Homer im Schtetl-Universum Einzelne Wörter der jiddischen Sprache sind auch im Deutschen geläufig, einige sogar in Gebrauch, ohne daß man sich um deren etymologische Herkunft Gedanken machen würde. Zum Beispiel erklärt sich manch einer für meschugge, tagtäglich malochen zu gehen — letzterer ein Begriff, der vor allem deshalb im Kohlenpott überlebt haben dürfte, weil die Bergleute sich unter Tage mit viel Freude erst an die Staublunge und dann in die Nähe eines früheren Todes gearbeitet haben. Auch heute noch kann ich diesen Gedanken eher weniger mit Spaß am Leben in Verbindung bringen. Aber früher war eben alles anders. Das erzählen einem zumindest gerne kluge öffentlich-rechtliche oder im bequemen Sessel der Zeitungsredaktion sitzende Menschen aus dem Westen, deren Ur- bis Ururgroßeltern aus dem Osten eingewandert sind. Zur Zeit deren Flucht vor der Armut in Polen gab es den Begriff des Wirtschaftsflüchtlings noch nicht. Mir ist auch nicht bekannt, wie der Wortschatz der ursprünglich rheinischen und später auch osteuropäischen Ashkenazim, also aus aus dem jüdischen Stetl in das Heer der katholischen Völkerwanderung gelangt ist. Normalerweise schätzt die eine Gruppierung die andere ja nicht sonderlich. ![]() Sicher ist, daß diese Ostjuden in ihrer angestammten Heimat selbst das ärgste Schicksal noch lächelnd, weil gottgewollt, hingenommen haben. Die östlichen Ashkenazim stehen sozusagen geographisch im Gegensatz zu den Sephardim, die kurz vor der Wende zum sechzehnten Jahrhundert von den Katholiken aus Spanien vertrieben wurden (die allerdings nicht die orientalischen Juden sind, als die sie häufig fälschlich bezeichnet werden). Sie sind es, die in den letzten Jahren verstärkt in erster Linie Rußland verlassen haben und nach Israel, aber mittlerweile auch nach Deutschland ausgewandert sind; sie haben erheblichen Anteil an den wieder wachsenden jüdischen Gemeinden, in denen sie oftmals Siedlern der Westbank gleich für die Wiederherstellung althergebrachter Glaubensrituale sorgen. Mit ihnen kann man sich durchaus auch heute ohne russische Sprachkenntnisse verständigen — vorausgesetzt, man hat einen der nach wie vor beliebten Jiddisch-Kurse an einer Volkshochschule oder direkt bei der US-amerikanischen Frau Rebbe in deren neumodischem Kiez belegt. Oder man hat es in seiner Kindheit gelernt, um einen Vater zu verstehen, der manchmal in solch einen seltsamen Sprechgesang verfiel, wenn der seine Gefährtin ärgern wollte, die dieser Proletensprache zwar mächtig war, sie aber auf den Tod nicht ausstehen konnte, weil sie so kunstfeindlich unzivilisiert war. Dieser Vater hat seinem Sohn hin und wieder mal Geschichten aus seiner Heimat erzählt, und zwar in dieser Sprache, in der auch mit der Verwandtschaft in Nahost und manchmal auch in Amerika gesprochen wurde. Es waren oftmals mündliche Überlieferungen darunter, die gesammelt und später aufgeschrieben wurden. Das war in etwa das, was die Gebrüder Grimm mit den Märchen gemacht haben, die ihnen häufig zugeschrieben werden, sicherlich nicht zuletzt deshalb, da die Philologen Jacob und Wilhelm sie einer hochsprachlichen Vereinheitlichkeitsübersetzung unterzogen haben. Dieser Vater aber, der hat nichts moralisierend behübscht, schon gar nicht in der Weise, in der beispielsweise die Operette vulgo Musical diesen Fiedler auf dem Dach in Anatevka verpeinlicht hat. In den originalen Mythen war die kleine Welt bereits so komisch, daß ihnen nicht auch noch Witzchen angeklebt werden mußten, die auch wirklich jeder Kulturkreisfremde verstand. Nun kam mir dieser Tage ein Buch aus meinem regalen Leben entgegen, das ich gerne verhyperlinkend empfehlen würde, doch es scheint nicht mehr erhältlich. Es handelt sich dabei um Jiddische Erzählungen. Darin ist teilweise enthalten, was manch ein jüdischer Schriftsteller aus seiner