Die Kunst, deren Herz.

Der ägyptische «Schicklgruber» der documenta 12, so genannt vom Photographen © Martin Behr.

Ich weiß nicht so recht, beste Kopfschüttlerin. Nachdem Carolyn Christov-Bakagiev, die Kuratorin der diesjährigen documenta irgendwie alles zur Kunst erklärt hat, ausgenommen das von Stephan Balkenhol und Gregor Schneider, das bezüglich des Erstgenannten nicht zu ihrer christnahen (?) Programmatik am Rand des Geschehens gehört, muß ich wohl nicht eigens nach Kassel fahren, um die Kunst der Welt zu erkunden. Das, was die Dame da zum Teil gar zensorisch verkündet, ist alles längst dagewesen auf dieser Dokumentation der Weltkunst. Angefangen sei mit der mittlerweile sogar im Flugsand des Allgemeinsprachguts, allem voran wirtschaftlicher Prosperität, fast so ein bißchen falsch verstandener Prosperos' Traum, aufgegangenen Begriffsblümchens revolutionär: die ganze Stadt zum Kunstwerk zu erklären. Ein wenig klingt das so alttönend wie das Gesamtkunstwerk wagnerscher Prägung. Auf jeden jeden Fall ist es so alt, wie Joseph Beuys tot ist. An seinen mittlerweile hochgewachsenen 7000 Eichen der bereits 1982 hunderttägigen documenta 7 reiben sich selbst ältere Kunstsäue, und auch danach waren beileibe nicht nur das Fridericianum oder die Orangerie beziehungsweise die Karlsaue Standorte der zeitgenössischen bildenden Künste. Das ist so erkenntnisreich alt wie der Ball rund ist oder der Mensch altert. Aber die Frau erklärt es zur Novität wie etwa die Dame aus Asien, die sich mit einem Hund einsperren läßt wie weiland Joseph Beuys mit seinem Coyoten. Es ist schon ein bißchen arg: eine Kuratorin, Museumsdirektorin und, allem voran, Kunsthistorikerin, die sich in selbst der jüngsten Geschichte ihres Bereichs nicht auskennt. Zwangsläufig fällt mir der duchampssche Flaschentrockner ein, der in den Achtzigern quasi als Multiple-Rad neu erfunden wurde, da die jungen Leutchen offenbar nicht nicht einmal Spuren der Historie kannten, Ein Student einer Lehranstalt darf das, wie einst zu mir, vielleicht gerade noch sagen: Ich lese nicht, ich mache Kunst. Jemand, der hauptamtlich einen Blick über das künstlerische Geschehen der Welt vermitteln soll, zu dem eigens dafür Hunderttausende anreisen, muß für solche Handlungsweisen eigentlich mit Platzverweis bestraft werden.

Da wäre die Stadt als solche eher noch ein Grund, denn sie hat durchaus ihre Reize, wenn man nur genau genug auch in die Seitenwege zu schauen bereit ist und, wie das bei mir der Fall ist, obendrein noch zu Gast bei Freunden sein darf, die diese Stadt glücklicherweise leicht ver-, wenn auch nicht überfremdet haben. Der geistigen Gundhaltung dieses am Rand des ehemaligen Zonenrandgebietes erwachsenen Menschenschlags muß man ja nicht unbedingt Gehör schenken, denn dann erführe man möglicherweise zu eindrücklich Kunst von allen. Ich merkte zwar an, Kunst sei, was gefiele. Aber ich war nie und bin auch nach wie vor nicht der Meinung, jedwedes Geschehen sei darunter zu verstehen. Solches Denken macht selbst die Artisten in der Zirkuskuppel ratlos. Da verblassen gar Regungen wie während einer der vergangenen Documenten, zu der Kunst und deren Verbindung zum Markt, die heilige Sponsorität ausgerufen worden waren, die Künstler selbst sich dem entgegentreten gezwungen sahen. Schon wieder so ein alter Hut wie der des großen Fußballphilosophen mit dessen Weisheit vom runden Ball.
Du Runder, der das Warme aus zwei Händen
im Fliegen, oben, fortgibt, sorglos wie
sein Eigenes; was in den Gegenständen
nicht bleiben kann, zu unbeschwert für sie,
zu wenig Ding und doch Ding genug,
um nicht aus allem draußen Aufgereihten
unsichtbar plötzlich in uns zu entgleiten:
noch unentschlossener: der, wenn er steigt,
als hätte er ihn mit aufgehoben,
den Wurf entführt und freiläßt —, und sich neigt
und einhält und den Spielenden von oben
auf einmal eine neue Stelle zeigt,
sie ordnend wie zu einer Tanzfigur,
um dann, erwartet und erwünscht von allen,
rasch, einfach, kunstlos, ganz Natur,
dem Becher hoher Hände zuzufallen.
Rainer Maria Rilke: Der Ball, aus: Die Gedichte. Der neuen Gedichte anderer Teil (1908), Frankfurt am Main 1993, Seite 585f.
Fußball ist keine Kunst. Jedenfalls nicht in der Form, die meistens gezeigt, dargestellt wird wie etwa durch den Sein oder Nichtsein verkündenden Hamlet an der Rampe der vierziger Jahre, nahezu ohne jede Bewegung. Kunst, wie sie seit einiger Zeit verstanden wird, aus der Tradition des den Machthabern entfernten Handwerks, setzt eine originäre Idee voraus beziehungsweise deren Umsetzung, meinethalben Kreativität. Das zu erkennen, dazu gehört Unterscheidungsvermögen. Das sei Geschmackssache, sagte der Affe und biß in die Seife. Es bedarf also eines einmal erworbenen Geschmacks, um zwischen Currywurst und Labskaus unterscheiden zu können.

Im gestern eröffneten Kassel wird offensichtlich Alles-ist-Kunst, globalisiertes Allerlei gezeigt, alles in einen Topf, Kultureintopf, wie mir seit einiger Zeit sich aus dem Umlauf dieser Kunst entfernenden Privatier noch in Betrieb befindliche Sachverständige erklärt haben. Das halte ich für geschmacklos wie einen nach altbekanntem, nichts wirklich Originäres zulassenden Geschmack, etwa den eines eingedeutschen Espressos, so etwas Verlahmtes wie ein Currygericht extra scharf aus Thailand, das in der mitteleuropäischen Großtiefkühlküche des Supermarktes für den Geschmack zusammengerührt wird, der einen anderen nicht kennt.

Kunst ist, was gefällt, habe ich geschrieben. Da muß ich etwas zurechtrücken: Sie ist keinesfalls etwas Beliebiges, das jedem gefallen muß und deshalb kulturpolitisch vereinheitlicht gehört. Es existieren immer noch eigenständige Gegenden mit Menschen unterschiedlicher Auffassungen von dem, was Kunst sei oder auch nicht. Ein wenig Bereitschaft zur Bewegung an andere Denk- oder Nicht-Orte möchte durchaus weiterhin sein. Doch da die mir dieses Jahr in Nordhessen nicht geboten zu sein scheinen, sich keine Erkenntnisse anbieten, die mein Denken erneuern könnten, bleibe ich an Ort und Stelle im Schaukelstuhl sitzen. Sicher, ich könnte ihn gleich vor den Ägypter stellen (lassen) wie all die Jahre, nach der Erschöpfung von den schier endlosen Rundgängen durch Kunst in Kassel, und mich vom immer herzlichen und flinken Schicklgruber quasi globalisiert bedienern lassen. Aber ich muß wirklich nicht, wie Frau Braggelmann das gerne nennt, mit der Sackkarre auf die Bühne transportiert werden. Ich bin nicht Bazon Brock. Bei dem alten Kunst-Rock'n'Roller geht's nämlich noch, da sieht sogar Mick Jagger alt aus.
 
So, 10.06.2012 |  link | (2946) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges



 

Eintagsmuseum Widdersberg

© Kuno Lindemann + Jean Stubenzweig. Die Maße der 1983 zur Ausstellung im Kunstverein Ingolstadt entstandenen Gemälde liegen jeweils bei circa 80 x 60 Zentimeter.
Ich bitte um Vergebung für die dürftige Abbildung; mir geht jedwede photographische Fähigkeit ab, nicht einmal fliehende Linien bekomme ich eingefangen und Fremdkörper oder den Blitz der Hilflosigkeit aus dem Bild gehalten.

Die anfänglichen achtziger Jahre in München, über das gesamte westdeutsche Land hatte sich bereits schwerer Kohl-Geruch verbreitet, über Bayerns Isar-Athen dräute mancherlei seltsames Kunsverständnis, oftmals arge Schlichtheiten, eingeführt von wortaufgeblasenen Einführungen, von Mündern gesprochen, aus denen bisweilen diensteinfältiges Pathos speichelte. Es gab allerdings auch ein fröhliches Durcheinander, von amtsbeflissenen Kulturbeamten gerne Chaos genannt. Mittendrin befand sich der sanft-mürrische, fast wortkarge, aber explosive Künstler Kuno Lindemann. Ich war sicher, er habe sich bereits Ende des genannten Jahrzehnts, spätestens jedoch in den Neunzigern endgültig von seinem Metier verabschiedet, da der große Erfolg sich nicht einstellen wollte. Nun habe ich allerdings dank Internet herausgefunden, daß es noch im neuen Jahrtausend mit ihm noch einmal eine Ausstellung in Pforzheim gab. Mich freut das sehr, und ich würde es begrüßen, raffte er sich noch einmal auf (eine Abbildung aus den neunziger Jahren in artnet).

So gesehen müßte eigentlich ein ganz anderer Text hier stehen, ausgelöst von einem Ausflug in mein Fundus-Wunderland, bei dem drei Manuskriptseiten sich aus einem Rahmen lösten, darin eines seiner ungemein energischen, energetischen, mit der Bürste gezeichneten Blätter, von dem ich fast mit Verblüffung festgestellt habe, daß es auf mich so kraftvoll wirkt wie vor etwa dreißig Jahren (das Bild füge ich nachträglch ein, sobald es mir gelungen sein sollte, es zu photographieren). So sei zunächst ein Fitzelchen aus dem Text von Gerhard Götze, dem seinerzeitigen Herausgeber des in München erschienenen und längst verblichenen Magazins NIKE zitiert. Es führt ein in die Arbeit dieses Malers, der bereits vor seinem Studium ein Meister war, ein Malermeister.
Häufig nahmen wir das Leben somnambul. Tschernobyl lag gerade zwei Tage zurück und unsere Schritte eilten nicht mehr »so« sorglos die Treppenstufen hinab. Plötzlich hatte uns die Sinnlosigkeit allen Tuns überrannt. Wir erwogen Äther; suchten spontan die nächstliegenden Apotheken auf, doch unser Gesichtsausdruck verriet die Absicht.

Kuno sprach von den drei Fischern in der Camargue, denen er eines Morgens begegnete. Sie hatten ihre neues Netz eingeholt, und statt reicher Beute an Fischen, war nur verklappter Industriemüll und Plastikrückstand darin. Gemeinsam befreiten sie das Netz von dem vermeintlichen Gut und brachten ihre Wut mit jedem neuerlichen Handgriff zum Ausdruck. Nach Beendigung machte sich Kuno als Strandläufer auf, schuf Ritzen in die Sanddünen und sammelte den umliegenden Zivilisationsmüll, von dem er annahm, ihn später künstlerisch zu verwenden. In Algen verwobene Plastikreste füllt er vakuumverpackt in Dosen; doch der Zeitlauf relativiert, schafft unversehens neue Impulse, die künstlerisch zu verarbeiten herausfordern.
Später zerstörte Lindemann Mauern, er skulpturierte mit dem Preßlufthammer. Die Photographien von Siegfried Wameser geben einen Eindruck von der Umgebung wieder, in der er teilweise tätig war. Und auf diese, nicht nur für mich unvergleichliche Weise schuf er skulpturale Gemälde.
Bedeutungsträger wird fortan die Rohheit, Sprödigkeit des Materials, wobei es nachgerade unterschiedslos bleibt, ob es Produkte des Abfallcontainers oder neue industriegefertigte Produkte sind. Sie werden amalgamiert und stehen für ein künstlerisches Synonym: »Kuno Lindenmann geht durch die Wände.« In dessen Vollzug entstehen Skizzen, aber auch eigenständige bildnerische Gleichnisse, Synergien zu den Installationen, die das Thema intonieren. Heftig aufgetragene Schraffuren in Teer oder grell bis verhaltenen Farben nehmen sich aus wie Applikationen einer Obsession. Die Widerspiegelung konstruktiver Emblematik in diesen Arbeiten verweist auf den Topos der Tradition.
Gerhard Götze in Nike
Diese Zustandsbeschreibung von Gerhard Götze einer bemerkenswerten Arbeit sollte hier also eher stehen anstatt dieses nachfolgenden Geplappers im Stil eines Kunstfunktionärs, der gut im Geiste von Herrn Kohl hätte schreiben können oder der der Herr Apotheker, ein Passauer Stadtrat namens Dr. Gottfried Schäffer, Ende der Siebziger auch stellvertretender Vorsitzender des «Vereins Europäische Wochen», selbst hätte sein können, der mir in den Siebzigern mal etwas von einer «europäischen Kulturübung» geistesfeucht ins Mikrophon hauchte. Dieses Textchen, das eigentlich ein Vorträgchen ist, ist tatsächlich aus dem jahrzehntelangen Versteck hervorgekrochen, um das damalige Ereignis wachzurufen. Es möge als späte Erinnerung für alle seinerzeit im oberbayerischen Dörfchen Widdersberg Anwesenden gelten, wo im großen Haus der Lindemann-Freunde einen Tag lang ausnahmlos Arbeiten von ihm gezeigt wurden und an dem es überhaupt recht fröhlich zuging. Sie dürfen sich diesen kleinen Beleg ins Familienalbum kleben, sollten sie via Internet draufstoßen.

