Neurosotologische Früherziehung Alles Gute kommt einmal mehr aus den USA, und welche weltläufigen europäischen Eltern wären da nicht bereit, auch hierbei sofort eine Gruppe zu bilden: bereits der Leibesfrucht die richtigen Flötentöne beizubringen. Auf Mamans Bauch werden Kopfhörer plaziert, auf daß das sich noch in der pränatalen Phase befindliche Kleine rechtzeitig die Musik erlerne, mit dem es später Karriere zu machen habe, mit virtuosen Instrumentalklängen zu Beispiel, auf jeden Fall irgendwelche hochkulturellen Geräuschkulisserien. So ein späterer «James Galway, dieser André Rieu des Blasinstruments» (Herbert Köhler), stünde den glücklich hochgebildeten Eltern doch recht gut zu Gesicht im in eine Wolke über Silikoniental ausgelagerten Familienalbum. Doch auch so ein Welttestesser mache sich sicherlich recht vorteilhaft im kommenden Familienstammbuch. Mit einem SUV oder am Ende gar mit so einem alten Schlampenschlepper (© Nikolaus Gerhart) mit Historienkennzeichen vor dem Haus ist ja heute leider kein Prestigehaushalt mehr zu machen. Dieses Wissen um pränatale Erziehung beruhe auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen der Neurologie, flötentönen die pädagogischen Avantgardisten es karrierebewußten Eltern bei. Dabei ist dieser Hut mindestens so alt wie die Achtundsechziger. Schon lange vor Gründung der Grünen klapperten auf die Feinsinnigkeit ihrer Nochnichtgekommenen achtende Mütter dem ungeborenen Nachwuchs auf ihren Strick- und Häkelnadeln klassische Töne bis zum Liedgut wie Am Brunnen vor dem Tore vor. Und noch weiter zurück lautete die Devise, wer über Mamans Brustduftdrüsen Anissamen zu sich nahm, der wurde mit Sicherheit später ein großer, wenn nicht gar ein fast weltberühmter Trinker wie Serge Gainsbourg. Beim noch nicht zur Welt gekommen Henri II war es so, daß bei Maman zwar ohnehin ständig übers Essen geredet wurde, aber Papa eine Zeitlang eine Vorliebe für nipponische Klänge hatte; bei welchen Gelegenheiten, das bleibt Familiengeheimnis. Am meisten eingeprägt haben muß sich dabei das Sashimi. Er ißt es, als hätte er es bereits im Leib ständig zu sich genommen. Das ist kein Harakiri, das ist lecker.
(Auto-)Biographien (um wenigstens in der Nähe des Themas zu bleiben, zu dem ich noch Antworten schuldig bin) beginnen bekanntlich mit Reisetätigkeiten. Grand-père kennt das aus eigenen, frühkindlichen Verschickungsmaßnahmen, in denen man dem Kleinen allerdings noch jeweils ein Schild um den Hals hängte, was gar nicht notwendig gewesen wäre, denn zu dieser Zeit verbrachten solche Winzlinge im Regelfall die ersten Jahre im trauten Heim und wurden noch lange nicht Tante Stewardeß oder Onkel Zugschaffner anvertraut. Für mich war dieses Unterwegssein nahezu ein Normalzustand, der vermutlich mit zu meiner Unstetigkeit geführt haben könnte. Heutzutage ist das Reisen der Kinder längst Alltag, viele fahren bereits los, bevor sie überhaupt zur Welt gekommen sind. Auch unser Henri II ist als Folge neuerer Erziehungsmethoden längst ein Souverain. Allerdings zeigte er schon früh, vermutlich bereits in Mamans Leib und, über die Brustduftdrüsen, mittels derer ihm der Mutter genüßliche Reminiszenzen an Münchner Zeiten wie a Weißwurscht, a Brezn und selbstverständlich das dazugehörige Schluckerl von'd Maß zugeführt wurden, nicht zu vergessen Papas Anleitungen zum Hummer streicheln, Interesse an fremden Ländern und deren Sprachen. Denn es ist nunmal so, daß Kinder früher — etwa in meiner Kindheit oder auch noch eine Generation später – in der Regel nicht via Kaiserschnitt aus Mutterns Leib gehoben wurden, um Rückblicke auf eine Schwangerschaft zu vermeiden, oder gar als Frühchen keine Muttermilch bekamen, was eine entsprechende Geschmacksbildung verhinderte. Denn nur via Madame Mamans Brustduftdrüsen, so synapste das kleine Gehirn, daß diese sich gerne die tägliche Milchportion direkt vom Bauern in den Mund strullen ließ oder frischen Fisch mit Kräutern bevorzugte oder ungemein gerne ein Omelette von Eiern aß, das aus Würmer und Käfer und Samen vertilgenden Hühnern kam, auch die netten weißen Trüffelschnitzchen dazu sehr schätzte und auch lieber mit der Weinkanne zum Winzer ging, um sich dessen Haustrunk nicht nur abzuholen.China und dessen Chinesisch würden erst später gewürdigt werden, zur Individualreise sowie zum vorbereitenden Sprachkurs ist er via Vermittlung durch den Kindergarten bereits angemeldet. Zunächst jedoch soll es die nähere Umgebung sein, die es zu erkunden gilt. Während seines gelegentlichen, maximal einstündigen Blicks in die Ferne über die bewegten und bewegenden Bilder des aufklärungsbewußten öffentlich-rechtlichen Kinderkanals sah er die zwar fremdartige, aber auch sehr lustige Kleidung der Menschen des Landes, das er dann aus Studiengründen, er wird ohne jede Frage Ethnologe oder weltreisender Testesser werden müssen, zu bereisen gedachte, worauf er als kommender Kosmopolit beschloß, es sei wohl am diplomatischsten, sich sogleich deren Tracht anpassen zu wollen, um nicht übermäßig aufzufallen. In Hamburgs Provinzbahnhof Dammtor war das allerdings noch der Fall. Die dortigen Einheimischen sahen vermutlich kleine grüne Männchen kommen. Auf der Wiesn würde er dann als Primus inter pares gesehen und entsprechend gehätschelt werden. Die Kladden für Notizen späterer Romane — alles sei autobiographisch, meinte Jochen Gerz einmal — werden in Behältnissen erforderlichen Ausmaßes mitgeführt. Da kann der unautobiographisierte Opa nur irritiert leuchtende Augen machen.
