Paritätisch coram publico Was heutzutage via Chat, Elite-Partner et cetera pp. das Leben abenteuerlich gestaltet, waren früher Bekanntschaftanzeigen in den sogenannten seriösen Zeitungen. Auch ich beteiligte mich hin und wieder an diesem schönen Gesellschaftsspiel, in dem es meistens in der letzten Zeile der Selbstanpreisung hieß: Aus paritätischen Gründen Akademiker bevorzugt. Das war wohl der Anlaß, sich auf dem Markt der lateinischen Sprache, zumindest jedoch sprachlicher Mittel der philosophischen Antike zu bemühen. Da ich mich des öfteren nicht des Eindrucks erwehren konnte, die Paritätikerinnen kämen sprachlich bisweilen etwas orientierungslos von der Ziellinie ab, gab ich einen kleinen Nachilfe-Leidfaden heraus, den ich von Zeit zu Zeit verschickte; schließlich konnte man seinerzeit noch nicht eben mal bei Wikipedia nachschlagen. Heute kam er, nach weit über zehn Jahren, quasi als verspäteter Boomerang zurück, aus dem Archiv einer Dame, die beim Surfen auf den globalen Highways auf mich gestoßen war. Auch wenn eine Weiterführung nicht notwendig sein dürfte angesichts der voll informierten Gesellschaft, so will ich doch selbst belustigt über meine früheren abseitigen Beschäftigungen das Publico (auszugsweise) partizipieren lassen. Werte Holly Golightly1, ich habe, als Student der Bekanntschaftsanzeigen im 111. Semester, mein gerüttelt Maß an Leid und Mit-Leid gebündelt — für den Fall, daß Sie Ihren Fred nicht umgehend finden und nochmals coram publico Ihre Zugehörigkeit zu den sportlich-gebildeten Ständen demonstrieren müssen: ein paar Beispiele weiterer Entrées: Ab Iove principium Bei Jupiter ist der Anfang. Jupiter (Zeus) ist der römische Göttervater, «von ihm hat alles seinen Ursprung». Die Redewendung geht zurück auf Vergil bzw. auf den Anfang der Phänomena des Aratus in der Übersetzung des Germanicus, wo es heißt: «Von Jupiter anfangend, singet ihr Musen ...» (Vers 1) Abusus non tollit usum Mißbrauch hebt den Brauch nicht auf. Ad arma Zu den Waffen – gebräuchlich im Sinne von: ans Werk oder: Gehen wir (an eine Sache heran). Ad arma wurde schließlich zu ‹Alarm›. Aequalis aequalem delectat Der Gleiche macht dem Gleichen Freude. «Ähnlichkeit», schreibt Erasmus von Rotterdam, «ist die Mutter des Wohlwollens und die Stifterin von Beziehung und Freundschaft.» — Es kommen Junge zu Jungen, Alte zu Alten, Bayern zu Opel, Gebildete zu Lateinern et vice versa, Reiche zu Huren zu Luden, zeitgenössische Künstler oder Schriftsteller zu feingezwirnten Damen mit kleinem Latinum und großem Herzen. Aristoteles hat dies in seiner Nikomachischen Ethik so gesehen Semper similem ... Semper graculus ... Doch ebenso weist er, wie andere seiner antiken Kollegen, darauf hin: «Es ist klar, wen man beneidet; jedenfalls nicht diejenigen, die vor zehntausend Jahren gelebt haben oder in zehntausend Jahren leben werden [...]; nein, wir beneiden diejenigen, die uns von der Zeit, vom Ort, vom Alter, vom Ansehen und von der Abstammung her nahestehen.» Das Ergebnis ist unter Künstlern, herausragend in Köln, bisweilen theatralisch zu erfahren. Aut Caesar aut nihil Entweder Caesar oder nichts — im Sinne von: alles oder nichts. Wahlspruch des Cesare Borgia. Canis a non canendo Der Hund (wird Hund genannt), weil er nicht singt (vom Nicht-Singen). Ein spöttischer Ausdruck, der bei Varro in einem Werk über die lateinische Sprache aufscheint: Lucus a non lucendo. Captatio benevolentiae Haschen nach Gunst. Trachten nach Wohlwollen Höhergestellter; Gunstwerbung. Der Ausdruck wird Boethius zugeschrieben. Er war Minister Theoderichs des Großen, sein Hauptwerk führt den Titel Tröstung der Philosophie. Cucullus non facit monachum Die Kutte macht nicht den Mönch — Äußerlichkeiten haben mit dem Wesen nichts zu tun; in gewissem Sinne das Gegenteil