Eine Einführung in die eintägliche, saubere Arbeit von Kuno Lindenmann

Meine Damen, meine Herrn, sehr verehrte Anwesende.
Zunächst einmal möchte ich Sie um Verzeihung bitten bezüglich meiner Abwesenheit. Leider ist mir bei meinem kürzlich gemachten Versuch1, die Kunst auf den Kopf der Kritik zu stellen, dieselbe auf denselben gefallen, wodurch sich eine gewisse Sprachlosigkeit, Sprachleere einstellte. Da wir jedoch über den schier unerschöpflichen Schöpfergeist aus dem Gott sei dank bereits erforschten Tiefen unserer technologischen Entwicklungen, genauer: über deren Resultate verfügen können, können wir meiner Sprachlosigkeit einen ihr adäquaten Partner zur Seite stellen, quasi als Sprachrohr der Sprachlosigkeit; die Elektronik, bisweilen Walkman genannt. So will ich denn Herrn Kohl2 meinen Dank für die durch ihn gewährte zumindest sprachliche Unterstützung aussprechen und Sie, verehrte Anwesende, um Verständnis für die hier unumgängliche Maßnahme, mein kurtes Grußwort, um das ich gebeten wurde, auf diesem Wege dennoch zu übermitteln. Denn ein fehlendes Grußwort bei einer Museumseröffnung, das wissen wir alle, würde das gesellschaftliche Gefüge dieses unseres Landes gefährlich ins Wanken bringen. Und das, was wiederum, wie sicherlich nicht nur ich meine, erwiese der Kunst unserer Zeit keinen Gefallen, kann sie doch nur in einem entsprechenden Rahmen sich zur vollen Blüte entfalten und somit eine Wirkung erzielen, die über das Maß einer gesellschaftspolitischen Irrelevanz eines zunehmenden Versuches ihrer Popularisierung hinausgeht. Kunst braucht ds Gepränge wirkungsvoller Präsentation, ansonsten sie im Sumpf der Nivellierungstendenzen desjenigen steckenbliebe, das sich in immer neuen Aktivitäten anheischig macht, in ihr, der Kunst, etwas anderes entdecken zu wollen als das, das muß an dieser Stelle einmal gesagt werden, als das, was sie nur sein kann, nämlich die Reflektion darüber, wie man sich in ihr und mit ihr ausruhen kann von unserem Alltag, der wiederum einzig in dem positiven Denken manifestiert ist, das sich sich an Leistungsfähigkeit orientiert.

Und ein herausragender Vertreter dieser Leistungsfähigkeit, die uns tagtäglich weltweit zu höherem Ansehen verhilft, ist der Künstler, mit dem in disem Museum an diesem heutigen einzigen Tage eröffnet wird — und auch wieder geschlossen: Kuno Lindenmann Nicht nur. daß er alltäglich unter Beweis stellt, daß sich die Definition des Begriffes Kunst aus der Conditio sine qua non Können rekrutiert, indem er als Malermeister in des Wortes wahrstem Sinne der Jugend unseres freiesten aller freien Staaten den Umgang mit der Materie lehrt, er nachgerade verifiziert, welche Unabdingbarkeit das Handwerk doch ist, will daraus große Kunst entstehen. Weil Kuno Lindenmann ein Könner unter dem Fixstern Handwerk ist, darf er Künstler sein. Doch damit nicht genug. Er leistet, wie wir am heutigen Tage alle sehen können, er leistet mehr, und zwar unserer Gemeinschaft wahrlich einträgliche Dienste. Kuno Lindemann ist, wenn ich e einmal so vereinfachend ausdrücken darf, ein sauberer Künster. Gäbe es ihn nicht, und das haben zahlreiche Ausstellungen bewieen, stünde der Begriff Privatinitiative im Verständnnis der Allgemeinheit nicht in einem solchen hohen Kurse. Oder, anders formuliert, die Müllabfuhren unserer Stadt und der umliegenden Kommunen hätten einen vielfach höheren Einsatz zu leisten bei der wesentlicher werdenden architektonischen Vergagenheitsbewölltigung. Gilt es doch aufzuräumen damit, was uns an architekturideologischem Ballast bald über den Kopf gewachsen wäre. Überall dort, wo die Monumente doktrinärer Baumaßnahmen der Vergangenheit, eine Glätte, die uns Klarheit suggerrieren soll, eliminiert werden, trägt Kuno Lindemann kraft seiner fundierten Materialkenntnisse dazu bei, Platz zu schaffen für Bauwerke, die vom guten Geist des Gestern durchweht sind. Und in aller Konsequenz hält er es dabei mit Hippokrates beziehungsweise Johann Wolfgang von Goethe: ars longo vita brevis — die Kunst ist lang, das Leben kurz, das will heißen, er scheut auch nicht davor zurück, extremen Kontakt mit den Matrerialien aufzunehmen, die ihn bewegen und die uns, in bildhaerische Form gebracht, hierher zu kommen bewegt haben. Ein Handwerker fürwahr, nimmt er für seine Arbeit nicht nur den Kopf zuhilfe, sondern auch seine Gliedmaßen. Zuweilen, das hat er unlängst bewiesen, stellt er gar sene Gesundheit unter das Primat der künstlerischen Aussage, die einzig darauf abzielt, unser architektonisches Dasein zu schmücken.

Ein Künstler wie Kuno Lindemann, der solche kreative Leistung auf den allgemeinverständlichen Nenner Alltäglichkeit zu bringen vermag, der Kunst und Körper in die Einheit zwingt und nicht, wie so häufig, aufoktroyierten Zwängen schieren Intellektualismusses unterliegt, der hat es wahrlich verdient, in der gewiß nicht alltäglichen Idee eines Eintagsmuseums personifiziert zu werden.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


Anmerkungen
1 Bezug auf Rudi Dutschke, dessen Buch Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen 1974 bei Wagenbach erschienen war.
2 Als Dank für dessen immer wärmende Worte, über die wir damals ständig gackerten.

 
Do, 31.05.2012 |  link | (2589) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges



 

Ei•n

Von einer stereoskopischen Untersuchung habe ich vorgestern berichtet, davon erzählt, in meinem Fundus befinde sich auch die graphische Darstellung des Hologramms Ei•n von Harald Mike Mielke. Auch das Original befindet sich in meinem Besitz, doch das ist nicht abbildbar. Deshalb sei hier die zeichnerische Nachstellung gezeigt. Die beiden im Blatt der Fleischeslust gedruckten Texte dazu habe ich auch gefunden. Ich habe mich schließlich eines Tages entschlossen, kein überflüssiges Papier mehr aufzuheben, weshalb ich das meiste ins Zeitalter der Digitalisierung überführt habe. Da muß ich zwar auch ziemlich suchen, weil ich mir meistens nichts gemerkt habe, unter welcher Rubrik beziehungsweise unter welchem Titel ich das abgelegt habe. Aber meine in Parade stehenden apfeligen Rechenmaschinen haben glücklicherweise jeweils eigene Brillen namens Spotlight; nur das EiBook nicht, das ist mit zwölf Jahren zu alt. Die drei haben mich erhellt. Und so gebe ich gut dreißig Jahre nach Erscheinen zum besten, was ich unter Seltsamkeiten zu verbuchen hätte, da es doch mit einer seltsamen Einschätzung daherkommt, die ich 1978 von mir gegeben habe: «Film und Photographie haben ausgedient. Man wird sie bald nur noch in Museen und auf Kunstauktionen finden, als Relikt einer optisch primitiven Zeit.» Ich müßte ohnehin eine Rubrik meiner größten Irrtümer einrichten, schließlich habe ich in meinen Prognosen mehr als einmal ziemlich daneben-, also auch vorbeigeschossen. Aber zunächst soll es um Ei•n gehen, was soviel wie Ei unendlich bedeutet und das mir nach wie vor gefällt, obwohl alles anderes als ein Technofix bin und der Ausbrüter dieses Eies längst Weinbauer geworden ist, was ich zu den anständigen Berufen zähle, beziehungsweise mittlerweile gar in der altersbedingten Hängematte eines wohlbehaltenen Erbes schaukelt. Man genieße es also oder backe sich eins drauf.

In Augenhöhe hängt eine Glasplatte. Sonst ist nichts zu erkennen. Doch dann schaltet Matthias Lauk einen über der Platte montierten Strahler ein, und plötzlich sind da drei, vier und mehr Eier in grellem Grün, das nach oben in Blau übergeht. Dreht man den Kopf, dann wird eine scheinbar unendliche, wiederum die Farbe wechselnde Kette von Eiern sichtbar. Sie schwebt frei in der Tiefe des Raums.

Ei•n heißt die dreidimensionale Lichtplastik des Münchners Harald Mike Mielke, und Holographie heißt die Technik, die den Eiersegen ermöglicht. Rund dreißig Exponate werden jetzt im Museum für Holographie und neue visuelle Medien ausgestellt.

Mit der Gründung im Dezember vergangenen Jahres machte der schwäbische Wahl-Kölner Lauk für bundesdeutsche Kunstinteressenten den Zugang zu einem Medium frei, das von einem Großteil der Kritik immer noch naserümpfend in den Bereich der phantsasievollen SpinnerEi•n verwiesen wird. Um die Ablehnung zu erklären, weist der gelernte Philosoph Lauk gern auf die verkümmerte Wahrnehmungsfähigkeit hin: Mit zwei Augen im Kopf kann man zwar räumlich sehen, doch die Gewohnheiten sind durch das Betrachten von Photographien, Filem und Fernsehbildern auf zweidimensionalen Sehen rediziert. So gibt es in Pulheim immer wieder Museumsbesucher, die zwar wie gebannt vor einer Platsik stehen, aber nicht, um sie herumspazieren, um so neue An- und Einsichten zu ergattern.

Holographie ist so kompliziert, wie das Wort klingt. Die scheinbar frei im aum schwebendsn Lichtplastiken werden auf Spezialphotoplatten aufgenommen. Wenn Sonnen-, Kunst- oder Laserlicht auf das entwickelte Bild fällt, entsteht für den Hologramm-Betrachter der Eindruck, er könne das Objekt wie eine Plastik anfassen.

In Lauks Museum ist die noch junge Geschichte der Kunstform lückenlos dokumentiert. Eine ungewöhnliche Rarität: das beim US-amerikanischen Flugzeughersteller McDonell-Douglas entwickelte Pulslaserhologramm von 1972. Es simuliert eine Szene unter Wasser: Aus dem Rest eines Schiffswracks schwimmt ein Froschmann heraus. Im Vordergrund begutachten zwei Taucher einen tönernen Krug, während im Hintergrund ein Mann mit einer Lampe hantiert. Die meisten Exponate der Dauerausstellung sind jedoch jüngeren Datums und in der Regel statt mit Laser- bei normalem Weißlich zu rekonstruieren.

Die meisten Holographiker haben sich in dem neuen Medium aus verwandten Kunstsparten genähert. Mielke, der einzige Deutsche, der das kostspielige Kunsthandwerk in einer eigenen Werkstatt betriebt, kommt von der Photographie. An seinem Ei•n arbeitete er fast ein Dreivierteljahr, bis es seinen Qualitätsansprüchen genügte. Finanziell unterstützt wurde die Herstellung des ersten vervilfältigten Hologramms (üblich sind Unikate) von der Roth-Händle-Edition, die es nun zum Preis von 1.150 Mark auf dem Kustmarkt anbietet.

Der kreative Ableger der Tabakindustrie uterstützte auch Matthias Lauk bei Ausbau seines Museums. Die Sammlung ist unzwischen groß genug, um auch in anderen Museen gezeigt werden zu können. Doch solange sich kein Förderer findet, bleibt die Schau ein exklusives Spektakulum. Die größte Entdeckung seit der Lichtbildnerei darf vom großen Publikum immer noch entdeckt werden.


Playboy am Abend, Heft 11, 1980, S. 66
Abbildung: © Frank N. Stein 1980

 
Fr, 25.05.2012 |  link | (4504) | 17 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges



 

Die Quintessenz des Buches

Vor ein paar Minuten in meinem Elektrobriefkasten gelandet, klebe ich Freund und freudvoller Besitzer einiger Exemplare des Künstlerbuches die Einladung von Rosa M Hessling gerne auf meine kleine Litfaßsäule:

Sehr geehrte Damen und Herren,
wir möchten Sie herzlich zur Eröffnung der Ausstellung:

Blätterwald oder Die Quintessenz des Buches




am Freitag, dem 30. März 2012, um 19 Uhr in den Projektraum des Deutschen Künstlerbundes, Rosenthaler Straße 11, Berlin-Mitte einladen.