Denk-Sprache direkt in die Schrift hat hineinklingen lassen. Denn der dieser Mentalität ureigenartiger Witz funktioniert am ehesten in seinem Idiom — soweit das überhaupt schriftlich lesbar zu machen ist und man nicht ausnahmsweise zum sogenannten Hörbuch greifen muß. Zu den Klassikern dieser eigenen Literaturgattung gehören Scholem Alejchem, Jizchak Lejb Perez und Mendele Mojcher Sforim, von denen Leo Nadelmann dreizehn Geschichten ausgewählt und übertragen hat. Allein Die Reisen Benjamin des Dritten von Mendele Mojcher Sforim belegen diesen skurrilen Humor und hintergründigen Witz. Erzählt wird von Benjamin aus dem verschlafenen Nest Tunejadowka, den das Reisefieber packt. Gemeinsam mit dem gutmütigen Einfaltspinsel Senderl, einer Art jiddischem Verwandten im Geiste des Schweijk, macht er sich auf nach Erez Israel, ins gelobte Land. Doch nicht dort, sondern in einer Kaserne der Zarenarmee landen die beiden, weil sie von Glaubensbrüdern als Söldner verschachert wurden. Auch die anderen Erzählungen sind außergewöhnliche Unterhaltung mit eben diesem tiefgängigen Humor, der stellenweise philosophische Dimensionen vereinfachend verrückt. Das sind Menschen wie zum Beispiel dieser Georg Chaimowicz, die eine schweinerne Bratwurst deshalb genüßlich meterweise runterkauen, weil sie fest daran glauben, es wär' a Fisch. Auch Albert Einstein fällt mir dabei ein, der in meinem Familienbesuch auf die Frage nach dem lieben Gott antwortet, daß er den nicht brauche. Solche Geschichten zu erzählen ist kein WDR- oder WAZ-Chronist in der Lage. Das können nämlich nur diese Homers aus dem Schtetl-Universum.
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In die Burlesque gefallene Sünde ![]() Ein mich burlesque oder auch schlicht possenhaft anmutendes altes Spielchen versuchte man mir vor ein paar Wochen als neu zu verkaufen. Nun gut, von Spielereien verstehe ich eigentlich nichts, schon gar nichts von dem, unter dem sie firmieren, weshalb ich vielleicht besser einfach den finnischen Interpretator der höheren Philosophie singen lassen sollte, der mir das Schweigen anempfiehlt. Doch da ich mir mittlerweile vorkomme wie ein Lachs auf seine alten Tage, der nur noch ejakulieren will und dann sterben, sich aber in einem zusehends enger werdenden und ansteigenden Bachlauf befindet und nicht mehr weiterkommt, schreie ich in meiner solipsistischen Hilflosigkeit die Welt an: Ist das (die) Liebe? In meiner dualistisch schlichten, aber deshalb wohl auch immer ein wenig verruchten kleinen Welt war es bereits verkündet worden. Den faltenberockten Töchtern scheint das Musical auf der anderen Seite der Elbe kein ausreichendes Plaisir mehr zu sein. Unweit der Davidswache und dennoch gänzlich ohne Verhüter ist die Lust nämlich jetzt geschützt. Diese überraschende Erkenntnis brühte mir nun auch noch mein deutsch-französisch rabattiertes Blütensternengärtchen neu auf. Die «neue» Mode des Rüschenstriptease im Touristentrakt von Sankt Pauli habe indirekt etwas mit Frühaufklärung zu tun: Das Pin-up als solches sei ein Symbol für aufkommende sexuelle Freiheit. Man hat dabei wohl ein wenig auch an höfische Bekleidungsrituale des Kinos gedacht, die im Ansatz Befreiung zeigten. Überhaupt muß das Thema in seiner sittlichen Aufbereitung in strasbourgischen Hirnwindungen entstanden sein. Denn im Elsaß und auch noch in Lothringen wird, im Gegensatz zum zwar katholischen, aber laizistischen Restfrankreich, der Pfarrer immer noch vom Staat bezuschußt. Das haben wir dem korsischen klammheimlichen Vorbild des nachkommenden Europaverwüsters aus dem grenzenlosen Braunau zu verdanken, diesem anderen kleinen Gernegroß, der das höfische Leben rasch wiederbelebte, nachdem er sich zum Kaiser gekrönt hat. Und im Land der Rüschen, der Spitzen und Spalten und Fischgratkostümierungen als Folge der Aufklärung