Meine Rede seit dem Ausschalten des Nachdenkens durch das authentische Hinterfragen in den modischen Medien. Angeregt durch Einemaria. «[...] Die auffälligste Fehlentwicklung der Zivilisation ist die Vermarktung alles Menschlichen.[...]Le Monde diplomatique: Der Mensch im Kapitalismus Der Mensch Lucien Sève Nach dem von Sève erwähnten Jean Jaurès (bei ihm Anmerkung 5) sind in Frankreich viele Örtlichkeiten benannt. Einer der mir liebsten Orte ist der Cours Jean Jaurès in Avignon. Er ist der Platz, an dem ich mir in dem Frankreich, das es, wie mir's immer wieder entgegenschallt, überhaupt nicht mehr gibt, auf dessen Straßen und Plätzen ich mich dennoch aus unerklärlichen Gründen ständig wiederfinde, gerne Ohrenschmalz in Auge und Gehör gebe. Das ist mein links des Rheins, wo ich mich mit dem Sandler, wie auch der Bayer diesen österreichischen Begriff aus der Nachbarschaft gebraucht, auch für den nicht seßhaften, den fahrenden Händler, den Non sédentaire, unter dem auch Herr Prieditis durch die Lande führt, wo ich mich mit dem Verkäufer von vom LKW gefallenen oder aus Nachlässen erstandenen Platten, CDs (Ohrenschmalz), Bücher, Lithographien oder solchen volkssängerischen combattants solitaire ebenso problemlos über politische oder philosophische Themata, gefahrloser über links oder rechts beplaudern kann als mit dem holsteinischen oder mecklenburgischen Bauern, bei dem es rechts nie gab, weil links ein Hirngespinst ist und ich doch rübergehen soll nach links des Rheins. Deshalb sei hier gesondert zitiert, wonach Sève auf Jaurès hinweist: «[...] Die kleine Empörung entfernt sich von der Politik, die große führt zu ihr zurück. Oder führt vielmehr zu einem politischen Handeln ganz neuer Art: nicht zu einer Revolution alten Stils mit ihren zum Scheitern verurteilten Veränderungen von oben, sondern zu einem Engagement auf allen Ebenen in der gemeinsamen Aneignung gegen neue Formen von Organisation und Aktion. Dies ist die Stunde der Innovation. So lässt sich die Abwendung des Unabänderlichen in Angriff nehmen. [...]»
Umetikettierte Weinwahrheiten Als Etikettenschwindel, geschätzter zweierlei Shakespeare in einem (haben sie den Emmerich, der der uralten Verschwörungstheorie ein neues Etikett aufgeklebt hat, schon gesehen?) ist es schließlich ins Umgangssprachliche eingezogen. Es dürfte einigen auch bekannt sein, welchen Wert und welche Wertungen diesen auf den Flaschen klebenden Stückchen Papier zukommen. Besonders jüngere Winzer, von denen zweifelsohne vielen Verdienste auch bei der Verbesserung der Qualität zukommen, sind dazu übergegangen, das Etikett zum Kunstwerk zu erklären. Seit längerem gibt es dazu Wettbewerbe. Und da mittlerweile alles meint, sich auch in der Kunst auskennen zu müssen, weil ihr in den Medien, allem voran in den Börsen-Nachrichten, genauso ahnungsvoll, also eher schlagzeilenartig in der Größe des Blattes der vier Buchstaben entsprechender Raum geboten wird, geht das einher: Längst wird kaum mehr unterschieden zwischen Werbung und Kunst. Daß letztere sich nach meinem Verständnis überwiegend der formalen Umsetzung von Inhalten widmet, geht dabei völlig verloren. So lange ist es noch nicht her, daß ich öffentlich-rechtlich mal (unter anderem auch hier) die Frage gestellt habe: Klaut die Werbung bei der Kunst? Meine Gesprächspartner dreier Generationen kamen zu dem Fazit: Sie tut es. Sie macht sich oberflächlich die reine Oberfläche tieferer Gedanken zunutze und propagiert nichts als den Schein. Es ist nachgewiesen, daß ein