsächlich Elsaß? Aus dieser Gegend, aus dem Randlothringischen, kommen zwar meine Ahnen, zumindest mütterlicherseits, doch ich kenne niemanden dort, da die letzten um 1700 davongelaufen sind oder wurden, sieht man mal von ein paar Künstlern ab, die sich dort eingekauft haben. Doch Familie?
Ich beharre auf meiner Unhöflichkeit und setze mich über ihren Bordeaux-Wunsch hinweg. Einen Madiran finde ich nicht, aber dafür einen aus der Gegend von Nîmes, den meine Bedürfnisse annehmen. Und vielleicht eher ihrem Wesen entspricht. Seltsam genug, daß diese Frau nach Bordeaux verlangt. Dieser Wein aus dem Süden war zwar schlicht, aber stärkend. Das war es, was ich wollte angesichts der offensichtlich bevorstehenden Rodung des wild durcheinandergewachsenen Mischwaldes meiner Erinnerungen. Es war ein Wein, der sich innerhalb von ein paar Minuten auffächern würde und auch nach dem Hinunterschlucken noch etwas Charakter beibehielt. Sie riecht erst gar nicht daran und nimmt sofort einen kleinen Schluck, den sie mit einem verhaltenden Achselzucken und dem überzogenen Abspreizen der — langen, schlanken — Finger beider Hände kommentiert.

«Du warst schon zuvorkommender, Didier. Als du mir den Hof machtest, meinte ich, du unterschiedest dich von anderen. Bereits Deine Briefe waren außergewöhnlich. Doch damals wußte ich noch nicht, daß die geschriebene Selbstdarstellung deine Profession ist, und es schmeichelte meiner Liebe zur Sprache, durchaus auch mir. Und dein Heiratsantrag galt wohl in erster Linie dir selbst als mir. Nein. Ich werde ungerecht. Das möchte ich nicht. Deshalb bin ich nicht gekommen. Du hattest deine Höflichkeit nicht aufgegeben, nachdem du mich erobert hattest. Maman spricht immer davon, und Papa vermißt dich und die Gespräche mit dir sehr.»

Es war zum Auswachsen. Woher hatte sie nur solche Details? So etwas kann Phantasie allein nicht gebären. Das wären der Zufälle zuviel. Profession. Nun gut, das kann ihr jemand erzählt haben. Dazu bedarf es keiner intimen Kenntnisse. Aber Briefe! Daß ich ein leidenschaftlicher Briefeschreiber bin, der in ihnen Gefühle zu lenken weiß, das zu wissen erfordert es schon einer Quelle, die in nächster Nähe entspringt. War sie eine dieser vielen Frauen, mit denen ich regen schriftlichen Austausch hatte, mich ihnen aber nie persönlich zu nähern gewagt hatte in meiner fast panischen Angst vor einer möglichen Bindung, die sich in ständiger — unfruchtbarer — Auseinandersetzung mit dem Wunsch nach Familienglück befand, begleitet von oft stündlich die Richtung wechselnden Gefühlsausbrüchen. Das könnte einiges erklären, denn in die oft buchseitenlangen Schreiben sind immer unendlich viele Details meines Lebens eingeflossen, wenn auch wie ein Rosé, wie er durch das Zusammenschütten von Rot- und Weißwein entsteht. Solchen Frevel hatte ich zumindest schon beobachtet. Manchmal fand er auch in meinem Kopf statt. Vermutlich wußte ich immer bereits im Vorfeld solcher meist über Anzeigen oder auch schon mal weltweitweb zustandegekommenen Bekanntschaften, daß es immer bei einer virtuellen Annäherung bleiben würde — als ob man es dem Friseur erzählte: sich selbst eben. Mittlerweile schulen sie ja schon die Friseurinnen zu Hilfskräften der Frauenhäuser um, da die Erfahrung gezeigt hat, daß dieses Erzähl's doch deinem Friseur ein Treppenwitz der Psychologie ist. Aber wer macht denn Menschen Heiratsanträge, die er nicht kennt?! Andererseits: Wenn man von vornherein weiß, daß man den Antrag in die Tat umzusetzen nicht beabsichtigt. Aber nein. Soweit würden meine Gefühlsausbrüche, die oft genug das Denken außer Funktion setzten, dann doch nicht hinreichen. Im Bett, umschmeichelt von der Zärtlichkeit des warmen und weichen Körpers, beim heranfliegenden kleinen Tod im Chiffongewand, kurz bevor der alles abschaltet, dabei ja. Wer weiß, vielleicht hatte mich solches vor dreißig — oder waren es fünfunddreißig? — Jahren gar in den Stand der Ehe versetzt. Und zumindest einmal habe ich solche Peinlichkeiten auch herausgefordert.
Aber ich hatte auch Prügel bezogen dafür, im härtesten Sinne dieser ja an sich ja rein verbalen Tat. Eines Abends hatte es geklingelt, und ich hatte, zu einer Zeit, als ich noch Menschen ohne Voranmeldung einließ, arglos die Wohnungstür geöffnet. Das Resultat war ein Faustschlag ans Kinn. Doch nicht dieser hatte mich umgehauen, sondern das anschließende, bis in die frühen Morgenstunden andauernde Verhör. Damals ergab es sich, daß ich wohl jemandem besagten Antrag gemacht haben mußte. Vermutlich unter erheblichem Einfluß staatlich geförderter Drogen sowie einem massiven Anflug präejakulativer Glückshormone. Und diese Empfängerin meiner versammelten Ausschüttungen hatte einer kurzen Notiz im Kulturteil der örtlichen Zeitung entnommen, daß in einem altehrwürdigen Konzertsaal eine Ehelichung zwischen Risacher und Reichel stattgefunden habe. Entweder sie hatte nicht richtig gelesen, oder es war ihr lediglich zugetragen worden, vielleicht sogar bewußt entstellt. Auf jeden Fall war die komplette Meldung untergegangen oder nicht korrekt bei ihr angekommen. Denn der war zu entnehmen, daß es sich bei dieser Festlichkeit um eine Art Performance im Rahmen einer Ausstellung handelte, bei der zwei Männer einander das Ja-Wort gegeben hatten — ein zu Beginn der achtziger Jahren eher unvorstellbarer Akt bayerischer Liberalität, zudem noch innerhalb eines staatlichen Residenz-Gemäuers. Aber es war ja auch eine eher spontane Festivität einer Handvoll fröhlicher Künstler, die den des falschen Parteibuches wegen ewigen Professorenanwärter mit dem Feuilleton verbandelten und letzteres zugleich mit einer Nottaufe aus Knoblauchöl ins katholische Zwangslager konvertierten. Mit so etwas kam man damals in die Zeitung. Die Dame, der ich die Ehe ins Ohr geraunt haben muß, hatte einen zwei Personen umfassenden, ausgeprägt männlichen Volksgerichtshof mitgebracht gehabt. Ich hatte es überlebt. Allerdings nicht meine Beziehung zu meinem reizenden Besuch, der verängstigt in meinem Schlafzimmer ruhigere Zeiten herbeigesehnt und dann die Flucht ergriffen hatte. Lange wurde ich von ihm demonstrativ ignoriert, wenn ich in der Hochschule neuerliche Nähe suchte. Möglicherweise hatte ich auch ihr gegenüber eigentlich Haltloses geäußert. Sie hat dann ihr Heil in einer Ehe gesucht, die sehr bald heillos werden sollte.
Doch es lag alles sehr lange zurück. Seit damals, nach diesem eher unliterarischen Sturm- und Drang begann mein Leben sich in stillere Gewässer zu kanalisieren, weitab von irgendwelchen Gemeinsamkeiten. Von Ehe wurde folglich eher weniger gesprochen. Und schon gar nicht mit meinem derzeitigen Besuch. Daran würde ich mich doch wohl erinnern.

