Vom Siechtum der Wirtschaft



Zu einem großen Teil der Erhaltung einheimischer Wirtschaft habe ich mit Sicherheit entscheidend beigetragen. Nicht nur, daß ich, seit meine Denkapparatur zu funktionieren begonnen hat, bevorzugt bei denen eingekauft habe, die am Ort oder zumindest in der jeweiligen Region produzieren — hier wäre der mich nach wie vor seltsam, zuweilen gar komisch anmutende, aus dem Bergbau stammende Begriff vor Ort tatsächlich einmal richtig eingesetzt —, ich also nie auf die Idee gekommen wäre, etwas ins Reisegefährt zu packen, das ich an den jeweiligen Fahrtzielen nicht auch erhalten hätte. Bei meinen nicht eben seltenen Abfahrten ward immer nur das Notwendigste in den Kofferraum gelegt, das mich bis zur nächsten Grenzüberschreitung überleben ließ. Beispielsweise im meiner Natur, sprich mütterlicher Erbmasse gemäß überwiegend angesteuerten Frankreich sowie romanischen Anschlüssen hatte und hat, zumindest im städtischen Bereich, immer ein meist zentral gelegenes Lädchen geöffnet, überwiegend betrieben von Nordafrikanern, häufig bis später nicht mehr so gerne übernommen von deren Kindern, den dann im Land geborenen Beur.

Die Kölner nähern sich dieser Angebots- und Mentalitätscharakteristik mit dem Kiosk an, wobei hier die Araber gegen Türken auszutauschen wären, die allerdings eine höhere Bereitschaft zur Grenzaufhebung zu zeigen scheinen, doch hier wie dort übernehmen zunehmend aus dem asiatischen sowie indischen Raum Stammende die Ladengeschäfte. Nach meinen überwiegend positiven Erfahrungen bekommt der spät ankommende Darbende alles, was sein Kreislauf nach längerer Fahrt begehrt. In Köln-Süd kann es geschmacklich auch schon mal in die Magengrube gehen, aber in Marseille habe ich selbst in der schlichtest sortierten Épicerie, der kleinen Gemischtwarenhandlung, in Canada sinnigerweise Dépanneur genannt, den man in Frankreich ruft, wenn man mal eine Panne mit der Ente aus Charleston haben sollte, noch immer eine Flasche Rot oder Weiß bekommen, deren Inhalt nicht nur schmeckte, sondern auch nicht sehr viel teurer war als eine des von mir bevorzugten Badoit oder ein anderes Eau gazeuse an der Hotelbar, die man allerdings kaum aufsuchen wird, hat man hoch oben heimelige Résidence in der Stadt. In der Regel erhält man dort auch Zahnbürste oder Rasierseife, zumindest -schaum, und wenn tatsächlich nicht, dann befindet sich meistens ein Barbier in der Nähe, der solches im Sortiment hat und bei dem man sich, oft bis Mitternacht, gleich noch den Kopf waschen oder rasieren lassen kann. Bei der Gelegenheit erfährt man auch noch den neuesten Tratsch, man muß es also nicht seinem Friseur erzählen, sondern der macht die ohnehin überflüssigen Medien überflüssig, währenddessen man sich auf höchst preiswerte Art und in aller Ruhe althergebrachter, ins Deutsche übersetzt Wellness, körperlicher Wohltat unterzieht. Arbeitnehmerfeindlich ist es auch nicht, da es nahezu durchweg Arbeitgeber sind, und seien es die für die eigene Familie. Niemand von denen würde sich diese Freiheit nehmen lassen wollen. Auch ich bevorzugte eher das «Schicksal» eines rund um die Uhr bereiten, wennauch meist dürftig bezahlten Dienstleisters als die letztlich weit über tariflich bestimmte, also über sie hinausgehende Zeit, wenn solch ein Vertrag überhaupt vorhanden ist, durchweg noch miserabler entlohnte Arbeit eines Erntehelfers oder Regaleeinräumers oder am Ende der Karriereleiter angelangten Kontrolleurs in einem Grande Magasin.