«Das Künstlerbuch erschließt sich in der Sequenz erst in der Zeitdimension. Der Unterschied zum herkömmlichen Buch besteht einzig und allein darin, daß es sich hier um eine Sequenz des Bildens handelt und daß die Gesamtheit Künstlerbuch ein eigenständiges Werk darstellt.»
aus: Künstlerbücher, mehr als fünf Sinne: ein Gespräch mit Guy Schraenen, in: Lutz Jahre: Unlimited Edition, Salon-Verlag, Köln 2001, S. 276

Im Frühjahr lädt der Deutsche Künstlerbund seine Mitglieder und Gäste ein, Künstlerbücher in eine Studioausstellung einzubringen. Bücher beschäftigen Künstlerinnen und Künstler schon immer; das Künstlerbuch stellt eine eigenständige Gattung in der bildenden Kunst dar. Die Bandbreite und Erscheinungsform von Künstlerbüchern ist groß: mit Text, ohne Text, mit Farbe, ohne Farbe, als Unikate oder Multiples, in kleinen oder größeren Auflagen, in Buchform, als Blättersammlung in einer Schachtel, als Leporello oder auch ganz anders — aber immer mit dem Verweis auf das Buch.

Die Anfänge des Künstlerbuches liegen in der Verknüpfung von bildender Kunst und Literatur (z. B. William Blake, Edouard Manet, Pierre Bonnard, Hermann Struck). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts experimentieren zunehmend Künstlerinnen und Künstler — allen voran die Dadaisten — mit dem «Objekt» Buch, wobei nicht nur die ursprüngliche Intention eines Buches, sondern vor allen Dingen die Erscheinungsform Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung wurde. Dabei wird die klassische Form des Buches aufgebrochen, moduliert, verändert und modifiziert.

Das Ausstellungsprojekt Künstlerbücher ist Aufforderung und Anregung wie Sammlung zugleich, um dem Betrachter einen eigenen Blick auf die Möglichkeiten und das Facettenreichtum von zeitgenössischen Künstlerbüchern zu geben. Eine Besonderheit der Ausstellung ist sicherlich, daß das Blättern in vielen der Werke möglich ist.

Konzipiert wird die Ausstellung von Carola Willbrand (geb. 1952) und Katharina Jesdinsky (geb. 1972). Die beiden Künstlerinnen arbeiten sowohl inhaltlich als auch formal sehr unterschiedlich: Carola Willbrand arbeitet vorzugsweise mit der Nähmaschine. Auf Materialien des täglichen Gebrauchs (z. B. Tapeten) gestaltet sie Zeichnungen und Texte über das tägliche (Frauen-)Leben. Diese Buchformate können durchaus performativen, skulpturalen Charakter einnehmen. Katharina Jesdinsky gründete 2005 einen kleinen Verlag für Künstlerbücher und eine Werkstatt für Buchdruck (Umtriebpresse, Verlag für Künstlerbücher und Editionen).

Teilnehmende Künstlerinnen und Künstler:

Jochem Ahmann | Susanne Ahner | Bettina von Arnim | Monika Bartholomé | Johanna Bartl | Horst Bartnig | Christoph Bartolosch | Matthias Beckmann | Hella Berent | Georg Bernhard | Monika Brandmeier | Silvia Klara Breitwieser | Claudia Busching | Karlheinz Bux | Costantino Ciervo | Bignia Corradini | Joachim Czichon | Heinz H. R. Decker | Claudia Desgranges | Madeleine Dietz | Stefan Eberstadt | Dörte Eißfeldt | Siddhartha Y Fongi | Helga Franz | Stephan Fritsch | Anett Frontzek | Bernhard Garbert | Rolf Gentz | Johannes Gervé | Rolf Giegold | Harald Gnade | Karl-Heinrich Greune | 431art – Torsten Grosch | Rita M. W. Große-Ruyken | Marion Gülzow | Barbara Hammann | Ingrid Hartlieb | Heinz Hausmann | Susanne Hegmann | Ulrich Heinke | Marikke Heinz-Hoek | Thomas Helmbold | Dietrich Helms | Bernd Hennig | Mario Hergueta | Charlotte Herzog von Berg | Rosa M Hessling | Setsuko Ikai | Nikola Irmer | Constantin Jaxy | Birgit Jensen | Katharina Jesdinsky | Horst Egon Kalinowski | Petra Kasten | Joachim Peter Kastner | Annebarbe Kau | Barbara Keidel | Ulrike Kessl | Jean Kirsten | Reinhard Klessinger | Wolfgang Kliege | Beate Klompmaker | Doris von Klopotek | Bernd Klötzer | Kirsten Krüger | Ulrich Langenbach | Jürgen Liefmann | Julia Lohmann | Reiner Maria Matysik | Uwe Meier-Weitmar | Katharina Meldner | Nanne Meyer | Reiner Nachtwey | Susanne Nickel | Klaus Noculak | Karin Radoy | 431art - Haike Rausch | Bettina Rave | Jane und Werner Reichhold | Myriam Resch | Dagmar Rhodius | Rolf Rose | Ulrike Rosenbach | Susi Rosenberg | Karin Sander | Hella De Santarossa | Nora Schattauer | Sigrid Schewior | Birgit Schlieps | Andreas Schmid | Klaus Schmitt | Michael Schoenholtz | Eva-Maria Schön | Johanna Schwarz | Helmut Schweizer | Kerstin Seltmann | Roger David Servais | Robbin Ami Silverberg | Dietlinde Stengelin | Roland Stratmann | Markus Strieder | Volker Thies | Myriam Thyes | Alexandra Trencséni | Wolfgang Troschke | Maria Vedder | Klaus Vogelgesang | Bernd Völkle | Herbert Wentscher | Hans Wesker | Suse Wiegand | Carola Willbrand | Barbara Wille | Andrea Zaumseil | Bernd Zimmer | Isabel Zuber

Eröffnung: Freitag, 30. März 2012, 19.00 Uhr
Dauer: 30. März bis 1. Juni 2012
Öffnungszeiten: Dienstag – Freitag, 14.00 – 18.00 Uhr
und nach Vereinbarung
Ort: Deutscher Künstlerbund – Projektraum
Rosenthaler Straße 11 | 10119 Berlin
Telefon: +49 (0) 30 26 55 22 81
Deutscher Künstlerbund
 
Mi, 21.03.2012 |  link | (6530) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges



 

Hoch auf dem Grünen Hügel

Von der Salzburgisierung der Kunstvermittlung am Beispiel Beuys

Angesichts der Hilflosigkeit, die sich allenthalben in unserem Medienpluralismus (oder auch: innerhalb unseres populistischen Geraunes) breit macht, ließe sich sagen: Die nach Breitenwirkung schielende Kunstkritik läuft immer mehr Gefahr, sich von sich selbst zu entfernen, sich mit dem Bauch zu äußern; anders gesagt, sich ihrer eigentlichen Bedeutung zu entledigen: der Beurteilung. Die Kunstkritik beurteilt immer weniger, ergeht sich entweder immer häufiger in mehr oder minder wohlmeinender Beschreibung unter Zuhilfenahme von sprachlichen Allgemeinplätzen, wobei allzu oft die Journalistenpoesie kreist und ein Lüftlein gebiert. Auf der anderen Seite, der der informierteren, aber deshalb noch lange nicht wissenenden Minderheit, durchschleicht sie ihr Opfer in qualvoll schwadronierenden Be- und Umschreibungen, mit denen die Autorinnen und Autoren oftmals eher ihr akademisches Dasein zu belegen trachten, dabei allzu häufig der Faden der Ariadne aus Gummi zu sein scheint, zieht er sich doch schier endlos durch das ‹Labyrinthische› eines Kunstwerkes, weil den Urhebern darob die Orientierung abhanden zu kommen droht.

Positionen werden in der öffentlichen oder auch offiziellen Kunstkritik — also nicht in den Weblogs, die ohnehin meist von persönlicher, auch extrem subjektiver Natur geprägt sind — nur noch selten bezogen, fundierte Stellungnahmen kaum mehr geäußert. Der Platz des Allgemeinen, auf dem die Mehrheit sich wohlig aneinander kuschelt, bietet eben Sicherheit; immer mehr warten lieber ab, was andere dazu festgehalten haben. Die Aufgabe der Kunstkritik, nämlich die, das Kunstwerk in dessen Kontext zu erfassen, zu beurteilen und vermittelnd erläuternde Informationen zu einer Hörer- oder Leserschaft zu transportieren, scheint einem Phänomen geopfert zu werden.

Es ist ein Phänomen, in dem — es scheint mir erheiternd, gerade in der Zeit der Versuche, jedweden Ansatz marxistischer Theologie in den Orkus der offensichtlich endgültig verblichenen Moderne, was auch immer das sein mag, stoßen zu wollen, diesen Namen zu nennen: Herbert (nicht Ludwig) Marcuse. Dessen Bewertung der bürgerlichen Kultur scheint in exorbitanter Weise auf: nämlich als eine affirmative, die Lebenswelt ästhetisierende. Gerade wird wohl im Zusammenhang mit der mittlerweile alles beherrschenden oder in ihrer Einfallslosigkeit alles Alte wiederbelebenden Mode, also der Markt, die Diskussion der siebziger Jahre um den Ich-Bezug, die Ich-Suche, vor dreißig Jahren auch Ich-Seuche genannt, wieder hochgefahren. Man möchte meinen, die Avantgarde wäre zugange. Die Halbwertzeit des Wissens ist zur Führung des Volkes auserkoren worden. Die Rezeption der Kunst schlägt quer durch weite Teile der gesellschaftlichen, heutzutage sich gerne selbst als gebildet bezeichnende Mittelschicht bisweilen abenteuerliche Kapriolen in ihren ästhetizistischen Äußerungen, die das Kunstwerk aus seinem Umfeld, aus seiner Ursache herauslösen und daraus eine anbetungswürdige Reliquie machen, obwohl sie, die Bewunderer der Religion als solcher längst abgeschworen haben, aber so ganz ohne Gebet und Heiligsprechung dann doch nicht leben können. Damit wären wir, wenn auch unter anderen Voraussetzungen, schließlich doch dort angelangt, was einst die, vielleicht gar nicht so böswilligen, Auguren als antiaufklärerisches Schreckensbild gemalt hatten: daß die Künste, insbesondere die bildende Kunst samt der wiederbelebten genialischen Umgebung in ihrer partiellen Eigenschaft als mythisches, mystisches oder einfach rätselhaftes Chiffre auf die Ebene der Ersatzreligion gehoben würden.

Wesentlich dazu beigetragen haben der Der Makler und der Bohémien, um eine der bekannt ironischen Formulierungen von Hans Platschek aus den siebziger Jahren heranzuziehen. Platschek war alles andere als ein Freund des Schaffens von Joseph Beuys. Dessen konzeptionelles, aus Urinstinkten herrührendes Denken war ihm ein Greuel. Wir waren darin uneins, denn ich sah die Kunst immer im gesamtkulturellen, also auch historischen Zusammenhang, den ich mit Beuys teilweise hergestellt sah, für mich war (und ist) er ein Synonym deutscher Kunst, wenn auch aufgerieben vom allfälligen Globalisierungsgetriebe. Für Platschek hatte die Autonomie des jeweiligen Kunstwerkes Vorrang, wobei er eine interdisziplinäre Betrachtungsweise durchaus zuließ. Die Wertung des einzelnen Bildes mag hier unbeachtet bleiben, zumal die beuyssche Kunst- und damit Kulturprojektion längst auf den Kopf gestellt wurde und in dieser verkehrten Form dazu beigetragen hat, das Gesamte zurückzudrängen zugunsten der Solitäre. Ich meine Platschek allerdings so gut gekannt zu haben, daß er sich heutzutage, über zehn Jahre nach seinem Tod, vor Beuys stellen würde, um ihn vor jenen Freunden zu schützen, die aus ihm ein Denkmal prosperierender Kunst gemacht haben, ihn quasi auf dem Grünen Hügel von Salzburg geschleift haben.