«Versuchst du dich zu erinnern, Didier? Es hat den Anschein, daß ich dir doch Unrecht tue und du die Vergangenheit doch nicht ohne weiteres aus deinem Gedächtnis hervorrufen kannst, daß du doch gelitten hast, wie man mir das überlieferte. Dann bitte ich dich um Verzeihung. Dann bitte ich dich, mir zu helfen, auf daß ich dir helfen kann.»

»Wie war noch Ihr Name? Xanthippe? Wer hat sie in eine keifende Sozialelfe verwandelt? Oder sind sie von Hause aus eine. Wollen wir hoffen, daß aus diesem Kübel übelriechender Sülze, den sie über mich ausgekippt haben, schiere Wahrheit nachfolgt, und nichts als das. — Fürwahr, ich denke über meine Vergangenheit nach, und ich bin auch bei einem vermeintlichen Heiratsantrag. Doch nicht bei einem, den ich ihnen vorgelegt haben könnte. Aber sie wollen mir ja helfen. Vielleicht hatten Sie mir ja seinerzeit die grobschlächtigen Knaben geschickt, die aus mir einen Verprügelten machten?» Obwohl ich den Kopf abrupt ebenfalls in Richtung Straßenkreuzung gewandt hatte, als ob die Lösung dieser Rätselei dort läge, spürte ich, daß das Wasser wieder stieg. In ihren Augen und mir bis zum Hals. Ich versuchte, wieder im Vergangenen zu fischen.

«Du sprichst in Rätseln. Wie kommst du auf solch ein schlechte Idee? Wie könnte ich Dir prügeln.»

«Verflucht noch eins! Doch nicht sie. Ich denke nicht daran, an sie zu denken, wenn es Prügel gibt. Ach, was rede ich da für ein Zeugs. Außerdem war die Mordbraut blond. Obwohl, blond giftet — bei euch liegt solches ja näher, Ihr habt ja die Fatwa, die ihr unterm Shador ausbrütet. Ich rede wirr. Sind sie überhaupt Muselmanin?»

«Didier. Es ist genug. Du bist Unflat. Doch ich will nicht zu sehr konsterniert sein. Du weißt es. Oder vielleicht weißt du es nicht und spielst nicht. Aber du bist empörend unangenehm. Früher hättest Du mir gegenüber dich nicht so geäußert.»

«Ich spielen?! Ich bin unflätig? Na gut, das mag sein. Ich bin stinkesauer, wenn Sie das verstehen, Madame. Wie war noch der Name. Ach ja — Nazim.»

«Nazim ist ein Männername, den du nur deshalb kennst, weil er zu einem Dichter gehört. Nazim Hikmet. Sonst weißt du nichts von Türken. Vielleicht noch, daß sie uns, daß sie sehr viele Armenier getötet haben. Das wollen sie nicht wissen, und du willst nichts anderes wissen von ihnen. Das weiß ich. Bon. Ich aber bin immer noch Naziza und bin aus Frankreich. Maintenent, eh bien. Pah!»

«Ich wollte gerade sagen: Naziza und französisch. Aber Sie sehen tatsächlich so aus. Man könnte gerade meinen — wie aus Marseille herausgeschnitzt.»

Ein Ruck geht durch ihren Körper. Dann rüttelt es sie durch. Sie reißt ihre Augen auf und holt tief Luft. Habe ich etwas besonders Schlimmes gesagt? Ich bin mir dessen nicht bewußt. Oder bin ich einfach nur zu rüde. Vielleicht sollte ich mich doch etwas mäßigen. Denn es scheint immer offensichtlicher, daß sie nicht hier eingedrungen ist, um mich zu meucheln.

«Du erinnerst dich also doch. Du bist dégoûtant. Du willst mich niederringen.»

«Madame Naziza — ein schöner französischer Name. Quelle nom! Bien sûr! Entschuldigen sie, mein Französisch lebt innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland, ist also schlicht und leblos. Doch nicht ich habe die Absicht, sie umzubringen, sondern ganz offensichtlich wollen sie mir den Garaus machen. Doch jetzt mal die Späßchen beiseite: Was ist so widerlich daran, sich an Marseille zu erinnern? Ich liebe diese Stadt. Sie ist die schönste Stadt in diesem an Schönheiten wahrlich gesegneten Land. Es trifft zwar zu, daß Gott Franzose gewesen sein muß. Und als solcher Katholik. Nun gut, bei der Gründung von Marseille haben ihm Allah und auch noch ein paar heidnische Kollegen zugearbeitet. Wobei mir ansonsten Herr Gott oder wie er auch immer heißen mag, eher am sonstwo vorbeigeht. Ich habe als bestimmte Werte ignorierender, dafür aber die Durchrassung leidenschaftlich befürwortender Mensch also alle guten Gründe, mich sehr gerne an diese Stadt zu erinnern, in die ich zudem so oft fahre, wie es nur irgend geht.»

«Du warst in Marseille?» kommt es leicht gequält aus ihr. «Du warst in Marseille und hast nicht nach deine Frau gesucht?»

Ihr Deutsch wurde zunehmend unpräziser. Sie mußte sich in einer Krise befinden, die ihr die Kontrolle über sich nahm. Auch sank sie zunehmend in sich zusammen, schluckte andauernd, rauchte bei weitem nicht mehr mit dieser souveränen Gestik. Alles nur aufgesetzt. Isaac — oder wer auch immer das ausgeheckt hat —, ihr Scheißweiber aus Paris habt mir eine Élève du conservatoire geschickt. Sollte ich jetzt wieder Klassiker deklamieren und ins Krankenhaus fahren. Nein. Das ging zu weit. Hättet ihr mir doch wenigstens eine Tigerin geschickt, von der ich mich mit Wonne auffressen lassen würde. Nun sitzt da ein zu spät in die Schauspielschule, etwas in die Tage gekommenes Mädchen und spielt, natürlich, schlecht, kriegt ihre Rolle nicht in den Griff. Isaac! Wo sind sie, die ihr mir schon hättet schicken können, wenn ihr Euch schlapplachen wollt — und mir auch ein bißchen was übriglassen können dabei: diese Ariane Ascaride, diese Béatrice Romain, alle diese wunderbaren erwachsenen Frauen, diese Championnes. Wenn die auch trotzdem in ihrer Heimat einen noch ausländischeren Regisseur mit französischem Paß heiraten müssen, um wenigstens ab und zu eine interessante Rolle zu kriegen. Warum habt ihr mir die nicht gesandt?! Und nun sitzt da so ein Stückchen Malheur und wird völlig aus seiner Rolle getragen.
«Sagen Sie mir mal, Madame Nizza.» Ich war mir im klaren, daß ich platt und immer dämlicher wurde, aber ich mochte nicht weiter nachdenken, weil aus der Actrice ein schlichtes Mädchen mit Ambitionen geworden war.