hoher Anteil der Weinkäufer sich von ihm, dem «schönen» Etikett, verführen läßt. Ich gestehe, dem auch schon unterlegen gewesen zu sein. Das Ergebnis hat zu meiner immer heftiger gewordenen Ablehnung von Werbung geführt, die heutzutage mehr denn je nichts anderes bedeutet, als von Inhalten abzulenken und um Bacchus oder Dionysos willen bloß keine weinische Wahrheit wirken zu lassen. Das Billigheimerproblem gibt es schon lange. Bereits in den siebziger Jahren gab es genügend Menschen in meinem Bekanntenkreis, die eingeschworen waren auf Weine und Champagner von Aldi (andere dieser Un-Art gab es zu dieser Zeit ja noch nicht). Ich habe es ausprobiert. Bis auf eine Ausnahme, den seinerzeit tatsächlich akzeptablen Rioja für etwa drei Mark pro Flasche (aber nur den von Aldi-Süd), konnte ich diese Meinung lediglich in seiner Frühphase, den ersten Schlucken, also allenfalls an der Oberfläche bestätigen, denn Tiefe suchte ich vergeblich zu ergründeln. Jahre später bin ich dann mal richtig eingetaucht. Die studentische Freundin hatte zum Behufe einer Feierlichkeit ihrem Etat gemäß eingekauft, und ich als damals ohnehin zur Überfüllung Neigender habe meinen immer zu trockenen Garten satt begossen. Als quasi gründlicher Testtrinker habe ich die Nach- oder Nebenwirkungen, für die bei diesen Weinen keine Beipackzettel mitgeliefert wurden, im Kopf zur Kenntnis genommen. Als meine Geschmacksknospen noch nicht ertränkt worden waren, stellte ich fest: Das Ergebnis war identisch mit dem jahrelang zurückliegenden. Er schmeckte genauso. Es ist unter altgedienten Dilettanten bekannt, daß die meisten Hersteller, wie beispielsweise die prominenten Anbieter von Champagner fürs Volk, ihre (nicht nur) preisgünstig angebotenen Weine geschmacklich nivellieren, auf daß auch diese ganz gerne irgendwann mal besserverdienenden Lieschens und Fritzchens Müller «ihren» markengleichen Nektar tatsächlich wiedererkennen. Daß Wein und Champagner in der Ureigenschaft des Wachsens von Rebstöcken, also deren Früchte von Jahr zu Jahr unterschiedlichen Geschmack — den Charakter überlassen wir den Menschen — entwickeln, wird dabei völlig ignoriert. Diese Eigenschaften zeichnen, unter anderem, die Arbeit eines qualitätsbewußten, keinem Konzern zugehörigen Weinbauern aus. Er ist zu recht stolz auf diese Leistung, die Unterschiede nicht nur zuläßt, sondern auf sie als tatsächliche Natürlichkeit, auf die Zusammenarbeit mit der Natur hinweist. Assemblage ja, aber eben aus eigenem Gewächs. «Mein» Duménil (um einiges günstiger als die alte Witwe et cetera) beispielsweise schmeckt gar jedes Jahr ein bißchen anders. Lediglich der wunderbare, eigenartige Kellermuff bleibt gleich. Daß das Lebewesen Wein saisonal Stimmungen unterworfen ist wie wir gleich alle Tage, das darf für die meisten nicht sein. Dann hieße es ja Laune. Und Laune wird rechtsrheinisch gerne als schlechte definiert, da mag er noch so launig am Gaumen herumtänzeln. Also kommt er in den Käfig Anpassung. Doch die Entindividualisierung durch die Geschmacksnormierung, diese aus Überallien zusammengekippte Identitätsfindung für(s) Immergleiche kommt ohnehin dem gleich, was auch der sogenannte Analogkäse in seiner Bezeichnung trägt. Ich bin ohnehin der Ansicht, daß das, was seinerzeit gerade umgangssprachlich Anlauf nahm, die Massen zu erklimmen, antipodisch zum Mainstream gemeint war. Es galt, sich selbst zu erhöhen, indem man das Wissen durchblicken ließ, die großen (im Sinn von Qualität) Erzeuger belieferten auch die Billigheimer — die