Auf Joseph Beuys komme ich beispielhaft zurück, auf dieses Beispiel aus der bereits Geschichte gewordenen künstlerischen Zeitgenossenschaft, an deren Umkehrung die Kunstkritik oder deren Rudiment ein gerüttel' Maß Anteil hat, weil sie sich überwiegend der Mode angepaßt hat und Wertungen vornimmt, vor denen seit den Sechzigern und bis hinein in die Siebtiger, aber auch noch in den Achtzigern gewarnt worden war: Die Wa(h)re Kunst. Beuys führt zwar nicht die Preisliste an, das ist Gerhard Richter; der im übrigen glaubhaft über diese Entwicklung den Kopf schüttelt, gestaltet schließlich er nicht die Preise, sondern der Markt. Aber Beuys' Zeichnungen, die er vor und in den Anfängen seiner Lehrtätigkeit an der Düsseldorfer Kunstakademie ins Volk warf wie Kamelle im Dauerkarneval oder teilweise, jedenfalls die kleineren, für fünf Mark verkaufte, weil Kunst eben nicht teuer sein sollte, wechseln heutzutage kaum unter zwanzigtausend Euro die Besitzer. Beuys steht nach wie vor als Syonym für die bildende Kunst der Aufklärung: für alle. Wer beginnt, sich für sie zu interessieren, aus welchen Gründen auch immer, sei es, daß die Schöne Kunst ihn gestreift hat wie eines Frauenkleides Saum oder meint, mit ihm in ein neues Wirtschaftswunder einsteigen zu können, der wird von diesem einstigen, ursprünglichen Erneuerer nicht unberührt bleiben. Selbst gänzlich Unbeteiligten ist sein Name schon einmal irgendwie untergekommen, und sei es verbunden mit der Frage Und das soll Kunst sein? Wahrscheinlicher ist jedoch der Kontakt zu ihm über die volksbildenden Halbsätze: Jeder Mensch ist ein Künstler, Wer nicht denken will, fliegt raus. Man konnte sagen und schreiben, schreiben und sagen, was man wollte: diese sinnentstellende Zitierei war nicht auszumerzen. Sie war, trotz häufiger Ablehnung jugendlicher Definitionen, auch unter sogenannten Erwachsenen, besonders gerne unter pädagogisch fortschrittlich orientierten, die auch für die «Vereinfachung» von Sprache mitverantwortlich zeichnen dürften, Kult geworden. Doch das ist nicht weiter verwunderlich, waren sie als Sprüche-Kultur doch längst durch Kunstpostkartendruck geweiht und in den Museums-Shops verkauft worden. Es ging zunehmend um den Charakter der Vermarktung, Inhalte kamen unter die Räder von Slogans, die Schlachtrufe der Produktwerbung, die seit den Neunzigern geradezu ungeheuerliche Ausmaße annahm. Zwangsläufig kamen sie auch im Internet weltweit in Umlauf. In den siebziger bis weit in die achtziger Jahre witzelten wir, immer ein Massenblatt im Visier, das mittlerweile offensichtlich auch in höchsten Geisteswelten als kulturell meinungsbildend geschätzt wird: Millionen von Fliegen können nicht irren.

Bereits am Tag des Todes von Beuys habe ich als öffentlich-rechtlicher Nachrufer, zu Zeiten, als ich «Kulturbeutel», wie mich der Redaktionsleiter des aktuellen tagespolitischen Magazins gerne nannte, wenn er mal wieder wütend geworden war, weil ich auf die mir vertraglich zugesagte Sendezeit bestand, in einer Zeit also, in der die ausführlich erklärte Kunst noch in die Nacht verinsuliert war und Namen von Privatgalerien tabuisiert waren wie der Begriff Prostitution oder das Wort Scheiße, seit je also habe ich begonnen, darauf hinzuweisen, was er nie gemeint hatte: Jeder Mensch sei Maler oder Bildhauer et cetera, sondern immer: Jeder Mensch habe kreative Fähigkeiten, die er innerhalb der Gesamtheit des Lebens einbringen könne beziehungsweise solle. Und dieses Wer nicht denken will, fliegt raus, das von manch einem immerhin noch, wissend oder ahnend, vor allem auf seinerzeit den Verkaufserfolg versprechenden ‹Kunst›-Postkarten, mit ahnungsvollen Auslassungspünktchen ... versehen wurde, bezog sich schlicht auf einen Studenten, der nicht begriffen hatte, was Beuys meinte, als er sich schlicht in Rage geredet hatte: Jeder Mensch ist ein Künstler, aber du bist keiner. In anderen Worten: Jeder mag etwas von Kunst verstehen, aber du siehst sie erst gar nicht. Das hat seine Ursache mit Sicherheit darin, daß Kunst, siehe oben, als mythisches, mystisches oder einfach rätselhaftes Chiffre, auf die Ebene der Ersatzreligion gehoben wird, in der die Aufklärung als Widerpart der Romantik dasteht, von der heutzutage allerdings nur noch das klägliche Überbleibsel geblieben ist, das in Dinner at candlelight oder Valentinstag aufgeht. Beuys hingegen, das weiß mangels ästhetischer Schulung kaum jemand, war einer der kämpferischen Romantiker, die es durchaus mit den anderen weltgeistig illuminierten Größen aufnehmen konnten.

Hier tut sich unter anderem auch das Dilemma auf: das ganz offensichtlich zunehmende Spezialisiertwerden bereits durch die curricularen Systeme aber auch aufgrund des enormen Zeitdrucks, der nicht zuletzt durch die wirtschaftsfreundliche Nachplapperei, den Aktualitätenwahn der Medien entsteht. Das meint auch den Konkurrenzdruck der Journalisten, die auch aus beruflichen Nöten aus allen erdenklichen Bereichen zur Kunst stoßen oder dorthin gesandt werden, weil es sich ohnehin nur noch um einen Event handelt. Die Berichterstattung läßt sich sich vor den Karren der eigenen Hilflosigkeit spannen und bedient sich der vorformulierten Sprache des Hofes. Die eigene ist ihr genommen worden. Die Kunstvermittlung hat aber als erfahrene Erkunderin sich vor die vorderste Reihe zu begeben und dort die Feder, die in der ruhigen Nachbetrachtung gewetzt zu sein hat, zu schwingen; das will heißen: aus der Gesamtsumme der Informationen Herausgefiltertes, in die Wesentlichkeit der Aussage Gebrachtes in die hinteren Reihen zu transportieren. Die Kritik hat also als Vermittlerin integrierter Bestandteil der künstlerischen Avantgarde zu sein und nicht — die Zeiten haben sich nun mal geändert — wie weiland im 19. Jahrhundert Katalysator einer sich gebildet gerierenden Gesellschaftsschicht, die damit rechnet, daß sich auf Dauer die Seele als Organ des Kunstverstandes in einem geheimnisvollen Prozeß und trotz aller Irrungen durchsetzt.

Irrungen oder das Gegenteil von Avantgarde: Für viele sehr weit hinten, also arrière-garde, in der Nachhut, um im Militärischen zu bleiben, aber für mich eben nicht so lange zurück liegt das Beispiel, das heute noch Gültigkeit haben darf, weil es (auch) die Fehleinschätzung des in den falschen Film geschickten Experten belegt: die Debatte um den Ankauf der beuysschen Arbeit zeige deine Wunde durch die Münchner Städtische Galerie im Lenbachhaus. «Nicht das Gebastelte», schrieb der nicht nur in München angesehene Theater- und (ergo) Kulturkritiker Armin Eichholz, «ist das Ärgernis [...], sondern der schmuddelig investierte Intellekt.» Eichholz hätte es damals, 1980, lieber gesehen, «der Beuys-Rummel wäre eine grandios aufgezogene Satire von Pardon, und das ganze endete nicht, wie freilich zu erwarten, in einem neuen Kapitel vom Wesen der deutschen Kunst, sondern einem Weltgelächter für den bisher erfolgreichsten Narren des Kunstjahrmarktes».

Einmal davon abgesehen, daß Armin Eichholz als führwahr gebildeter Kunst- oder auch Kulturkritiker die Rolle des Narren bei Hofe — möglicherweise rhetorisch-manipulativ — nicht näher erläutern wollte: Zu einem Weltgelächter wurde Beuys nie, erfolgreich indessen sehr wohl, jedoch nicht als Narr eines Jahrmarktes, sondern, zu Lebzeiten, als Künstler, der, ebenfalls zu Lebzeiten, auch auf dem Markt erfolgreich war, obwohl er in seinen Intentionen damit alles andere als etwas am Hut hatte.

Beuys hat selbst, wie oben erwähnt, immer versucht, die Preise für seine Arbeiten so niedrig zu halten, daß sie, im Kontext seines anderen Kunstbegriffes, für jeden erschwinglich waren. Genaue Beobachter des sich ankündigenden Marktes haben, als Eigentümer oder auch als Besitzer Beuysscher Arbeiten diese wohlweislich markttypisch verknappend zurückgehalten. Einer meiner Bekannten verfügte gar über ein großes Paket mit Zeichnungen. Aber ihm war an ihnen, nicht am Marktwert gelegen; über zwei Jahrzehnte hatte er sie leidenschaftlich gesammelt und gebündelt. Heute allerdings erfährt beispielsweise das Multiple als einstmals verklärender Träger des ursprünglich demokratrischen Gedankens vom vielfach zu verbreitenden Kunstwerks eine neuerliche, diesmal jedoch alleine vom Monetären geprägte Renaissance. Für fünfundvierzig, es mögen auch fünfzig Mark gewesen sein, aber nicht teurer, wollte Beuys eine im Remscheider VICE-Verlag angebotene multiplizierte Arbeit verkaufen, was in einer Auflage von 12.000 Exemplaren auch geschah. Kurz nach seinem Tod ging dieses Holzkästchen auf einer einen unvergleichlichen (Jahr-)Markt ankündigenden Auktion für über 70.000 Mark über den Tresen; heute wird die Intuitionsbox für einen «Preis auf Anfrage» immer noch und immerhin für tausend Euro und mehr verkauft. Auf jeden Fall hatte der Markt den Avantgardisten gefressen. Damit hatte sich auch eine Entwicklung abgezeichnet, die die Ausstellungspolitik der Museen verändern sollte. Waren die Museen zuvor darauf konzentriert, was in der Natur ihrer Konstruktion liegt, konservativ (im Sinne von conservare, also: bewahren) zu agieren, hielt zusehends die zeitgenössische Kunst Einzug in den Musentempel. Die Ankäufe durch die Museen im Bereich der Gegenwartskunst irritierten kaum mehr (mittlerweile auch nicht mehr die Verkäufe); wenn nicht ein Groß-Händler ohnehin den «Vorzug» bekam oder solch ein gutes Stück beim Auktionator über den Tresen ging, getrieben von einem telephonischen Preisflüsterer, der sich oft genug als Aktienhändler erwies. Das mag auch an den immer kürzer werdenden Intervallen liegen, innerhalb denen die Be-, manchmal auch Aufarbeitung der Moderne, weiters Postmoderne ff. oder auch, analog dieser Entwicklung, der neuerlichen Götzenanbetung Post-Postmoderne geschieht: Halbwertzeit des Wissens.

Der Museumsbedienstete namens Konservator heißt zwar immer noch so, doch seine Tätigkeit als Wissenschaftler gerät seit den Achtzigern zusehends ins Hintertreffen, nicht zuletzt angesichts der eben frisch von der Kunstakademie oder von sonsther Gekommenen, die endlich ihre Retrospektive haben möchten. War die Kunstkritik zuvor, im Hinblick dessen, was in Kunstvereinen, später in Kunsthallen ausgestellt wurde, Projektion zukünftiger Museums-Inhalte, hatte sie sich dann, jetzt als Bremser zu betätigen, da ihr die Urteilskraft abhanden gekommen war. Ich habe dabei keine Erhaltung des Hierarchischen zum Ziel. Mir ist lediglich die einstmals bedächtige Entwicklung verloren gegangen. Zu viele junge, besser: noch nicht bekannte Künstler versuchen, Stationen schlicht zu überspringen. Manch einer wird dabei von Kunstverkäufern zum König ausgerufen. Dieser Atemnot Tribut zollend geht die Kunstkritik, eine weitere Folge, nicht mehr ins Atelier (viele behaupteten voller Stolz, sie seien nie dort gewesen), sondern in die Galerie; wo sie das eine ums andere Mal die Konservatorin trifft, die sich gerade hat von der Galeristin erzählen lassen, wohin de Zoch jeht.

Galerien gibt es seit den neunziger Jahren bald mehr Boutiquen in den Siebzigern. Der Preis für eine künstlerische Arbeit eines jüngeren Künstlers wird seit langem kaum noch von ihm selbst bestimmt. Den übernimmt die Galerie. So der Künstler denn eine findet, die sich seiner annimmt. Meistens lautet die Absage: Paßt leider nicht in unser Programm. Das Programmatische an diesem Programm der Nachfolgerinnen der Boutiquen ist jedoch allzu oft das rein Markttaugliche. Und markttauglich ist nunmal das Massentaugliche. Davon abgesehen, daß die sogenannten Kleinen da ohnehin nicht hinreichen, aber häufig gerne so tun, als ob sie's täten, weshalb sie sich an der Dogmen der Päpsten der Religion Markt orientieren. Wie der Journalismus eben, der ohnehin zum verlängerten Arm der Öffentlichkeitsarbeit von Anzeigenkunden degeneriert zu sein scheint. Wer für bunte Blätter schreibt, der darf sich auch für fähig halten, ins Interview mit dem größten, weil teuersten aller zeitgenössischen Künstler zu gehen, es wird ohnehin nur noch als Event wahrgenommen. Da verwundert es nicht weiter, daß es nicht mehr zu fundamentalen Aussagen, sondern fast nur noch zu allgemeinplatzigen, zu jedermans Schönschreibereien kommt. Der einst tiefschürfende oder auch vielsagende Jedermann ist zum Musical verkommen, zur Schmierenkomödie, zum sogenannten Volkstheater.
 