kenne ich mich schließlich ein wenig aus, lernte ich doch bereits in früher Kindheit durch mütterliche Präsentation die Attraktivität einschnürender Maßnahmen als Bestandteil dessen kennen, das heutzutage anderswo als typisch französische Romantik verkauft wird. Das fantasiaische Vor-Bild US-amerikanisch-französischer Freundschaft namens Josephine Baker gehörte zu den Ikonen meiner Frau Maman, und auch Maria Callas meine ich seinerzeit in einem recht luftigen Corsage abgelichtet in einem schmucken Bilderrahmen gesehen zu haben. Und möglicherweise hat die einheimische Industrie Lingerie einen aktiven Beitrag unterhalb der Gürtellinie zu dieser Produktion geleistet, nicht zuletzt, nachdem Monsieur Gaultier feststellte, daß sich das Korsett auch ganz gut auch als Oberbekleidung verkaufen läßt. Irgendwie kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die neue Mode geradewegs aus Alben kolonialistischer Altherrenphantasien heraus raubkopiert wird. Nun ja, Mode eben. Aber die als Insignie neuer sexueller Freiheit? Das Verhüllen von Brustwarzen mittels besagter Pasties, die besser vielleicht Selbstklebefolie (feuille autocollante) genannt werden sollten? Soweit ich mich erinnere, war genau das ein Zeichen jener US-amerikanischen Prüderie, die das allzu offenherzige Vorführen höchstens angesiedelter sekundärer Geschlechtsmerkmale vermieden haben wollte. Aber nach der weltlich sowie im «Fernsehanstalt gewordenen» Zen-Buddhismus angezeigten medialen Proklamation ist diese Art von Befreiung von störender Oberbekleidung ein Akt neuzeitlicher Emanzipation. Man läßt den Sündenfall Sexualität einfach zur Erotik konvertieren. Bei diesen reinen Herzen spielt dann nicht einmal mehr das sogenannte Idealgewicht eine Rolle. Irgendwie scheine ich in einer Revue der zwanziger Jahre gelandet zu sein. Eigentlich müßte dabei nicht einmal mehr etwas politisch korrigiert werden. Denn nicht nur die Modemacher, auch die Interpretatoren gesellschaftlicher Phänomene scheinen keine Argumente mehr zu benötigen. Und abseits des Luxus und der Moden ist ohnehin eine weitere Vermutung zulässig. Im Zusammenhang mit anderen Medienereignissen zog vor ein paar Tagen kurzzeitig der alte Calvin als Untermieter in mein Hirnstübchen ein und zeigte Bilder von den vorhanglosen Fenstern der Häuser protestierender Niederländer: Bei der zeitgenössisch-fortschrittlichen Nacktheit, ob in New Jersey oder im züchtig und vielleicht deshalb rot gewordenen Hamburg, da gibt's keine Sünde nicht. Die Dame als solche verbirgt nur ein klein wenig, also ist sie (erotisch) im Sinn von Sein. «Genf», schrieb der olle Most (danke Einemaria), «hatte [...] kaum das savoyische Joch abgeschüttelt und stand eben im Begriffe, sich recht demokratisch zu entwickeln, als jener finstere Pfaff erschien und nicht eher rastete, als bis eine Muckergesellschaft installiert war.»
Ruinen-Kult nach der Moderne Die schöne Welt vor fünfundzwanzig Jahren 50 Jahre nach dem Bildersturm [...] Tatsächlich scheint die Kunst des Dritten Reichs, scheint die dort verwendete Ästhetik in unserer Zeit, die allgemein als postmodern apostrophiert wird, eine gewisse Renaissance zu erleben. Jedenfalls halten allerlei Symbole, die untrennbar mit Nationalsozialismus und Faschismus verbunden sind, Einzug in die zeitgenössische Kunst. Allenthalben finden sich Hakenkreuze, auf Bildern, bei Aktionen, auch Rutenbündel und Opferschalen. Letzteres verwendete der Münchner Künstler Gerhard Merz etwa bei seinen Rauminszenierungen im Münchner Kunstverein und in der Kunsthalle Baden-Baden. Er und andere, so erklärte vor kurzem Manfred Schneckenburger, künstlerischer Leiter der documenta 8, «riskierten Pathos-Formeln, Strahlkräfte», die für uns »lange hohl und tabu gewesen« seien, es seien «Archteypen von Suggestivität, Monumentalität, Festlichkeit». Leni