Mumifizierte Zukunft oder verjüngte Vanitas In Rheine Kunst hatte ich mal ein bißchen was erzählt über ihn und auch ein Bildchen gezeigt. Da ich ihn und seine Kunst nicht minder überaus schätze, möchte ich einen weiteren Versuch starten, einen Virus in Umlauf zu setzen, es also nicht versäumt haben, darauf hinzuweisen: KARTOFFELKÖPP und andere Vorwürfe Installationen Peter Forster schreibt dazu:
An den Ausstellungsorten Haus am Dom sowie Dommuseum Frankfurt am Main (Quadrum und Sakristeum) ist das alles zu sehen bis 31. Oktober 2010. Ein Begleitprogramm gibt es auch: Vergängliche Kunst Dr. Peter Forster, Landesmuseum Wiesbaden, im Gespräch mit Vollrad Kutscher über faktische Endlichkeit, fiktive Ewigkeit, das Leben, den Tod – über den Menschen und über Kunst Ewigkeit für Vergängliches Dr. Stefan Scholz, Akad. Zentrum Rabanus Maurus, über die christliche Hoffnung auf Ewiges Leben in der Erfahrung radikaler Endlichkeit Mittwoch, 8. September 2010 Getrieben zur Schönheit Prof. Dr. August Heuser, Dommuseum, im Gespräch mit einem Schönheitschirurgen über die Antriebe des Menschen, sich zu verschönern, über Schönheit und ihre Kriterien. Mittwoch, 15. September 2010 Was bleibt, wenn nichts bleibt? August Heuser und Stefan Scholz im Gespräch mit Wissenschaftlern über Vergänglichkeit und Ewigkeit Mittwoch, 22. September 2010 Schöne Vergänglichkeit. Philosophische Ansichten von Denkern aus dem Mittelalter P. Prof. Dr. Rainer Berndt SJ, Frankfurt Dienstag, 28. September 2010 Veranstaltungsort: Haus am Dom, Domplatz 3, D-60311 Frankfurt am Main Veranstaltungsbeginn jeweils um 19:30 Uhr
Auf die Geschwindigkeit gehe ich besser erst gar nicht ein in den sagittanaischen Überlegungen. Das ist kein Kriterium, nach dem bewertet werden darf. Aber zur besonderen Thematik wird es, weshalb ich es auf die aktuelle Seite setze (nicht zu vergessen ist dabei auch, daß kein zu druckender Kasten meine vermutlich angeborene und unheilbare Logorrhoe in die Schranken weist; schließlich habe ich mich unter anderem dieser Zeitdiebereien wegen Mitte der achtziger Jahre vom Journalismus getrennt — sowieso is des ois längst irrelevant). Die einen hauen einen Roman oder eine Skulptur in einer Nacht heraus, die anderen benötigen für ein Gedicht ebensolange wie die wiederum anderen für ein Gemälde: Wochen, Monate, auch Jahre. Es gibt (bei «sog.» denke ich immer sofort an «entartete»*) Kunstwerke, an denen ewig gearbeitet wird, das kann ein lyrisches Gebilde sein oder eine Miniatur. Was schnell zustandegekommen ist, muß deshalb jedoch nicht von minderer Qualität sein. Zwar hatten wir die Geschwindigkeit der Kunst hier schon einmal: Ziemlich viel Rauch. Das heißt aber nicht, daß das Thema damit abgeschlossen wäre. Dicke Bücher oder, meinetwegen, ganze Internetze voll ließen sich darüber schreiben — über das hinaus, was bereits geschrieben und sogar veröffentlicht worden ist. Manch einer mag behaupten, alles Geschaffene sei Reproduktion des bereits Gesagten oder Abgebildeten. Das ist arg kurz oder auch übermäßig schnell gedacht; zudem landet man dabei unweigerlich bei dem Ei oder der Henne et vice versa, sozusagen beim Ius primae noctis des Fragestellers. Denn der eine weiß noch lange nicht, was der andere bereits kennt. Und unterschiedliche Perspektiven kommen immer wieder aufs neue auf, sie wollen abgebildet werden. Gerade weil bei vielen noch immer nicht angekommen ist, daß die Pfaffen den Alleinvertretungsanspruch über das Wissen beziehungsweise dessen, was die dafür halten, abtreten mußten. Gut, es gibt ein aktuelles Synonym für die Priester: Experten. Ich habe Anfang der Neunziger die deutschsprachige Fassung des US-amerikanischen Katalogs zur Ausstellung Entartete Kunst im Deutschen Historischen Museum