«Madame Marseille, s'il vous plait, Monsieur! Wenn schon, dann lege ich darauf Wert. Du selbst hast gerade die Marseillaise gesungen und nicht die Nazzaise. Wenn mir das auch zustünde. Auch mußt du mich nicht in der dritten Person ansprechen. Wir haben mit der Marseillaise die Ehefrau als dritte Person gemein mit dem Adel unter die Guillotine gesungen.»

Die Bühnensprache war endgültig dahin, aber sie war offenbar wieder zurück in ihrer Spiellaune zu Beginn des Stückes. Mußte ich schon wieder losrennen, um zu retournieren? Hatte sie mir lediglich ein Verschnaufpäuschen gegönnt und hetzte mich nun wieder los? Das war doch nicht auswendig gelernt, was mir da ums Hirn flatterte. Das war ja, als ob die Lastwagenfahrer den Point-ronde lahmlegen wollten. Und jeder, der die Verhältnisse auch nur ein wenig kennt, weiß, was es heißt, wenn die mal anfangen, Flugblätter zu drucken. Ein Franzose regt sich ja zunächst erstmal über nichts auf. Bis er was hat, über das es sich aufzuregen lohnt. Dann legt er los. Und wenn er dann die Aufforderung zum Kampf gedruckt hat, dann ist wirklich was los. Dann geht eben nichts mehr. Hier bei uns regt man sich nur auf und tut dann doch nichts. Man wischt sich mit solchem Papier doch nicht einmal jemand den Hintern ab. Hier schimpft man nur. Der Tabakwarenhändler ist permanent am Schimpfen auf diese Franzosen, weil man wegen dieser ewigen Streikerei schon seit zwei Wochen kein BIC-Feuerzeug mehr bekommt. Oder Käfer oder etwas weniger preistreiberische Hochkostverkäufer, weil's keine kleinen Gläschen mit dem Senf von Maille gibt. Alles steht auf der Straße. Im immobilen LKW. Hochdramatisch. Also, Madame singt die Attacke. Aber vielleicht nutzt es was und sie verrät mir bei dieser Gelegenheit, wer sie entsandt hat, mich zu füssilieren, zumindest in die Nervenklinik zu absentieren. Denn allzu lange würde ich das nicht mehr durchhalten. Zumal es für meine Schlafgewohnheiten sehr spät war und ich mich eigentlich auf meine gemütliche Liege gefreut hatte und vielleicht auf Arte einen schöneren deutsch-französischen Film als diesen hier erleben könnte. Es sah jedoch nicht danach aus. Und zu essen würde ich wohl auch kaum etwas kriegen.

«Á propos gesungen. Ich habe dir etwas mitgebracht. Eine Frau, die immer Zweitfrau war neben mir.»

«Das fehlte mir gerade noch. Madame Naissance ...»

«Didier!» Jetzt wurde Sie laut.

«Also gut, ich gebe mich geschlagen, zumindest in diesem Punkt. Naiza. Klingt aber auch schön. Und bekannt kommt es mir auch vor.»

Sie schüttelt den Kopf und stößt dabei unwirsche Laute aus, die phonetisch vermutlich in nordafrikanischem Sand wurzelten. «N-a-z-i-z-a — d'accord?!»

«Meinetwegen. Aber ich brauche keine zwei dieser Sorte. Sie reichen mir völlig.»

Sie greift nach unten in ihre korbgroße Tasche, schlichtes, dunkelblaues, weiches Leder, vermutlich vom Kalb, Schweinernes wäre hier wohl unangebracht, und zieht etwas heraus. Es ist eine CD. Es ist Enzo Enzo.

Das war ein Schlag in die Herzgrube. Das war entschieden zuviel. Aber sofort hält die Klarsicht wieder Einzug: Auch das konnte man ihr eingeimpft haben, man sie bereits damit versorgt haben, mit dieser Frau, die eine Musik komponiert und dazu auch singt, die zwar nicht unbedingt meinem Geschmack entspricht, aber Texte schreibt, die konträr zu diesen barmusikähnlichen Harmonien stehen. Um dem Hintersinn auf die Spur zu kommen, hatte ich mir die Mühe gemacht, ein paar dieser im Begleitheft abgedruckten Verse zu übersetzen. Seitdem war ich hingerissen von dieser zudem mehr als ansehnlichen Russin. Oder Polin? Die Biographen können sich nicht einigen, zumal Franzosen sowas nie so genau nehmen. Dem Namen nach könnte sie auch aus Bulgarien stammen, wie Sylvie Vartan, dieser zarten Slawin also mit Pariser Paß und französischer Mutter und der melodischen Stimme, die von der Liebe als einer Art Alkohol erzählt, vom kleinen quietschenden Fahrrad, dem Pariser Zubringer, der auch Hosenträger sein kann, von der Ungeniertheit, und alles in dieser Musik, die en detail gut in Jimmy's Bar im Frankfurter Hessischen Hof zu passen schien, wohin aufstrebende Grünen-Politiker ihre Eroberungen ausführten. Herrlich fies. Und solches brachte mir meine Narzisse mit. Jetzt war ich vollends verwirrt — ich nannte sie schon meine Narzisse.

«Jetzt fangen sie aber an, unfaire Mittel einzusetzen. Enzo Enzo ist eine, ist die Narzisse, Naziza.»

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
 
Mi, 17.12.2008 |  link | (2700) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage



 

Rätsel

2. Fortsetzung. «Ja. Es ist dieses eine Gesicht.»

«Gut. Spielen wir also weiter. Vermutlich entstammen sie in der fünfunddreißigsten Generation dem Elsaß — in Frankreich ist das ja alles möglich, auch wenn Sie nicht gerade danach aussehen. Aber wer sieht heutzutage schon so aus wie seine angestammte Wurzel? Wenn er überhaupt eine einzige hat. Mich halten Thais und Vietnamesen seltsamerweise immer wieder für einen Japaner ...»

«Und die Japaner für einen Kasachin. Wenn sie gut informiert sind. Ich erinnere mich gut. Im Gegensatz zu dir. Und die Menschen aus Kasachstan nehmen ihren Bruder sofort mit in ihre Jurte zum Trinken von Buttertee. Ihre Jurte schlagen sie überall auf, und sei es inmitten der Kunst. Wenn sie keinen gebutterten Tee haben, weil sie sich auf Reisen befinden, dann nehmen sie Wodka. Ich sagte es, mein Erinnerungsvermögen ist intakt. Es gefällt mir. Auch das, mit einem halben Sibérien verheiratet zu sein.»