des Sprichworts: Kleider machen Leute De gustibus non est disputandum Über Dinge des Geschmacks läßt sich nicht streiten. Difficile est satiram non scribere — Es ist schwer, eine Satire (darüber) nicht zu schreiben — bezieht sich auf Situationen oder Begebenheiten so grotesker Art, daß der Spott des Beobachters herausgefordert wird. Der Ausspruch geht zurück auf Juvenal. Est modus in rebus, sunt certi denique fines Es ist ein Maß in den Dingen, es gibt schließlich bestimmte Grenzen. Zitat aus den Satiren des Horaz. Evitata Charybdi in Scyllam incidi Ich bin der Charybdis ausgewichen und dafür in die Fänge der Skylla geraten — in (bekannter) Kurzform: Zwischen Skylla und Charybdis. Der Sinn des Wortes: Während man dem größeren Übel zu entgehen trachtete, geriet man ins andere. Homer ist es, der in seiner Odyssee erzählt, wie Odysseus aus Angst vor der Charybdis näher bei der Skylla vorüberfuhr und dabei sechs seiner Gefährten einbüßte. In seiner Aeneis schildert Vergil: «Diese Gegend soll einst, als beide Länder noch zusammenhingen, durch einen gewaltigen, verheerenden Einsturz auseinandergebrochen sein [...], riß mit seinen Wassermassen die italienische Seite von der sizilischen und durchspülte in brandender Enge die nun getrennten Fluren und Siedlungen. Das rechte Ufer hält die Skylla besetzt. Das linke die unbarmherzige Charybdis.» Skylla: «[...] die schrecklich bellende [...]. Zwölf Füße hat sie [...] und sechs Hälse [...] und auf jedem ein greuliches Haupt, und darinnen eine Reihe Zähne [...]» Charybdis: «[...] schlürft die göttliche Charybdis das schwarze Wasser ein. Denn dreimal sendet sie es empor am Tage, und dreimal schlürft sie es ein, gewaltig: mögest du nicht gerade dort sein, wenn sie einschlürft!» Also, sagt uns vergilsche Moral: Lieber Hab und Gut, jedoch nicht den Kopf verlieren; aber auch: äußerste Vorsicht walten lassen — sich also nicht so herumtreiben wie dieser Odysseus und sich demnach besser nicht zwischen beiden begeben. Doch ein weiteres führt Erasmus von Rotterdam an (womit wir beim Thema Errata wären): «Du hattest Angst, deine Bildung könnte zu wenig zur Geltung kommen, und hast dir dafür den Ruf eingehandelt, ein eingebildeter Protz zu sein. Das stimmt genau mit der verkehrten Fassung unseres Sprichwortes überein: Du bist der Skylla ausgewichen und dafür in die Charybdis geraten.» Ex ungue leonem An der Klaue (erkennt man) den Löwen — etwa gleichbedeutend mit dem ins Heitere übertragenen deutschen Sprichwort: Am Ringelschwanz erkennt man doch das Schwein. Der Gedanke, nämlich vom Teil aufs Ganze zu schließen, findet sich bei Plutarch. Fide, sed, cui, vide! Traue, aber achte darauf, wem! — analog dem deutschen: Trau, schau, wem! Gutta cavat lapidem Der Tropfen höhlt den Stein — eine Sentenz nach Ovid, aus dem Steter Tropfen höhlt den Stein wurde. Hora ruit Die Stunde eilt — ein Sinnspruch über die Flüchtigkeit der Zeit, der auf den niederländischen Rechtsgelehrten und Staatsmann Hugo Grotius de Groot, 1583 – 1645) zurückgeht. Horror vacui Grauen vor dem Leeren. Einer uralten Vorstellung nach besteht eine natürliche Abneigung, ein Grauen vor dem luftleeren Raum. Das Wort wird auch verwendet in der Bedeutung: Angst vor dem Nichts. In acie novaculae Auf des Messers Schneide — Nestor sagt im 10. Buch von Homers Ilias: «Denn jetzt steht es fürwahr auf der Schärfe des Messers, ob alle Danaer schmählich verderben sollen oder noch leben.» In Sophokles Antigone liest es sich so: «Bedenke, daß du wieder auf der Schneide des Schicksals stehst!» Und im Epigramm eines unbekannten Dichters läßt dieser Helena zu Menelaos und Paris sagen: «Speergewaltige Fürsten von Europa und Asien, für euch beide steht es auf der Schneide des Messers, wer mich Unglückliche zur Gattin gewinne.» Mens sana in corpore