redaktionell verantwortlich betreut. Der sich daraus ergebende Austausch über jede Menge Miles and more geriet beinahe zum (Glaubens-)Krieg. Bei den Los Angelesianern existierte, trotz deutschuniversitär grundausgebildeter Mitarbeiter (nenne ich's, sprachlich ans heutige Verständnis angepaßt, Praktikantenkultur), kein bißchen Kommunismus, das müssen die Spätfolgen von McCarthy oder die Vorläufer des Kreationismus gewesen sein, alle Spuren (selbst in) der (Kunst-)Geschichtsschreibung waren getilgt. Wir Europäer aber glaubten an Fakten, nennen wir's Wissenschaft oder Historiker- oder auch Redaktionsethos, weshalb das Werk um etwa hundert Seiten erweitert werden mußte, drängte doch all das Wissen um die Kunst dieser Zeit zwischen die Buchdeckel, beispielsweise, daß viele Künstler seinerzeit Kommunisten, zumindest Sozialisten waren und einige freiwillig in den Krieg zogen. Was am US-amerikanischen Geschichtsverständnis abprallte, war weggeschnippelt oder umgehübscht worden. Auch das ist eine Sichtweise (oder heißt das Interpretation?) von Information: bloß nicht zuviel davon, es könnte langweilen. Die Recherchen und (Hin-)Zuschreibungen nahmen kein Ende, all das wollte ergänzt werden, wir waren quasi gezwungen worden, die US-Bibel sozusagen umzu- oder auch neu zu schreiben. Und so ist das mit den Experten der neuen Religionen, die uns tsunamigleich von Westen her globalisierend landunter setzen: Geld, Kunst et cetera. Also nicht wirklich ein neues Phänomen. Nur umgetauft. – Zum Glauben in der oder an die Kunst ein kleiner Exkurs: * Erst im September 2007 wertete Erzbischof Joachim Kardinal Meisner Gerhard Richters neues Kölner Dom-Fenster als zu «abstrakt» und predigte im Zusammenhang mit dem neuen Kolumba-Museum in Köln: Dort, «wo die Kultur von der Gottesverehrung abgekoppelt wird», entarte sie.
Zum schönen Ende Ich bin ja ansonsten nicht so der Veranstaltungshinweisgebungslieferant. Aber bei diesem elektrischen Briefchen mache ich recht gerne eine Ausnahme. Schließlich gibt es einiges rück- und neu zu blicken. Nach einer ersten Station der Retrospektive Uwe Lausen. Ende schön alles schön in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main kommt die Ausstellung nun nach München, also an den Ort, an dem der Künstler gelebt und gearbeitet hat und an dem noch viele Freunde und Bekannte persönliche Erinnerungen mit seiner Person verbinden. Zur Eröffnung am 24.6.2010 um 19.00 Uhr in den Räumen der Villa Stuck, wo schon 1967/68 Arbeiten von Uwe Lausen gezeigt wurden, möchte ich Sie ganz herzlich einladen. Zu dieser Gelegenheit wird das Werkververzeichnis der Gemälde erscheinen. Außerdem möchte ich Sie auf das Begleitprogramm aufmerksam machen, dessen erster Programmpunkt gleich vier Tage nach Eröffnung stattfindet: Mo, 28.6.2010, 20.00 Uhr: Klangwelten zur Ausstellung Uwe Lausen. Ende schön alles schön. Die Improvisationen von Uwe Lausen und Hans Poppel in einer Tonbandmontage von Ulrich Müller; Tonbandkompositionen von John Cage und Mauricio Kagel sowie Werke von Carlfriedrich Claus und Valeri Scherstjanoi; in Zusammenarbeit mit musica viva des Bayerischen Rundfunks. Selima Niggl Abb.: Uwe Lausen, ohne Titel (Mondlandung) , Detail, um 1967 Privatsammlung München, courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin Photographie: Jochen Littkemann, © VG Bild-Kunst, Bonn