«Es ist nicht zu fassen! Wo haben sie denn das her?! Das ist ja allertiefste Innerei, in die sie da hineingreifen!» Was diese Frau alles weiß! Und woher spricht sie so gut deutsch? Es gibt zwar immer wieder mal Franzosen, die das ordentlich können. Aber so gut?! Und das hier ist niemand aus dem Wirtschafts- oder Geistesleben, der es gezwungenermaßen spricht. Auch ist sie mit Sicherheit nicht zweisprachig aufgewachsen wie die mehr oder minder feinen Moderatorenmädels meiner TV-Elfenbeinoase Arte. Dieses Deutsch ist vielleicht früh erlernt, aber nicht aus einer elterlichen deutsch-französischen Freundschaft heraus erwachsen, quasi auf dem Kopfkissen gepaukt, wie mein alter Vater mir diese Möglichkeit von Fremdsprachenkurs vermittelte. Die allzu korrekte, bisweilen papierne, aber dennoch oder vielleicht gerade deshalb äußerst charmant klingende Diktion verweist darauf. Sie spricht beinahe jene Sprache, von dem eine Bernerin einmal beeindruckt, aber doch sehr erschrocken sagte, es sei Bühnendeutsch. Fremd eben. Und deutlich ist zu spüren, daß sie sich darin bewegt wie in in einem Korsett. Fast automatisch passe ich mich ihr an und gerate in ein Deutsch, das doch um einiges abseits des Umgangssprachlichen liegt, das ansonsten aus mir herausquillt. Wer fremdes Terrain erkunden will, wer gut aussehen möchte, der wird den einzigen Flanell tragen, den er im Schrank hängen hat. Er hält schon seit Jahren, da er nicht oft kaschieren muß. Ich spreche, als ob ich im Studio säße, eine Sendung über die Hell-Dunkel-Malerei bei Paul Celan moderierte und dabei analog des abwegigen Themas neben die Spur geriet.

«Sie haben also bereits einen Erkundungsgang durch mich hinter sich. Gedenken sie bei mir einzuziehen? Gefällt es ihnen in mir?»

«Ich sagte es — meine Erinnerung ist ausreichend.»

«Ach was. Sie haben vermutlich im Rahmen Ihrer Patronymes-Forschung an der Universität zu Strasbourg meinen Namen entdeckt und ein bißchen recherchiert und wollen mir nun ein bißchen ins Gehirngedärm fassen. Aus welchem Grund auch immer. Oder hat sie gar meine Verwandtschaft mir auf den Hals gehetzt — eine Verwandtschaft, die nichtmal ich kenne, aber sie?! Zwecks Familienzusammenführung oder so. Auf daß alles wieder ins Lot komme, wie sich das gehört unter anständigen Bürgern. Meine Güte, vielleicht sind wir sogar verwandt, und sie wollen mir einen Nachlaß eröffnen! Hoffentlich kein Fachwerkhäuschen in Barr oder Hagenau! Den Schlüssel können Sie behalten.»

«Familienzusammenführung. So ähnlich. Wir sind verwandt, Didier. Das ist richtig. Aber nicht durch die Alsace. Dann eher durch Asien. Du solltest es wissen. Mon Dieu ! Zudem — Mann und Frau sind immer miteinander verwandt. Sie sind ein Blut geworden.» Sie sagt das, ohne die Stimme zu heben.

«Aber» — der Widerstand läutet die Flucht ein. Ich werde zwar ruhiger, aber auch kleinlauter — «ich habe ihnen doch gesagt, daß ich das letzte Mal vor über dreißig Jahren verheiratet war und dann nie wieder. Und das einzig Lustige daran war der Prozeß der Scheidung an sich, der Sühnetermin. Mein Güte, ich weiß ja nicht einmal, ob ich überhaupt geschieden bin. Aber von ihnen auf keinen Fall, sie sind's nicht. Da bin ich sicher. Denn die Dame war blond. Ich weiß auch nicht, was damals in mich gefahren war.»

«Es ist correct. Wir sind nicht voneinander geschieden. Wir waren lediglich voneinander getrennt. Weshalb, das wirst du mir sagen.»

«Das ist wahrhaftig ein starkes Stück, das Sie hier aufführen. Ich ... Also. Was wollen sie von mir? Lassen wir mal den ganzen Theatermüll beiseite, die Sie mir hier reingekarrt haben. Was wollen Sie?»

«Was ich will, mein Lieber? Was ist das für eine Frage? Eine Frau hat ihren Mann gesucht, und sie hat ihn gefunden. Ich bin ein Trüffelschwein. Nein! Ich bin ein Trüffelhund. Ich bin das, das du bevorzugst: ein Bastard. Sie sind die besten für das Finden von Trüffel. Wenn sie sind Mischlinge und nicht dressiert. Ich habe einen Trüffel gefunden. Wiedergefunden. Das muß ich sagen. Er sitzt vor mir. Und nun bleibt er bei mir, ich behalte ihn im Maul. Es gibt keinen Herrn und Gebieter für mich, dem ich meine liebste Speise abzugeben habe. Weil wir zusammengehören, haben wir zueinander gefunden. Und bitte», sie scheint ungehalten zu werden, «nun bitte ich dich, das Spiel zu beenden und mir zu sagen, weshalb du weggegangen bist. Ohne mich.»

«Ach, sie wissen es nicht!? Damit haben sie sich entblößt. Sicher, sie sind auf Ihrer Haut schöner als die Wahrheit, die daruntersteckt und die sie mir hier andrehen wollen, denn: Mann und Frau kennen einander! Wer mich kennt, der weiß, daß ich nichts besser beherrsche als das Weglaufen.
Genau, ich bin ein Meister der Flucht, Madame — wie heißen sie eigentlich? Mich haben sie sich ja bereits vorgestellt.»

«Didier ...». Es ist ein gedehntes Stöhnen. Es klingt seltsam echt. Es ist zum Fürchten. «Didier, du enervierst mich ungeheuerlich.» Ihre Stimme bekommt eine theatralisch-ärgerliche Einfärbung. Sie muß Schauspielerin sein. Ein bißchen viel Pathos. Wer hat sie mir ins Haus geschickt, sie reingelassen? Isaac? Ist das eines dieser Stückchen, das sie mit ihren Pariser Theaterfreundinnen geschrieben und inszeniert hat? Nein, dazu ist diese hier zu jung. Ist sie das tatsächlich? Ich bin gar nicht mehr so sicher. Andererseits ziehen diese Kreise sich weit. Doch so weit würde Isaac nicht gehen. Vor diesen Folgen, vor diesen Tobsuchtsanfällen hätte sie dann doch zuviel Furcht. Oder auch nicht.

«Eh bien soit !» Ihre Stimme klingt wieder gambenartig. Offenbar habe ich aufgehört, sie zu nerven. Ich hätte nicht gedacht, daß das so schnell gehen kann. «Ich habe so lange gebraucht, dich zu finden, so daß mich diese intellektuell nicht ganz so herausragenden Flegeleien nicht mehr im Übermaß berühren sollen. Es könnte zudem auch sein, daß es zutrifft, was mir zugetragen wurde, daß dein, wie soll ich es sagen, dein neurologischer Aufenthalt, dein Krankenhausaufenthalt dich tatsächlich einen Teil deines Gedächtnisses gekostet hat. Deshalb meine ich ...»

Nun lag ich am Boden. Hilflos rang ich nach klaren Gedanken. Ich stand auf und wollte hinausgehen.

«Du magst viel verloren haben auf deiner Flucht — vor dir, vor mir, vor allem möglichen, das ich — noch — nicht weiß. Jedoch deine Ausweichmanöver hast du nach wie vor gut im Griff. Nimm wieder Platz. Darum bitte ich. Ich habe dich nicht gesucht und gefunden, um dir erneut nachlaufen zu müssen. Du kannst höflich sein. Ich weiß es.»