Di, 21.02.2012 |  link | (1970) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges



 

Eitle, von Kunstpostkarten kodierte Blicke

Die großen Kunstbetrachtungen sind ungebrochen en vogue. Große Meister und Epochenausstellungen (eben schnell noch hin!) haben nach wie vor enormen oder gar erhöhten Zulauf. «Du diskutierst gerne über: Kunst und Künstler?» heißt es in internetten Portalen, seit die Entartung der Kunst1 zur Ersatzreligion kapitalen Werteverständnisses vollzogen wurde. Aber sind die Besucher dieser Beschaulichkeiten informierter als vor dreißig Jahren? Wissen sie mehr über die Bildnisse, vor denen sie mehr oder minder staunend bis ehrfürchtig verharren — oder sie eben, wenn das Platzangebot es zuläßt, durchfliegen, weil es mittlerweile ein Muß geworden ist wie einst der sonntägliche Kirchgang, von dessen elterlichem Joch man sich befreit hat? Kirche, die hat früher alles bewegt in der Kunst. Es hat den Anschein, es erführe eine Rénaissance. Ich habe das hier zwar bereits mehr als einmal thematisiert, bin jedoch, aufgrund meiner derzeitigen Beschäftigung mit der Vanitas, quasi zwangsläufig in den dicken, kulturscheinschwangeren Katalog Von Greco bis Goya. Vier Jahrhunderte spanische Malerei hineingeraten und nach neuerlichem Lesen der Meinung, zumindest eine längere, zusammenhängende Passage aus diesem Hörfunk-Beitrag zu veröffentlichen, weil er quasi aktuell oder auch aktualisierend darauf hinweist, zu welcher hanebüchenen Auslegung von nicht nur kunst-, sondern eben auch historisch bedeutsamen Gemälden das führen kann. Das Volk aufs glatte Eis der Kunst geschoben? Es taut, die Kuh muß runter.

Vanitas, Stilleben von Antonio de Pereda y Salgado, Wikimedia Commons, Uffizien, Florenz

Jetzt hängen sie also, die alten Meister spanischer Malerei, dicht gedrängt und das eine ums andere Mal konzeptlos durcheinandergehängt vor einer geschmäckIerisch farbigen Stoffbespannung. Sie hängen in einem schlechten, sich zudem auf den Gemälden reflektierenden Licht an diesem unseligen Ort, an dem noch vor wenigen Jahrzehnten Kunst dem Volksempfinden zur mißfälligen Betrachtung ausgeliefert war.

Heute hingegen ist der Bürger aufgefordert, ästhetisch zu genießen, was der Katalog so anpreist: «Das Schönste und Erlesenste an höfischer Porträtmalerei [...], die «höfischen Bildnisse mit moralischer Dimension»; die «durchsichtigen Gesichter einer alten Rasse, die Großes verursacht, Schweres getragen und nun müde geworden war». Und selbstredend, der Natur der Sache gemäß, «ordinäre Trink- und Freßgelage».

Mit dieser pathetischen und stellenweise phrasenhaften Diktion soll der Besucher eingestimmt werden auf diese neue Kunstorgie im neo-neo-neo-klassischen Münchner Musentempel, dessen Architektur Hitlers schauerlich-protzige Vorstellungen von Ästhetik spiegelt. Ob moderne Kunst oder alte Meister: Im Haus der Kunst liebt man die Verpackung der Ware Kunst, die dann in Worthülsen ihre Entsprechung findet. Das ist genau die Sprache, der es um die Verschleierung von Inhalten oder den dogmatischen Hinweis auf das Genialische an der Kunst geht. Dem Volk, für das solche Ausstellungen offiziell veranstaltet werden, wird Ehrfurcht vor dem quasireligiösen Kunstgegenstand injiziert. Eine sich selbst als Elite verstehende Kunsthistorikerzunft beweihräuchert sich selbst und stellt zugleich dem Volk die Kunst wie im Supermarkt dar, in unübersichtlichen Massen. Doch das System, Kunst als Spiegel gesellschaftspolitischer Entwicklungen zu negieren und sie statt dessen mit antiaufklärerischer Feierlichkeit zuzuhängen, hat nicht nur in der bayerischen Landeshauptstadt seine Befürworter. München ist hierbei nur (mal wieder) Hauptstadt einer Bewegung, gefördert nicht zuletzt durch eine Kunstkritik, die schon längst nicht mehr für diejenigen die Feder wetzt, die Information wirklich nötig hätten.

Früher war das mal anders: In den Pariser Salons2, deren erster 1667 in der Grande Galerie des Louvre stattfand, beanspruchte das Publikum das Recht der Kunstkritik; Kunst war Bildungselement und vor allem Element des Gesellschaftslebens. Dieses Recht nahm dem Publikum sehr bald der professionelle Kunstkritiker ab, der dann im 19. Jahrhundert die Durchschnittsansichten der Pariser gebildeten Welt verbreitet. Da weniger die Kunst als vielmehr das Publikum Bezugspunkt dieser Kritiken war, wurde denn auch folgerichtig der Subjektivismus als Organ des Kunstverstandes bezeichnet. Diese trivialhumanistische Absicht, die auch damit rechnet, daß in einem geheimnisvollen Prozeß die gefühlsmäßige, unsachliche Kenntnis sich trotz aller Irrungen auf Dauer immer zum Wahren und Schönen durcharbeitet, scheint heute (schon wieder) die Seelen mancher Ausstellungs-Macher emphatisch aufflattern zu lassen.

Die Ausstellung Von Greco bis Goya ist nur ein Beispiel für eine in der ganzen Bundesrepublik sich abzeichnende Richtungsänderung in der Kunst- bzw. Ausstellungspolitik: Zurück zur Restauration — anstatt eine Pause zu machen und diesem fatalen Zeitgeist des Konservierens sogenannter traditioneller Werte denkend eine Abfuhr zu erteilen.

In seiner platten Draufsicht gebärdet sich der Ausstellungskatalog stellenweise aufklärerisch. Er versucht laut Manuel Muñoz Cortés das «Problem des kulturellen Ambiente und des politischen Hintergrundes genau» zu erklären. Der Versuch, war er ehrlich gemeint, ist gescheitert. Nirgendwo im Katalog (ohne den der kunsthistorisch weniger informierte Besucher nicht auskommt) ist der politische Hintergrund erläutert: Die spanische Bevölkerung des 17. Jahrhunderts war völlig verarmt. Die Herrschenden führten ununterbrochen Kriege, regierten den Staatsschatz herunter und verurteiIten das Volk zum hungern.

Die krassen Unterschiede der Lebensbedingungen schlagen sich nieder sowohl in verschiedenen Sujets höfischer Bildnisse als auch in Stilleben, aber auch in Gemälden, in denen die Kluft zwischen hohem Adel und niederem Volk innerhalb eines Rahmens geschildert wird. Jedes einzelne dieser Gemälde gehört Bildgattungen an, die einer hochkomplizierten Sprache unterliegen. Sie zu übersetzen und so aus der Tabuzone der sprachlosen Bewunderung zu holen, wäre Aufgabe der Verantwortlichen gewesen. Doch der Verantwortung der Aufklärung haben sie sich entzogen.

Drei Beispiele: Das Ornamentale und die Starrheit der Herrscherbildnisse eines Juan Pantoja de la Cruz oder eines Alonso Sánchez Coello sind nicht nur individuell künstlerische Sehweisen. Im Bildnis der ‹Infantin Anna von Spanien als Kind› von de la Cruz zum Beispiel spiegelt sich das spanische Hofzeremoniell in seiner ornamental-dekorativen Gestaltung, die in ihrer strengen Ästhetik Konflikte von vornherein unterdrückten. De Katalog als einziges Hilfsmittel des Ausstellungsbesuchers reduziert die Information auf abgehobene Ästhetik.

Das spanische Stilleben, das Bodégon, ist bei weitem mehr als das, was der Katalog ins Niedlich-Nette verzerrt, damit Vorurteile bestätigend, nämlich: «Ein lustiges Cabinett mit allerlei Eßbarem, was im spanischen Klima wächst.» Der Begriff Bodégon entstammt dem der Bodéga, jener ärmlichen Spelunke, in der jener billige Wein ausgeschenkt wurde, der die Armut vergessen ließ (und in der man auch heute noch ‹preisgünstig› essen kann). Die dargestellten Gegenstände der Stilleben verweisen in symbolischem und theologischen Sinn auf den Menschen, deuten in Bildern die Welt oder erinnern an die Vergänglichkeit alles Irdischen. Im Bücherstilleben eines unbekannten Meisters geht eine konkrete politische Aussage auf die Bewegtheit des ersten Drittels des (spanischen) 17. Jahrhunderts auf. Zwar erklärt der Katalog, daß die zerlesenen Bücher römische Rechtsschriften sind, sagt aber nicht, daß hier die Vergänglichkeit, die Auflösung des Rechts in Spanien symbolisiert ist. Weder in einem der fünf Katalogaufsätze noch in einer der Bildbeschreibungen wird auf die religiöse, ergo politische Symbolik der Stilleben hingewiesen. So zum Beispiel, daß im Granatapfel die Einheit der Kirche mit ihrer großen Menge an Gläubigen aufgeht oder er auch als Zeichen der Auferstehung gilt. Die Schwertlilie deutet auf Marias Schmerz hin, Blumen stehen für die fünf Sinne, die den Menschen so stark an das Irdische binden, und Früchte sind Nahrungsmittel der Armen und deshalb am Hof als Dessert verpönt.

Die durch den Italiener Caravaggio angeregte Helldunkelmalerei war Mittel der innerkirchlichen Opposition, traditionelle Werte umzudeuten. Standen zuvor Nacht und Finsternis für negative Werte und sozial niedrige Schichten, so ward das Dunkle dann zum Symbol gegen sinnliche Begierden und (religiöse) Erkenntnisformen, die davor nur Privilegierten zugängig waren. Nach der Gründung des Jesuitenordens durch Ignatius von Loyola wurden sinnliche Genüsse in anderem, hellem Licht dargestellt. Sie wahrzunehmen und dann um so bewußter abzulehnen, kennzeichnet sowohl die Öffnung der Kirche durch Loyola zum Weltlichen hin als auch die so doppelte Verneinung des Sinnlichen. Da damals die Kirche bestimmender Faktor der Politik war, kommt dieser Umkehrung der Helldunkelmalerei eine wesentliche Rolle in der (Kunst-)Geschichte zu. Auch hierzu schweigt der Katalog, und der durch die Ausstellung führende Kunstpädagoge spricht über Bildaufteilung, Perspektivisches und einen luftigen Pinselstrich. Die Bedeutung der Hereinnahme niedriger sozialer Schichten in Darstellungen des Heilsgeschehens bei Velazquez wird auch nicht erwähnt: Sie ist ganz im Sinn der Gegenreformation (gegen Loyola), die versuchte, die Loyalität des Volkes gegenüber der katholischen Kirche zurückzugewinnen.

Was diese Ausstellung an Information nicht leistet, ließe sich fortsetzen. Der Stellenwert der spanischen Malerei innerhalb europäischer Kunst und Geschichte ist nur vage umrissen. Sie ist Spiegelbild des Selbstverständnisses der Herrscher und des Volkes, letzteres verinnerlicht als Maya oder Mayo, nach Schopenhauer der Nichtwissende, der im entscheidenden Moment an der Teilnahme politischer Entwicklungen gehindert ist. Sie spiegelt die ständige Berührung Spaniens in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends mit der islamischen und maurischen Kultur, aus der sich der ornamental-dekorative Charakter der spanischen Malerei lesen läßt. Während sich das übrige Europa vom Klerikalen abwendet, ergeht sich Spanien zunehmend im Mystischen, kapselt sich ab und versteht sich — ein Satz im Katalog — «als Beschützer der katholischen Welt und konzentriert sich ganz auf die Religiosität». Spanien hat in den die Ausstellung umreißenden vier Jahrhunderten europäischer Kunst eine führende Rolle gespielt. Durch die Einflüsse außereuropäischer Kulturen und ein Sichabsondern von der Um- und Aufbruchstimmung des ›alten Kontinents‹ hat die spanische Kunst sich (bis heute) eine nahezu mystische Fremdheit erhalten, die aufgrund der Ausstellungsgestaltung im Münchner Haus der Kunst (bewußt?) konserviert wird.

Die Bereitschaft des Publikums, sich konfrontieren zu lassen, ist durchaus vorhanden, das zeigt das Interesse für die Ausstellung. Aber es reicht eben nicht aus, daß unser durch zahlreiche Kunstpostkarten kodierter Blick via Aha-Erlebnis alte Bekannte wiedererkennt und somit glaubt, orientiert zu sein. Dem Ausstellungsbesucher muß die Möglichkeit geschaffen werden, im historischen Kontext das Kunstwerk gleichermaßen geistig und kreativ zu rekonstruieren. Was jedoch Ausstellungen wie die in München betrifft, sind es einzig die Besucherrekorde, die die Initiatoren in (sportliche) Begeisterung versetzen.

Kunst hat präsent zu sein. Aufgabe der Kunst ist nicht das Abbilden, sondern das Formen und Bilden von Gedanken. Das wiederum bildet eine eigene Sprache. Dort aber, wo diese Bildsprache nicht verstanden wird, kann sie allenfalls dazu dienen, (bereits genannte) Vorurteile zu bestätigen. Kunst bildet nicht die Wirklichkeit ab, sie macht sichtbar, hat Paul Klee formuliert. Denjenigen gegenüber, die einer bewußtheitsfördernden Information bedürften, wird hier in dieser Ausstellung in einer Sprache entgegnet, die von der Kunst als gesellschaftlicher Dimension ablenkt.