Rheine Kunst Dieser Tage geriet ich mal wieder mit den unappetitlichen Ingredienzien des Kunstmarktes in Berührung, und das, obwohl ich seit meiner Privatisierung in die Niederkultur den Kontakt zu diesem letztlich doch mehr als ungewöhnlich freien Handel vermeide, gegen den Börsengeschäfte mit ausgeliehenen, also leeren Wertpapieren sich als geradezu seriös ausnehmen. Andererseits haben mir diese früheren beruflichen Begegnungen mit der Kunstmarktkunst, als sie noch nicht vollends zum Spekulationsobjekt abgesenkt worden war und das Theater um sie noch nicht Event hieß, auch manch ein Erlebnis beschert, das eindeutig auf der Habenseite zu verbuchen ist. So lernte ich nicht nur Künstler kennen, die sich vom diesem Geldhandel nicht verbiegen ließen, sondern weiterhin ihre Vorstellungen von Artistik verfolgten und trotzdem bis zu internationalem Ruf gelangten. Eine weitere angenehme Begleiterscheinung waren Sammler, die nicht auf den Märkten herumlurten, weil sie auf der Suche waren nach einer neuen Werttapete für die gerade frisch zuende restaurierte roman(t)ische Hütte im Südwesten Frankreichs oder der neugebauten an der US-Westküste. Es waren solche, die Kunst als Lebensmittel empfanden und auch entsprechend lebten: immer nur das Gute, vor allem der begleitende Wein und das dazugehörende Essen. Aber sogar angenehme Seiten des Handels kamen mir dabei unter. So durfte ich anwesend sein, als eine junge Frau zum ersten Mal in ihrem Leben ein Bild kaufte und ihr der Galerist, da sie sehr wenig Geld hatte, eine ungewöhnliche Ratenzahlung anbot. Ratenzahlung im Kunstgeschäft sind an sich ohnehin die Regel, ich habe nahezu alles auf Raten gekauft. In diesem Fall bot der Verkäufer ein zu diesem Zeitpunkt noch nicht angefertiges Photogramm — als ob's eine Subscription für einen noch wachsenden Premier Cru aus dem Hoch-Preis-Bordelais gewesen wäre — der Studentin eine monatliche Teilzahlung in Höhe von fünf Mark an; zweihundert Monate oder gut sechzehn Jahre lang würde sie Zeit haben, die Arbeit abzuzahlen. Als sie einige Zeit später in den für die Arbeit bestimmten Semesterferien genügend zusammengejobbt hatte, überwies sie die Restsumme; auch das garantierte ihr der Kaufvertrag, der festgehalten worden war auf einem gerade in der Nähe liegenden Bierdeckel; das war lange Zeit, bevor ein Politiker meinte, man müsse auf einem solchen eine gesamte fiskalische Konfusion zusammenfassen können. Auch ich ließ zu dieser Zeit ein solches Photogramm anfertigen — in diesem Fall von mir selbst. Es geschah im Rahmen einer unvergeßlichen Veranstaltung in einem zu einer kleinen Galerie umgebauten Schweinestall, der zu einem der schönsten Häuser gehörte, die ich innerhalb Deutschlands je betreten durfte, gelegen direkt am Ufer des Rheins, mit zugehörigem kleinen Weinberg, einem kleinen Park, in dem Pfauen ihr Rad schlugen vor der Dame des Hauses, die bei kleinem Besuch, also etwa fünfzehn Personen, mal eben zwischendurch in die Küche eilte und dort ein mehrgängiges Menu hinjonglierte. Das kannte ich bis dahin nur aus Sammlerrefugien in Italien. Doch nicht nur die vierstöckige Gründerzeit-Kate an sich war des Anschauens wert, viel mehr noch ihr Inhalt. Vom Keller bis unters Dach war alles petersburgisch zugehängt. Séances wurde vom agierenden Künstler das Ereignis genannt, zu dem zwanzig Freunde dieser rheinischen «Miami-Konferenz», der Freunde der italienischen Oper, es mögen auch dreißig gewesen sein, teilweise von arg weit her angereist waren. Das Haus selbst kannte solchen Trubel von früheren Zeiten her zwar, aber für einige, solche Veranstaltungen nicht gewohnte Anwesende ging es doch recht fremdartig zu, auch sprachlich war es für manche nicht ganz unanstrengend. Séances en chambre noire (siehe Zeit-Werke) hießen diese Performances. Nach dem Beginn eines sich später als gewaltig erweisenden Umtrunks in schummrigem Kerzenlicht hatten sich die jeweiligen Mitakteure nacheinander auf die Therapeutenliege zu begeben, um danach vom Meister photogrammiert zu werden. Zuvor aber bekam der eine oder die andere zum ersten Mal diesen seltsamen Fragebogen zu Gesicht, den Marcel Proust sich