sano In einem gesunden Körper (wohnt) ein gesunder Geist, eine gesunde Seele. In der sogenannten Neuzeit, verstärkt seit Einführung der sportiven Autofolter interpretiert man diese Anrufung dahingehend, daß einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist entsprechen müsse (wobei letzterer infrage zu stellen ist). In der Antike wurde darunter jedoch eine Anrufung der Götter verstanden, sie mögen einem Kind sowohl einen gesunden Körper als auch eine gesunde, das heißt tapfere Gesinnung schenken; Sentenz nach Juvenal. Nec aspera terrent Auch Widerwärtigkeiten schrecken nicht. Nosce te ipsum Erkenne dich selbst. Sollten Sie weitere Hilfe benötigen — meine Datei ist schier unerschöpflich. Denn: Homo sum, humani nihil a me alienum puto. Viel Glück bei der Suche. Nachtrag am 19. Februar 2012: Auslöser für das oben angedeutete Vademecum (vielen wohl allenfalls als Mundwasser bekannt), das hat weiteres Stöbern in den digitalisierten Altakten ergeben, war folgende Anzeige in einer der «großen deutschen» Zeitungen. Spielgefährtin gesucht, deren Geist nicht kreist, ein Mäuslein zu gebären, die den Steinbock lieber im Gebirge, die Natur nicht (nur) grünäugig und den Krebs bisweilen gerne im Topf sieht, Golf geographisch, Romantik historisch buchstabiert, zwischen 20 ist und 50, 150 und unendlich und keine nationalen Grenzen kennt – von passablem Kopf, weniger Apoll als apollinisch, nie genau in der Waage zwischen Solo und Duo, Albern- und Ernsthaftigkeit. Die daraufhin eintreffende Post war zwar nicht in Säcken verpackt, aber von der Quantität her auch nicht gerade ein Sparpaket. Die Qualität veranlaßte mich dann allerdings zu einer neuerlichen Annonce, die die mich erreichten Werteangaben in etwa zusammenfaßt: Sie, absolut klischeefrei: Altlasten (ohne), attraktiv (wie man sagt), Beine (im Leben), Blond (nicht blöd), Buch (das gute), Carpe diem, Dinner (bei Kerzenlicht), Entheiratet, Figur (top + EQ), first (class music), Herz (und Wärme), Investition (und Liebe), Jeans (und kleines Schwarzes), Gespräche (und Kamin), Golf (und Tennis), Gott (und Welt), Herz (und Bildung), Kunst (und Kultur), Gespräche (lang), Lebenstil (gehobener), Lesen (und Musik), Natur (frei), Neu(-anfang), Niveau, Outfit, Power(-frau), Reisen (ferne Länder), Rotwein (Kamin), Single (mal gerne gewesen, jetzt nicht mehr), Ski (und aprés), schlank (mit Formen), Unternehmen (und trotzdem), Vollblut (-frau; akademisch), weiblich (geblieben).
Eitle, von Kunstpostkarten kodierte Blicke Die großen Kunstbetrachtungen sind ungebrochen en vogue. Große Meister und Epochenausstellungen (eben schnell noch hin!) haben nach wie vor enormen oder gar erhöhten Zulauf. «Du diskutierst gerne über: Kunst und Künstler?» heißt es in internetten Portalen, seit die Entartung der Kunst1 zur Ersatzreligion kapitalen Werteverständnisses vollzogen wurde. Aber sind die Besucher dieser Beschaulichkeiten informierter als vor dreißig Jahren? Wissen sie mehr über die Bildnisse, vor denen sie mehr oder minder staunend bis ehrfürchtig verharren — oder sie eben, wenn das Platzangebot es zuläßt, durchfliegen, weil es mittlerweile ein Muß geworden ist wie einst der sonntägliche Kirchgang, von dessen elterlichem Joch man sich befreit hat? Kirche, die hat früher alles bewegt in der Kunst. Es hat den Anschein, es erführe eine Rénaissance. Ich habe das hier zwar bereits mehr als einmal thematisiert, bin jedoch, aufgrund meiner derzeitigen Beschäftigung mit der Vanitas, quasi zwangsläufig in den dicken, kulturscheinschwangeren Katalog Von Greco bis Goya. Vier Jahrhunderte spanische Malerei hineingeraten und nach neuerlichem Lesen der Meinung, zumindest eine längere, zusammenhängende Passage aus diesem Hörfunk-Beitrag zu veröffentlichen, weil er quasi aktuell oder auch aktualisierend