Sonntägliche Fernsehstunde In einem Teil von Opis großer Familie gibt es einen dreijährigen Jungen, dessen Weisheiten er trotz des wohl kleinkindlich bedingt überhasteten Schnellsprechs und seines seine Mitmenschen erheblich belastenden Gehörs dennoch vernimmt, weil er in ganzen Sätzen spricht, bis hin zu grammatikalischen Feinheiten etwa eines Genitivs und gar eines Konjunktivs. Immer wieder aufs neue ist dieser Opi erstaunt, aber auch entzückt davon. Im Kindergarten lernt der Lütte das nicht, schon gar nicht im Fernsehen. Das darf er nämlich dennoch schauen, weshalb sollte er wirklichkeitsfremd aufwachsen, er trifft ja auch längst die richtigen Knöpfe im Computer. Einmal täglich darf er kucken, wenn scheinbar Kindergerechtes zur Ausstrahlung kommt. Alleine in die Glotze glotzen darf er nicht. Schließlich tauchen immer wieder Fragen auf, die beantwortet sein wollen. Meistens ist es Papa, der dann ohne jeden Anflug von fortgeschrittener Babysprache erklärt, worum es eigentlich geht in dieser Sendung, in der irgendwelche aufgedrehte, etwas ältere Jungs mit dem vermutlichen Karriereziel Berufsjugendliche in einem Operationssaal herum-hampelnd und grimassenschneidend die Bedeutung von Bakterien erläutern: Hände-waschen ist enorm wichtig, will man nicht krank werden. Nein, nicht so wie der dabeisitzende Opi, der ist lediglich von der Altersstarrheit angefressen, was aber auch jedem passieren könne, wenn er so lebe, wie er gelebt habe, was diesem Opi aber egal sei, da er gut gelebt habe, weil er nicht vorhatte, mit dreiundneunzig Jahren zwar gesund, also körperlich einigermaßen intakt, dafür völlig verblödet dahingeschieden zu sein. Dieser das nicht gehört, aber zwischen den Zeilen wahrgenommen habende Opi durfte, mußte aber nicht kommentieren. Er denkt sich seinen Teil und ist eher erheitert über solche leichte Sarkasmen, kann jedoch, da er von jungen Jahren an an schwerst und unheilbarem, weltverbesserischem Wortdurchfall leidet, deshalb dann doch seine Klappe nicht halten und spricht gen Kindwelterklärer: Ob er ihm bitte erklären könne, weshalb dieser schrecklich künstlich aufgeregte Worttröter in dieser Kiste eigentlich von diesen «komischen» grünen Anzügen spräche, die das Personal im Operationssaal trägt, anstatt mit einem oder auch zwei Sätzen klarzumachen, daß sie vielleicht komisch auf den Kleinen wirken, weil diesem komischen Onkel da in der Kindsglotzredaktion niemand gesagt hat (oder vielleicht sagen konnte?), warum dort grün getragen wird oder auch blau, nämlich weil die Götter in weiß in sonstiger Tracht nicht reflektionsfrei, also klar sehen und so die Gefahr erhöht wird, noch mehr Scheren und Putzlappen neben Niere oder Leber im Körper eines Frischoperierten zurücklassen. Und endgültig tritt dann die Logorrhoe, während Opi einleuchtet, woher das alles kommt, was ihm seine Sprachumwelt so drastisch verdreckt, aus allen seinen Sprechöffnungen, als dann noch einige virtuelle, neudeutsch post it geheißene Notizzettel aufscheinen, nach denen alles mit Super, umgangssprachlich Supa!, unterstrichen wird. Und das, spricht der immerfort zur mindestens leichten Ironie neigende Papi, in klaren, grammatikalisch einwandfreien Sätzen, so, daß auch der Kleine es versteht, kommt aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramm, das stetig bemüht sei, es von den Privaten abzuschauen und es anschließend immer noch ein bißchen weiter nach unten zu nivellieren, etwa so, wie man immerfort bemüht sei, Ansprüche in Schule und Universität abzusenken, statt sich nach oben zu orientieren. Hamburg zum Beispiel, würde sich entschieden dagegen wehren, bayerische Abiturkriterien als Maßstab nehmen zu müssen. Auf Opis Entgegnung, das seien aber auch nur Kriterien des Auswendiglernens zur Verbesserung von Schulnoten und nicht etwa geeignet, zum selbständigen Leben anzuleiten, meldete der Kleine sich zu Wort: Man möge bitte aufhören, ständig in seine Fernsehstunde hineinzuquasseln. Auch Kinder, das habe ihn Papa gelehrt, hätten ein Recht darauf, ungestört kennenzulernen, wie sich Erwachsene die Welt des Nachwuchses vorstellen. Anschließend käme die Sendung mit der Maus. Das wäre was von der älteren für die ältere Generation.
Von der Revolution des Anstands In der Praxis einer Kinderärztin. Opi ist in die Dienstpflicht genommen, er muß auf seinen täglichen morgendlichen Gang ins Haus der Freude verzichten, weil Mutti dringend zur Freundin muß, um Kaffee zu trinken und die neue Versandhauskollektion zu besprechen, man hat sich eine ganze Woche lange nicht gesehen, und Nichtsnutz Papi treibt sich wie üblich auf der Arbeit herum. Opi hat's eigentlich nicht so mit den Kleinen, schon gar nicht in größeren Mengen. Er sitzt lieber, wie es sich gehört für sein Alter, in seinem Ohrensessel, hört Radio Multikulti oder seiner Katze zu, liest Bücher, die die Auswirkungen der französischen Revolution auf die moderne Gesellschaft zum Thema haben; beinahe hätte er mordende geschrieben, er sollte mal wieder zum Ophthalmicus oder besser, wie's in seiner alles zivilisierenden Lieblingssprache Esperanto heißt, zum Okulisten des Inneren gehen, aber Ärzte sind ihm nicht geheuer. Opi kuckt nämlich und hört auch nicht mehr so gut, seit dem Sturz seines Gehörs mit dreißig, das ihm die Töne, die links unten produziert werden, recht oben wahrnehmen lassen. Das irritiert ein wenig. Er mag sich nur ungern irritieren lassen. Er irrt auch so schon genug in der Welten Zeitläufte herum. Aber bereits die Jugend mit ihren ständigen Gerede von Revolution verwirrt ihn, wenn sie auch meistens irgendetwas Technisches oder Arabisches damit meint. Und mittlerweile kommen die ganz Kleinen bereits mit Tastaturen an den Händen auf die Welt. Kein Wunder, daß sie ständig zum Arzt müssen. Omi hätte das mit Kräutern, Heilsalben und Pfefferminztee aus der Welt geschafft. Aber seit sie die Ohren vollhatte von diesem Herumgekrakeele und sich privatisierend in eine nach dem letzten Pétanque-Turnier eigenäugig selbstentdeckte, erforschte und für unschwedisch, also für wohntauglich befundene Höhle in einer Calanque vor Cassis zurückgezogen hat, muß eben er mit der Lütten zur Kinderärztin. Die Zwillingsbrüderchen muß er gleich mitnehmen. Ihnen fehlt zwar weiter nichts, für Viren in der oberen Festplatte scheinen sie mit ihren fünf Monaten vielleicht ohnehin noch