Hemden oder Schuhe kaufe ich nicht in einem solchen Tante-Emma-Laden, aber auch nicht in den bei der mir nebenan gelegenen Galeries Lafayette, so gerne ich dort hindurchbummele auf dem Weg zum Alten Hafen, durchaus Station mache bei der in jeder Hinsicht außergewöhnlich gut bestückten FNAC, auch wenn es mittlerweile längst ein beinahe durchglobalisiertes Unternehmen ist. Auch fürs äußere Leibeswohl suche ich kleinere Läden auf, ob im Süden oder in nördlicher gelegenen Städten oder Regionen, etwa als Begleiter zum Schuhkauf in Besançon oder beim sommerlichen, ich gestehe es ein, eigentlich irgendwie immerwährenden Soldes, dem Schlußverkauf, beispielsweise in Seitenstraßen von Lyon, wo ich feine, auf jeden Fall im Land gefertigte baumwollene Hemden erstehe, die es allenfalls in Italien oder, wenn überhaupt, in Deutschland lediglich bei gehobenen, sogenannten Herrenausstattern gibt, deren Mieten der entspechend bevorzugten Einkaufstraßen der Welthandelsunternehmen angepaßt sind.

Eigentlich wollte ich ja, wie die obige, als Themaeröffner vorgesehene Photographie zeigt, über das Gaststättensterben schreiben. Doch ich belasse es zunächst einmal bei der dem Schwafelkopp wie üblich leicht über die Ufer getretenen kleinen Einführung von fünftausend Zeichen und widme mich der Thematik auf den nächsten, vermutlich fünfzigtausendfünfhundertfünzig umfassenden knappen Problematikerörterung, um mich und andere nicht zu überanstrengen. So kann nur einer drohen, der nichts Anständiges gelernt hat und sich in einer solchen Hängematte auch noch pausenlos ausruhen muß, solch ein maßloser Apo-Opa, der in einer mittlerweile als ewiggestrig geltenden Vergangenheit lebt:
Es gibt viel zu tun. Warten wir's ab.


Im von mir nicht minder geschätzten, ebenfalls von alten Romanen kulturell vorgeprägten Westen heißt das mañana, was wiederum nicht das deutsche morgen meint, also sofort oder neuerdeutsch zeitnah, sondern:
Komm' ich heut' nich, komm ich morgen.

 
Fr, 22.06.2012 |  link | (3533) | 11 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Wirtschaftliches



 

Gastronomische Dialektik

Weil's eine Thematik für sich ist und mit Fußball eher am Rande zu tun hat, kommt's wiederholt hierher.


Garçon !
Débarrasser la table du cœur, faire table rase, ich habe fertig.



S'il vous plaît.


Der besternten Gastronomie arbeiten zwar viele Menschen aus allen erdenklichen. bervorzugt afrikanischen Ländern zu, aber die kommen überwiegend aus Regionen, in denen das Französische Amtssprache ist. Überhaupt fühlt man sich in diesem Gewerbe häufig der Tradition sehr nahe, an gute alte Zeiten zu erinnern, die sich oftmals im klassischen Chanel-Costume, also Tailleur, bestehend aus Rock und gern bestickter Jacke, des Empfangs ausdrückt, der gerne von der Madame des Maître de cuisine ausgefüllt wird. Dort kann es durchaus Erstaunen auslösen, wenn man das führende Personal fragt, ob es schon einmal davon gehört habe, daß beispielsweise Algerien nicht mehr zu Frankreich gehört. Das sind diese Menschen, die, sollten sie es überhaupt tun, tun können, denn ohne sie geht es nunmal nicht, im Urlaub das Heimatland nicht verlassen. Das wiederum ist allerdings auch kein Problem, denn schließlich ist eine Reise zu karibischen Inseln und solchen im indischen Ozean per Inlandsflug zu bewältigen.

Ich hab's ohnehin nicht so sehr mit diesen Cuisine étoile. Die bourgeoise reicht mir völlig. Sie ist allerdings auch nicht mit dem zu vergleichen, was man in Deutschland oder Österreich unter bürgerlicher Küche versteht; wobei ich auch die nicht unbedingt verachte. Die Achtung vor gutem Essen ist überall im Land so ausgeprägt, so sehr Bestandteil des Lebensgefühls, daß selten schlechtes Bauchgefühl aufkommt wie etwa im rechtsrheinischen Landgasthof, wo sich die als vom Chef persönlich gerührte Sauce hollandaise oftmals als schlichte, aber mit vielen Zusatzstoffen zur Längerhaltbarkeit aufgepeppte Masse herausstellt. So etwas ist mir in Frankreich noch nie passiert. Das würde einer Köchin dieser aus der Revolution stammenden Volksküchen nicht nur gegen die Ehre gehen, sie käme gar nicht auf die Idee, daß es solche Produkte überhaupt geben könnte.