darauf hinweist, zu welcher hanebüchenen Auslegung von nicht nur kunst-, sondern eben auch historisch bedeutsamen Gemälden das führen kann. Das Volk aufs glatte Eis der Kunst geschoben? Es taut, die Kuh muß runter. Jetzt hängen sie also, die alten Meister spanischer Malerei, dicht gedrängt und das eine ums andere Mal konzeptlos durcheinandergehängt vor einer geschmäckIerisch farbigen Stoffbespannung. Sie hängen in einem schlechten, sich zudem auf den Gemälden reflektierenden Licht an diesem unseligen Ort, an dem noch vor wenigen Jahrzehnten Kunst dem Volksempfinden zur mißfälligen Betrachtung ausgeliefert war. Heute hingegen ist der Bürger aufgefordert, ästhetisch zu genießen, was der Katalog so anpreist: «Das Schönste und Erlesenste an höfischer Porträtmalerei [...], die «höfischen Bildnisse mit moralischer Dimension»; die «durchsichtigen Gesichter einer alten Rasse, die Großes verursacht, Schweres getragen und nun müde geworden war». Und selbstredend, der Natur der Sache gemäß, «ordinäre Trink- und Freßgelage». Mit dieser pathetischen und stellenweise phrasenhaften Diktion soll der Besucher eingestimmt werden auf diese neue Kunstorgie im neo-neo-neo-klassischen Münchner Musentempel, dessen Architektur Hitlers schauerlich-protzige Vorstellungen von Ästhetik spiegelt. Ob moderne Kunst oder alte Meister: Im Haus der Kunst liebt man die Verpackung der Ware Kunst, die dann in Worthülsen ihre Entsprechung findet. Das ist genau die Sprache, der es um die Verschleierung von Inhalten oder den dogmatischen Hinweis auf das Genialische an der Kunst geht. Dem Volk, für das solche Ausstellungen offiziell veranstaltet werden, wird Ehrfurcht vor dem quasireligiösen Kunstgegenstand injiziert. Eine sich selbst als Elite verstehende Kunsthistorikerzunft beweihräuchert sich selbst und stellt zugleich dem Volk die Kunst wie im Supermarkt dar, in unübersichtlichen Massen. Doch das System, Kunst als Spiegel gesellschaftspolitischer Entwicklungen zu negieren und sie statt dessen mit antiaufklärerischer Feierlichkeit zuzuhängen, hat nicht nur in der bayerischen Landeshauptstadt seine Befürworter. München ist hierbei nur (mal wieder) Hauptstadt einer Bewegung, gefördert nicht zuletzt durch eine Kunstkritik, die schon längst nicht mehr für diejenigen die Feder wetzt, die Information wirklich nötig hätten. Früher war das mal anders: In den Pariser Salons2, deren erster 1667 in der Grande Galerie des Louvre stattfand, beanspruchte das Publikum das Recht der Kunstkritik; Kunst war Bildungselement und vor allem Element des Gesellschaftslebens. Dieses Recht nahm dem Publikum sehr bald der professionelle Kunstkritiker ab, der dann im 19. Jahrhundert die Durchschnittsansichten der Pariser gebildeten Welt verbreitet. Da weniger die Kunst als vielmehr das Publikum Bezugspunkt dieser Kritiken war, wurde denn auch folgerichtig der Subjektivismus als Organ des Kunstverstandes bezeichnet. Diese trivialhumanistische Absicht, die auch damit rechnet, daß in einem geheimnisvollen Prozeß die gefühlsmäßige, unsachliche Kenntnis sich trotz aller Irrungen auf Dauer immer zum Wahren und Schönen durcharbeitet, scheint heute (schon wieder) die Seelen mancher Ausstellungs-Macher emphatisch aufflattern zu lassen. Die Ausstellung Von Greco bis Goya ist nur ein Beispiel für eine in der ganzen Bundesrepublik sich abzeichnende Richtungsänderung in der Kunst- bzw. Ausstellungspolitik: Zurück zur Restauration — anstatt eine Pause zu machen und diesem fatalen Zeitgeist des Konservierens sogenannter traditioneller Werte denkend eine Abfuhr zu erteilen. In seiner platten Draufsicht gebärdet sich der Ausstellungskatalog stellenweise aufklärerisch. Er versucht laut Manuel Muñoz Cortés das «Problem des kulturellen Ambiente und des politischen Hintergrundes genau» zu