Auszug aus: Kult und Kunst, Essay und Kritik, Saarländischer Rundfunk, April 1982
 
Di, 14.02.2012 |  link | (3200) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges



 

Trauernd zwischen Rutsch- und Reeperbahn

Emblematische Erinnerung

Photographie: © Barbara Gross (hier leicht verfremdet; vgl.). Anderweitige Verwendung untersagt!

Ich stehe hier nicht als ein Kunst- oder Kulturhistoriker, als ein Irgendwasograph. Ich stehe hier und spreche als quasi zweifacher Bestandteil der oppermannschen Ensembles — sowohl der künstlerischen als auch der des Lebens (was bei Anna ja immer miteinander verwoben war). Und ich stehe hier als Freund — nicht eben als ein langjähriger (aber darauf komme ich noch zurück) —, der traurig ist über den Tod von Anna. Deshalb soll mein bescheidener Beitrag die Geschichte unseres Kennenlernens sein — ein Stück Erinnerungsarbeit, und sonst nichts.

Ich habe Anna Oppermann vor etwa fünf Jahren — in Vorbereitung der kleinen Monographie, die wir publiziert haben — in München bei Barbara Gross kennengelernt, wo Anna Oppermann eine Ausstellung hatte (Bild oben). Auf eine merkwürdige Weise sah ich den Satz von Bazon Brock verifiziert, den er mir mal ins Mikrophon gesprochen hatte: «Der Künstler hat jederzeit hinter seiner Arbeit sichtbar zu sein.» Wie Anna mir und meiner Freundin Anne entgegentrat, tat sie das als Personifikation ihrer Arbeit. Von ihr ging eine seltsame Faszination, eine geradezu magnetische Wirkung aus, ich wurde regelrecht in sie hineingesogen, quasi in ihr Hauptensemble. Wir haben in dieser Phase des Kennenlernens kaum über Kunst gesprochen, sondern über ein paar organisatorische Dinge — was in der Natur der Sache lag — und über das, was uns alle doch am meisten bewegt: über das Leben (also in Annas Sinn eben doch über Kunst). Nun, wir verabschiedeten uns mit einer Verabredung für Hamburg. Ich mußte jedoch ständig an sie denken, und wenn ich mich recht erinnere, träumte ich in der folgenden Nacht, ich hätte mich in einem der oppermannschen Ensembles sehr ähnlichen Labyrinth verirrt. Aber dieses Verirren war keines der angstvollen Art, war ich doch immer sicher, entweder wieder herauszukommen oder aber, mich irgendwann darin heimisch zu fühlen.

Im Grunde sollte es auch so kommen. In der Hamburger Wohnung von Anna Oppermann und Herbert Hossmann, in die wir sehr herzlich aufgenommen worden waren, hatte ich dann tatsächlich das Gefühl, im Hauptensemble gelandet zu sein. Da hatte ich realiter die von Anna Oppermann selbst gestellte Frage «Wodurch wird mein Leben strukturiert?» beantwortet: «Grob vereinfachend gesagt: erstens durch Lustgewinn, zweitens Konfliktvermeidung, drittens durch Entscheidungszwänge unter anderem im Hinblick auf erstens und zweitens. (Dies nicht nur mit Interesse für mein eigenes Leben, sondern auch für das anderer Menschen.)» Auch wenn wir zu arbeiten hatten, nämlich Bildmaterial zu sichten und auszusuchen, das Layout zu besprechen, so lief das doch alles in einer Atmosphäre ab, wie ich sie vorher und mit anderen Künstlern nie erlebt hatte: in einer seltenen fröhlichen Entspanntheit. Daß dies Arbeit war, hatte ich sehr bald vergessen.

Ich bin kein großer Spaziergänger, doch der spätere Gang mit Anna, Anne und Herbert von der Rutschbahn zur Binnenalster hat mir sehr viel Spaß gemacht, Freude bereitet. Wann hatte ich je diese fröhliche Mischung von jungem Mädchen und Dame erlebt, der nichts, aber auch nichts entging und dies ohne jeden Nachdruck — aber wahrscheinlich deshalb um so deutlicher — mitteilte. Der Spaziergang hat mir, der ich früher nicht eben ein Liebhaber Hamburgs war, diese Stadt mit Sicherheit ein ganzes Stück näher gebracht. Heute kann ich sagen, daß Anna zur Kupplerin wurde: durch sie gibt es heute eine eindeutige Liebesbeziehung zwischen Hamburg und mir. Das hat auch mit dem Verlauf des Abends, genauer: der Nacht zu tun. Wer hätte mir denn auf eine solch unprätentiöse Art und Weise Hamburgs sogenannte Sündige Meile, die Reeperbahn vorführen können?! Annas Art und Weise, still zu beobachten — sie erinnerte mich manchmal an einen ruhig dasitzenden Raubvogel, auch in ihrem Blick, dem nichts entgeht — hat bei mir dazu beigetragen, daß ich heute genauer auf die Details und ihre Zusammenhänge achte, ich mir — im Leben und in der Kunst, also in einem — das eine ums andere Mal ihre Worte vor Augen führe: «In meinen Ensembles werden die verschiedenen Erkenntnisebenen in ihrer Aussage nebeneinander akzeptiert. Die Offenheit des Arrangements erlaubt dabei Korrekturen und Modifikationen — zumal Denkklischees aufgebrochen werden können durch spielerische Konfrontationen mit nicht gewohnten Bild-Text-Inhalten, Zuständen und Objekten.»

Ich habe, wie eingangs gesagt, Anna Oppermann nicht sehr oft gesehen, das letzte Mal hier in diesem Haus, anläßlich ihres 50. Geburtages. Ich habe auch, das muß ich zu meiner Schande gestehen, nichts von ihrer schweren Krankheit gewußt. Immer jedoch hatte ich das Gefühl, mit ihr befreundet gewesen zu sein. Daß dies sich so verhält, kann nur in der Person von Anna Oppermann verwurzelt gewesen sein. Demnach ist der Verlust um so größer.

Ich bin durch Anna Oppermann zu ihrem Freund, zu einem Freund ihrer Kunst und, wie vorhin erwähnt, zu einem ausgesprochenen Hamburg-Liebhaber geworden, und ließe es sich beruflich einrichten, würde ich heute sicherlich hier leben. Doch was soll's: Ich bin ja Bestandteil des Ensembles Anna Oppermann.

Rede auf der Trauerfeier für Anna Oppermann in der Hamburger Kunsthalle, 1993.

Gut zehn Jahre später war der Wohnort Hamburg dann tatsächlich Realität geworden: zunächst die Résidence in der Schwesterstadt Marseille, dann diese gänzlich andere norddeutsche Schönheit auf dem Land nahe Mare Balticum, und abschließend das Dorf an der Alster.
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Peter Gorsen: Stillebenhafte Labyrinthe des Kopfes und der Sinne (Auszug)

«Die künstlerischen Anfänge Anna Oppermanns reichen in die unruhigen 60er Jahre zurück, als die Kunst noch von Handlungsalternativen, Utopien, ‹Antikunst› und ‹Gegenkulturen› bestimmt war und kritisch oder sich verweigernd auf die institutionalisierten Lebens-, Arbeits- und Wahrnehmungsformen, den Kunstmarkt im besonderen reagierte. Aus der Vielfalt der sich damals am Zukunftshorizont abzeichnenden ‹Expansion der Kunst› sei hier nur an vier Oppermann bestimmende Ereignisse erinnert, die die Szene mit den Begriffen ‹Fluxus›, ‹Individuelle Mythologien›, ‹Spurensicherung› und ‹Concept Art› etikettiert hat. Sie sind Stationen einer grenzüberschreitenden, ständig sich selbst erneuernden Kunstentwicklung. Sie sind aber gleichzeitig Ausdruck der vielen utopischen Rückbindungsversuche der Kunst an das Leben, die immer wieder an den Entfremdungsstrukturen der Wirklichkeit zum Stillstand kommen, somit als Versöhnungspraxis scheitern und aufs neue aktualisiert werden müssen. [...]

Die Symbolik des Gestenmenschen ist nur ein (sehr spezielles) Ausdrucksmittel unter vielen, mit denen Oppermann zum interdisziplinären (nicht nur soziologischen) Komplex des ‹Künstlersein(s)›, zur Problematik der Künstler(innen)rolle, wie generell zur Frauenrolle unter patriarchalen Lebensbedingungen, ihre «mit den Augen begehbare Nachdenklandschaften» (Günter Metken) geschaffen hat. Das von großer Skepsis getragene Methodenbewußtsein der Künstlerin läßt sie immer wieder vom Inhalt auf die grundlegende Struktur ihrer Ensembles zurückkommen. Sie sind aus Objekten, Bildern und Texten intermedial zusammengesetzt. Zugelassen ist neben den gattungseigenen Mitteilungsformen der modernen bildenden Kunst wie Zeichnen, Malen, Schablonieren, Photographieren, Collage und Montage, Objet trouvé und Assemblage, auch der geschriebene Text. Aus ihrer Synthese entstehen die aus der Raumecke herauswachsenden, nach dem Schneeballprinzip in Zeit und Raum sich ausdehnenden, unendlich fortsetzbaren Ensembles. Die dabei sich ergebenden Relationen zwischen Text und bildnerischem Material hat Hans Peter Althaus als «Bildtexte» erkannt, die «in ihrer Komposition den Sprachtexten» gleichen. «Wiederholungen einzelner Bildelemente dienen durch ihren abermaligen Verweis auf den Bildinhalt nicht nur der Kohärenz zwischen den einzelnen Teilen eines Ensembles, sondern sie stellen auch rhythmische Beziehungen her und entsprechen Textbindungen, wie sie durch Alliteration und Reim erzeugt werden. Die Komposition der Ensembles aus Teilen, die wieder in kleinere Teile zerfallen, läßt sich mit sprachlichen Elementen wie Zeile und Strophe vergleichen. In neueren Ausstellungen hat Anna Oppermann die innere Komposition eines Ensembles auch durch Aufbauten sichtbar gemacht, die die frühere Ausbreitung über Wand und Boden oder später über zwei Eckwände und den Boden durch eine räumliche Binnengliederung ergänzt haben. In solchen vielfältig differenzierten Gesamtkunstwerken finden sich dann auch Ausdrucksformen, die der künstlerischen Großform unterlegt werden, wie Ironie und Parodie.»

Auszug: Peter Gorsen, Stillebenhafte Labyrinthe des Kopfes und der Sinne, in: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 8.1989

Halbwertzeit der Kunst. Künstliches von gestern.

 
Sa, 28.01.2012 |  link | (2669) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges



 

Feinste Gänseleber mit dem Geruch strengsten Münsterkäses

Ich mag es,
mehreren Sinnesreizungen
auf einmal zu erliegen.
Ein Bein in kaltem Wasser,
eines in heißem Schlick.
Mit einer Hand malen,
mit der anderen
my Lady zu liebkosen,
eine Duriau
(eine thailändische Frucht,
von Geschmack und Art
feinster Gänseleber
und dem Geruch
strengsten Münsterkäses).
Mit jedem Ohr
eine andere Musik hören,
in einem Nasenloch
den Duft exotischer Blumen,
im anderen eine
frische Brise vom Atlantik.


Die Künste hatten mich nach meiner Berufung noch einige Jahrzehnte weiter beruflich beschäftigt, zwei davon überwiegend die bildenden; so kann es gehen, wenn man sich Befehlen verweigert, etwas Anständiges zu lernen. Bei einer solchen Tätigkeit kommt man ein wenig herum, geschehen Geschehnisse, die so unglaubwürdig sind, daß es sich lohnt, sie auf den Sockel des anekdotischen Denkmals zu hieven. Man will ja nicht ständig umstürzlerisch gesinnt sein.

Den Isländer — selbstverständlich auch die Isländerin, aber zu dieser besonderen Species komme ich später einmal — meiner Erfahrungswelt kennzeichnet, daß er irgendwie etwas mit Kunst macht. Heute mag das zwar auch etwas mit Medien sein, aber bereits früher haben die recht gerne in eine Richtung kommuniziert. Wer nicht schriftstellerte oder komponierte oder malte, der vermittelte das teilweise skurrile und bisweilen auch ernsthafte Treiben seiner Landsleute hinauf auf seine Insel. Häufig lieferte den Strom zu dieser Tätigkeit der konstante Genuß spiritueller Flüssigkeiten. In meiner Erinnerung waren es durchweg Männer, die auch dann noch rasch, verständlich und durchaus auch poetisch in einem Zustand die Kunstinhalte nach Reykjavik kabelten, in dem ich längst in der Ausnüchterungszelle gelagert worden wäre. Aber auch die Artisten selbst nahmen's allesamt gerne hart. Vielleicht verließen sie deshalb gerne ihr Eiland da oben und suchten Zerstreuung in der weiten Welt.