«Oh Himmel! Wer sind sie, verdammt nochmal, der sie solches ungestraft sagen dürfen! Bin ich ein Herumtreiber, der nicht einmal mehr von seinem Vater erkannt wird? Will Circe mich demütigen? Hat Calypso mich besoffen gemacht? Sind Sie aus einem schlechten Roman gehüpft. Befinde ich mich in einem solchen?! Ich will zu Queneau ins Manuskriptbett. Bei dem geht es lustiger und angenehmer zu. Wie kommen Sie dazu ...»

«Und wenn du es auch gerne wärest — nein, das wärest Du nicht gerne. Dazu bist du, das weißt du selbst, zu feige: die sturmumtosten Meere der Liebe zu bereisen. Und für diesen Ikarus bist du dann, pardon, doch ein wenig zu alt. Dieser Ikarus ist ein Jüngling. Deine Flügel haben nicht mehr die Kraft, dich aus einem Manuskript herauszutragen. Deine Ausflüge sind Papier. Nur ergründen möchte ich, was geschehen ist, weshalb du — meinetwegen? Deinetwegen? — nicht in diesem Paradies geblieben bist, das du dir immer so ersehnt, das du dir quasi erschrieben hattest, das du erreicht hattest, in dem du angelangt warst — und dennoch geflohen bist.»

Ich erhebe mich vom Hocker, gehe ein paar Schritte in Richtung der Mitte des Zimmers und grüble. Langsam senkt sich der Eindruck bleiern in mich, daß mir jemand ganz besonders übel will. War das einer der Racheakte, wie ich sie mal erlebt hatte, dieser hier allerdings in präzise durchgearbeiteter Form? Ich will mich wieder setzen, doch ich unterlasse es, da die unmittelbare Nähe dieser Circe mich von der Erinnerungsspur abgelenkt hätte, auf der ich mich gerade befand. Am Ende befand sich unter dieser Jeans der Leib einer ungeheuerlichen Skylla. Von der Mittelmeernähe stammte sie ja offensichlich ab. So sieht sie jedenfalls aus. Wenn sie auch was von Asien erzählt hat. Aber dort gibt's ja auch Ungeheuer.

War das vielleicht eine Spur? — Als es mir seinerzeit lästig geworden war, im Bett sitzend die Klassiker hinauf- und hinunterlesend zu deklamieren, hatte ich damals die Vorstellung abgebrochen. Soweit war meine Liebe zum Theater nicht gegangen, daß ich dieser Elevin auf Dauer die Rampe bildete, zumal sie zu denen gehörte, die weniger ihre exhibitionistischen Neigungen in die Kunst einzubringen als vielmehr auf der Bühne ihre entwicklungsbedingten psychologischen Wehwehchen zu heilen gedachte. Sie gab mir meinen Korb zurück, indem sie auf die Wände des gerade renovierten Treppenhauses, vom fünften Stock bis hinunter zum Hauseingang, schrieb: Risacher ist ein Schwein. Dieter ist ein Schwein. Risacher ist eine Drecksau. Es dürfte eine Strafarbeit von etwa fünfzig Inschriften gewesen sein. Glücklicherweise war die Wandfarbe bereits trocken und kunststoffgeglättet und die junge Frau unwissend genug, daß man für solche Sgraffiti sich statt eines weichen eines harten Bleistiftes bedient. Dennoch hatte ich mich, unter Anleitung der verständnisvoll aus ihrem Bartgesicht feixenden Hausmeisterin, einer mehrstündigen Tilgung meiner Untat zu unterziehen. Daß die junge Frau ein paar Tage danach versuchte, ihrem Leben ein Ende zu bereiten, hatte sicherlich nichts mit mir beziehungsweise mit dieser meiner Art der Vergangenheitsbewältigung zu tun. Ich hatte ihr Leiden wohl nicht erkannt. Ob es ihr etwas genutzt hätte, wird wohl nie in irgendwelchen Annalen auftauchen. Nach langen Jahren, vor ein paar Wochen, begegneten wir uns auf der Straße und nickten uns kurz zu. Sie hatte mich also offenbar unbeschadet überstanden. Vielleicht lag es daran, daß mein arg schlechtes Gewissen mich damals zu ihr ins Krankenhaus trieb und der freundliche Arzt mich trotz fehlenden Verwandtschaftsgrades zu ihr ans Bett ließ. Wie auch immer — die vor mir sitzende, für mich schmerzhaft selbstbewußte Grazie hier kann kaum etwas mit meinem damaligen Abenteuer zu tun haben. Das in die schwache Erinnerung abgelegte Gesicht trägt viel zu sehr die Züge einer eher langweiligen Brünetten, die später in der Resignation eines Verwaltungsbüros enden würde. Vielleicht gerade noch in dem eines Theaters oder eines Fernsehsenders.

Oder ist das hier der Versuch, mich für eine andere Tat zu demütigen, von der ich nichts weiß — an die ich mich nicht erinnere, weil ich mich nicht erinnern will? Meine Besucherin kommentiert meine Nachdenklichkeit nicht weiterhin so lakonisch wie zuvor. Sie schweigt. Gehört ihr Schweigen zur Dramaturgie, zur Inszenierung eines Dramas, dessen Schrecken sich in der vor mir sitzenden scheinbaren Sanftmut versteckt? Sollte es am Ende gar erst richtig losgehen? Sie war mir einfach zu ruhig. Ich löse mich aus meinen nach hinten gerichteten Gedanken und trete nach vorn an den Tisch. Ohne nachzudenken schalte ich das Licht ein. Es schlägt in mich ein. Vor mir sitzt Fatima.

Oder? Denn dieser Blitz in die Vergangenheit blendet die damalige Niederlage gleich mit ein. Es war eine Niederlage, die ihresgleichen sucht. Denn eben dieses zarte junge Geschöpf namens Fatima hatte ich verschmäht und meine Pfauenfedern einer anderen, um einiges älteren, wohl wegen ihrer Reife anziehenderen Tochter Algeriens aufgestellt. Hier die in der Anfangsblüte stehende Schönheit und dort diejenige, die bereits die Nacht in der Hand des Blumenverkäufers durchlebt hatte, deren feingeschnittenes Gesicht eben jene Pigmentierung kennzeichnete, die aus Säften entstanden ist, deren Wurzeln aus tiefem Sand gerissen und zwischen den Kalkstein und den Lehm des französischen Jura verpflanzt worden waren. Doch diese hier, die ich in diesem Augenblick sah, war Fatima, ohne jeden Zweifel. Oder?

Fatima. Das Alter könnte hinkommen. Zehn, zwölf Jahre gereift. Etwa wie der Château Laroque Saint-Emilion Grand Cru 1989, den der Freund bei mir zehn Jahre später fast alleine getrunken hatte und von dem der Musikbesessene am nächsten Tag meinte, keine Melodie, kein Rhythmus dieser Welt, kein anderes Stöffchen habe seine Seele je derart emphatisch aufflattern lassen wie dieser Wein. Zwar immer mit festem Tritt, dennoch konstant zwei Zentimeter über dem Boden sei er nach Hause getänzelt. Dieser den Regen verherrlichende Wetterberichts-Ami aus dem Werbefilm der Bank sei dagegen nachgerade ein Schuhplattler. Eine angenehmere Art von Wirklichkeit, fügte er während des Telephonats am Tag danach noch hinzu.