etwas zu jung, aber sie müssen ja auch mal unter Menschen, und bei der Gelegenheit kann die Tante Kinderärztin deren Hardware ja auch gleich mal durch den Scanner schieben. Den hat sie sich kürzlich angeschafft, von wegen IGeL in der Abendstunde und so, also dieser Verkäufer von harter und weicher Ware mit dem blitzenden Lächeln und der Einladung zum Dinner at Candlelight, für den auch alternde Damen noch nicht zu alt sind. Opi interessiert das nicht weiter, er ist schließlich privat versichert. Deshalb weiß er, was das alles kostet und auch, daß Ärzte beileibe nicht so dramatisch überteuert liquidieren, wie den Leutchen das ständig weißgemacht wird. Im Gegensatz zu denen, die sich am lautesten darüber aufregen. Wie Papi. Aber der weiß ja auch nicht so genau, weshalb er fortwährend schuftet. Vielleicht gerade noch, daß die lieben Kleinen ebenso etwas Feines haben müssen wie er und die Nachbarn vor dem Carport. Zum Beispiel so einen supermodernen Doppelsitzer mit allen Schikanen. Dafür macht er auch schonmal Überstunden oder hilft dem Nachbarn beim Hausbau. Selbstredend ohne Rechnung. Man muß den faulen Griechen und wahrscheinlich demnächst auch noch den Portugiesen schließlich nicht alles in den Rachen schmeißen. Da geht dann doch einiges an Zeit drauf. Die Informationen müssen eben ein bißchen warten. Die Kleinen und Mutti auch. Andere Muttis scheinen keine Freundinnen zu haben, zu denen sie dringend müssen, weil sie sie bereits länger als drei Tage nicht mehr gesehen haben. Möglicherweise drohen sie zu vereinsamen. Anders kann Opi sich nicht erklären, daß manche von ihnen sich offenbar täglich in der Kinderarztpraxis einfinden, obwohl den Kleinen bis auf ein kleines Hüsterlein nichts weiter zu fehlen scheint, wie Opi in seinen verdrehten Lauschern zu vernehmen scheint. Möglicherweise haben sich ja noch ein paar Omis da unten getroffen und machen, verabredet via Farcebook oder wie das heißt, Revolution gegen die Ausbeutung durch ihre Kinder und Kindeskinder. Die Kinder haben anscheinend die Revolutionäre gefressen, möglicherweise weil sie zu wenig Zeit hatten für ihre Kinder. Es mag aber auch sein, daß nicht Anständiges im Fernsehen kommt um diese frühe Uhrzeit. So irgendwas mit Knigge und Chinesisch-Unterricht im Kindergarten, wegen Zukunftsorientierung oder so ähnlich, wie man das kennt von denen, die ihre Kinder zwischenzeitlich zu einem Onkel deportieren, der ihnen das verkniggert, was die Alten ihnen beizubringen nicht in der Lage sind, weil wiederum deren Alten ständig mit der Revolution beschäftigt waren, in diesem Fall der am Arbeitsmarkt, derentwegen man immer mehr zur Mitte rücken mußte und es somit eng zu drohen wurde. Für Anstand will also im nachhinein gesorgt sein, und das heißt nach heutiger Hör- und Lesart nunmal nichts anderes als Anpassung an diejenigen, die früher der Adel waren, der nichts anderes zu tun hatte, als sich gut zu benehmen bei Tisch, also daß man beispielsweise die Crème nicht mit dem Klappmesser ißt und den Grand Cru nicht mithilfe von Plastikhalmen aus Putzeimern trinkt. Richtig was im Fernsehen kommt vermutlich erst ab Nachmittag, wenn die Praxis der Tante Kinderärztin drei Stunden nach Ende der morgendlichen Sprechzeit schließt und man so lange herumhocken mußte, weil man vergessen hatte, sich einen Termin geben zu lassen oder weil einen der nicht weiter interessiert, weil ohnehin nichts im Fernsehen kommt frühmorgens um neun. Das denkt sich Opi jedenfalls, nachdem er sich vorne am Tresen mit einem freundlichen Lächeln angemeldet und dafür entschuldigt hat, daß ihm Mutti auch noch den Doppelsitzer mit den beiden Kleinen an seine beiden linken Hände gegeben hat. Das denkt er sich, nachdem ihm die Chaosbändigerin am Empfang tief durchatmend, aber noch immer freundlich bedeutet hat, dann müsse er aber noch eine ganze Weile friedlich mit den Damen im Wartezimmer plaudern, in das er sich dann erleichtert begibt, weil er bis auf die paar Tritte vor sämtliche Schienbeine keine weiteren Blessuren davongetragen hat. Erteilt wurden sie ihm von den lieben Kleinen, die eigentlich die Schienbeine ihrer Muttis gemeint hatten und ihnen langweilig geworden war. Kinder in diesem Alter müssen das mit der Koordination schließlich erst noch lernen. Den Muttis fehlte die erzieherische Zeit für ihre Lieben, weil sie sich ziemlich befehden mußten mit dem Personal, das irgendwie nicht willens zu sein schien, die Morgensprechstunde in den Abend hinein zu verlängern, nur weil für die Untersuchungen der Pickel an den Popos der mitgebrachten anderen Kinder keine Termine vereinbart worden waren. Im Wartezimmer erfuhr Opi dann die Bestätigung seiner TeVau-Theorie. Erst ab zirka fünfzehn Uhr, so faßt er die Berichte einiger seiner mitleidenden Mitwartenden zusammen, schienen die beliebten Fernsehprogramme die Wirklichkeit zu senden, die da lautet: Als Patient hat man Rechte. Dazu zählen die, gerät Opi ins Interpretieren, grundsätzlich ungehobelt auf sie zu bestehen, welche auch immer sie sein mögen. Im Zweifelsfall, so strahlen auch allesamt die der schonungslosen Information verpflichteten öffentlich-rechtlichen Erziehungsanstalten hemmungslos aus, werden Sie geholfen. Dann rücke ein rasender Mediator mit Blaulicht auf der Basecap aus und rücke dem unwilligen Praxis-personal, das ohnehin nichts anderes wolle als an die Kohle der armen Patienten, mal ordentlich mit seiner Meinung auf den weißen Kittel. Nun ist Opi gänzlich erschöpft. Er ist zurück in seinem Ohrensessel, hört wieder Radio Multikulti und der Katze zu oder beschäftigt sich mit der unvollendeten Moderne. Er sieht sich momentan nicht weiter in der Lage, über den Anstand zu berichten, von dem alle Welt redet und dessentwegen die Muttis und Vatis ihre Kinder ins Erziehungslager zum Knigge-Onkel verschicken. Ein sehr langer Vormittag in der Praxis beziehungsweise im Wartezimmer der Tante Kinderärztin hat ihn ausgelaugt. Wäre er noch handlungsfähig, er würde zur Revolution aufrufen, zur Revolution gegen eine unsäglich ungehobelte, egozentrierte Gesellschaft, die sich auf Rechte beruft, die ihr nicht zustehen, solange sie nicht zu lernen bereit ist, wie man sich ordentlich benimmt. Morgen vielleicht noch ein bißchen mehr aus der Praxis der Tante Kinderärztin. Wenn Opi sich einigermaßen erholt haben sollte von soviel Sitte und Anstand.