erklären. Der Versuch, war er ehrlich gemeint, ist gescheitert. Nirgendwo im Katalog (ohne den der kunsthistorisch weniger informierte Besucher nicht auskommt) ist der politische Hintergrund erläutert: Die spanische Bevölkerung des 17. Jahrhunderts war völlig verarmt. Die Herrschenden führten ununterbrochen Kriege, regierten den Staatsschatz herunter und verurteiIten das Volk zum hungern. Die krassen Unterschiede der Lebensbedingungen schlagen sich nieder sowohl in verschiedenen Sujets höfischer Bildnisse als auch in Stilleben, aber auch in Gemälden, in denen die Kluft zwischen hohem Adel und niederem Volk innerhalb eines Rahmens geschildert wird. Jedes einzelne dieser Gemälde gehört Bildgattungen an, die einer hochkomplizierten Sprache unterliegen. Sie zu übersetzen und so aus der Tabuzone der sprachlosen Bewunderung zu holen, wäre Aufgabe der Verantwortlichen gewesen. Doch der Verantwortung der Aufklärung haben sie sich entzogen. Drei Beispiele: Das Ornamentale und die Starrheit der Herrscherbildnisse eines Juan Pantoja de la Cruz oder eines Alonso Sánchez Coello sind nicht nur individuell künstlerische Sehweisen. Im Bildnis der ‹Infantin Anna von Spanien als Kind› von de la Cruz zum Beispiel spiegelt sich das spanische Hofzeremoniell in seiner ornamental-dekorativen Gestaltung, die in ihrer strengen Ästhetik Konflikte von vornherein unterdrückten. De Katalog als einziges Hilfsmittel des Ausstellungsbesuchers reduziert die Information auf abgehobene Ästhetik. Das spanische Stilleben, das Bodégon, ist bei weitem mehr als das, was der Katalog ins Niedlich-Nette verzerrt, damit Vorurteile bestätigend, nämlich: «Ein lustiges Cabinett mit allerlei Eßbarem, was im spanischen Klima wächst.» Der Begriff Bodégon entstammt dem der Bodéga, jener ärmlichen Spelunke, in der jener billige Wein ausgeschenkt wurde, der die Armut vergessen ließ (und in der man auch heute noch ‹preisgünstig› essen kann). Die dargestellten Gegenstände der Stilleben verweisen in symbolischem und theologischen Sinn auf den Menschen, deuten in Bildern die Welt oder erinnern an die Vergänglichkeit alles Irdischen. Im Bücherstilleben eines unbekannten Meisters geht eine konkrete politische Aussage auf die Bewegtheit des ersten Drittels des (spanischen) 17. Jahrhunderts auf. Zwar erklärt der Katalog, daß die zerlesenen Bücher römische Rechtsschriften sind, sagt aber nicht, daß hier die Vergänglichkeit, die Auflösung des Rechts in Spanien symbolisiert ist. Weder in einem der fünf Katalogaufsätze noch in einer der Bildbeschreibungen wird auf die religiöse, ergo politische Symbolik der Stilleben hingewiesen. So zum Beispiel, daß im Granatapfel die Einheit der Kirche mit ihrer großen Menge an Gläubigen aufgeht oder er auch als Zeichen der Auferstehung gilt. Die Schwertlilie deutet auf Marias Schmerz hin, Blumen stehen für die fünf Sinne, die den Menschen so stark an das Irdische binden, und Früchte sind Nahrungsmittel der Armen und deshalb am Hof als Dessert verpönt. Die durch den Italiener Caravaggio angeregte Helldunkelmalerei war Mittel der innerkirchlichen Opposition, traditionelle Werte umzudeuten. Standen zuvor Nacht und Finsternis für negative Werte und sozial niedrige Schichten, so ward das Dunkle dann zum Symbol gegen sinnliche Begierden und (religiöse) Erkenntnisformen, die davor nur Privilegierten zugängig waren. Nach der Gründung des Jesuitenordens durch Ignatius von Loyola wurden sinnliche Genüsse in anderem, hellem Licht dargestellt. Sie wahrzunehmen und dann um so bewußter abzulehnen, kennzeichnet sowohl die Öffnung der Kirche durch Loyola zum Weltlichen hin als auch die so doppelte Verneinung des Sinnlichen. Da damals die Kirche bestimmender Faktor der Politik war, kommt dieser Umkehrung der Helldunkelmalerei eine wesentliche Rolle