Flaschen versehen mit einem anderen Etikett, sozusagen umetikettiertes höchstes Gut. In den Achtzigern streamte es gar eine Zeitlang durch den Anti-Main im schicken München. In meiner mittelbaren Nähe bestand das ein Weilchen zu einem Teil aus Sauer- und Saarländern , die sich als Erinnerung an gemeinsame Studienzeiten einmal jährlich zur Primeur-Zeit in Hamburg trafen, um sich einen Tag nach dem palettenweisen Genuß von jungem Wein zu fühlen, als hätte ihnen der Schützenkönig aus Arnsberg oder Bexbach in den Kopf geschossen. Sie, die als Ärzte und Apotheker nicht eben zu den Schlechtdotiertesten gehörten, hatten die Idee des Herumtragens der Plastiktüten aus dem Haus der Albrecht-Brüder als Markenzeichen wieder aufgegriffen. Wer besonders scheinen wollte, der trug Billigheimer. Hierbei bestätigte sich meine Theorie von Mamans Brustduftdrüsen. Wer mit der letzten Auswaschung des Tankwagens aufgewachsen ist beziehungsweise nach dem Reinheitsgebot mit Hellem und Dunklem gesäugt wurde, der kommt seiner Vaterdroge Preiswertbier nicht mehr aus. Auch dabei ist mangelndes Unterscheidungsvermögen von essentieller Bedeutung. Da man als dann Wein trinkender Besserverdienender selbstverständlich rechnen gelernt hat und aufgeklärt ist, drängt sich die populäre These vom klammheimlich Güte offerierenden Anbieter von Massenware auf. Was nicht in die Tiefen dieser Allwissenden vorgedrungen war: Ein Großteil dieser Weine und auch Champagner konnte und kann nur deshalb so preisgünstig sein, da die Albrechts seinerzeit eine Art neuerlicher Sklaverei eingeführt hatten (die mittlerweile aktueller Standard zu sein scheint). Riesige Domains hatten sie, nein, nicht einmal gekauft, sondern gemietet. Den Winzern, häufig solche, die sich keiner Genossenschaft anschließen wollten, gehörten zwar noch die Berge, sie waren aber durch langfristige Verträge gezwungen, den Wein auf Reblaus komm' raus so «preisgünstig» herzustellen, daß sie entsprechend in den Regalen der heutzutage zu Discountern umetikettierten und von mir beharrlich Billigheimer genannten Kulturkaputtmacher stehen konnten. Eine bei wohlschmeckendem und tatsächlich gutem Wein aus Rheinhessen zusammensitzende Runde hat sich Ende der Achtziger mal kalkulatorische Gedanken darüber gemacht, wie solche Verkaufspreise zustande kommen können. Das Ergebnis, verkündet von einem Betriebwirtschaftler der oberen Etage einer deutschen Bank, lautete: Der baskische Rioja-Bauer erhält pro Flasche ungefähr 28 Peseten, das entsprach in etwa 0,33 Mark (für diejenigen, die diese Währung aus Zeiten der Kleinstaaterei nicht mehr kennen oder zur Umrechnung parat haben: 16,5 Centimes1), also schon vor gut zwanzig Jahren nicht einmal als Hartz-IV oder Sklavenentgelt für selbständige Tätigkeit bezeichnet werden konnte. Eine Flasche Wein, die weniger als zehn Mark kostet, ergänzte der nicht nur im Monetären kundige Bankdirektor, der tief in rheinhessischen Rebenlatifundien wurzelt, sei nicht nur sozial nicht verantwortbar, sondern bereite nicht nur deshalb nicht das, was er eigentlich tun sollte: Freude. Ich habe mich, wahrscheinlich, weil auch ich die Grundrechenarten einigermaßen im Kopf habe und mit Freuden ein Gutmensch bin, in deutschen Landen daran gehalten. Geändert hat sich das erst, als ich später ins Exterroir französisch beatmetem Weinhandels geriet. Dort, im, wie dieses Intellektuellenetikett neuerdings genannt wird, wenig weinaffinen Holstein, war nämlich die Saat aufgegangen, daß, wie zuhause, Wein zu den