Riefenstahl Propagandafilm vom Parteitag 1934, Titel Triumph des Willens, gilt als Kultfilm, Albert Speers Architektur als genial, was bloß in Deutschland keiner wahrhaben wolle. Die Raumentwürfe des hitlerschen Leibarchitekten und Rüstungsministers sind wieder zu finden in Bildern und Inszenierungen renommierter zeitgenössischer Künstler heutzutage. Die Postmoderne — bringt sie, zumindest ästhetisch, den Faschismus zurück? Gewissermaßen im zweiten Aufguß? Jean Stubenzweig hat augenfällige Zusammenhänge entdeckt:Nachdem Adolf Hitler das Tausendjährige Reich ausgerufen hatte, bediente er sich, um die Bevölkerung darauf einzustimmen, in hohem Maße der Architektur und der Kunst. Mit entscheidend war dabei, daß er seine Lieblingsdisziplin Architektur wieder heimholte ins Reich der Künste — ein Akt gegen die von ihm so gehaßte, vom Sozialen und Aufklärerischen bestimmte Architektur-Avantgarde. Die hatte 1933, dem Jahr, als der Möchtegern-Kunstmaler aus Braunau am Inn Reichskanzler wurde, die Charta von Athen veröffentlicht. Mit ihr forderten die Vorreiter einer neuen Architektur nicht nur Licht, Luft, Sonne und Grün auch für die weniger Betuchten, sie wies den Architekten auch eine neue Aufgabe im sozialen Bereich zu: Nicht mehr als Künstler sollten sie sich verstehen, sondern als Ingenieure, die kostengünstig möglichst viel Wohnraum schaffen. Dieser Modernen Architektur, auch Neues Bauen genannt, machten Hitler und seine Vasallen im Reichsbauministerium mit einer Baukunst den Garaus, deren Palette von der biederen Verzerrung des wieder aufgenommenen Heimatschutzstils hinreichte bis zum gigantomanischen Staatsstil im Sinne eines Hauses der Deutschen Kunst in München oder eines Zeppelinfeldes, dem von Hitlers Leibarchitekten Albert Speer geplanten Nürnberger Reichsparteitagsgeländes. Dieses auf Ewigkeit getrimmte Bauen nannte der Frankfurter Architekturhistoriker Dieter Bartetzko in seinem Buch Illusionen in Stein «Stimmungsarchitektur». Nachdem während der ersten zwei, drei Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein Teilaspekt der Modernen Architektur, nämlich das kostengünstige Bauen durch rationelle Planung und Teilevorfertigung, zugunsten eines Bauwirtschaftsfunktionalismus schamlos ausgeschlachtet wurde, verkündeten Stimmungsarchitekten den Tod der Moderne, einer Moderne, die in der Bundesrepublik Deutschland architektonisch wenn überhaupt, dann unter erschwerten Bedingungen stattgefunden hat. Trotzdem nannten sie und ihre Apologeten diese dann folgende, als neu propagierte Ansammlung von Versatzstücken aus den verschiedensten vergangenen Architekturepochen Postmoderne, also quasi Nach-der-Moderne — im übrigen ein Begriff, der bereits seit dem zweiten Dezennium unseres Jahrhunderts durch die Weltkulturrezeption geistert und den der US-amerikanische Architekturpublizist Charles Jencks von seinem literaturwissenschaftlich tätigen Bruder für seine Theorien übernommen haben soll. Will man diese Postmoderne unbedingt verharmlosen, muß man sich denen anschließen, die der Meinung sind, es handele sich bei ihr um eine neue Romantik. Das kann sie jedoch nicht sein, denn in und mit der Romantik hat man zwar versucht, den negativen Teil der Aufklärung aufzuhalten, den ideologischen Auswüchsen entgegenzusteuern, nicht jedoch, die Aufklärung an sich zu liquidieren; dazu waren in ihrem Namen zu viele kritische Geister unterwegs. Allesfalls ist die Postmoderne ein neuer Post-Historismus, der, um Jürgen Habermas zu paraphrasieren, die Welt als Ausstellung inszeniert und die genießenden Zeitgenossen geschichtslos gewordene Zuschauer verwandelt. (Schnitt) «Stimmungsarchitektur», nennt Dieter Bartetzko das auf die Ewigkeit eines Tausendjährigen Reiches gerichtete Bauen der Nationalsozialisten. Als «Werk des schönen Scheins» bezeichnet Bartetzkos Kollege