Lebenstaugliche Übergebenheit Unweit der Landungsbrücken, die ich auch weiterhin nicht (nur1) des Undefinierbaren an Kartoffelsalat und der schlichten Sehnsüchtigen an buntem Luxusuntergang wegen, dieser neuen Volksseuche namens Königin Maria, sondern ausnahmlos deshalb betrete, um hinüber nach Finkenwerder oder an Rühmkorfs Blankenese vorbei Schiffchen zu fahren, gibt es richtigen Fisch. Das Restaurant dazu liegt am Stromkilometer 626. Früher, seit Anfang der Fünfziger wurden dort laut über uns «Händler und Fischer, Angestellte, Banker, Schiffseigner und alteingesessene Bürger mit Zünftigem und Deftigem» versorgt. Es steht noch immer dort, wo sonntags in allerfrühester Frühe, meistens noch vor Sonnenaufgang, manch einer nach Nächten allerhärtestester aquavitaeischer Linien im Binnenland weiterzechen. Es gibt allerdings auch solche, die das Alter aus solchem Treiben aussortiert, die es lediglich dorthin zieht, um Schiffchen zu kucken. Und der feinen Mahlzeiten wegen natürlich, die das Fischereihafenrestaurant offeriert. Hierbei soll es ausnahmsweise nicht um mich von der dahinsiechenden Generation gehen. Kinder an die Macht. Erzählt sei vom, also dann doch, mir nahestehenden Henri II. Er gehört nämlich, logisch, zur Familie des Mädchens, das den Hummer streichelt, bevor er schwitzend im Topf errötet, um dann aus Liebe gefressen werden, zu jener Familie, deren Katze lieber Kaviar zu sich nimmt, bevor sie bei Barock und Lyrik Erklärliches zu Horkheimer und Adorno performt, gleichwohl wissend, wie's nahrungsmitteltechnisch im normalen Leben abgeht. Henri ordert nicht selbst. Er gehört schließlich zur großen Familie derer, die sich freiwillig der Macht des Essens unterworfen haben, wo jeder von des anderen Tellers nimmt. Die Maman dieses nicht nur von französischer, sondern bereits in jüngsten Jahren schlechthin von Lebensart durchdrungenen Henri II faßt das in schlichtere Worte: Nee, das Kind braucht nichts extra, das ißt bei uns mit. Als Vorspeise nimmt diese ignorante Erwachsenenbagage Jakobsmuscheln, für jeden zwei. Jeder der drei gibt Henri eine ab. Der freundliche Mâitre d'Hotel (altpreußendeutsch: Ober-Garçon) spendet solch kindlicher Gustation mißtrauend eine Portion Kartoffelbrei. Die Pecten, ihres Namens wegen auch Pilgermuscheln genannt, auch wenn diese hier mit dem Pfad des Ich bin dann mal weg in den Süden nichts zu tun hat, kommen sie doch vom normannischen Nordatlantik, gehört zu den größten Tierchen des Plaisirchens. Henri verdrückt sie mit Genuß. Als dann der von ihm georderte Kartoffelbreinachschlag eintrifft, bekommen die Verfressenenen um ihn herum den zweiten Gang (Scampi an, um, auf ... irgendwie so) serviert. Kurzer Blick auf die Teller seiner Mitesser: Jetzt mag ich keinen Kartoffebrei mehr — jetzt will ich Scampi. Tags darauf ist Henri krank, viel kranker, als alle Opis dieser Welt je sein können; was ganz sicher nichts mit dem frischen toten Fischzeugs des Restaurants zu tun hat. In der darauffolgenden Nacht geht unten und oben raus, was der kleine Körper über geseligte Muscheln und Sampi hinaus sonst noch hergibt. Maman erzählt erschüttert von «fünf frischen Schlafanzügen und diverse Bezügen für Kopfkissen und Bettdecken», die gebraucht worden wären. Den Tag darauf trinkt Henri nur Wasser, übergibt sich noch zweimal und ißt bis Sonntagabend gar nichts. Fast eine Woche ist dahingegangen. Am Sonntagabend hat Papa Carpaccio vom wilden Lachs und Jabobsmuscheln zubereitet, ist dafür zuvor noch in den eigenen Garten geeilt, um Kräuter und Salat zu ernten. Henris Augen leuchten, als er Fisch und buntes Grünzeug sieht, wird wild und nimmt reichlich. Auf die Frage, ob er denn auch Jakobsmuscheln essen wolle, entgegnet er: Die mag ich nicht. Die esse ich nur in einem feinen Restaurant! Ende des Monats fährt Henri, ein paar andere dürfen mit, nach St. Peter Ording, um jemanden aus der Großfamilie zu besuchen, der sich dort zur Kur befindet. Der berichtet, wie das eben manchmal so ist bei Menschen, deren Leben sich in die andere Richtung neigt, bei solchen, die von alterswegen mit Donald Sutherland darüber philosophieren, wie das fröhlicher enden könnte, wenn's andersherum ginge, den Mitreisenden über seine Verdauungsprobleme. Henri, aus eigener Lebenserfahrung: Ich war auch schon mal krank. Ich hatte eine Übergebung. Eine Erziehung kann zu seltsamen Weltanschauungen führen, etwa zu der, daß essen und trinken auf hohem Niveau zum Lebensstandard gehören sollte. Linksrheinisch ist man davon überzeugt. Rechts vom Rhein gibt man den Gewinnmaximierungsbestrebungen der sogenannnten Nahrungsmittelindustrie den Vorrang: Hauptsache billig. Henri aufm Klo ist copyrightet by © édition csc 2012. Es zeigt, wie er auf die Hamburger Pfeffersäcke scheißt. Die einen lesen Micky Maus oder Batman, während er Nachrichten von der niedergehenden hanseatischen Wirtschaft studiert, die für viele chinesische Dörfer bedeuten.