in der (Kunst-)Geschichte zu. Auch hierzu schweigt der Katalog, und der durch die Ausstellung führende Kunstpädagoge spricht über Bildaufteilung, Perspektivisches und einen luftigen Pinselstrich. Die Bedeutung der Hereinnahme niedriger sozialer Schichten in Darstellungen des Heilsgeschehens bei Velazquez wird auch nicht erwähnt: Sie ist ganz im Sinn der Gegenreformation (gegen Loyola), die versuchte, die Loyalität des Volkes gegenüber der katholischen Kirche zurückzugewinnen. Was diese Ausstellung an Information nicht leistet, ließe sich fortsetzen. Der Stellenwert der spanischen Malerei innerhalb europäischer Kunst und Geschichte ist nur vage umrissen. Sie ist Spiegelbild des Selbstverständnisses der Herrscher und des Volkes, letzteres verinnerlicht als Maya oder Mayo, nach Schopenhauer der Nichtwissende, der im entscheidenden Moment an der Teilnahme politischer Entwicklungen gehindert ist. Sie spiegelt die ständige Berührung Spaniens in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends mit der islamischen und maurischen Kultur, aus der sich der ornamental-dekorative Charakter der spanischen Malerei lesen läßt. Während sich das übrige Europa vom Klerikalen abwendet, ergeht sich Spanien zunehmend im Mystischen, kapselt sich ab und versteht sich — ein Satz im Katalog — «als Beschützer der katholischen Welt und konzentriert sich ganz auf die Religiosität». Spanien hat in den die Ausstellung umreißenden vier Jahrhunderten europäischer Kunst eine führende Rolle gespielt. Durch die Einflüsse außereuropäischer Kulturen und ein Sichabsondern von der Um- und Aufbruchstimmung des ›alten Kontinents‹ hat die spanische Kunst sich (bis heute) eine nahezu mystische Fremdheit erhalten, die aufgrund der Ausstellungsgestaltung im Münchner Haus der Kunst (bewußt?) konserviert wird. Die Bereitschaft des Publikums, sich konfrontieren zu lassen, ist durchaus vorhanden, das zeigt das Interesse für die Ausstellung. Aber es reicht eben nicht aus, daß unser durch zahlreiche Kunstpostkarten kodierter Blick via Aha-Erlebnis alte Bekannte wiedererkennt und somit glaubt, orientiert zu sein. Dem Ausstellungsbesucher muß die Möglichkeit geschaffen werden, im historischen Kontext das Kunstwerk gleichermaßen geistig und kreativ zu rekonstruieren. Was jedoch Ausstellungen wie die in München betrifft, sind es einzig die Besucherrekorde, die die Initiatoren in (sportliche) Begeisterung versetzen. Kunst hat präsent zu sein. Aufgabe der Kunst ist nicht das Abbilden, sondern das Formen und Bilden von Gedanken. Das wiederum bildet eine eigene Sprache. Dort aber, wo diese Bildsprache nicht verstanden wird, kann sie allenfalls dazu dienen, (bereits genannte) Vorurteile zu bestätigen. Kunst bildet nicht die Wirklichkeit ab, sie macht sichtbar, hat Paul Klee formuliert. Denjenigen gegenüber, die einer bewußtheitsfördernden Information bedürften, wird hier in dieser Ausstellung in einer Sprache entgegnet, die von der Kunst als gesellschaftlicher Dimension ablenkt. Auszug aus: Kult und Kunst, Essay und Kritik, Saarländischer Rundfunk, April 1982
Neun Ma(h)le (nicht nur) für die Katz Für Enzoo, Vert und Hinkebote sowie alle anderen, die's interessiert; mit einigen mehr oder minder modischen Anmerkungen; zum lesen berühre man mit dem Cursor die Ziffer1. Meine und Mimi alias Noiretblanc Beinahe-Éremitage im Norden entsprechen dem Land- und Katzenleben, wie ich es mir vorgestellt habe, unter anderen, beispielsweise großstädtischen, Bedingungen wären sie nicht zustande, wäre diese Comtesse nie in meinen Haushalt gekommen: kein Durchfahrtsverkehr, ziemlich ab- und dann auch noch zurückgelegen (wer mich besuchen will, muß sich für dicht besiedelte deutsche Verhältnisse durchaus ein wenig bemühen bei der Findung, und sei es die nach der richtigen Weichware