Heinrich Klotz die von ihm so heftig propagierte und verteidigte Architektur der Postmoderne. Hinter diesem schönen Schein Postmoderne, einer inszenierten Aneinanderreihung verschiedenster Baustile zurückliegender Epochen versteckt sich, so der Architekturhistoriker an der Bremer Universität Michael Müller, eine «Entpolitisierung kultureller Modernisierungsprozesse». Der Angriff der Postmoderne gegen die Moderne richte sich nicht gegen ihre Kunstrichtung, sondern gegen die Avantgarde-Architektur, die aus den ersten zwei, drei Jahrzehnten unseres Jahrhunderts hervorging und in ihrer kompromißlosen Trennung von Kunst und Architektur letzterer einen sozial- und kulturpolitischen Anspruch gab. «Solange wir nicht mit der Vorurteilslosigkeit des Betriebsingenieurs an die Stadtprobleme herantreten», so der Bauhaus-Lehrer Hannes Meyer, «erdrosseln wir durch Ruinen-Kult und überkommene Vorstellung das Leben der Stadt.» So rigide rational dies gerade heute auch klingen mag, wie klar steht es doch gegen die Stimmungsarchitektur, den Tempelkult, das Pathos beispielsweise des postmodernen Architekten Alexander Freiherr von Branca, dem Erbauer der Münchner Neuen Pinakothek. Von Branca ist der Meinung, «daß der Erwartungshorizont des Menschen von einer ungeheuren Vielschichtigkeit und Tiefe ist und daß von daher das architektonische Kunstwerk so angelegt sein soll, daß es diese Dimensionen erkennt, sie darstellt und ihnen antwortet». Seine Neue Pinakothek war einer der ersten der in den letzten Jahren eröffneten Museumsneubauten, denen eines gemein ist, wie Dieter Bartetzko feststellt: «Pfeilerreihen, strenge Symmetrie, große Feierlichkeit, also Parallelen in der Postmoderne zur Staatsbaukunst.»Und er gibt zu bedenken: «Vielleicht ist diese Architektur sozusagen eine gebaute Gnade der späten Geburt. Will heißen: die Architekten gehen zu unbefangen und zu leichtfertig mit Motiven um und schaffen plötzlich Parallelen zur Nazi-Baukunst. Man kann sagen, daß bei der Kulturschirn man das zwar bemerkt hat, diese Parallele, aber nicht weiter darüber nachdenkt, sondern umgekehrt die Bevölkerung in der Zwischenzeit beginnt, dieses Bauwerk als feierliches Bauwerk zu schätzen und damit eben genau auch diese Unbedachtheit den Formen gegenüber jetzt auch in der Bevölkerung um sich greift.»Eine detailliertere Antwort auf die Frage nach Parallelen zwischen postmoderner Architektur und nationalsozialistischer Baukunst gibt Dieter Bartetzko im Zusammenhang mit einem anderen Museumsbau, dem nach der Planung von James Stirling 1984 eröffneten Annex der Stuttgarter Staatsgalerie: «Die Gesamtform des Gebäudes bezieht sich zum einen auf den Klassizismus, also auf den historischen Nachbarbau, sie bezieht sich aber sozusagen über alle Stationen der Geschichte hinweg auf das Urmuster eines Würdebaus, nämlich den Totentempel des Hatschepsut. Dazu hat sie ihre Pfeilerreihen, ihre Materialien, die Kalksteinverkleidung, und hat sie von der Stimmung, nicht vom Motiv her, das Wichtigste: die Rotunde. Die Großform der Rotunde hat neben dem Schinkel-Zitat als wichtigstes Motiv das der künstlichen Ruine. Das Absurde und Aufschlußreiche an dieser Architektur ist, daß die künstliche Ruine ihres eigentlichen Sinnes beraubt wird in diesem Motiv. Sie signalisiert nämlich Dauerhaftigkeit, Unveränderlichkeit, und damit würde ich die erste Parallele zu der Stimmungskunst der Nazis sehen. Alles, was von den Nazis gebaut wurde, vor allen Dingen in bezug auf die Staatsarchitektur, war eine inszenierte Architektur, so wie heute die Postmoderne inszeniert.»Doch da ist auch noch die sogenannte Kleinform. Mit bunt gestrichenen Geländern, grünen Noppenböden, einer geschwungenen Glasfront, popfarbigen Türen wollte Stirling die Feierlichkeit konterkarieren. Doch nun verändern sich bereits die Farben, man paßt sie dem