einst ausgedacht hatte. Nicht nur, daß in der vorliegenden, leicht modifizierten Form Antworten auf Intimitäten erwünscht waren, es kam auch noch die Frage nach dem Lieblingskünstler auf. Meiner war zu dieser Zeit und ist es bis heute: Robert Filliou. So existiert seither von mir nicht nur ein Photogramm als der göttliche Robert, wenn auch in leicht gekrümmter Haltung, vielleicht weil die Liege so kurz war oder die Zeit so lang, bis ich drankam beim Herrn Doktor Kutscher, und deshalb bereits einige Gläser dieses rheinischen Frohgesangs Ja, ja, der Wein ist gut in mich hineingeflossen waren. Es folgte auch ein Abbild von ihm persönlich, das mir abendlich das Gute ausleuchtet, wenn mich diese freihändlerischen Kunstturnereien ohne geistiges Netz und abfederndem Untergrund mal wieder in depressionsartige Zustände getrieben haben. In seinen Portrait-Arbeiten unternimmt Vollrad Kutscher «eine Suche nach dem Typischen des Menschen». Es sind dies [...] Arbeiten, die von Freunden und Bekannten handeln, von Menschen, die für Vollrad Kutscher nicht zuletzt deswegen interessant sind, weil sie Eigenschaften erkennen lassen, die er für sich auch reklamiert. Gemäß der Devise von der Rollenvielfalt des Menschen erarbeitet Vollrad Kutscher seine Porträt-Installationen [...] intermedial. Mittels Foto und gestischer Abstraktion, Film und Sound, Licht und Dunkelheit, Kalkuliertem und Zufälligem, bewegtem und statischem Bild entwickelt er seine Bilder vom Menschen — «auf keinen Fall», wie er notiert, «zur ästhetischen Essenz versaftet und gereinigt, nicht asketisch oder akademisch, sondern verführerisch, spielerisch, humorvoll, widersprüchlich, unrein und offen». (Volker Rattemeyer: Von der Unmöglichkeit, ein Porträt zu machen, München 1997)
Ein Bild ist ein Bild ist ein Bild «Gertrude Stein ließ, wie es ihre Art war, Gertrude Stein als Gertrude Stein sprechen, eine Legierung also aus Kunstfigur und dritter Person Singular. Mehr als einmal sprach sie über den von ihr geschätzten Maler Juan Gris, die gleiche Auffassung von unbedingter Genauigkeit, ‹doch hatte dieses Verlangen in ihm eine mystische Basis. Er bedurfte der Genauigkeit als Mystiker›. Gleich darauf trifft Gertrude Stein als Gertrude Stein eine stichhaltige Unterscheidung: ‹Bei Gertrude Stein war dies Bedürfnis intellektuell, ein reine Leidenschaft für Genauigkeit.› Beider Werke würden allerdings mit denen von Mathematikern und, von einem französischen Kritiker, mit Johann Sebastian Bach verglichen.»Und vor den Sätzen von Hans Platschek stehen solche wie die von Juan Gris: «Ein mir befreundeter Maler schrieb einmal: Man macht einen Nagel nicht mit der Hilfe eines Nagels, sondern mit Hilfe von Eisen.Womit ich mir jedes weitere Wort zum im kleinen Kreis gestern wieder erneut erörterte Thema Kunst kommt von Können mal wieder ersparen kann. Die beiden da oben deuten einmal mehr an, daß Kunst vielleicht doch eher von Kunst kommt, daß das sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts wandelnde Verständnis so langsam mal in der Gegenwart ankommen sollte. Doch selbst zu Zeiten des bis heute in den meisten Köpfen pilzartig wuchernden Kunsthandwerks vergangener Jahrhunderte, aus denen viele der heutzutage oftmals verehrten Bilder und Skulpturen hervorgegangen sind, entstand längst nicht alles nach dem reinen Prinzip der Kunstfertigkeit, also in der Logik des Nagels aus dem Eisen. Häufig genug hatte sich auch damals bereits erst das Sujet bei klaren Gedanken («sind frei») herausgebildet, aus dem dann beispielsweise eine malerische Botschaft resultierte, etwa bei den Stilleben des spanischen 17. Jahrhunderts, in denen die Auflösung des Rechts codiert Niederschlag auf der Leinwand fand. Aber das habe ich ja alles schon einmal