Oder war es doch Fadila? Der Lichtstrahl war zu direkt auf das Gesicht gerichtet, um den Reifegrad genauer zu bestimmen. Lebenslinien waren dabei nur schwierig auszumachen. Es fehlte doch ein wenig die weiche Milde des Kellers. Jene Fadila, die meine Äußerung, ich würde meine Eroberungsversuche nie aufgeben und den Kampf mit dem widersacherischen senegalesischen Barbesitzer fortführen, mit einem kaum merklichen ironischen Mundwinkelzucken kommentierte. Der Kampf sollte bald ein Ende haben. Als ich von der Kampfwiese der ortsansässigen Algerienfranzosen war, die mich so freundlich aufgenommen hatten, weil ich, wie mich der seit fünfundzwanzig Jahren mit einer solchen verheiratete Freund aufklärte, wie sie kein richtiger Franzose war, verblaßte das Antlitz dieser Göttin ein wenig. Nur die photokopierte Photographie an der Bürowand rückte sie manchmal für Sekunden ins Blickfeld der damals zweiwöchigen, täglich erneuerten Buchung des Hotelzimmers. Aber entfernt hatte ich das Bild nie! Seit damals.

Also doch Fadila?

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
 
Di, 16.12.2008 |  link | (2095) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage



 

Ein Gesicht

1. Fortsetzung. «Aber diese Frau hat er noch nie gesehen.»

Mit brüchiger, wackeliger Stimme fragt er: «Wer sind denn sie? Was machen sie denn hier? Und wie kommen sie hier rein?!»
«Du erkennst mich nicht?» Ihr geradezu überpointiert gutes Deutsch ist eindeutig französisch gedacht. Ist er im Kino? Will das Mutterland ihn heimholen, ihn gar aufs Alter hin an der Heimatfront kämpfen lassen? «Du erkennst deine Frau nicht?»

Aus dem gleich bei Eintritt in die Wohnung aufkommenden Unbehagen wird langsam eine Bedrohung. Allen seinen Mut zusammennehmend tastet er ins Regal, um den dort verborgenen Schalter für den lichtstarken Deckenstrahler umzulegen.
«Laß es sein. Später», flüstert es, allerdings vernehmlich.
Nie oder nur höchst widerwillig nimmt er Befehle entgegen. Wenn ihn jemand bittet, hat er keine Probleme, sich selbst zu kasteien. Aber Forderungen tun sich bei ihm äußerst schwer mit der Landung. Dennoch zieht er seine Hand zurück.
«Also gut. Nochmal: Wer sind sie?« setzt er fordernder, aber weiterhin unsicher nach.
«Muß ich das tatsächlich wiederholen? Ich bin deine Frau.» Sie verschränkt die Arme unter der Brust. «Und es mutet seltsam an, daß du sie nicht erkennst. Oder erkennen willst.» Sie zündet sich erneut eine Zigarette an. Es könnten Roth-Händle sein. Nein, doch wohl eher Gauilloises oder Gitanes. Ja, Gitanes. Ich rieche meine in Frankreich gerauchte Marke. Die deutsche Gitanes stinkt entsetzlich europäisch — Régie française, hergestellt irgendwo in Benelux, für diejenigen, die das europäisch Einheitliche bevorzugen, als Bollwerk gegen die Restwelt. Oder ihre Lunge ein klein wenig langsamer asphaltieren möchten.

«Madame.» Er richtet sich etwas auf, da er mittlerweile zunehmend sicherer wird, daß es sich um den Anfang eines Schmierentheaterstücks handeln muß, wie sich bald herausstellen wird. Wer weiß, wer das ausgeheckt hat. Wahrscheinlich kommt Isaac gleich aus einem der vielen Staubmauselöcher gekrochen und stellt ihm ihre frühere Kollegin aus dem Théâtre du Soleil vor. Er baut sich auf und hebt an: «Die erste und einzige und auch letzte Frau, Ehefrau, wohlgemerkt, die ich hatte, wurde vor dreißig oder noch mehr Jahren durch einen Richter einer Stadt geschieden, in die ich nur gefahren bin, weil ich zur Anwesenheit bei einer Moralposse gezwungen wurde, die man seinerzeit Sühnetermin nannte, mit dem Irreparables wieder geflickt werden sollte. Und ich, soweit ich mich erinnere, auch von ihr. Das vermute ich mal. Denn ein Scheidungsurteil habe ich nie erhalten. Oder es ist im Desinteresse verschwunden wie die Gedanken an diese Ehe, die lediglich deshalb zustande kam, da die Gesellschaft sich nicht unter den Rock gucken lassen wollte, wenn man nicht mit ihr verheiratet war. Weshalb ich mich ja auch getrennt habe. Von der Gesellschaft. Und seither habe ich sie auch nicht mehr gesehen. Die Frau. Aber so dürfte sie sich auch wohl kaum verändert haben. Und selbst wenn sie zur Thalia mutiert sein und aus der Quelle Kastalia getrunken haben sollte», seine Stimme wird fester, das sich einstellende Bildungspathos gibt ihm Halt, «sehe ich noch immer keine Verwandtschaft.»
«Du gebrauchst nach wie vor viele Wörter. Aber ich liebe das ja. Dennoch muß ich dich korrigieren. Diese Quelle ist kein Jungbrunnen, in dem alte hitzige Köpfe baden. Ihr Wasser verleiht dichterische Hingabe. Und Begeisterung. Und die fehlt dir angesichts meiner. Papa Apoll wird das nicht mögen.»

Er ist weniger verärgert über diese Schlappe, als daß er sich wundert: Er kann sie nicht kennen. Solche Frauen kennt er nicht, die in den unterirdischen Geographien Alt-Griechenlands flanieren wie andere auf den Boulevards der Modezeitschriften. Er kennt allenfalls solche, die die immerselben Pfade der Kunstgeschichte kultur-, weil reflexionsfrei, aber repetiersicher rauf- und runtertrampeln. Ohne weitere Entgegnung geht er zögernd, aber dennoch und in dem Vorteil in ihre Richtung, sie verhältnismäßig gut sehen zu können, während er die dünnen vierzig Watt des milchigen Dänenklassikers an der Flurdecke im Rücken hat. Er sieht ein schlankes, markantes, ja interessantes Gesicht mit dem Teint der südlicheren Bewohner unseres Kontinents, die nicht nur kraft ihrer Intelligenz nicht in die Sonne gehen, um sich bräunen zu lassen. Ein solches Gesicht setzt sich nicht äußeren Strahlungen aus. Er spürt sie eher, als daß er sie sieht, diese unvergleichlich schöne «sanfte, olivfarbene Haut, die niemals braun, niemals rot wird und an welcher die Sonne, der Wind, der Regen und selbst das Alter machtlos vorübergleiten».1 Joseph Roth hatte mit seinem Lobgesang auf Lauras Schwestern zwar die schöne Arlesierin eliminiert, die er für eher herb, langnasig, schmalmündig, römisch-provençalisch hielt. Aber entscheidend ist dabei, daß in dieser zur schönen Avignonerin mutierten schönen Arlesienne «alle Rassen der Erde» vereint seien. Da sitzt sie also. Auf circa einen Meter an sie herangetreten, sucht er ihre Augen. «Wenn Sie gestatten, möchte ich jetzt doch Licht machen — um zu sehen, was der Thespiskarren hier abgeladen hat.»