für die Suchmaschine im Automobil, ohne die sich offensichtlich niemand mehr zurechtfindet im Leben), vor allem aber auf eine andere Art kultiviert als in der Jungbäurin Sinn. Hier dirigiert eine wunderbare ardennische Landfrau mit parisischer Lebenserfahrung und leicht wundersamen Vorstellungen von Ästhetik, die sich auch in ihrem persönlichen Äußeren spiegelt: nie ohne diesen perfekten Halblang-Haarschnitt2, immer damenhaft die (wohl auch generationenbedingt knappere) Größe erhöhend, dennoch die ihrem Empfinden nach immer schönen, weil mit Applikationen3 versehenen Schuhe (für die sie, täte sie's nicht ohnehin gerne und oft, in die Heimat zu reisen gezwungen wäre, da's für Kleinfüßige im Land der Femme germanique so etwas nicht gibt) flach, insgesamt meist irgendwie ein wenig chanelig4 wie die (Empfangs-)Chefin eines gut bürgerlichen Restaurants, wie sich eine Pariserin aus der tiefsten Provinz — und welche Pariserin oder Berlinerin käme nicht aus der Provinz? — und «mit Geschmack» das eben vorstellt. Sie hat die gemeinsamen Häuser und Gärten nach ihrem Gusto an- und hingerichtet, einschließlich der urprünglich der knackfrischen halbgallischen Tochter zugedachten und nun von mir alterendem, darin herumhumpelnden Hahn genutzten Wohnung mit dem für mehrere Jungfrauen geeigneten Badezimmer, vor allem aber perfekten Cuisine américaine, der zweihundert Jahre alte holsteinische Schweinestall ist beispielsweise mit maurischem Backstein restauziseliert; es war harte Arbeit unter ihrem gestrengen Kontrollblick für die an 08-15-Apps aus dem Baumarkt gewohnten Maurer, die ja schon lange keine Handwerker mehr, sondern nur Aufkleber des allfälligen Industrieschönscheins sind. Klein-Versaille herzurichten und es mit lauenburgischer Landschaftpflege zu verbinden, behält sie sich vor. Sie hat es nicht nur geschafft, ihrem Gatten, einem an derartigen Verschönerungen des Lebens eigentlich nicht sonderlich interessierten (allerdings immerhin Bebop hörenden und sich bei mir Platten ausleihenden; Madame greift eher zum «guten Buch» aus meinen alten, auf dem Dachboden gelagerten Rezensentenkisten) norddeutschen Knurrhahn der Gattung Maschinenbauingenieur, Französisch samt gutem Geschmack auch in der Küche zu lehren, sondern ihn gar davon abzubringen, die alten, zum Teil vor drei, vier Generationen gepflanzten Apfelbäume umzunieten und durch höherwachsendes monokulturelles, am Ende gar monsantoischen Plantagenzüchtzeugs etwa im Sinn eines rundzuerneuernden, zu industriealisierenden Alten Landes zu ersetzen, weil er mit seinem Rennrasenmäher rascher vorankommen, während seiner Rasereien keine dieser kleinen wurmstichigen Äpfel mehr im Maul haben wollte. Auch einen Golfplatz auf dem riesigen, hier kaum ersichtlichen Ackergelände hinter dem eigentlichen Grundstück mit angeschlossenem kleinen Restaurant5 hat sie dem auch in den Jahren offenbar unentwegt unternehmerisch denkenden Gemahl mit Hilfe ihrer gestrengen Sanftmut und gewiß ebenso gekonnten Spöttelei ausgeredet. Vor allem eines hat sie in ihrer weit über dreißigjährigen Emi- beziehungsweise Imigranz bewirkt: Nie möge Malbouffe auf den Tisch kommen; für den guten Wein sorgte sie mittels des Auf- und Ausbaus einer eigenen Weinhandlung, allesamt selbst in den Anbaugebieten gekostete Stöffchen; er bekam als Spielzeug oder ausgleichend die mit dem Whisky, mittlerweile alles vom Sohn betrieben, einem Koch und Sommelier. Ich habe das alles hier schon so oft und zu allen möglichen Anlässen erzählt, daß es sich eigentlich verbietet, es neuerlich zu tun. Dennoch (es gibt schließlich auch ein paar neu hinzugezogene Leser) der nochmalige Hinweis: Sie kocht, brät und bäckt wie ihre Grand-mère, ohne sich dem eigenen wie fremden Einfallsreichtum gänzlich zu verschließen. Und sie hält