Dorthin gehe ich also sehr gerne, wenn möglich, also in Begleitung von Einheimischen, da ich mich alleine nicht hineingetraue oder auch, weil sie ohne Ortskennisse meistens nicht zu finden sind, die Restaurationsstationen der Ärmerenspeisung, in Montendre, in der Charente-Maritime unweit der Stadt Cognac gelegen, wo der Wein bis hinauf nach La Rochelle (siehe auch das Ende des Generationheims) ausschließlich für Pineau des Charantes angebaut wird, diesem nicht ungefährlichen Gesöff, dessentwegen der Bruder des Cafébesitzers in der rue Nicolas zweimal jährlich aus Paris anreiste, um sich damit jedesmal aufs neue fürchterlich zu besaufen, weil er immer vergaß, daß dieses köstliche Stöffchen nicht eben wenig Alkhol enthält, oder bei Florence mit deren himmlischen Tierchen in Saint-Léon-sur-Vézèrc in der Dordogne oder anderswo. Höchst selten befinden sie sich im Zentrum wie in Grandrieu im Lozère, wo Madame für die Handwerker kocht, während der Kultivierer des Landes, der Fermier, zu der seinen nachhause zu trekkern hat, denn gegessen wird schließlich bei Muttern. Wobei dieses Städtchen genannte Dorf ohnehin über keine erwähnenwerte Ausdehnungen verfügt, vergleichbar wäre die dortige Bauernwirtschaft mit der ordentlichen Kneipe in Reillane in der Haut Provence, wo ebenfalls gegessen wird, was auf den Tisch kommt.

Zwar hat auch an diesen Stätten der nach wie vor bis zu zweistündigen Erholung der Euro die Preise ordentlich aufgeblasen, aber für zwanzig von ihnen erhält man immer noch ein sehr gutes Mahl, inclusive Wein, nicht gerade ein Grand Cru, aber immer ein angenehmer, schmackhafter Verschnitt. In Frankreich gibt man sich ohnehin nicht dieser deutschen Hysterie des Weines hin. Allenfalls zu einer grande Fête, wenn auch nicht nur zur nationale. Mehr als ein, zwei kleine Ballons braucht es in der Regel auch nicht zum Essen. Wasser gibt es ohnehin und überall kostenlos, jedenfalls außerhalb der überwiegend touristisch frequentierten Orte, während man beim rechtsrheinischen Nachbarn grundsätzlich scheel angeguckt wird, bittet man um Wasser aus dem städtischen Brunnen oder schlicht aus dem Hahn. Das hat allerdings auch damit zu tun, daß Eau gazeuse, mit Kohlensäure versetztes Wasser im Land nicht zu den bevorzugten Durstlöschern gehört. Dafür muß man dann nicht eben wenig bezahlen. Auch fühle ich mich an blanken Holztischen wohler als an weißgedeckten mit zudem oft unbenutzbaren, weil versteiften, nach dem Prinzip japanischer Faltkunst Origami hochgezirkelten Servietten, die obendrein meist noch mit Kerzen und bunten Blümchen zudekoriert sind, hinter denen man seine Gesprächspartner, die nunmal zum angenehmen Speisen gehören, nicht einmal mehr zu ahnen, geschweige denn zu hören vermag. Das gibt's durchaus auch großstädtisch. Banquier in Paris wäre zu nennen, wo man zwar nicht mehr so sensationell wie vor gut zwanzig Jahren zu essen bekommt, aber immer noch für deutsche Verhältnisse überdurchschnittlich gut und vor allen Dingen zu einem Preis, hinter dem so mancher Bratklopser zu rätseln beginnt.