mehr oder minder ausführlich erzählt; auch hier bin ich mal auf τέχνη (téchne) eingegangen. La même chose, Monsieur, s'il vous plaît, fällt mir dabei ein, nicht nur beim Bestellen des nächsten Pastis . Oder vielleicht hat es seine Ursache darin: «Plus ça change, plus c'est la même chose.» (ungefähr: Je mehr sich verändert, um so mehr bleibt es das Gleiche.) Ach ja, und bei der Gelegenheit mußte ich eben auch heftig an ihn denken, an den Guten, der zwar bereits vor nunmehr gut zehn Jahren seine letzte Zigarette nächtens in die Whiskydüfte geraucht hat. Einige haben glücklicherweise eine ihn ehrende Stiftung gegründet (eine für den Swingboy Sonderborg ließe sich auch ganz gut an, aber da gibt es wohl Erbmassenprobleme), so eine vielleicht typisch hanseatische posthume Gehhilfe, doch über das Denkmalerische hinaus fehlt er, fehlen sie alle im einzelnen oder besser noch gemeinsam in bissig witzelnder Runde dennoch nach wie vor persönlich, heute hier eben im besonderen dieser zwar fein florettiernde, aber durchaus auch schon mal draufdreschende Kritikaster. Ließe sich so einer nicht mal wieder zurückholen? Die Welt der Kunst ist so trist geworden. Zitiert aus: Juan Gris. Über die Möglichkeiten der Malerei. Rede an der Sorbonne am 1. Mai 1924. Mit einem Essay von Hans Platschek. Europäische Verlagsanstalt, Reden, Band 25, herausgegeben von Sabine Groenewold, Hamburg 1997; Nachdruck aus: Der Querschnitt. Das Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte, übersetzt von B. Schiratzki; Januar 1925.
KP Brehmer «Bei den Alten war trivium die niedere Stufe der artes liberales: Dialektik, Rhetorik und Grammatik. Trivium heißt aber auch die Gabelung, der Scheideweg — da mußte einer sich für eine Richtung entscheiden. KP Brehmer wählte den Weg der Parteinahme und nutzte jene Künste. Indes fertigte Brehmer drei Gemälde ‹Über die Bilder› (1979), sie heißen: «Bilder ansehen; Über Bilder reden; Über Bilder mit Händen und Füßen reden» — wie kann man dies denn malen? Tatsächlich zeigen die Bilder die unterschiedlichen aktivierten Regionen des Hirns bei jenen Tätigkeiten. Gegenstand dieser Malereien sind Thermographien: Aufnahmen, die Infrarotlicht wiedergeben, nämlich Wärme im Hirn in abgestuften Farben. Brehmers Sujets entstammen einer ‹Welt der Zeichen› bereits abgebildeter Dinge oder Menschen, längst wiedergegebener Zustände und geschilderter Ereignisse. Zwar gehören auch Eindrücke, Empfindungen und Gefühle oft zu Brehmers Thematik, doch sind seine Gegenstände erst einmal Aufzeichnungen von ihnen.» [...] Aus: Welt aus Zeichen — Kodierung des Trivialen S. D. Sauerbier über KP Brehmer, in: Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 46, München 1999 (Monographienreihe mit jeweils 16 Seiten)
Zur Rarität mache ich mich zur Zeit; das wäre «legales Leben», vielleicht auch ein legalisiertes, schließlich dürfen Rentner nicht immer nur im Weg herumstehen, und wer leben will, der muß auch etwas dafür tun. Also: Bevor Bücher gelesen werden können, müssen erstmal welche geschrieben werden. Na ja, im konkreten Fall nichts fürs Herz und auch nichts mit Schmerz, eher so etwas ziemlich Nüchternes über eine nicht mehr sonderlich gefragte Kunstgattung, die gleichwohl von Leidenschaft geprägt war, und auch kein ganzes fettes Buch, sondern ein, wie ein zellforschendes Töchterlein es nennen würde, dickeres Paper, das dann in ein Bändchen gegossen werden wird, über den links nebenan Schreitenden und ein paar weitere, die mit ihm gegangen sind. Einer von ihnen, der hier Zugetextete, hat im übrigen insofern einige wahrlich höchst sehenswerte Filme gedreht, als sie belegen, daß die wahre Kunst, also die mit H, ohne das wirkliche Leben eigentlich gar nichts bewegt. Nicht einmal ein paar Aktien.