es, wie im Heimatland üblich: Kein Besucher wird abgewiesen, selbst der nicht ganz so genehme erhält seinen Apéritif, der andere wird zu Tisch gebeten. Dazu gehören selbstverständlich Leckereien wie die beispielhaft abgebildeten. Aber auf den Weg nach oben in meine Türmerei kriege ich hin und wieder mal eine der von ihr zubereiteteten Konfituren oder die von ihr manchmal gebackene Brioche, deren Geschmack sich kein Vollkornblutdeutscher vorstellen kann, der nicht einmal ahnen kann, daß Marie Antoinette vermutlich Kuchen meinte, als sie von Brot sprach. Davon profitieren auch Katzen. Madame Lucette liebt sie nicht unbedingt, aber sie achtet sie. Und da nach französischem, vermutlich während der Revolution notierten und im Prinzip heute noch gültigen (ungeschriebenen?) Gesetz jeder ein Recht auf ein gutes, mindestens viergängiges Mahl hat, profitiert auch Mimi alias Noir(e)etblanc davon. Es geschieht gar, daß sie manchmal das Futter verschmäht, das ich ihr hinstelle, das ohnehin keines vom Billigheimer ist, zwar keines mit Petersilienküßchen auf der Packung, sondern schlicht solches mit höchstem Fleischanteil. Aber wenn sie sich unten bei Madame in die Küche schleicht, dürfte das eine ums andere Mal das eine oder andere immer feine Stück vom Entrecôte (bis heute unvergessen der damalige und zwischenzeitlich wieder ausprobierte Banquier) vom Tisch fallen, das alleine deshalb besser schmeckt als das landesüblich angebotene, weil's da einen Schlachter gibt, der zwar nicht wie mein ehemaliger in München mal in Saint-Étienne des Schneiden von Fleisch gelernt hat, aber immerhin einen, der nur von den mittlerweile auch in Nordeutschland überall, meines Wissens sogar bei einem der führenden und längst von Frau Braggelmann angefahrenen Brillenbauern namens Fielmann grasenden französischen Rindern6 nimmt, der womöglich ebenfalls das typische Zerlegen von Fleisch beherrscht, dieses aber auf jeden Fall weitaus länger ablagert, als das bei den hiesigen Fleischern, geschweige denn Supermärkten geschieht, in denen die Kunden sich vor dunkler Schulter oder Lende ängstigen, weil die hiesigen ehemaligen Bauern nunmal nicht fressen, was ihrer Meinung nach fremd ist. Das ist dann eines von neun Mahlen, die eine Katze benötigt, um ihrer angenehmen neun Leben sicher zu sein, hat sie doch einen sehr kurzen Darm, weshalb sie nie zuviel auf einmal frißt. Denn sie nimmt, so verzivilisiert worden ist sie in der hiesigen Domaine, auch mal eine Partie Tartelettes, mal eine vom Käse, den Madame notfalls sogar einfriert, wenn er im Übermaß aus der Heimat geliefert wurde.7 Land- ist also Katzenleben — quasi ein und dasselbe. Gerne neunmal täglich. Darüber wird hier also nicht nur im übertragenen Sinn fortwährend berichtet, mit mir (und anderen) logischerweise auch bei bei Blogger.de, willkommener Katzencontent hin oder her. Das geschähe auch, täte ich zwitschern oder mich in die Arme der Datenkrake Farcebuch begeben, was ich aber tunlichst unterlasse, denn ich habe schließlich (be-)greifbare, also nicht nur virtuelle sogenannte soziale, sondern richtig süße Kontakte, bei denen ich obendrein nicht mein Leben abgeben muß, auf daß sie mit mir Kohle machen, und ich wüßte sonst auch nicht, wozu ich mein Poesiealbum hier betriebe. Jetzt gibt es dann Fleischliches, für Menschen ein bis zweimal pro Woche, für Katzen immer, und anschließend Süßes für alle. Frau Braggelmann war hier, um mich nach wie vor geistig und körperlich Behinderten zu hüten und zu pflegen und mit mir zu essen und zu plauschen. Und wenn sie kommt, taucht ohnehin irgendwo aus der Unendlichkeit ihres Reviers auch noir et blanc Mimi auf, um vor den nächtlich zu jagenden Mardern und Mäusen nochmal ein menschliches Häppchen zu nehmen.
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