In guter Erinnerung, wenn auch bei weitem nicht so preiswert, ist mir auch die Berliner Weinstube am Savignyplatz, die es in der Form allerdings leider nicht mehr gibt, da Yves Risachèr sich bereits vor einiger Zeit zurückgezogen hat. Er hatte es wie ich nicht so mit der Heimat Elsaß, er nannte sich lieber einen Pariser, aber der von ihm selbst ausgesuchte und dort persönlich einmal jährlich abgeholte Riesling schmeckte weitaus schwungvoller als in den dortigen Touristenbudicken, etwa in diesem unsäglichen Barr, aus dem allüberall Weinrentner quellen. Seinen Nachfolger kenne ich nicht. Er führt den Namen seines Vorgängers im Aushängeschild. Aber die Karte sieht nicht überladen aus, und auch der mir einst gereichte Moulis von Barbarin, der sich noch immer wohlig in meinen Geschmacksnerven räkelt, scheint sich noch im Lager zu befinden. Es gehörte zu den von mir an sich nicht sonderlich gemochten Ritualen, dort einzukehren, in der Gewißheit, samt gutem Wein essen zu können wie in einem dieser erwähnten französischen Landgasthöfe oder auch innerstädtischen wie dem in Nancy, ganz in der Nähe der Place Stanislas, wo man sich von den vielen Kellnern behandelt fühlt wie dirigiert von Madame aus der Kolonialzeit, die jedoch gekennzeichnet sind von blanken Holztischen und von mittäglich drei angebotenen Menus mit vier bis sechs Gängen. Am Abend ist das Angebot erweitert wie bei den Stationen der Wiederaufpäppelung für die Handwerker auch.
•••
Von einer Einkehrung der besonderen Art auch in deutschen Landen, die sich mal mit «frisch auf den Tisch» brüsteten, mag ich berichten. Allerdings bin ich auch dort, wie bei meinen Teilhaben an der französischen Ärmerenspeisung, hineingeraten, ohne die eigene passable Spürnase für Witterungen der gastronomischen Seltsamkeiten ingang setzen zu müssen. Ernährungstechnische Orts- beziehungsweise Regionkenntnisse von Einheimischen sind mir ohnehin nach wie vor allemale mehr wert als jeder noch so jubelige internette Hinweis, der überdies allzuoft von fast schon komischen Geschmacksverirrungen bestimmt ist. Ein Freund, allerdings einer, der von der Macht des Essen beseelt ist und der mir lange Zeit so etwas wie ein kulinarischer Blindenhund war, führte mich in seiner heimatlichen Pfalz in ein dörfliches Wirtshaus im Großraum Speyer. Spargel sollte ich beim dortigen Bauern zunächst lediglich betrachten und beschnuppern. Dann meinte er, auf einen Schoppen, das heißt dort ein riesiges Glas, fast so groß wie die bayerische Halbe, meistens von der erfrischenden Rieslingrebe, könne man ja wohl reingehen in die Stube. Um meine Abneigung gegen Interieur aus Resopalien und sonstigen derben Gestaltungsvorstellungen wissend, warnte er mich vor. Es würde mir garantiert nicht gefallen. Also Augen zu und hinein. Um nicht allzu unhöflich zu sein, öffnete ich ein Auge dann doch leicht, gab der vermutlich vom frühmorgendlichen Spargelstechen und überhaupt auch ein bißchen anders ziemlich eingedreckten, allerdings zwanglos freundlichen Wirtin zurückhaltend artig das Händchen und hörte den beiden zu. Sprechen konnte ich nicht, nicht nur, weil ich den wie aus dem achtzehnten Jahrhundert klingenden Dialekt, vergleichbar mit dem in abgelegenen Gebieten teilweise heute noch gesprochenen Français canadien — bei der Gelegenheit fällt mir das erwähnte Sprachproblem ein, wie im Land von jemandem gesagt wird, der gebrochen französisch spricht: parler français comme une vache espagnole — der Ersteinwanderer, nicht verstand, den die Frau des Hauses und mein Blindenhund bellten, sondern weil mir die außerordentliche Häßlichkeit des Raumes den Atem nahm, der mit der ersten Anschauung des Banquier vergleichbar ist, vervollständigt vom Blick in die fast genauso wie die Hausfrau verdreckte Küche.