Deutschland braucht Arbeitslose Der Rückgang der Bevölkerung in Deutschland beschleunigt sich. In den vergangenen zwei Jahren habe der negative Trend endgültig eingesetzt, hieß es in einer 2007 in Berlin vorgestellten Studie zur demographischen Entwicklung. Die ohnehin schon niedrige Geburtenrate sei weiter gesunken. Derzeit bringe jede Frau in der Bundesrepublik durchschnittlich nur noch 1,36 Kinder zur Welt. «Damit ist Deutschland Spitzenreiter im negativen Sinn», sagte der Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, Reiner Klingholz. Sein Kollege Hans Fleisch ergänzte: «Die negative demographische Entwicklung Deutschlands nimmt an Geschwindigkeit noch zu.» Die Zahl der in Deutschland geborenen Kinder wird nach den Erwartungen des privaten Instituts bis 2050 immer weiter abnehmen. Dann würden in der Bundesrepublik nur noch etwa halb so viele Kinder geboren wie heute. Colloquium in uteroKurt Tucholsky: Zwischen Gestern und Morgen, Rowohlt Verlag, Reinbek 1952, S. 136 und 137; Gesammelte Werke Band 10, S. 56 f.; Erstveröffentlichung 1932
Therapeutische Höhenflüge Zum Therapie-Bulletin entwickelt sich dieses mein hiesiges elektrisches Wochenbüchlein zusehends. Allerdings verdiene ich damit auch noch Geld, und zwar nicht eben wenig, lege ich die Gebührenordnung für Therapeuten zugrunde, die zweifelsohne mit der mehr oder minder serlöser Finanzberater vergleichbar sein dürfte, wobei mir in Unkenntnis der Tarife letzterer die möglichen Verluste verborgen bleiben. Während also andere unentwegt bemüht sind, mittels der seltsamsten Anfragen oder auch Angeboten letztlich mit kaum prüfbaren Fremdklickereien ausgerechnet bei mir ihren Haben-Saldo in Richtung schwarzer Null, also den mittlerweile die gesamte webweite Welt bewegenden Break-even-Point zu bewegen, klingelt's bei mir ständig. Eben gerade wieder, fällt mir doch genau zu diesem Punkt ein, daß diese Musik mir einmal zur völlig geldabgewandten Seite der Erde verhalf, was ja unbedingt als ein feines Plus gebucht werden will. Über den anschließenden Ärger mit dem damaligen Noch-Ehemann — die Gerichte kamen aufgrund des neuen Eherechts damals nicht so recht nach mit den Scheidungen — schweige ich jetzt lieber ein bißchen, weil ich sonst zuviel verraten würde und damit ein abgeschlossener Roman hier vorläge, wie mich bereits Mitte der Siebziger der hochgeschätzte Michael Krüger lehrte, was so dann auch wieder nicht recht stimmt, schreibt man doch «als Fortsetzung des Lesens», wie er seinerzeit weiterphilosophierte, ohnehin immer so weiter und so fort. Ich also gewinne fortwährend. Bedanken muß ich mich für diesen Kapitalzuwachs vor allem bei Herrn Nnier (die vorliegende Notiz kann also zugleich als Teil der angekündigten und getätigten Blogrolle vorwärts erachtet werden). Zwar ist er kein Therapeut, aber eben doch so etwas ähnliches. Mehrfach ist es ihm gelungen, erhebliche Verluste auf meiner Seite auszugleichen. Das bezieht sich in erster Linie auf Kindheitserinnerungen, die mir fast ausnahmslos abgehen, aus welchem Grunde auch immer, möglicherweise, da ich ein früher Herumtreiber war, die ja bekanntlich allesamt irgendwie therapiert gehören. Es funktioniert völlig komplikationslos: Er erinnert sich, und bei mir erhöht sich durchweg am darauffolgenden Tag das Haben-Konto, nicht nur monetär wegen des kostensenkenden, nicht mehr erforderlichen Besuchs beim Therapeuten. Entscheidend dabei ist, daß jeweils lediglich ein paar träumerische Sekunden oder Minuten folgen müssen, die mir allerdings immer wie Stunden vorkommen, während der mir der Weg zum Gewesenen ein-, mir sozusagen heimgeleuchtet wird. Gestern war er auf dem Rummelplatz, mein virtueller Therapeut. Schemenhaft erinnerte ich mich dessen, das mich heutzutage immer wieder erschaudern läßt, schaue ich den jungen Menschen zu, was die sich alles antun. Das letzte Mal fand das zu dem Zeitraum statt, als der Wein rot glühte, es von oben herunter unablässig kübelnaß kam und dazu die Glocken läuteten, begleitet von süßen Schlagerchorälen der fünfziger Jahre aus dem Resonanzkörper eines Kinderkarusells. Unseren Mittleren focht das nicht an, er wollte hüpfen vor Freude. Aber er kam nicht gleich dran, der junge Vater von mittlerweile knuddeligen zwei selbst erzeugten und weiteren zwei zärtlich angenommenen Kindern. Es war ein Kleinstadtrummel, da kommt es schonmal zu Engpässen beim Vergnügennehmen. Ein Jüngelchen im Alter von geschätzten drei, höchstens vier Jahren wurde von seinem begeisterten Großvater, es mag auch der fortgeschrittene Erzeuger persönlich gewesen sein, wurde fest in Gurte verzurrt und dann mittels flexiblem Gummiboden in die Luft geschleudert. Der Lütte genoß es, nach zögerlichen Anfängen, sichtlich, in den Himmel geschossen werden, wieder auf der Abschußrampe anzukommen, um sich anschließend umgehend wieder in die Lüfte zu begeben. Begeisterte Lustschreie begleiteten das Geschehen, die allerdings überwiegend von den weinglühenden Stimmbändern des erziehungsberechtigten Begleiters des jungen Hüpfers kamen. Als dann der sehr viel jüngere Erziehungsbrechtigte dran war und seinen vielen Kindern demonstrierte, welche Salti man in solchen Gurten schlagen konnte, wandt ich mich lieber ab, auf daß mir nicht schlecht werde vom Zuschauen, suchte lieber Stand auf der Festigkeit vorweihnachtlichen Alkohols. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß auch sogenannte Erwachsene dazu neigen, sich in beziehungsweise von solchen Gerätschaften lustvoll quälen zu lassen. Denn trotz aller leidvoller Kindheitserfahrung habe ich mich noch einmal dazu verführen lassen, mich in eines dieser, von meinem virtuellen Therapeuten zwar sanft, aber letztlich mit Nachdruck geschilderten Folterinstrumente zu begeben. Und das auch noch in Breiten, wo man so etwas wie technische Überwachung nicht einmal vom Hörensagen kennt. Meiner jungen brasilianischen Begleiterin gegenüber nahm ich allen meinen Mut zusammen, um meine jugendliche Unerschrockenheit unter Beweis zu stellen, was dazu führte, daß sie fast im Anschluß an diese Gemeinsamkeit in ihr (ohnehin mehr von natürlicher Wildheit geprägtes) heimatliches Recife zurückreiste und ich mich mehr weniger bewegenden Lustbarkeiten zuwenden sollte. Ach ja, richtig, die Kindheitserfahrung, um ein Haar hätte ich mich wieder verloren. Etwa im Alter des oben erwähnten sehr jungen Hüpfers, aber eher noch jünger, denn ich konnte noch nicht richtig sprechen, das verriet mir der letzte Erinnerungstraum, setzte meine Mutter, die von ihrem Naturell her eigentlich nicht unbedingt zu körperlichen Abenteuern neigte, mich vermutlich ersatzweise in ein Kettenkarusell wie einige Zeit später auf eine ungesattelte Kuh. Offenbar schätzte ich schon damals solche Schleudertraumata nicht, denn ich schrie, als sollte ich zum Götteropfer vorbereitet werden. Es nutzte nichts, ich kam in die Zentrifuge. Die fliehende oder auch mir fehlende Kraft zum Festhalten bewirkte die frühe Selektion vergnügungsunfähiger Menschen. In hohem Bogen wurde ich aus dieser Rundflugmaschine herausgeschleudert. Glücklicherweise war es keine allzu riesige. Aber etwa zwanzig Meter waren es durchaus, die mir diese frühe Erfahrung angewandter Physik erbrachte. Das Erkennungsmerkmal an der Stirn ist ziemliche sechzig Jahre danach noch zu sehen. Allerdings dürfte damit, nicht zuletzt dank meines virtuellen Therapeuten, auch definitiv geklärt sein, woraus meine bisweilen kruden und krausen und nicht endenwollenden Sätze resultieren.