«Hätte ich es bislang nicht gewußt, daß du es bist, jetzt wüßte ich es. Du sprichst wie ein bescheidener Fleurie, vielleicht auch nur etwas zu umfangreich. Aber das ist es, was wir Franzosen lieben. Wir sind in dieses pathetische Plastik vernarrt. Bei dir gerät es noch zur schönen Form, wenn du an die Rampe trittst. — Ah! was sage ich. Didier, nein, ich will dich nicht verärgern. Es geht auch ohne Scheinwerfer. Ich sehe dich gut. Ich muß nur die Augen schließen.»

Er gerät wieder ins Wanken. So unterläßt den nächsten Versuch, seinen Besuch bei Licht zu betrachten. «Gnädige Frau.» Im Ahnungsvollen fällt er endgültig in ein lückenfüllerisches Sprechgestoppele, auch wenn sie es gerade ironisiert hat, das ihm aber dennoch Gelassenheit vorgaukelt. «Was auch immer das bedeuten mag, es mag positiv sein, daß sie mich so verinnerlicht haben, daß ich zu Ihrem Innenleben gehöre, das sie mich blind am ehesten sehen läßt. Doch das, was ich mit geöffneten Augen sehe, entbehrt auch nur jeder Vorstellung dessen, wen ich vor mir haben könnte. Und wenn sie mir jetzt nicht auf der Stelle sagen, was mir die Ehre verschafft, dann können sie die Augen öffnen und die Tür schließen. Von außen.» Er setzt eine Pause, während der er ihr gerade ins Gesicht, in die Augen schaut. Sie sind schwarz, zumindest sehr dunkel. Mehr gibt das Licht nicht her. Er hört sein Herz im linken Ohr schlagen. Doch dieses Mal ist es kein Unbehagen. «Wenn ich es auch bedauern würde», fügt er hinzu, den Ernst untertönig überspielend.

«Es freut mich, daß du langsam zu dir kommst.»

«Halt, daß hier keine Mißverständnisse entstehen.» Er wird laut. Es fällt ihm ohnehin nicht schwer, laut zu werden. «Es kommt mir, und zwar hoch! Ich will jetzt verdammt nochmal wissen, wer sie sind, wie sie hier reingekommen sind und was sie, was erschwerend hinzukommt, von mir wollen! Diese Wohnung ist meine Wohnung, und sie sind unberechtigt in sie eingedrungen. Wie, das werden wir schon noch herausfinden.» Er redet sich in Rage, fügt allerdings sogleich beschwichtigend an: «Oder auch nicht.»

Denn der Ärger wird geschwächt, sobald er das Gesicht wieder ansieht. Es ist schön. Es ist geradezu erschreckend schön. Und nun ist es eindeutig. Jetzt sieht er es auch ohne Scheinwerfer, seine Augen haben es auch im Halbdunkel fest im Blick. Ja. Es ist dieses eine Gesicht.


Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
 
Sa, 29.11.2008 |  link | (1762) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage



 

Zwei Tage. Der erste. I.

Er kommt nach Hause. Im Flur brennt Licht. Hat er es bei der Abreise vergessen auszuschalten? Doch er spürt, daß jemand in der Wohnung ist. Wer? Der Hausmeister? Dann wäre es nicht so still, darf er doch nur bei Katastrophen hinein. Eine leise Katastrophe? Aber nicht bei diesem serbischen Tanzbär. Die Putzfrau kann es auch nicht sein. Dieser Niederbajuwarin hatte er vor seiner Abreise die Schlüssel weggenommen, nachdem sie wochenlang immer wieder mal einen Griff in seine heimlich geglaubte Schatulle getan hatte. Isaac, die einzige, die außer dem Haushüter einen Schlüssel zur Wohnung hat, umturnt gerade in Peking chinesische Multimedialartisten. Oder ist sie vorzeitig zurückgekehrt? So wird es sein. Denn er dreht vor dem Verlassen der Wohnung immer drei Kontrollrunden. Er ruft mit gespieltem Ernst: «I-s-a-a-c, was schleichst Du Dich hier ein? Hast Du keine Wohnung?! Gefällt Dir besser hier, oder wie?» Er fährt seinen Rollkoffer in die Küche, quer durch den Eingangsbereich, um den immer gepflegten hellgrauen Teppichboden nicht einzudrücken. Er würde sich um eine neue Hausdame bemühen müssen, wie sie in der Mutter Sprache bezeichnet würde, ob sie chronisch langfingrig ist oder nicht. «Kannst Du mir nicht wenigstens einen Kurzfunk schicken?» ruft er vernehmlich, in dem Ton, den sie von ihm gewohnt ist, geprägt von sieben Jahren gemeinsamem Leben und anschließendem, geradezu geschwisterlichem, also bisweilen etwas rauh. Keine Antwort. Er wird ungehalten. Entgegen seiner Gewohnheit, die Jacke ordentlich auf den Bügel und in die Garderobe zu hängen, wirft er sie auf den Tisch, von dem daraufhin eines der immer dort gestapelten Bücher hinunterfällt, die irgendwann gelesen werden wollen. Das steigert seinen leichten Ärger. Er mag keine geknickten Bücher.

Merde d'or ! Seit dem Film Marius et Jeannette war auch für ihn aus der großen Scheiße eine goldene geworden. Er hatte es bei den vielen Malen, die er ihn gesehen hatte, jedenfalls immer so verstanden. Es lag aber nicht unbedingt an seinem seit seiner mittelohrvereiterten Kindheit miserablen Gehör. Es war wohl eher dieser sanfte Marseillaise-Gesang in diesem bezaubernd verschachtelten Kathedrälchen der Liebe und des Gemeinsinns von l’Estaque, in dem er gerade wieder einmal zukunftsversonnen vor sich hinmeditiert und auch gut gegessen und getrunken hatte. Merde alors hatten alle diese Jeannettes und Marius' schlicht und immer wieder gegrummelt. Also keine goldene Scheiße, sondern ein schlichtes Donnerwetter. Aber merde d'or klingt ertragreicher. Nicht nur literarisch.

Keine Regung. Das ist nicht Isabella. Isabella von Wyler, von ihm Isa-AC oder Isa-ac getauft. Je nach Lust und Laune — Isa à conto, Isa à Condition, im besten Fall Isa-Appellation Contrôlée, oder auch, im schlimmsten, Isa-Actinium, dieses eher seltene radioaktive metallisches Element, das zählebigste Isotop mit einer Halbwertzeit von 21,8 Jahren. Dieser gelassen in sich ruhende Atomkern wäre längst grinsend, wenn auch vorsichtig herausgekommen aus einem der Zimmer. Sie liebt es, ihn zu provozieren. Sie weiß jedoch ebenso, wie rasch er ins Cholerische gerät. Keine Regung. Sie kann es nicht sein. Seine angeborene und in den letzten Jahren zunehmend gewachsene Hasenfüsigkeit beginnt, ihn in die Garotte zu nehmen. Er getraut sich nicht, der Sache auf den Grund zu gehen und einfach in die anderen Räume zu schauen. Schon gar nicht in den, in dem er jemanden vermutet. Ihm schwant nichts Gutes. Den Erkundungsgang hinauszögernd, nimmt er den Bügel aus der Garderobe, hängt den leinenen Zweireiher darauf und beides auf die Stange. Er rafft dann jedoch all seinen Mut zusammen und geht in Richtung des größeren Zimmers. Tatsächlich sitzt jemand auf dem Stuhl an dem fensternahen Wirtshaustisch aus dem vorletzten Jahrhundert, der mittlerweile für weniger derbe Tätigkeiten genutzt wurde, raucht und schaut in seine Richtung. Die Straßenbeleuchtung und das Licht aus dem Flur geben nur Schemenhaftes frei. Doch daß dort eine Frau sitzt, ist deutlich zu erkennen.