Nie würde ich dort essen wollen, waren meine abschließend zusammenfassenden Gedanken, als mein Begleiter, der, wie unser Jüngster, der auch mit mittlerweile Mitte zwanzig noch alle zwanzig Minuten etwas Warmes in den Bauch braucht, sich nach dem Tagesangebot für den Mittagstisch erkundigte. Wortlos stand die Köchin auf, ging in ihr Revier und kam eine halbe Stunde später zurück mit drei Schüsseln, inhaltlich bestehend aus, wie anders, Spargel, Kartoffeln und Sauce. Daß das Gemüse gut schmecken würde, war mir klar, schließlich kaufte der befreundete Gourmet und Gourmand gleichermaßen den Asparagus nur dort ein. Aber bereits die Erdapfeln, auch die aus eigenem Anbau, verschafften mir ein außerordentliches, ein geradezu himmlisches Erlebnis des Geschmacks. Aber die Sauce hollandaise, die war nicht anders zu bezeichnen als mit einem lang anhaltenden Coitus, dessen interruptus erst dann erfolgte, als auch das allerletzte Restchen vom Teller geleckt war. Ja, mein Blindenhund ging ungeniert mit den Fingern in die Saucière, und als ich das freudige Lächeln der an den Ausschank lehnenden Frau Wirtin sah, vergaß auch ich all das, mit dem man mich im Elternhaus nahe der Todestrafe gelehrt hatte für den Fall von solchem comportement sans-gêne, das im deutschsprachigen Internet auch unter falscher Etikette kursiert. Wann auch immer ich zur entsprechenden (Jahres-)Zeit mich zu Besuch beim Freund befand, ich hatte Verlangen nach dieser eigentlich unmöglichen Umgebung. Auf jeden Fall hat es mich gelehrt, Äußerlichkeiten hin und wieder einfach zu ignorieren.

Das Negativbeispiel aus der Perspektive der sogenannten Verbraucher, die über die Macht der das Angebot regelnden Nachfrage verfügen, ist das eines Gasthauses im Südholsteinischen. Ein aus der Nachbarschaft Zugezogener hatte ein nahezu verrottetes Haus am Ortsrand gekauft, es über die Dauer eines Jahres mit leidenschaftlicher Inbrunst wieder aufgerichet, es gediegen handwerklich ausgestattet, um dort am Bach endlich einmal wirklich gute Küche anzubieten. Sogar einen hervorragenden, also gewiß nicht eben billigen Koch hatte er engagiert. In den Anfängen war es durchaus eine Lust, dort hinzugehen, auch mit dem Maître de plaisir über das zu plaudern, was an Besonderheiten oder auch einstigen, von Oma nicht mehr gelehrten, weil das vom Altenheim aus nicht mehr so funktioniert, Alltäglichkeiten in der Küche geschieht; ich gehöre durchaus zu denen, die beim Essen stundenlang über nichts anderes sprechen wollen als über das Essen. Es lief nicht, das Gasthaus. Selbst die Wildsülze, deren Säue der Wirt sogar persönlich erlegt hatte, auch die handgefangenen Fische fanden keine Gnade vor den Gaumen der Einheimischen, der Koch hatte längst reißaus genommen. Es war ihnen nicht einmal zu überkandidelt, es war ihnen schlicht alles zu teuer, da setzten sie sich lieber in den eigenhändig zubetonierten und grüngestrichenen Garten — Kneipensterben ist nicht nur eine Folge des Fernsehens und des sonstigen nachfolgenden Medienangebots — und ließen sich, um nicht selber kochen zu müssen, vom ortsansässig gewordenen «Inder» mit internationaler Küche versorgen. Über die Tatsache, daß sie dafür häufig mehr hinblättern mußten als auf den Tresen des bei weitem nicht so schmuddeligen und lieblosen Wirtes, machten sie sich keine weiteren Gedanken. Der hat sein gastliches Haus mittlerweile nur noch an Wochenden geöffnet und bietet, vor allem für die die kurvige Strecken der Umgebung liebenden Motorradfahrer aus Hamburg bis Kiel, gigantisch gefüllte Teller mit Currywurst und Fritten aus der Großpackung; früher schnitzte die sein Koch selber. Im Sommer gibt's als Nachtisch Eiscrème vom Billigheimer, allenfalls ein wenig aufgehübscht mit Früchten, aber nicht einmal vom Erdbeerbauern aus dem Ort, sondern aus der Dose.