Grundnahrungsmitteln gehört und deshalb Handelsspannen nicht in die Höhe schießen müssen wie von Monsanto gedopt. Daß auch ein Madiran nicht mehr so günstig zu haben war wie zu Zeiten, bevor das Gebiet um die Gironde zum Objekt der aktionistischen weinkonservativen2 Erhalter der alten Welt aus England, Japan, der Wallstreet und sonstwo verkommen und auch ich (ohnehin nicht ungerne) auf südwestlichen Geschmack ausgewichen war, das leuchtete ein. Aber ich bekam den oder einen geschmacklich wie preislich nochmals um einiges abweichenden Bergerac wesentlich preiswerter, also unter fünf Euro, weil Madame Lucette ihrem Gatten beigebracht hatte, daß ein Gewinn von dreißig Prozent3 und mehr für Lebensmittel unanständig sei. Bei beim Erzeuger gekauften Wein und einer Handelsspanne von etwa fünfzehn Prozent, läßt der Inhalt einer Flasche eines feineren Roten aus der Bourgogne für fünfzehn Euro das Seelchen noch höher fliegen. Nun käme ich nicht auf die Idee, mich als Weinkenner, am Ende gar als Experte zu bezeichnen. Ein klassischer Dilettant, auf das Nichtspezialisiertsein spezialisiert sein mag ich auch hierbei bleiben. Dieses allgefällige Wissensgeblöke in diversen umetikettierten Werbebotschaften lärmt mir ohnehin viel zu heftig. Manchmal möchte man meinen, man läse in Reklameschriften für Fruchtsalate. Ich halte es lieber in der stillen Schatulle bescheidenen Wissens und ignoriere Etiketten. Dank meiner persönlich favoritisierten Anwärterin auf den Nobelpreis für Biologie im Jahr 2051 weiß ich auch mehr von der Anatomie, vom Wesen des Axolotl als das Töchterlein dieses theatralischen Herrn und schreibe trotzdem kein Buch über ihn. Ich verstehe unter Bildung eher so etwas wie generale. Also will ich auch wissen, wo die Flasche wurzelt, was drinnen ist in ihr, die ich mit mehr oder weniger Lust geleert habe. Deshalb tauche ich ein, nicht nur in den postschmerziellen Inhalt. Und der belegt mir dann obiges oder die Erkenntnis, wie peinlich oder auch voller Scham für Fremde berührt man sein kann, mit manchen Bedächtigen deutschvereinter Convivien deren Vorstellung von Speis und Trank zu besprechen. Ich habe, auch dank eines Herrn, der einstmals einen kleinen Laden, gleichwohl mit großen Ambitionen, führte, die Anfänge der Bewegung in Italien mitbekommen, bin einige Male dort gewesen und weiß nicht nur daher: In der Toskana redet keiner dieser auch ohne Verein langsamen Esser so akademisch geschwollen daher, als müßte er wie in einem Rigorosum den Beweis antreten, daß auch er in der Civilisation angekommen ist. Kultur ist eben nicht Etikette, wie uns diese ganzen Knigge-Propagandisten weiszumachen versuchen. Essen und Trinken ist Heimat, überall auf der Welt gäbe es das beste Essen, bedeutete mir mal ein Sarde, dessen Zicklein ich genießen durfte, das stundenlang im Erdloch garte, und dessen Cannonau ich trinken durfte. Kultur ist Leben, also das, worauf ich bereits zuvor in Anmerkung 1, hier nun die5, mit meinem Lehrmeister Brockhaus hingewiesen habe, also Acker-, hier präzisiert: Weinbau. Prost. Oder wie es richtig heißt: auf Ihre Gesundheit, À votre santé.6