Stein an, sie erhalten einen pastellenen, würde-, stimmungsvolleren Ton. Mit Tempelarchitektur hat auch die Raumkunst des in letzter Zeit so gefeierten Münchners Gerhard Merz zu tun. Seine postmodernen Räume, ob 1986 im Münchner Kunstverein, Anfang dieses Jahres in der Kunsthalle in Baden-Baden oder jetzt bei der documenta, seine kultischen Stätten voller kalter Pracht, der Weihe, Beklemmung und Einschüchterung erinnern nachhaltig an die Innenarchitektur etwa der hitlerschen Reichskanzlei. Ein weiterer hochgelobter Künstler ist der nach Joseph Beuys international zur Zeit wohl renommierteste Repräsentant bundesdeutscher Kunst: Anselm Kiefer. Seine materialschweren, großformatigen und dräuenden Gemälde sind sowohl nach seiner eigenen wie auch der Meinung vieler Kommentatoren kritisch gemeint, was die Aufarbeitung nationalsozialistischer Vergangenheit betrifft. Doch selbst wenn dies zuträfe, so bliebe ein Aspekt nicht berücksichtigt. Dieter Bartetzko spricht ihn aus: «Seine Zeichnung zum Beispiel, ich denke jetzt an das Gemälde Grabmal für den unbekannten Künstler, transportiert vollkommen ungebrochen und zelebriert diesen Totenkult, die Weihestimmung oder seine Zeichnung des Hauses der Deutschen Kunst. Also da macht er den Fehler: Er reproduziert nur die Feierlichkeit, aber er bricht sie nicht durch seine malerischen Mittel.»Hier liegt das Problem, ein Problem, mit dem die Deutschen schon einmal nicht fertiggeworden sind: Die Ästhetisierung der Mythologie. (Wobei in unserer Zeit als typisches Symptom der Postmoderne noch die Überhöhung alles Mystischen hinzukommt, quasi als Gegenposition zur Vernunft, zur Aufklärung.) Unsere bauenden und malenden Künstler, die über ihre eklektizistische Vorgehensweise ein neues Geschichtsbewußtsein suggerieren, unterliegen einer fatalen Unbefangenheit. So beispielsweise der Schweizer Helmut Federle als Maler der sogenannten Neuen Geometrie, auch Neo-Geo genannt, einem durchweg diffus gehaltenen Ausweg (?) aus der konstruktivistischen Kunst etwa eines Max Bill, Piet Mondrian oder Richard Paul Lohse. Federle stellte, seitenverkehrt, ein Hakenkreuz dar und nannte sein Bild Asian Design — asiatisches Zeichen. Bei aller historischen Richtigkeit — wer so unbedacht mit diesen nunmal negativ besetzten Symbolen umgeht, muß sich fragen lassen, ob ihn am Ende gar nicht doch latent seltsame Sehnsüchte beherrschen — und seien es seitenverkehrte. Ein weiteres Beispiel, das mögliche Folgen aufzeigt: In Frankfurt am Main, dem sogenannten Mekka der Postmoderne, steht zwischen Römer und Dom und neben der sogenannten historischen Häuserzeile aus den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts eine neue Kulturhalle, die Kulturschirn. Ihr hat Volkes Stimme die — zunächst — ironisch gemeinte Bezeichnung Reichsparteitag angedichtet (wobei diese Architektur sich im Vergleich mit der geplanten Münchner Staatskanzlei nachgerade zurückhaltend gibt). Diese Postmoderne von Architektur und Kunst ist also nicht harmlos. Schon alleine deshalb nicht, da sie verharmlost, Begriffe zu verwischen droht. Zudem zeigt sie in ihren Äußerungen bedenkliche Parallelen zum Kunstverständnis der Nazi-Ideologen auf: indem ihre Realisatoren hineingreifen in einen Farben- und Formensteinbruch des einfach nur Gestrigen und so mit Hilfe von aus dem historischen Kontext entrissenen Stilelementen eine zeitgeistige Formel des Vagen bilden: Das Ziehen der Wurzel aus einer Unbekannten. Auszüge aus der der Sendung Verfemt, verfolgt, vernichtet. 50 Jahre nach dem Bildersturm, ein Magazin zur Kunstpolitik des Nationalsozialismus und deren Folgen. Mit Augzeugenberichten, historischen Tondokumenten und kritischen Reflexionen, Moderation: Wilhelm Warning. Bayerischer Rundfunk (B 2), 15. Juli 1987, 20.05 – 21.45 Uhr.
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