Hummer streicheln Während des angenehmen Gesprächs, das sich vom sonntäglichen Nachmittag bis in den vielflaschig verweinten und deshalb wohl albern bis trivialphilosphisch, also sehr lustig ausgehenden Spätestabend zog, war einmal mehr vom Kind die Rede. Da saß der Vater, von dem noch die Rede sein wird, aber das Schöne mal zuerst, und gab Beglückendes zum besten. Von seiner Vierjährigen erzählte er, mit der er, wie mit allen anderen Menschen auch, grundsätzlich gerne gut essen geht. Deshalb wohl ißt dieses Prachtkind alles. Nur kein Fastfood. Das kennt es nicht. Wenn die beiden unterwegs sind, geht es langsamer vonstatten. Zum Beispiel in dem Fischrestaurant, in dem die Hummer in einem großen Aquarium schwimmen. Einer gefiel ihr besonders gut. Sie zeigte auf den «großen Krebs» und meinte Papa gegenüber, ihn haben zu wollen. Order wurde gegeben und Platz genommen am Tisch. Nach kurzer Zeit des Sinnierens fragte sie ihren Vater, ob sie den Hummer vorher noch einmal streicheln dürfe. Papa fragte in der Küche nach, und der erstaunte bis verblüffte Koch «spielte» mit bei dieser Lektion des Erfahrens. Zunächst wurde erklärt, weshalb dem Tier mittels kräftigen Gummibändern die Scheren fixiert worden waren, weil die nämlich sonst ein Fingerchen durchzwicken könnten. Dann hielt der Mâitre der Kleinen den gefesselten Hummer nach unten hin, und ihre Hand glitt sanft über seinen Rücken. Danach gingen die beiden wieder ins Restaurant, setzten sich an den Tisch und warteten, bis der nun rote Zehnfußkrebs aufgetragen worden war. Mit Genuß aß das Mädchen vom Inneren der Scheren, die Finger durchschneiden können, und auch vom Fleisch, dessen Panzerung es einige Zeit zuvor noch gestreichelt hatte, gab's einige Stückchen. Den Rest genoß der Papa. Das Kind hat auch eine Mutter, die ihre zwei und vier Jahre jungen Töchter zumindest juristisch nur für sich haben möchte, den urkundlich nicht festgehaltenen Vater dennoch gerne als Kindermädchen einsetzt und es anschließend fast jedesmal zu auch strengeren Debatten über Früherziehung kommt. Dabei geht es bei weitem nicht immer nur um zuviel Schokolade oder Gummibärchen, also wesentliche Ingredienzien der Nahrung (wenn das auch, aus meinem Blick auf die Brustduftdrüsen, einen entscheidenden Beitrag zur Sozialisation leisten könnte). Der Erzeuger der kleinen Genießerin ist nämlich der Meinung, daß man Kinder nicht nur in Zielrichtung Egozentrik zu Lasten der Allgemeinheit verbiegen kann, indem man ihnen, wie in heutzutage selbsternannten etwas besseren Kreisen üblich, geradezu jedes denkbar schlechte Benehmen durch gar keines anerzieht, das sich in einem völlig aus dem Ruder gelaufenen oder überhaupt nicht vorabbedachten laisser-faire* darstellt. Auch das Gegenteil ausdrückende, mich einmal mehr an meine frühe Kindheit erinnerende, Verhaltensübungen vermögen Kinder zu verkniffenen Erwachsenen werden lassen wie im konkreten Fall die Mutter der beiden, die offensichtlich auf diese Weise ihrem Leben eine Ordnung geben möchte. Da muß Benimm und Geradesitzen und pünktlich Zubettgehen et cetera geübt werden bis zum späteren auch geistigen Haltungsschaden. Ich hatte das Glück, mich relativ rasch von den Büchern unter den Armen und dem Stock im Rücken befreien zu können, indem ich zuallererst mal immer das Gegenteil von dem tat, was man mir von dieser Art Erziehung angedeihen ließ. Um so unverständlicher ist mir, daß es Eltern gibt, die nach dem ersten Dezennium des 21. Jahrhunderts solche Foltermethoden anwenden und das ganze auch noch unter Knigge verbuchen. Das kann ich nicht anders bezeichnen als einen Totalschaden da oben in dem Bereich, der das Denken regulieren soll. Er dürfte sich für die Gesellschaft ebenso negativ auswirken wie die Anleitung zu einem neuen Terrorismus, der zu einer Variante der Sozialisation zu werden droht: Kinder in die Welt setzen, die das Ego spiegeln und das Selbst schmücken, und sie dann einfach machen lassen. Vom mittlerweile fast überzitierten «Elternführerschein» war an diesem Abend selbstverständlich auch die Rede. Auch die beiden mitdiskutierenden, entschieden nachwuchslosen und nicht nur deshalb wunderbaren Damen haben brillant zur Praxiserfahrung beigetragen. Schließlich waren sie selber mal Kinder, und Kunst kommt nicht von Kinderkriegen. Was geblieben ist? Dieser marinierte Fisch war, wie immer, köstlich, ebenso die Törtchen und die Pasteten zuvor und die Käse danach. Und der Wein, ja, der war gut. Fast so gut wie der Champagner. * In Frankreich haben Begriffe ihre Heimat, bei denen die Deutschen so gerne die Augen verdrehen — einige vor Glück, weil sie dabei das bequeme Denkschema im Erinnerungskopf haben, alles fallenlassen zu dürfen, auch die Scheiße in den Windeln der Gören. Und die wiederum, die damit so schlimm durchgefallen sind, daß sie ihre Alten dafür heute am liebsten mit dem Gegenteil dessen provozieren, was die damals für laisser-faire oder laisser-aller hielten: immer sauber frisiert, am besten auch das Auto, und bloß nicht anecken, schon gar nicht mit dem Auto. Daß dieses französische, vor allem im Süden beheimatete — ursprünglich dem Vokabular der Wirtschaftssprache entstammenden — Sein- oder Gehenlassen sozusagen aus dem Substantiellen herrührt, nämlich den anderen in seinem Sein nicht zu behindern, also dem Nachbarn auch nicht meine ganz persönliche Interpretation von Freiheit aufzwingen zu wollen, wird bis heute auch als Mißverständnis nicht anerkannt. (Unterschiede)