Dilettantisches aus Redundanzien Das meiste habe ich längst, auch mehrere Male erzählt. Aber vieles bekommt man nur durch ständige Wiederholungen in die biologischen Festplatten integriert (integration versteht mittlerweile jeder). Alles muß durch die immermahlende Mühle. Nach dem Gebet hat eine Religion sie benannt. Eine andere taufte sie um in Gehirnwäsche. Ideologien verhalten sich wie Bruder und Schwester; wobei die innerstfamiliäre Liebe sicherlich die angenehmere Variante der Inzucht darstellt, vielleicht weil oder gerade deshalb, weil die Oberideologen sie verboten haben. Davon etwas gelöstere und allzugerne plappernde Dilettanten wie ich nennen die Wiederholung — ich bin so frei — vorgangsspezifisch Redundanz. Das ist das, was viele so überhaupt nicht mögen. jedenfalls nicht im sogenannten Print. Vermutlich lesen sie deshalb lieber Hörbücher. Die Technik des Redundierens habe ich während meiner Zeit beim Dampfradio gelernt. Dort hatte man ihre Notwendigkeit erkannt, da der Mensch an sich bei weitem nicht all das verdauen kann, was ihm da vorgesetzt wird, schon gar nicht in diesem Schnellsprech, der inhaltlich obendrein keinen Mut zur Lücke mehr erfordert, sondern letztere nur noch zu erfordern scheint. Und wie das eben so ist im Leben des copy and paste, wie das lebenslange Lernen heute genannt und praktiziert wird, sammle auch ich durch immer neues Lesen des Alten und zusätzlichem (Be)Lauschen des Nachbartischs und Hören im Äther nach Ätherischem neue Erkenntnisse, mittels derer ich das bereits Vorhandene auffülle. Und abgerufen wird das alles durch den Austausch. Berühren Sie mit dem Mauszeiger die Fußnotenziffern. Ich durfte nämlich durch ein bißchen Hinzulernen von HTML auch in der digitalen Welt zu einer alten logorrhoeischen Leidenschaft zurückkehren: der Anmerkung, hier der «versteckten», auf daß es niemandes Lesefluß störe (auch wenn's typographisch etwas verwackelt ist, was ich nicht verstehe, warum das so sein muß). Korrigieren muß ich Sie, beste(r) Einemaria. Erstens: Auch ein «Blogger-Hooligan», als der Sie sich bezeichnen, gehört zur Kultur, zur Civilisation; Kultur, lehrte mich einer meiner Lehrmeister, der allwissende Herr Brockhaus, ist die Gesamtsumme der Lebensäußerungen eines Volkes.1 Letztlich sind es die meist mißachteten Randfiguren, die der Mitte die Würze gaben und geben, die eine breiige Masse eßbar werden läßt. Also zu zweitens: der Viehwirtschaft beziehungsweise der «Zucht von Bakterien und anderen Lebewesen auf Nährböden»: Die Rohmilch lassen Franzosen sich nicht verbieten. Die sind nämlich, Laizismus hin oder her, zuallererst mehr oder minder gläubige (etwa fünfzig Prozent) Katholiken (zwar gibt es noch ein paar von der Medici übriggelassene Hugenotten [circa ein Prozent] im Land, und lediglich die Protestanten [circa dreißig Prozent] im ehemaligen deutschen Kaiserreich Elsaß-Lothringen kriegen auch nach der 1905 erfolgten Trennung von der Kirche noch Geld vom Staat und unterrichten an den Schulen in Religion). Was also den Genuß betrifft, da konnten und können auch Religionen die Bürger nicht entzweien. Für den Käse (und noch einiges anderes, etwa die cuisse de grenouille oder, wie er bei Tetsche heißt, Froschschenkel) geht man im Land auf die Barrique; so heißen nicht nur die Behältnisse für den Wein (auf den ich noch zurückkomme), sondern auch die Barrikaden. Zum Beispiel gegen diese Ursupatoren unserer Verfassung, gegen diesen zusammengewählten Haufen an Landsknechten, der unter dem Namen Europäische Union firmiert. Da war man sich abseits jeder Glaubensrichtung einig, man war bereit, den Bittgang zu gehen, zu dem, den die purpurnen Kittelträger auf den Stuhl gesetzt, also in den weißen Rauch gewählt haben wie weiland ohne Volksbefragung die antikischen Erfinder der Demokratie ihren Weltführer, baten den unter Androhung, der neuerlichen Verlegung des päpstlichen Amtssitzes nach Avignon, um das, was er