Einem Isländer wollten wir einst ein Denkmal setzen in Form einer Monographie. Für uns kleinen Kreis sogenannte Fachleute war sein Ableben vor einiger Zeit klar. Schließlich hatten wir seit ewigen Zeiten nichts mehr von ihm gehört. Während eines Aufenthaltes in Paris berichtete ich einem anderen, in der Stadt lebenden Künstler gegenüber von unserem Vorhaben des Totengedenkens. Daraufhin fragte mich dieser, ob ich mir im klaren darüber sei, welchen Frevel wir zu begehen seien. Noch vor zwei Tagen habe er mit Gudmundur Gudmundson hier in diesem Café auf der Kuppe des 5. Arrodissements zusammengesessen, geplaudert und einige Pastis gesüffelt. Er würde mich töten, würde er auf diese Weise von seinem Tod erfahren. Nein, töten wäre wohl nicht die richtige Bezeichnung dafür. Er würde sich eher totlachen. Dann könnte ich mit Recht meinen Totenschrein basteln.

Ich mußte wieder zurück zum Ausgangspunkt dieses fachgemäßen Beinahebegräbnisses. Mein Bericht gegenüber dem Rest des kleinen Kreises an Experten, darunter der Kurator eines angesehenen Museums, der an sich diesem Requiem mit einer Gedenkausstellung beteiligen wollte, schuf sozusagen eine Vorab-Erschütterung. Aber so recht als Tatsache hinnehmen wollten wir die uns entgehende Leich' auch nicht. Wir hatten uns zu sehr auf dieses von uns ins Säkulare umzupolende Kaddish (Uleachaja Metaja, uleasaka jatehon leChajej Alma [Er belebt die Toten, und führt sie empor zu ewigem Leben]) gefreut. So einfach wollten wir uns das nicht nehmen lassen. Irgendwie mußte der doch totzukriegen sein. Schließlich hatten wir seit Jahren nichts mehr von ihm gehört, geschweige denn gesehen.

Aber so einfach war es dann auch wieder nicht. Wir waren immerhin seriöse Fachleute. So mußten wir sichergehen, ob es sich bei der Behauptung dieses Parisers nicht um eines der gefürchteten Scherze handelte, die Künstler zu machen gedenken. Aber wie konnten wir den Totenschein ausstellen?! Das letzte Mal war er vor vielen Jahren in einer asiatischen Mentropole gesichtet worden. Da fiel mir die seinerzeitige Dame an meiner Seite ein. Sie war vor noch nicht allzu langer Zeit aus Paris geflüchtet, weil die Bank ihr den Scheckhahn zugedreht hatte (zu dieser Zeit bezahlte man auch im petit Supermarché das Stück Butter fürs Baguette mit dieser Art von Papier). Ihr waren die vielen düsteren Löcher dieser bereits in den achtziger Jahren beliebten, weil strahlenden Weekend-Ausflugszielmetropole allesamt bekannt. Wenn dieser Herr als Leichnam tatsächlich durch die abseitigen Quartiere von Paris geistern sollte, sie würde ihn ausmachen. Dann müßten wir uns zwar einen anderen Toten suchen, den wir feuchtfröhlich beweinen wollten. Aber eine Blamage wäre uns immerhin erspart geblieben.

Nach drei Tagen hatte sie ihn gefunden, genauer: zunächst lediglich seine Wohnung, wenn ich mich recht erinnere versteckt im Zweiten, einem der alten Chinesenviertel, mit seinen seinerzeit unglaublich zahlreichen Strick- und Häkelbruchbuden, in denen die Herren die eingeschmuggelten oder sonstwie integrierten Frauen und Männer ausbeuteten, denen eine zumindest wirtschaftlich bessere Zukunft versprochen worden war. Die junge Frau hatte Herrn Gudmundson eine Nachricht unter der Tür durchgeschoben. Und tatsächlich rief er sie noch am selben Tag an und zeigte sich erfreut über seine Wiederbelebung und bereit zur Zusammenarbeit. Er sei, wenn ich mich richtig erinnere, vor einiger Zeit aus Asien zurückgekehrt an den Ort, an dem er sich 1958 zum ersten Mal niedergelassen hatte. Und da er zu denen gehörte, die schon zu damaligen Hoch-Zeiten nicht bereit war im höfischen arrière-garde die äffische Basse danse zu schreiten, war es wohl etwas stiller geworden um ihn. Was uns Experten veranlaßt hatte, ihn beerdigen zu wollen.

Zwar wurde das nichts mit unserem Kaddish. Wir mußten einen anderen umbringen. Aber ein Monographielein wurde ihm dennoch zuteil. In diesem erzählt Helmut Bauer über Gudmundur Gudmundson, genannt Erró.

Wegen seines Pseudonyms mußte er vor Gericht. Erró nannte sich zu dieser Zeit noch Ferro, nach einem kleinen Ort in Kastilien, an dem er sich während einer Reise besonders wohlfühlte. Ein in Paris alteingesessener und angesehener Maler mit dem im Französischen phonetisch gleichlautenden Namen Ferraud wollte mit Ferro in keinem Fall verwechselt werden. Der Kunstmaler Ferraud, Mitglied des Salon des Indépendants, zog vor Gericht. Ferro verlor den Prozeß, verzichtete auf den Anfangsbuchstaben seines Namens und nannte sich fortan Erró.

1949 beginnt er an der Kunstakademie in Reykjavik das Studium der Malerei. Nach drei Jahren geht er nach Oslo, setzt sich dort mit der Technik der Freskomalerei auseinander. 1954 setzt er sein Studium an der Kunstakademie in Florenz fort. Vor den byzantinischen Mosaiken in Ravenna eignet er sich die Technik der Mosaikherstellung an. In den Uffizien studiert er Maltechnik und Komposition solcher Renaissance-Künstler wie Carlo Crivelli, Orcagna, Luca Signorelli und Paolo Uccello. Auch in naturwissenschaftlichen Schausammlungen findet er Anregungen. Im Museo di Storia della Scienza werden Anfang und Fortschritt der Naturwissenschaft anhand von Apparaten und Modellen gezeigt. Im Museo della Specolo sind Wachsmodelle ausgestellt, die im 18. und 19. Jahrhundert zum Studium der Anatomie dienten. Die modellhafte Darstellung menschlicher Organe entspricht — gemäß den Prinzipien einer rationalen Weltauffassung — dem wissenschaftlichen Gerät, einer Versuchsapparatur zur Beweisführung physikalischer und chemischer Gesetzmäßigkeiten. Menschliche Organe als seelenloses Anschauungsmaterial und Apparate als Zeugnisse emotionslosen Kalküls prägen Errós Gesamtwerk. Die apokalyptische Verflechtung von Mensch und Maschine ist Thema der frühen Serien. Dort produzieren Maschinen menschenähnliche Wesen. Physiognomien, Organe sind eingespannt in die Mechanik laufender Motoren, eingerastet in das Fächerwerk von Turbinen und Generatoren. Menschliche Organe wurden mit Maschinenteilen kombiniert oder durch sie ersetzt. Fabriken erzeugen am laufenden Band zu Fratzen verzerrte Physiognomien, Wesen, denen der Moloch keine Chance einer von ihm unabhängigen, freien Existenz läßt. Die Unterdrückung und Verfremdung des Menschen durch die Maschine, Thema im Zeitalter einer industrialisierten Massengesellschaft, erinnert an Fritz Langs Metropolis, einem Film, in dem Menschen zu Sklaven einer personifizierten Megamaschine werden, erinnert ebenso an die Gemälde von Roberto Matta. Der chilenische Surrealist hat Errós frühe Werke stark beeinflußt. Kunsthandel und Kunstkritik, von Matta 1956 in La Bienale de Venise thematisiert, werden von Erró 1959 in der Serie The Art World aufgegriffen. The Art Critics zeigt elephantenartige Wesen, die sich in einer Gemäldeausstellung wie im Porzellanladen aufführen. Das erinnert ein wenig, wie Helmut Bauer schreibt, an Frankfurt am Main, wo er The Art World zeigte, da war «er von dem Äppelwoi-süffisant lächelnden Vernissagepublikum derart angeekelt, daß er aus Wut über die Geringschätzung seiner Kunst die Exponate in Stücke riß und die Fetzen den städelbehüteten Frankfurtern als Mitbringsel anbot».
«Errós Malerei verwirrt. Motive, maßlos variiert und grenzenlos verfremdet, nehmen dem Betrachter die Ruhe, beunruhigen. Sein Blick verliert sich in Einzelheiten. Jetzt findet der rastlos Suchende Vertrautes, glaubt den Faden im Labyrinth gefunden zu haben – doch im nächsten Augenblick gewinnt wieder das Fremde an Macht, der Kontrast stellt das Vertraute in Frage. Dem Wesen nach Verwandtes ist voneinander getrennt, der Herkunft nach Fremdes miteinander vereint. Erró erfindet Bilder, wie ein Pirat Schätze raubt. Beide greifen spontan zu, nehmen sich, was ihnen in die Hände fällt und gefällt. Zu diesem Zweck ist Erró unterwegs. Auf seinen Reisen in Europa, Asien und Amerika sucht er nach den Schätzen, die er für seine bildnerische Arbeit braucht. »Ohne Gepäck« l, wie er sagt, doch mit der Neugier auf Kultur und Politik eines fremden Landes. Schätze, die er findet, sind die Zeugnisse dieser Kultur und Politik. Er findet sie in Zeitungen und Magazinen, in Kunstbänden und Verkaufskatalogen, auf Plakatwänden und unter dem Ladentisch. Es sind Reproduktionen: réproductions trouvées. Ihre ikonographische Vielfalt ist der Grund für die Polyvalenz aller Gemälde von Erró, ebenso wie für die Verwirrtheit des Betrachters, zwingt jedoch zur Selektion, zur Ordnung im Chaos der Vielfalt. Akkumulation, Systematisierung, Selektion, Kombination und Transformation sind die Schritte in Errós künstlerischem Vorgehen. Zuhause im Atelier — Erró unterhält Ateliers in Paris, auf Formentera und in Bangkok — ordnet er das auf Reisen angehäufte Bildmaterial nach 80 verschiedenen Sujets, teilt ein in ‹Flüsse, Hände, Flugzeuge, Barockkirchen, Waffen, Porträts, Comics, Läger, Enten, Gebirge ... ›. So entsteht gleichsam die Enzyklopädie eines Reisenden, der Fundus einer Malerei, die den Betrachter verführte, dem Enzyklopädisten Piraterie zu unterstellen.

Erró ist Isländer. Er kennt die Saga, Halldor Laxness' Roman Atomstation, erlebte die Erzählungen der vom Fang heimgekehrten Fischer, ihre Übertreibungen bei Schnaps und Bier, spürt das Hineintauchen in die Sphären einer Welt, die Räume für Bilder erschließt, Räume für Vorstellungen einer scheinhaft unwirklichen, aber wahren Welt. Erró erzählt in Bildern, wird Maler.»
Und wir trauern, wie wir dieser Tage in einer ungemein wichtigen Skype-Konferenz laut lachend feststellten, unserem Beerdigungsinstitut noch immer nach, das wir kurz nach der Eröffnung wieder schließen mußten.

Einige Bilder des offensichtlich quicklebendigen Erró zeigen die Galleri GKM Siwert Bergström im schwedischen Malmö oder die Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main, nicht zu vergessen, wenn auch enttäuschend dürftig, Errós «Heimatmuseum» Listasafn Reykjavíkur.

Die Zitate stammen aus: Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 6, München 1989.

 
Do, 08.12.2011 |  link | (2282) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges



 

Die Zigarrenkiste und die Nähmaschine

Leben ist Kunst, Kunst ist das Leben. Ich trage wenige Vorbilder in mir (um meine geistige Nähe zum Nihilismus zu verschleiern, vermeide ich die ziemlich schwächelnd sinnige Verneinung «gar keine»), aber ein Vor-Bild schwebt mir fast immer in Person eines Künstlers durchs innere Auge, der nicht nur großartige Bilder für die Augen zu produzieren in der Lage war, sondern mir darüber hinaus immer wieder sprachbildlich die Welt erklären konnte. Von Robert Filliou stammt die einzigartige Welterklärung — womit zumindest ein marginaler Beleg meines Nicht-Nihilismus erbracht wäre, die der wohl ausgesuchteste Filliou-Erklärer Michael Erhoff 1989 und bis heute gültig parat hatte:
«Welche Beziehung besteht zwischen einer Socke und einer Zigarrenkiste? Oder bekanntlich zwischen einem Regenschirm und einer Nähmaschine, wenn sich diese auf einem Operationstisch begegnen?»
Da haben wir das Sinnbild von «allen möglichen Maschinen», zwischen und unter oder in denen ich, liebe Vorleserin, hin- und hergeschoben werde. Ich lasse das mal den allerbesten Filliou-Kenner, ihn selbst übersetzen:
«So dachte ich daran, Dinge in Einklang mit bestimmten Kriterien des Augenblicks zu messen. Zum Beispiel, meine Länge beträgt 60 verschiedene Tomaten, und ich bin 111.225 Eisenbahnfahrten Kopenhagen-Paris alt.»
Alles fließt ..., wie wir wikipedianischen Lateiner besonders gerne an den Kontaktbörsen des Elitischen, nenne ich's mal Ökonomisierung der Liebe, zum besten zu geben bereit sind — dem Ende zu. (Bevor die Elite-Partnerschaft aufkam, textete die PH-Absolventin in Annoncen der FAZ oder der Zeit: «aus Paritätsgründen Akademiker bevorzugt», was in etwa hieß: nicht unter 100.000 p. a. Auch damals dort verkehrende Direktoren, heute hochgebildete Topmanager, schrieben es bereits bevorzugt pro anno aus.)