Kunst(mund)raub Vor etwa zwei Wochen wurde ich mißbraucht. Als Transporteur quasi von Diebesgut hatte ich mich zu betätigen. Aus meinem eigenen Lager. Also mein von anderen konfisziertes Eigentum mußte ich zur Behübschung eines neuen Daseins in die niedliche Stadt an der Ostsee, besser vielleicht: an der Trave karren. Dort nämlich hat die junge aufstrebende Wissenschaftlerin kürzlich ihre wirklich schöne Wohnung mit Balkonblick beinahe hin auf ihren neuen Arbeitsplatz an Europas größtem Institut für Forschung und Entwicklung bezogen. Zweifach glücklich ist sie nun. Zum einen, weil sie sich offensichtlich von der ersten Sekunde an wohlgefühlt hat unter den neuen Kollegen, und zum anderen, da der zauberhafte kleine Turm gleich mit der ersten Besichtigung erobert worden war. Ein Großteil der Ausstattung, etwa Küche und Bad samt erforderlichem Elektrogerät, gehörte obendrein dazu. Nur an den Wänden fehlte es. An denen der Kieler Studentenbude waren das die üblichen Bildchen aus den Lagern des schwedischen Anbieters der Vorstufe zum Müll. Das sollte, hatte Frau Mama mit Zustimmung des Töchterleins beschlossen, anders werden. Denn die hatte vor längerer Zeit so eine Art Schatzinsel entdeckt. Sie befindet sich in einem holsteinischen Dörfchen, und wann auch immer sie eintaucht in die Stapel, sie entdeckt immer wieder neues Raubgut. Das meiste wurde in eine andere Wohnung verschleppt, die wohl bald umbenamst werden muß in Russenhaus, weil bald jede freie Wandfläche zugehängt sein wird. Was so auch wieder nicht stimmt, denn irgendwie, meint die Büddenwarderin, auch unter ihrem Pseudonym Braggelmann bekannt, findet sich immer irgendwo noch ein Plätzchen. Nun hat sie's eben in Lübeck gefunden. Schließlich soll das Kind nicht darben, fügt sie an, nicht mehr diesen Fabrikmist zu sich nehmen, dieses Fastfood der Guckindustrie, es braucht Gesundes, das obendrein auch noch fein ist. Auch ich ernährte mich visuell mal von russisch Brot. In den Anfängen meiner Kunstkäufe kam anschließend alles an die Wand. Damals kannte ich dieses Haus noch nicht, in dem ich viele Jahre später einige Male zu Gast sein durfte, diese Gründerzeitvilla am Rhein, die vom Keller bis unters Dach über der vierten Etage zugehängt war von Gemälden und Zeichnungen derjenigen, die über Jahrzehnte hin einen oder mehrere Tage Wohlfühlung und auch den vor der Tür angebauten Wein genießen durften und aus Dankbarkeit obendrein Stoffe für Möbel entwarfen, die diese äußerlich angenehm zurückhaltende Klassikkate im Inneren ebenfalls zierten. Aber später, als ich dieses Erlebnis gehabt hatte, konnte ich mir durchaus vorstellen, eines Tages selbst einmal Dirigent eines solchen architektonischen und künstlerischen Russendorados werden zu wollen, so beeindruckt war ich von dieser amusealen Atmosphäre. Oft genug wurde ich in Privathäusern bewirtet, bei denen ich nie sicher war, nicht vielleicht doch in einem Museum gelandet zu sein, so perfekt, wie das alles arrangiert war. Das war es nicht unbedingt, was ich anstrebte. Als Gast fühlte ich mich eindeutig dort wohler, wo von Geschirr gegessen und aus Gläsern getrunken wurde, die vor zweihundert oder mehr Jahren gefertigt wurden. Aber dazu bedurfte es nunmal gewisser Voraussetzungen, nicht nur finanzieller, sondern auch räumlicher. Und die waren nunmal nicht vorhanden. Das dürfte mich mit zur Reduktion bewogen haben. Eines Tages begann ich, da nun wirklich