am besten kann: heiligsprechen. Er hat's zwar trotzdem nicht getan, vermutlich, weil er dem französischen Verständnis von Ästhetik mißtraute und vielleicht auch befürchtete, daß dann die sparkässlichen Abteilungsleiter in Bruxelles und Strasbourg keine Wochenendreisen ins römisch-katholische Lourdes mehr veranstalten würden, aber die revolutions- und multikultigeübten Franzosen haben einfach von Lutetia (das ich von Asterix' Erzählungen her kenne, einem weiteren meiner Lehrmeister) aus eine allerhöchstheilige Sure des französischen cuisinalen Rosenkranzes in diese synthetischen Metropolen der Heimatlosen gesandt: Mein Käse gehört mir. Oder: Alles ist Käse zwar, aber nicht gleich. Das allerdings kann sicherlich nur beurteilen, wem's via Mamans Brustduftdrüsen injiziert wurde. Ich hatte das Glück. Und das bei einem Vater, der aus einem hintersten (oder, je nach geographischer Einordnung, vordersten) russischen Frontschtetl kam, in der die versaftete und vergorene Kartoffel bis heute als einziges Grundnahrungsmittel bekannt sein dürfte, zu einer Zeit, als es Rußland noch gab, also nicht das heutige, das sich der Verführung durch den Westen hingibt. Gleichwohl das nur konsequent ist, denn das, was man darunter versteht, ist nunmal okzidentale Orientierung. Die Kompaßnadel schlägt nach Westen aus. Aber nicht übern großen Teich in die USA muß man wißbegierig rudern, sondern bereits in Frankreich gilt es auszusteigen in dieser Tour de connaissance. Von dort nämlich kommt sie, die Verführung, mit der das konstruiert wurde, unter dem die mehrheitliche Welt heutzutage Lust definiert: der Kapitalismus, der alleine aus diesem fröhlichen Irrsinn besteht, alles Erdenkliche kaufen zu wollen, das man garantiert nicht braucht, und man irgendwann private Insolvenz anmelden muß, dafür aber andere reich macht. In BiBook oder EiFrau? habe ich dieses Au Bonheur des Dames angerissen. Zweifelsohne entstand durch diese Verlustierung der Damen der Gesellschaft auch die Emanzipation der gekechteten Landmädels, die in Paris für einen Hungerlohn schufteten, aber immerhin nicht mehr auf den Strich gehen mußten.2 Auf diese Weise einen Teil der Prostition abgeschafft hat, wie auch die Anfänge von Arbeitszeitregelungen, Renten et cetera angelegt, der Gründer des Au Bon Marché. Aber nicht um der Sache selbst willen sondern, wie die Verführung an sich, nur, um noch mehr Geld zu scheffeln, auf daß Lieschen Müller ihr Licht nicht darunter stellen muß, H & M, Clamotten-August oder wie sie heute sonst noch alle heißen, die billigheimlichen Verführer. Das eine oder andere Lichtlein ist mir bei dieser grandiosen Dokumentation aufgegangen. Das ist es — mutige (fragwürdige?) Lücken hin oder her3 —, was ich unter Fernsehen verstehe; der unterhaltende4 investigative Journalist Emile Zola hat dabei sicherlich eine hervorragende Vorlage gegeben; als zur Metapher Neigender und ausnahmslos schönes Spiel Mögender rufe ich Günter Netzer ab: Der Diagonalpaß (auch) als Textkultur. Es war zweifelsohne ein Ereignis, wie so oft in meinem durch die Choucroute choreographisierten Blütensternengärtchen (das ich dank der sogar bis zu mir vorgedrungenen endgültigen Digitalisierung kurz vor meines Vaters Land Sibirien auch radikal linksrheinisch empfangen kann). Allerdings kam mir dabei, wie in den Anmerkungen notiert, einiges Wissen zu kurz. Auch die parisischen Suffragetten blieben mir historisch ein wenig zu sehr im Hintergrund.5 Wobei nicht verschwiegen wurde, daß sie sich vom Herrn des Kaufhaus