Kindheit, deine Sternchen «Das war wohl nicht so das richtige», war die Antwort der Maman von Henri le Premier auf meine Frage, wie denn die fast zwei Wochen ohne großstädtische Wohnung und mal Päuschen vom immer treusorgenden Kindsvater gewesen sei. Ein schrecklicher Junge sei das, ach, gar kein Junge, eher so ein Mädchen, das ständig am Hosenzipfel oder irgendwas anderem an ihr hinge. Nicht davon wegzukriegen sei er gewesen. Keinerlei Möglichkeit zur Flucht in ein Entspannungseckchen, sofort sei diese kakophone Alarmsirene losgegangen, lauter als ganz Paris, wenn es abends die arbeitende Bevölkerung vor die Stadttore jage, ein schreckliches, weitaus mehr als zwölftöniges Gebrüll des Kindes nach der Mutter, kaum daß sie mal außer Sichtweise gewesen war. Doch kaum zurück im Lärm der Stadt, da kehrte auch schon die Ruhe ein, die Anlaß war für diese Reise aufs Land, wo's so still sein sollte und dann eben doch so schrecklich laut war wegen dieses Dauergeschreis. Mit diesem Blag könne man ja nirgendwo hinfahren. Da brach es wieder erinnernd über mich herein, all dieses tantenhaft verzückte Gesäusel der Damen, als sie von meiner Kindheit hörten, die ich nahezu komplett auf Reisen, fast bin ich geneigt zu behaupten, in Koffern verbrachte, oft genug, als ich dann schon etwas stolpern konnte, mit einem Schild vor dem Brustkörbchen, das die Tante am Bahnhof oder am Flughafen darauf hinwies, wohin ich mal wieder verfrachtet werden sollte, weil die Erzeuger keine Zeit hatten, da sie dauernd anderweitig zu tun hatten, oft genug neue Wohnungen irgendwo zu besichtigen, die sie kurzzeitig mieten würden, um sie alsbald wieder zu verlassen. Mit mir im Gepäck, wenn ich Glück hatte. In den Anfängen sind wir einmal jährlich bestimmt irgendwoanders hingezogen, jedesmal in ein anderes Land auf einem anderen Kontinent, etwas später dann alle zwei Jahre. Das wog auch die spätere sogenannte feste Wohnung nicht auf, da sie nichts anderes war als ein Reisezentrum oder eine Kofferpackstation mit wechselnden Kindermädchen. Das Internat etwa ab meinem Vierzehnten war mir so ein Stückchen Heimat geworden, wenn dort auch die Insassen so häufig ausgetauscht wurden wie die Krawatten des Personals; es gab auch früher bereits Menschen mit häufig wechselndem Geschäftsverkehr. Der Vater ließ sich ab dieser Zeit ohnehin allenfalls noch zwei-, bis dreimal jährlich blicken. Er robbte lieber in gebirgigem oder wüstem Gestein herum. Ich verfügte mal über eine beachtliche Mineraliensammlung, gleichwohl das süße Kind durchaus auch andere Geschenke erhielt, zum Beispiel Koffer, die ich nach der Schule dann sofort packte und aus dem Haus hetzte. Womit dieser Wandertrieb bei mir eingesetzt hatte. Unverbrüchlich zum Nomaden war ich erzogen worden. Oder waren es doch die genetischen Hinterlassenschaften väterlicherseits, die kurz hinter dem Ural ja mal zwischengelagert worden waren? Die Gipfel der Begeisterung über ein solches Leben ging oft genug in der Bemerkung auf: Wie wunderbar, in frühester Kindheit schon so viel und weit gereist, die Welt gesehen zu haben. In den Anfängen habe ich noch ein wenig verschämt, gleichwohl nicht ganz ohne Stolz über derartige Würdigungen, abgemildert, ach wissen Sie Verehrteste, als kleines Kind nimmt man das vielleicht dann doch nicht so recht wahr. Später, als ich mich selbst bereits mehrfach reproduziert hatte, konnte ich dann, je nach Gegenüber, den Damen — es waren nahezu ausnahmslos Frauen, die sich dafür begeistern konnten, überwiegend solche von gehobenener Bildung — gereizt oder auch schonmal mindestens sarkastisch die Gegenfrage stellen: Was meinen Sie wohl, was ein kleines Kind empfindet, wenn es in einem der höchsten Flughäfen der Erde steht oder in einem von Wasser oder Wüste umgebenen? Glück? Ein Weltreisender zu sein? Wird ein solches Kind verzückt seine arg fremde Umgebung wahrnehmen, beseelt von der Empfindung, ein Frühprivilegierter zu sein? Die Reaktion war fast ohne Ausnahme eine irgendwie leicht indignierte, als ob meine Antwort so bösartig gewesen wäre wie die Frage dumm. Lange Zeit habe ich diese reisende Vergangenheit mit mir herumgeschleppt und mich des öfteren gefragt, ob meine spätere Unstetigkeit sowie die sich als geradezu gnadenlos erweisende Heimatsuche damit zusammenhängen könnte. Denn noch jedesmal, wenn ich meinte, mein Haupt in ein Körbchen hinter einem Öfchen betten zu dürfen, da es einen so heimeligen Eindruck erweckte, als ich, oft genug, selber Nest bauen wollte, da riß es mich kurz danach, verängstigt vor soviel schlichter Sehnsucht nach Seßhaftigkeit, wieder hoch und fort, neue Heimat suchen. Auf die vierzig zugehen mußte ich, als ich mich einem Mann offenbarte, zu dem sich freundschaftliche Bande entwickelten, der nicht nur fröhlicher Vater von drei ebensolchen Kindern war, sondern obendrein einer, der sich auch beruflich mit der Entwicklung des Nachwuchses beschäftigte. Da hielt er mir einen spannenden Vortrag, an dessen Ende die Bemerkung stand, die immerwährende Bewegung in jüngsten Jahren könne durchaus diesen Effekt der Ruhelosigkeit mit bewirkt haben. Vor allem in den ersten drei Lebensjahren sei es für Kinder nämlich ungemein wichtig, über eine jederzeit erkennbare Umgebung zu verfügen, beim Öffnen der Augen nach dem Schlaf immer wieder dieselben Sternchen zu sehen, die Mama und Papa für sie an die Decke geklebt hätten. Dazu gehörten im Bettchen die immerselben Spielzeuge, später dann die identischen Räumlichkeiten. Dort werde die Welt erkundet und nicht während eines stundenlangen Fluges an einen Ort mit völlig fremdartigen, oftmals wilden Geräuschen, Gerüchen und Gesichtern. Dem folge das nächste Unabdingbare, etwa sich herausbildende Nachbarschaften zu anderen Kindern, wenn schon keine Geschwister anwesend seien. Und so weiter. Wem das fehle, der könne sich in späteren Jahren unter Umständen durchaus schwertun mit Beziehungen. Eine sogenannte Beziehungsunfähigkeit