kein Platz mehr war an Wänden und in Ecken und Nischen, radikal alles abzuhängen und nur noch einzelnen Bildern und Objekten Anschaungsplatz zu gewähren. Alles andere wurde in einem gesonderten Raum gelagert. Im Museum nennt man das Fundus. In dem verschwindet in der Regel das, was oftmals erst nach einer langen Direktionsdekade vielleicht wieder auftaucht. Oder eben auch gar nicht, weil die neue künstlerische Leitung an solch altem Kram kein sonderliches Interesse zeigt, da der Blick schließlich nach vorn, auf das Neue gerichtet sein will oder auch muß. Manchmal macht man an kleineren Häusern aus der Not eine Tugend und stellt Stücke aus dem tiefen Keller aus, da mangels Masse, sprich Geld neuere Ausstellungen nicht finanziert werden können. Dabei kann es durchaus zu der einen oder anderen Überraschung, einer Neuentdeckung, vielleicht gar zu einer Wiedergeburt kommen. Vor vielen Jahren nun zog auch mein Fundus um, der immer wieder aufgefüllt worden war, da es hier etwas zu entdecken gab oder dort jemandem ein Anfeuerungsruf in Form eines kleinen Ankaufs zukommen sollte, nicht zu vergessen das eine oder andere Geschenk oder ein Honorar nach dem Prinzip der Naturalienregelung. Immer alles obendrauf. Komplett wanderten die Stapel in einen gesonderten, im wesentlichen klimatisch unbeeinflußten, auf jeden Fall trockenen Raum, sorgfältig die größeren Formate nach unten, die gerahmten an die Seite, die einzelnen Blätter in Mappen, Winzigkeiten wie des großartigen Georg Chaimowicz Bierdeckelzeichnungen, entstanden nach dem Verzehr von einigen Metern (schweiniger) Bratwurst — denk ich mir, es wär' a Fisch — (die den Hinweis zulassen, daß er ganz so vertieft religiös dann doch nicht gelebt hat, wie dieser Text vermitteln möchte), oder Dieter Roths Schimmelbilder in Schachteln. Aber so rechte Beachtung, das sei zu meiner Schande gestanden, fanden sie eigentlich nicht mehr. Bis eben vor längerer Zeit die ausgehungerte Kunstmundräuberin, die angesichts der südlich gelegenen Lagerstätten bereits lange Zähne bekommen hatte, in der Kunstkammer verschwunden und mit einem Teil ihres Diebesgutes herausgekommen war, das dann anderenorts an den Wänden wieder auftauchte. Immer wieder mal verschwand sie in der nur von der Kunst bewohnten Kemenate und konfiszierte im Namen der Freiheit der Kunst. Immer dichter behängt gerieten die Wände in diesem Russenhaus, sogar den Hausflur zierten irgendwann Flächen mit größeren Formaten, wohl ausgesucht, um die älteren, zudem aus dem sozialistischen Realismus kommenden Vermieter nicht allzu sehr zu erschrecken: heute eher sanfte, aber in den Anfangsiebzigern durchaus unruhigere Lange-Zeichnungen (leider im Netz nicht aufzutreiben), damals bei der Produzentengalerie zehn neun, einer Genossenschaft, auf Raten gekauft. Oben dann, nachdem sie von der Rahmenhändlerin eingefaßt, in einem Fall sogar die prägnante Signatur von Hans Baschang ehrfürchtig mit einem gesonderten Passepartout versehen worden waren, die mal etwas größeren, mal kleineren Blätter von Gerhard Altenbourg, Rolf-Gunter Dienst, Robert Filliou, Romain Finke, Robert Jacobsen, Albert Lohr, Nam June Paik, K. R. H. Sonderborg, Sol LeWitt und so viele mehr, darunter einige nicht sonderlich bekannte, aber deshalb wahrhaftig nicht schlechtere Künstler, nicht zuletzt solche, an deren Namen ich mich gar nicht erinnere, wie etwa der der in jeder Hinsicht entzückenden australischen