mißbrauchen ließen, indem sie sich zu dessen Werbezwecken kaufen ließen. Aber nun, es war schließlich in erster Linie eine Illustration der Entstehung des Kaufrausches, von dem letztlich auch die sogenannten besseren Hälften nicht verschont blieben — und nicht nur als Geldgeber. Sämtliche Moden hat uns das gebracht, der heute mehr denn je alle, auch die Männer mit ihrer ebenfalls von diesen Kaufhäuslern erzeugten Sehnsucht, endlich auch emanzipiert und somit ein bißchen Frau sein zu dürfen, jeden erdenklichen Kram kaufen, und sei es, wie ich es nicht nur in meinem Stammkaufhäusern in Schwabing6 oder der Hamburger Mönckebergstraße oder anderswo einige Male beobachten durfte beziehungsweise von Kassiererinnen erzählt bekommen habe, zwei Jahre jungen Premier Cru aus dem Bordelais für achtzig Mark oder mittlerweile fünfzig Euro die Flasche erstanden, um sie dem abends zu Besuch weilenden Chef zu kredenzen, der selbstverständlich genausowenig weiß, das solch ein Wein, einer dieser Güteklasse in dieser Jugend schmeckt wie ein Doppeladler für neunundneunzig Centimes. Ich selber hab's mal ausprobiert und Billiggesöff gekippt in geleerte und aus Glücks- und Dankbarkeitsgefühl nie weggeworfene Flaschen eines 89er Château Laroque, diesem wirklich schönen Grand Cru aus St. Emilion, getrunken nach zehn, zwölf Jahre Reifung. Gekauft hatte ich den Wein vermutlich in La Rochelle, wo ich beinahe mein Generationenheim bezogen hätte und ich eine Zeitlang günstig abgeräumt hatte, weil dieses ganze Bordeaux-Zeugs da in den Regalen herumlag wie Blei, weil zu teuer. Die Gäste des Cave in Saint Nicolas, als es noch von den alten Wirtsleuten betrieben wurde, tranken lieber das Glas für achtzig Centimes. Dessen Inhalt schmeckte passabel. Linksrheinisch kann man ja glücklicherweise auch billigeren Wein trinken. Rechts des großen Grenzflusses sollte man das unterlassen. Oder Gästen kredenzen, die, aus welchem Grund auch immer, ungebeten ins Haus gekommen waren, oder solchen, die gerne mit ihren Weinkenntnissen höflich, aber bestimmt hofieren gehen. Die haben die Etiketten gesehen, genickt und kräftig Sauerstoff gesogen. Einer meinte, er schmecke erstaunlich jung, dieser nach zwölf oder mehr Jahren getrunkenen 89er Château Laroque. Ich habe den Herrn nie wiedergesehen. Es gibt allerdings auch wirklich schlimme Erlebnisse, wie sie Frau Braggelmann einmal geschildert hat. Deren, wie sie ihn selbst nennt, bessere Hälfte, muß aber auch ein ausgesprochener Kenner sein nicht nur des Weines, sondern auch einer der Gewieftesten in der biologischen Abwehr von Dieben. — Man könnte das jetzt schlicht unter Kreuzzüge der Märkte abtun. Ähnlich wie beim Wein, von dem längst auch französische Winzer meinen, man müßte ihm Duftstoffe beimischen, die dem gehobenen Trinker weltweit (aber besonders gerne im deutschen Land des gehobenen Geschmacks) die Ahnung von eichenem Barrique naturähnlich in die Geschmacksknospen zaubern. Aber es ist schon ein wenig mehr. Es ist Gastrosophie. Während ich mit Kleist7 so vor mich hinverfertige beim Denken, fällt mir ein Aufsatz von Rick Fantasia ein, der um das Jahr 2000 offensichtlich zu neuer Erkenntnis gelangt war und notiert hatte: «...daß die Fastfood-Industrie in Frankreich vor allem das Werk französischer Firmen war, die auf diesem amerikanischen Terrain noch besser sein wollten als die Amerikaner selbst.» Auch die Italienerin Medici meldet sich erneut mit der Anekdote8, sie würde diesen provençalischen Bauernfraß nicht zu sich nehmen. Und dann