könne sich daraus durchaus ergeben. Ich habe nicht nur keinerlei Kinder- und Jugendfreundschaften, mir geht jede Erinnerung daran ab, was ich oftmals bedauert habe. Ich habe das der Mutter von Henri I sicherlich nicht nur dreimal erzählt. Jaja, sie kenne die Geschichte. Aber wahrscheinlich müsse sie sie immer wieder mal hören. Dabei will ich ihr nicht einmal eine leichte Gereiztheit unterstellen. Aber nutzen täte es ohnehin nichts. Erfahrungen von Älteren bewirken in der Regel erst dann etwas, wenn man längst selber viele gemacht hat. Ich weiß, wovon die Rede ist. Aber eines ist hängengeblieben und umgesetzt: Der Kleine wurde immerhin bislang noch in kein Flugzeug für ein Weekend an der Côte d'Azur und auch in keinen Billigflieger nach Ballermann geschoben und sonst irgendwohin geflogen. Wie das so üblich geworden ist unter diesen vielen Menschen von Welt, die das bei den anderen so sehen, etwa bei den extrem spätdynamischen Müttern, die ihre drei Monate jungen Süßen gerne von Drehort zu Schauplatz schleppen und die deshalb bereits in der Pubertät so weltgewandt mit ihren Neuröschen umzugehen lernen, die sich später zu einem vielbeachteten, überproportionalen Neurosenbuschgetrüpp entwickeln können. Ich bin nicht sicher, ob das im Hinblick auf die kommende Arbeitswelt frühe Flexibilitätsübungen für den Nachwuchs darstellen sollen, und vermutlich gibt es längst (mir mal wieder unbekannte) kinderpsychologische Studien, die eine völlige Unbedenklichkeit frühkindlicher Reisetätigkeit belegen. Ich halte solche Untersuchungen, so es sie denn geben sollte, sozusagen postpräjudikativ schonmal für ebenso bedenklich wie die zunehmende Praxis, Kinder nahezu grenzenlos aufwachsen zu lassen.
Antisplitterindieschnüßkriegmaschine So hieß das mal in der Sendung mit der Maus, deren vermutlich weit mehr als treuester Seitweitüberdreißigjahrenzuschauer ich bin. Weshalb ich auch zu wissen meine, welches Filmchen noch nicht in die Wiederholungsendlosschleife geraten ist. Dieses, das mir heute nachmittag in die Erinnerung fuhr, da ich einmal mehr erfolglos versucht habe, mich eines exotischen Instrumentariums zur Nahrungsmittelaufnahme zu bedienen, ziemlich sicher nicht. Allerdings kann ich, das sei zugestanden und ebenso bedauert, auch nicht immer sonntags um 11.30 Uhr den Kinderkanal einschalten, auch nicht das Erste, wo um diese Sendezeit ohnehin meist ein eminent wichtiger, ganze Städte behindernder Marathon irgendwie Behinderter gerannt wird oder ein Papst irgendwo die Straße küßt oder ein Prinz seine daraufhin schwanger und anschließend königlich werdende Cousine ersten Grades, weil ich im provençalischen Lavendel liege, nachdem ich in der Nacht zuvor ziemlich viel Burgunderwein oder anderschönen, südlicheren in der Schnüß hatte. Im allgemeinen wird eigentlich nur noch wiederholt, die Beiträge aus den Siebzigern und Achtzigern sind ja auch noch recht gut erhalten da tief unten im Senderdepot, dieser Asse des einstmals Strahlenden, und zuviel Neues kostet eh nur Geld, das man benötigt, um den notleidenden Fußball- oder irgendeinen anderen derartigen Zirkus zu unterstützen, weshalb ich die Schnüß manchmal ziemlich voll habe, wenn ich dann mitbekomme, wie's bei meinem sehr viel früher mal so geliebten Arbeitgeber Öffentlich-Rechtlich zugeht. Allerdings ist das auch wieder nichts neues, wenn man es auch gar nicht oft genug sagen kann, um wieviel schlimmer das geworden ist seit der Zeit, als der Begriff Irgendwas-mit-Medien noch unbekannt war und PR beziehungsweise Werbung sich gefälligst hinten anzustellen hatten, wenn bohèmefrei gearbeitet wurde. Also, in dem kleinen, mir im Erinnerungskino abgelaufenen Film haben sie damals gezeigt, wie chinesische Eßstäbchen hergestellt werden. Nun ja, die stellten sich am Ende zwar als Taktstöcke für Dirigenten heraus, aber so ist das eben, wenn sogenannte Erwachsene für unsere lieben Kleinen Fernsehen machen, das sie später, wenn sie ihren Horizont etwas erweitert und wieder ein bißchen mehr Zeit haben, dann schließlich verstehen werden. Eßstäbchen also werden werden mit Hilfe einer Maschine abgeschliffen und poliert, damit man keine Splitter in die Schnüß bekommt. Diesen Beitrag könnten sie nun wirklich wiederholen, er wäre nachgerade hochaktuell, denn bald werden auch die Chinesen nämlich gezwungen sein, wieder oder weiter die Wälder plattzumachen, vermutlich bald auch die der Nachbarn, da es kaum noch Erdöl gibt fürs Kunstprodukt auf dem Weltmarkt, obendrein ist Holz schließlich «nachhaltig», zumal immer mehr schwedische Möbelhäuser weltweit chinesische Eßkultur zu verbreiten gedenken, besonders in Deutschland, wo man sich schon immer allem Fremden gegenüber aufgeschlossen zeigte und deshalb wohl längst bevorzugt chinesische Lebensmittel einkauft, sehr gerne biologisch angebaute, weil man ökologisch denkt. Und wer weiß, vielleicht gibt's ja bald nur noch Dirigenten aus der kommunistischen Volksrepublik, die verständlicherweise mit Stöckchen aus landeseigener Produktion den Welttakt angeben möchten. Geld sowie dessen Sichtbarmachung, das erklärte mir die chinesische Freundin vor langer Zeit, lange vor dem Sieg der kapitalistischen Revolution, dieser Art modifiziertem Konfuzianismus, hat ihren Landsleuten schon immer wie die schönste Musik geklungen, gleich nach dem Essen. Ach ja, die süße Schnüß da oben ist die jüngste meiner Familie, die sie auch nicht voll genug kriegen kann, am liebsten alle zwanzig Minuten, das liegt wohl an den anteiligen Genen. Überhaupt, wenn ich mich so umschaue, ich persönlich kriege eher weniger mit von den immer weniger werdenden Kindern, die es überall geben soll.
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