Künstlerin, von der ich irgendwann irgendwo eine Installation kaufte, für die sich allerdings nie ein Installateur fand und deren dazugehöriges Wandbild, das die Kunsträuberin für Lübeck vorgesehen hatte, nun ein Bücherregal verstellt, für das aber, mit Sicherheit, schon noch ein Plätzchen gefunden werden wird irgendwo. Bevor die Kunst im Gefängnis verkümmert. Mittlerweile nimmt der Hunger nach Bildern für mich erschreckende Ausmaße an. Im Zug der Lübecker Wohnungsbehübschung ist ein nicht eben kleiner Voth aufgetaucht, ein Siebdruck (hier eine andere Abbildung) zur Reise ins Meer, der auch ich seinerzeit fasziniert beigewohnt habe. Töchterlein wollte keine Mumie an der Wand haben, aber der jüngere Bruder ist so verrückt nach dieser Nordseeleiche, daß er von seinen paar Groschen bereits einen neuen Rahmen geordert hat. Irgendwie muß ich dabei daran denken, wie verhement er einst das vom Wein versaute Goulasch abgelehnt hat und mittlerweile der erste ist, der den Deckel des Topfes anhebt, in dem es leicht vor sich hingeblubbert hat. Aber die Kunstentwicklung kann ich mir wohl kaum auf mein Banner schreiben. In das Horn hat wohl die Mutter gestoßen. Auch bei mir hat sie etwas ausgelöst: Hin und wieder schaue ich im Fundus nach, was mir bleibt, denn nach jeder Kammerpirsch schleppt die versierte Schatzsucherin etwas anderes heraus. Ob sie es noch nicht entdeckt hat? Einstmals ein Geschenk, über das ich mich jetzt wohl erst so richtig freue, weil ich es vor den Raubzügen retten konnte, ein handcoloriertes Blatt von Wolf Vostell, von dem mir 2006 dessen Sohn Rafael schrieb: « Vor wenigen Monaten ist in der Städtischen Galerie Villa Zanders in Bergisch Gladbach das Werkverzeichnis zur Druckgraphik von Wolf Vostell erschienen. Das Blatt ist dort aufgeführt.» Ich sehe schon: das wird doch wieder eine (noch) längere Geschichte. Ein wenig möchte dann doch von einer Kunstbeziehung an sich berichtet werden. Bei Gelegenheit.
|
Jean Stubenzweig motzt hier seit 6026 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00 ... Aktuelle Seite ... Beste Liste (Inhaltsverzeichnis) ... Themen ... Impressum ... täglich ... Das Wetter ... Blogger.de ... Spenden
Zum Kommentieren bitte anmelden.
AnderenortsSuche: Letzte Kommentare: / Echt jetzt, geht noch? (einemaria) / Migräne (julians) / Oder etwa nicht? (jagothello) / Und last but not least ...... (einemaria) / und eigentlich, (einemaria) / Der gute Hades (einemaria) / Aus der Alten Welt (jean stubenzweig) / Bordeaux (jean stubenzweig) / Nicht mal die Hölle ist... (einemaria) / Ach, (if bergher) / Ahoi! (jean stubenzweig) / Yihaa, Ahoi, Sehr Erfreut. (einemaria) / Sechs mal sechs (jean stubenzweig) / Küstennebel (if bergher) / Stümperhafter Kolonialismus (if bergher) / Mir fehlen die Worte (jean stubenzweig) / Wer wird schon wissen, (jean stubenzweig) / Die Reste von Griechenland (if bergher) / Richtig, keine Vorhänge, (jean stubenzweig) / Die kleine Schwester (prieditis) / Inselsommer (jean stubenzweig) / An einem derart vom Nichts (jean stubenzweig) / Schosseh und Portmoneh (if bergher) / Mit Joseph Roth (jean stubenzweig) / Vielleicht (jagothello) «Ist Kultur gescheitert?» ? «Bitte gehen Sie weiter.» Suche: Andere Worte Anderswo Beobachtung Cinèmatographisches + und TV Fundsachen und Liebhaberstücke Kunst kommt von Kunst La Musica Regales Leben Das Ende © (wenn nichts anders gekennzeichnet): Jean Stubenzweig |
|