Vor der geschilderten Begegnung des Regenschirms und der Nähmaschine sind in Michael Erlhoffs Filliou-Exegese diese Sätze zu lesen:
«Ökonomie könnte als die Realität der Abhängigkeiten beschrieben werden oder als die Darstellung von Differenz, also als die Gegenwart eines real existierenden Netzwerks, das als Knotenpunkte oder als Bewegungsmotor auf die Existenz von Werten und deren Austauschbarkeit spekuliert. Deshalb basiert Ökonomie erst einmal auf dem Besitz oder Nicht-Besitz von Gütern, Kompetenzen, psychischem Vermögen, Freundschaften ... und auf deren Täuschung.

Was nun Robert Filliou — und wahrlich nicht nur ihn — an der Ökonomie so aufregte, war der Vorgang, daß die Ökonomie ständig Unvergleichbares in Vergleich setzt, Inkompatibles kompatibel macht. Alle Gegensätze werden scheinbar aufgelöst oder sind zumindest in ein- und demselben System integriert, alles ist tauschbar. Obwohl Äpfel nichts mit Birnen, Krieg nichts mit Frieden, Arbeit nichts mit Autos und Liebe nichts mit Geld oder Vögel nichts mit Kugelschreibern zu tun haben. Filliou zitierte hier gern in Anlehnung an den französischen Frühsozialisten Charles Fourier das Wort ‹Non-Comparaison›, eben die Unvergleichbarkeit; in der französischen Sprache jedoch wird bei diesem Wort zugleich die kategoriale Dimension deutlich, über die sich Ökonomie hinwegsetzt: ‹Comparaison› verweist durch das ‹raison› auf die verstandesgemäße Beziehung alles Vergleichbaren, also auf die Kategorienlehre, die nach einsichtigen Schlüssen zwischen Objekten fahndet (weshalb Philologen und Polizisten sich strukturell sehr ähnlich sind). Im Markt, in der Ökonomie, werden diese Beziehungen vollständig aufgelöst und dynamisiert, da eben alles gegen alles getauscht werden kann.»
Täuschung. Es fließt eben nicht alles. Manchmal stockt alles, obwohl so getan wird, als ob alles flösse. Mir stockt dabei das Blut, es brodelt, es kocht. Nicht nur, weil die Ökonomisten der Gesundheit alles relativieren. Wer erkrankt ist, der ist nur dann bedrohlich, wenn er privat versichert ist. Nur wenn der kalkulierende Arzt einen Platz in seinem Belegbett errechnet hat, müssen Regenschirm und Nähmaschine runter vom Operationstisch. Alles andere darf noch ein Weilchen dahinfließen, auch wenn's eher nicht mehr so flüssig ist. Ich kann, auch oder gerade als Privatversicherter, solche Mediziner (und deren politischen Beschützer) nicht ausstehen. Zwar ist mir das längst bekannt, aber diese Kunstform erlebe ich ersten Mal. Ja, ich bin sehr aufgebracht.

Doch ich paraphrasiere nicht nur deshalb mal wieder gewaltig; manch einer würde das sogar als Gewalttätigkeit auslegen. Aber wegen dieser sehr freizügigen oder auch, mit einer gewissen Bedeutungsnähe, flottierenden Interpretation des Allesfließenden bin ich ohnehin bei einigen bekannt, nicht nur bei denen, die grundsätzlich alles der Ökonomie unterworfen haben wollen. Wer die Kanäle voll hat wie ich als Ruheständler quasi draußen vor der Tür, der dreht sich zurecht, wie er's mag, der pfeift auf die Stenose des Seriösen, der läßt den Umwegen freien Lauf. Die meinen mäandern eben mit Robert Filliou durch meine Mischlandschaft von Ratio und Gefühl:

«Einige Gefahr: sehr bald, und dann für abertausende von Jahren, könnte das einzige Recht, das man den Individuen zugesteht, darin bestehen, zu sagen: ‹Ja, Chef.› Damit die Erinnerung an die Kunst (als Freiheit) nicht verlorengeht, werden ihre uralten Intuitionen in einfache, leicht zu lernende esoterische mathematische Formeln gebracht, wie zum Beispiel a/b = c/d (wenn zum Beispiel a als Hand, b als Kopf, c als Fuß und d als Tisch genommen wird, so kann Hand auf dem Kopf mit Fuß auf dem Tisch gleich sein, um die Erkenntnis und den passiven Widerstand zu fördern). Studiere dieses Problem. Nenne die Studie: Theorie und Praxis von A/B. Eine Anregung: Werke können so schnell geschaffen werden, wie der Verstand denkt. Du sagst ‹blau›, und blaue Farbe oder blaues Licht erscheinen auf der Leinwand und so weiter ... Das wurde bereits eingesetzt, um in Räumen Licht einzuschalten und um Türen zu öffnen. Vielleicht braucht man keine Handarbeit mehr: Beflügelte Kunst, wie beflügelte Phantasie. Arbeite das mit anderen zusammen oder allein aus. Vergleiche dazu auch das Aktions-Manifest von 1962 L'Autrisme; während dieser Performance fragten sich die Darsteller zuerst untereinander und dann jede Person im Publikum:

Was tust du?
Was denkst du?

Worauf die Antwort immer lautet:
Tu etwas anderes.
Denk etwas anderes.»


Auszüge aus: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst. Ausgabe 6, München 1989
 
So, 04.12.2011 |  link | (5268) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges



 

Zeige ihre Wunde

Die nächste documenta dräut.

Gestern rief schrecklich aufgeregt die die Kunst vermutlich ein bißchen mehr als mich schätzende Frau Braggelmann, die als von mir so bezeichnete Doktor Blaulicht ohnehin für Verletzungen zuständig ist, an und erzählte etwas von einem Mordversuch an der Schönheit durch Nichtwissende. Eine Putzfrau habe ein Kunstwerk zerstört. Meine erste Frage: Nordrhein-Westfalen? Sie ging gar nicht darauf ein und ließ weiterhin die Sirene auf dem Kopf via Mundwerk heulend attackieren. Nach ihrer staccatoartigen Schilderung der Berichterstattung aus einem öffentlich-rechtlichen Organ mußte ich annehmen, sie habe vermutlich nicht gemerkt, daß das eine dieser Wiederholungen der fünfundzwanzig Jahre alten Nachrichten war, die immer wieder mal darauf hinweisen, daß früher doch nicht alles besser war. Der Vorfall mit der Fettecke in Beuys' Badewanne war mir nämlich spontan eingefallen, bei der ein Düsseldorfer Saubermann für die Reinheit der deutschen Kunst sorgen wollte, indem er ihr das Zuviel an Cholesterin und Kalorien nahm. Doch der war ihr nicht bekannt, löste allerdings eine ausgeprägte Empörung bei ihr aus, und sie setzte, nachdem ihr lautes Lachen abgeebbt war, mit ihrer meinen Irrtum korrigierende Nachberichterstattung fort und wies auf einen aktuellen Fall hin, von dem sie allerdings nichts Genaueres wisse, da sie nur den Rest mitbekommen habe, weil sie gerade auf der Suche gewesen war für eine ihre Kosmetikseite verschönert haben wollende Freundin, vielleicht eine «klassisch schöne» (das ästhetisch hat sie gerade noch unterdrückt) Darstellung eines Hamam. Da mir bei klassisch immer sofort das Alarmsignal Klassizismus ausgelöst wird, empfahl ich ihr eines der vielen <a href="http://www.ecosia.org/images.php?q=Jean-L%C3%A9on+G%C3%A9r%C3%B4me">Badebildchen eines Künstlers, der von dort stammt, wo nach meiner Meinung Frankreich und damit die Ästhetik des Schönen erst beginnt. Ungefähr ab Vesoul, mit dem Franche-Comté, setzt in südlicher Richtung nämlich beispielsweise die Malerei von Verkehrsschildern auf Felswänden ein, was daran liegen mag, das sich ohnehin niemand mehr um Regelungen kümmert, weil die sinnlichen Genüsse (durchaus auch jüngeren Menschen) immer deutlicher in den Blickpunkt geraten, etwa das Federvieh oder der Wein der Bourgogne.

Ich begab mich sofort in meine zwar manchmal nicht besonders ertragreiche, aber jedenfalls andere Suchmaschine und gab ihr den Befehl, nach Kunstzerstörung zu fahnden. Nach vielen Seiten über Bildersturm und Beuys gab sie das nach den vielen Fälschungen und fragwürdigen Kunstbewertungen überhaupt etwas ins Hintertreffen geratene Thema schließlich preis. Das einzige, was an meiner Annahme stimmte, war Nordrhein-Westfalen. Gereinigt und damit die Kunstbewertung wieder ins Gespräch gebracht hatte die Kunst eine Putzfrau in Dortmund. Das ist die Stadt, in die ich in den Achtzigern des öfteren gereist war, weil ich den Direktor des dortigen Museums am Ostwall sympathisch fand und ihn unterstützen wollte in seinem Kampf gegen die Vernachlässigung seines Hauses durch die Kommune, die ihre vom Durchschnittsbürger gezahlten Gelder lieber in eine ästhetisch anspruchsvollere Gestaltung des Zentrums investierte, die sich darin zeigte, daß die vorab erbenden Söhn- und Töchterleins der alten Kohle- und Stahlmagnaten nach ihrem wochenendlichen Ausführen der schnieken Cabriolets das abschließende Gläschen Champagner unmittelbarer und quasi, heute würden sie in der Sprache der Fachwelt souverän von alles authentisch plaudern, genießen konnten, während ein paar Schritte weiter unten der Nachwuchs der Verlierer spielerisch Pfennige gegen die Wand warf. Es hat sich viel geändert seither in den Museen des Landes, der Zahn der Zeit hat edle Füllungen bekommen.

Der Ostwall, dessen damals offensichtlich zu antizipatorischer Kunstverteidiger im Verließ der Resignation verschwand, hat nun zum Beispiel einen Kippenberger — wenigstens geliehen bekommen. Der Geehrte ist zwar nicht unbedingt an seinem Ruhm zu Lebzeiten, sondern allenfalls an anderen Elexieren des Teufels zugrundegegangen, aber da ein toter Künstler für die ihn verwaltende Nachwelt ein besserer Künstler ist, weil der sich nicht mehr gegen seine Vereinnahmung wehren kann, ist er mittlerweile dann doch immerhin ordentlich was wert: 800.00 Euro. Das setzt die Inflation, die auch auf dem Kunstmarkt herrscht, ins Bild: Zu Beuys' einsetzenden Hochzeiten kostete die Verletzung einer späteren Reliquie noch 40.000 Mark. Aber immerhin setzt es die Diskussion über den Stellenwert der Kunst außerhalb der feinen Gesellschaft in Dortmunds Zentrum wieder ingang.

Ich als autorisiertes und damit zu einem Urteil fähigen Mitglied des Internationalen Gesellschaftskritikerverbandes (Association internationale des critiques d'societé: aics) rückte mir den Vorfall, bevor ich genauere Informationen hatte, selbstverständlich ins vermeintlich rechte Licht. Ausgegangen war ich von der Tatsache, daß mittlerweile auch Stadtverwaltungen indirekt Billigstlöhne zahlen, indem sie keine steuerträchtigen Festangestellten mehr, sondern bei niederen Tätigkeiten längst Fremdfirmen mit der Sauberkeit auch des Inneren beauftragen. Folglich vermutete ich eine aus dem immer mehr in den fernen Osten rückende beziehungsweise kommende preiswertere Bodenpflegerin, die mit den ästhetischen Urteilen der westlichen Welt verständlicherweise nicht unbedingt vertraut ist. Doch ich habe mich geirrt. Die Werteverletzerin war eine Dame des Hauses, die, entgegen ihrer Anweisung, mit einem Mindestabstand von zwanzig Zentimetern um die Kunst herumzuputzen und diese keinesfalls zu berühren, den ihren Schönheitssinn verletzenden Fleck beseitigte. Damit dürfte der Beweis erbracht sein, daß der Mindestlohn alleine deshalb dringendst erforderlich ist, weil jederman und -frau das Recht haben muß, mehr Geld in seine Bildung investieren zu können.

Aber wenigstens darf der kanalisierte Qualitätsjournalismus namens RTL endlich wieder einmal urteilen: «Darüber lacht die Republik.» Ja, nun auch die anfänglich empörte Frau Braggelmann. Ich auch, und zwar um das Gewese, das sich mal wieder um die Kunst rankt, ohne daß diese Meinungsmacher ihr wirklich nahe kommen wollen. Die Gesellschaft zeigt eine ihrer Wunden. Ob ohne oder mit Beuys.
 
Sa, 05.11.2011 |  link | (1944) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges



 





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