setzt sich André Glucksmann dazu und gibt einmal mehr in dieser Runde zum besten: «Im 16. Jahrhundert blieb Frankreich zwischen Rom und Luther unentschieden. Im 17. Jahrhundert war es damit zu Ende – weder Rom noch Luther. Der ‹Langzeitidentität› Italiens überließ Frankreich die Suche nach dem Schönen. Haben nicht heute so manche Italiener vor allem vor der Häßlichkeit Angst? Der deutschen Kultur überläßt Frankreich die Sorge um das Gute, den Wunsch, gut zu sein, das engelgleiche Dasein eines Gretchens, das so lebt, als gäbe es das Böse nicht, und außer Fassung gerät, wenn es ihm doch begegnet. Dagegen ziehen in Frankreich auf lange Zeit das Schöne und das Gute die Aufmerksamkeit nicht mehr auf sich. Das Häßliche und das Böse wird nicht verbannt und macht weiter kein Aufsehen. Aber die Dümmlichkeit, die mir ein anderer nachsagt, die ich mir selber attestiere, wird zur Kapitalsünde und zum schlimmsten Schimpfwort. Seit es um den gesunden Verstand geht, habe ich keine Möglichkeit mehr, mich auf irgendeine Wahrheit zu berufen. Mit gemischten Gefühlen kann man zugeben, man sei nicht gut, und sich damit abfinden, daß man häßlich ist. Aber kann man sich als dumm akzeptieren? Das ist im normalen Leben wenig wahrscheinlich. Das Prahlen damit, daß man nicht dumm ist, setzt einen aber, heimtückig genug, der höchsten Form der Dummheit aus, deren Geheimnis, vor Moliére, bereits Montaigne, boshaft genug, gelüftet hat: ‹Die Franzosen schienen Affen zu sein, die rückwärts von Ast zu Ast auf einen Baum hinaufklettern und oben angekommen den Hintern zeigen.›»8Da gab's doch gerade ein deutsch-französisch-italienisches Treffen. Und wer ist Wortführerin? Eine Frau aus der Uckermark. Nichts gegen Frauen, nichts gegen die Uckermark. Mir gefällt sie. Die Uckermark. Aber ich muß dabei gleich wieder an Holstein und Erbsensuppe denken und weniger an Pisam farsilem. Aber das Wesen, an dem die Welt genesen soll. hat's längst geschafft. Aus ist's mit den langen Mittagspausen. Gerademal gut zehn Jahre ist es her, daß sogar im gegenüber der Weltmetropole Berlin zugestandenermaßen ziemlich provinziellen Paris nicht nur der gemeine, sondern auch der gehobene Franzose mittags im Büro den Anrufbeantworter ein- und das Telefaxgerät ausschaltete, um im Bistrot seine vier Gänge zu sich zu nehmen (weitere sechs würde es am Abend geben). Heute sind dort die meisten dieser wundersamen Restaurationsstätten abgewickelt. Alleine 2002 gingen davon rund zwanzigtausend ein. Das Volk hat keine Zeit mehr und muß wegen der Konzerngewinne Sparbrötchen essen. Der Sargnagelschmied merkte mal an: «Es wäre doch ganz einfach, Frau Merkel — [...], übertragen Sie einfach die deutsche Rentenformel, das deutsche Gesundheitssystem und das deutsche Pensionssystem auf alle anderen europäischen Länder ... » Jetzt reichts aber wirklich. Bei der Gelegenheit: Ein kleines Dankeschön stellt das hier auch dar — an die (für meine Verhältnisse) recht hohen Einschaltquoten gerade im Bereich Frankreich, Essen und Trinken (was, logisch, ohnehin zueinandergehört; die Kunst nur am Rande), an die vielen Leser, die seit einigen Wochen hier bei mir immer wieder anklicken.
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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6028 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00 ... Aktuelle Seite ... Beste Liste (Inhaltsverzeichnis) ... Themen ... Impressum ... täglich ... Das Wetter ... Blogger.de ... Spenden
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