«Salut, Didier.»
Niemand nennt ihn Didier. Es gibt zwar ein paar wenige, die diesen Namen kennen, den ihm, gegen den Willen des zwar introvertierten, aber doch um einiges fröhlicheren Vaters, seine Mutter gegeben hatte, weil er so angenehm belanglos, so unauffällig war wie sie, die immerfort in der Unscheinbarkeit verschwinden wollte, die alles haßte, was, in welcher Form auch immer, ins Rampenlicht geraten konnte. Es gelang ihr sogar, bei aller Gepflegtheit, die sie ihrer Attraktivität angedeihen ließ, trotzdem immer irgendwie graumäusig zu wirken. Ein Leben lang sollte er über dieses seltsame Verlangen nachdenken müssen, in der Unsichtbarkeit verschwinden zu wollen. Im wesentlichen war ihr das auch gelungen. Didier. Vermutlich war sie es, die ihn das letzte Mal so genannt hatte. Alle anderen konnten oder wollten den Namen, aus welchen Gründen auch immer, nicht aussprechen. Ausgerechnet im damals französischen Saarland, wohin er während seiner Kindheit des öfteren und jeweils von weither in die Sommerfrische verschickt worden war, verpaßten sie ihm das Äquivalent: Dietrich. Eigentlich gehört das ja zu Thierry. Aber sei's drum, so sollte er anfänglich heißen, er sich selber dortan so nennen. Aber als er dann in die große doppeldeutsche Stadt gegangen war, um befehlsgemäß etwas Ordentliches zu lernen, war den Kommilitonen das dann zu altbacken. Oder zu germanisch in Zeiten, als das Pariserische quasi existentiell war. Doch er war bereits in den mütterlich vorgetretenen Pfad des Unauffälligen getreten und hatte seinen richtigen Namen nie erwähnt. Er hätte es schlicht als zu eitel, gar als affig empfunden, mit einem Mal en vogue mitzuschwimmen. Die Wirklichkeit wäre ihm zu grell gewesen. Irgendwann wandelte jemand den Dietrich in einen Dieter um. Er war's zufrieden. Es kam dem Original letzten Endes auch phonetisch näher. Dabei war es geblieben.
Aber Didier?

Langsam gewöhnen seine Augen sich an das Dämmerlicht, er sieht mehr von ihr. Er kennt die Frau nicht. Er ist sich sicher. Auch die Stimme ist ihm unbekannt. Er kann sich keine Telephonnummern merken, kann dem Pannenhelfer am Telephon das Kennzeichen seines Gefährts nicht mitteilen, wird bis zu seinem Dahinscheiden 3-3-3, bei Issos Keilerei, mit einer anderen historischen Schlacht verwechselt, also auch mit Hilfe der Mnemotechnik nicht gelernt haben, etwas korrekt aus der Vergangenheit abzurufen. Aber bei Gesichtern von Frauen — zumindest eines bestimmten Typs — scheint er über ein phänomenales Erinnerungsreservoir zu verfügen. Und dieses Gesicht, das war trotz des diffusen Lichts klar, hätte sein Gedächtnis nie mehr aus seinen Hirnwindungen gelassen. Sie hat reizvolle Konturen, ein langgestrecktes, feingeschnittenes Gesicht mit einem eher angedeuteten Nasenhäkchen, darüber sehr dunkle, vermutlich geradezu schwarze Augen. Soviel ist auch im schummrigen Licht zu erkennen. Und diese extrem kurzen Haare. Er kennt diese schwarze Odaliske. Dieses Gesicht hat einen Tryptichon-Altar in seinem Kopf.
Aber diese Frau hat er noch nie gesehen.

Ob ich das fortsetze, weiß ich noch nicht so genau. Wir sind hier doch nicht im Poesiealbum.

24.01.2012: Dies und das Nachfolgende entstand vor etwa zehn Jahren, skizziert in sechhundertdreißig Seiten. Da das Interesse größer zu sein scheint, als ich dachte, denke ich darüber nach, eine geordnete, komplette, vielleicht sogar die (Ur-)Fassung hier einzustellen, die den Lesefluß erleichterte. Doch die Opposition in mir spricht dagegen. Das eine oder andere Signal würde einen Beschluß gegen den Nein-Sager in mir erleichtern.

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
 
Do, 27.11.2008 |  link | (2382) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage



 







Werbeeinblendung

Jean Stubenzweig motzt hier seit 5824 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



... Aktuelle Seite
... Beste Liste (Inhaltsverzeichnis)
... Themen
... Impressum
... täglich
... Das Wetter

... Blogger.de
... Spenden



Zum Kommentieren bitte anmelden

Suche:

 


Letzte Kommentare:

/
Migräne
(julians)
/
Oder etwa nicht?
(jagothello)
/
Und last but not least ......
(einemaria)
/
und eigentlich,
(einemaria)
/
Der gute Hades
(einemaria)
/
Aus der Alten Welt
(jean stubenzweig)
/
Bordeaux
(jean stubenzweig)
/
Nicht mal die Hölle ist...
(einemaria)
/
Ach,
(if bergher)
/
Ahoi!
(jean stubenzweig)
/
Yihaa, Ahoi, Sehr Erfreut.
(einemaria)
/
Sechs mal sechs
(jean stubenzweig)
/
Küstennebel
(if bergher)
/
Stümperhafter Kolonialismus
(if bergher)
/
Mir fehlen die Worte
(jean stubenzweig)
/
Wer wird schon wissen,
(jean stubenzweig)
/
Die Reste von Griechenland
(if bergher)
/
Richtig, keine Vorhänge,
(jean stubenzweig)
/
Die kleine Schwester
(prieditis)
/
Inselsommer
(jean stubenzweig)
/
An einem derart vom Nichts
(jean stubenzweig)
/
Schosseh und Portmoneh
(if bergher)
/
Mit Joseph Roth
(jean stubenzweig)
/
Vielleicht
(jagothello)
/
Bildchen
(jean stubenzweig)






«Ist Kultur gescheitert?» ? «Bitte gehen Sie weiter.»



Suche:

 




Anderenorts

Andere Worte

Anderswo

Beobachtung

Cinèmatographisches + und TV

Fundsachen und Liebhaberstücke

Kunst kommt von Kunst

La Musica

Regales Leben

Das Ende

© (wenn nichts anders gekennzeichnet): Jean Stubenzweig





pixel pixel
Zum Kommentieren bitte anmelden

Layout dieses Weblogs basierend auf Großbloggbaumeister 2.2

pixel pixel