Der Bach


an der Gaststätte hörte auf zu plätschern, zog sich zurück, und die Bäume starben ab, da auch die Einheimischen nicht fremdartig restauriert werden wollten. Was der Bauer nicht kennt, das frißt er nicht.
 
Do, 21.06.2012 |  link | (1835) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Ein gastronomisches Erlebnis

mag solch ein Pomp and Circumstances für manche durchaus sein, dieses höher, am höchsten. Daß es dabei überwiegend um die höchsten Gewinne der jener Wirte geht, die keine dieser Schmarotzer mehr zuzulassen gewillt sind, die sich stundenlang an einem ärmlichen Glas Bier oder an einer Tasse Kaffee festklammern, scheint immer weniger Menschen zu berühren. Das Volk wünscht zusehends Zirkusartistik der gehobenen Art. Selbst in der Masse wollen sich diese geistigen Lieschens und Fritzchens ihre Sonderheit belegt wissen. «Normale» Volksversammlungen ließen sich in den geschichtlichen Blickpunkt rücken, etwa Dorffeste wie Kirmes oder ursprünglich Kermesse, während der das fröhliche Gemeinwohl im Vordergrund stand, bei dem nebenbei auch mit Stahlkugeln auf zuvor ausgetrunkene Flaschen geworfen werden durfte. Doch solche dürftigen Festivitäten haben offenbar endgültig ausgedient. Es möge das besondere Spectaculum sein, wie etwa in speziellen, nur durch Reservierung besetzbaren Zelten auf der Wiesn. Es muß der vielzitierte Sozialneid sein, der mir aus meinem überhitzten Gehirn auf die Tastatur tropft.

Mir fallen beispielsweise die Weißen Feste in Paris ein. Damit meine ich weniger eine Nachbildung der legendären Faschingsveranstaltungen in München als vielmehr ein auch bekleidungstechnisch uniformer Ausweis der Besserverdienenden oder solcher, die's gerne wären, also diejenigen, die samt ihrem UMP-Oberkaspar gerade eine ordentliche Abfuhr erteilt bekommen haben im Land, dessen Jeunesse sich seit Jahren, Jahrzehnten immer wieder auf der Place de la Concorde, der Terrasse des Palais de Chaillot oder dem Innenhof des einst höfischen Louvre und zum zwanzigsten Jahrestag entlang der Champs-Élysées zusammensetzt, der einst von großbürgerlicher Eleganz geprägten und vermutlich mittlerweile größten und damit ärgsten Tourismusmeile Europas, oder zuletzt auf der Place des Voges. Sie hat die Grenzen des Bois de Boulogne überschritten und ist, vermutlich im schwarzen BMW-Cabriolet, mittlerweile bis Berlin und gar nach Osnabrück gelangt. Dort machen sie sich holzbänkisch veredelt breit, um auf ihren besonderen Geschmack nicht nur in Speis und Trank hinzuweisen, weiter östlich von Versailles vermutlich bei Currywurst. Ich nehme an, daß diese ungewöhnlich spontanen Verabredungen zu diesem flashigen Mob, unter dem ich Ewiggestriger, den Volkslexikalisten zustimmend, immer noch die «aufgewiegelte Volksmenge, eine Masse aus Personen des einfachen Volkes bzw. eine sich zusammenrottende Menschenmenge mit überwiegend niedrigem Bildungs- und Sozialniveau (abwertend auch gemeines Volk, Pöbel, Plebs, Gesindel, Pulk, Schar genannt)» verstehe, ausschließlich per EiPhone und/oder gleichmarkigem Pad et cetera zulässig sind, da der ausgesuchte Geschmack, mit dem diese Massenindividualität einhergeht, ausgewiesen sein möchte. In den Achtzigern habe ich ihn sogar im Zentrum Dortmunds von Paris aus heranlüfteln sehen, diesen Kraftodel der Erben. Die nachgewachsenen Schranzen hier der dortigen Hochofenbarone haben sich auf schier unglaubliche Weise multipliziert. Es existiert mittlerweile offenbar eine unerschöpfliche Masse, die zu vereinigen sich gedenkt. Zwar ist jeder zugelassen, doch das seit der europäischen, in Deutschland radikaler als anderswo umgesetzten Bildungsoffensive titels Bachelor zunehmend abnehmende Völkische möchte, sobald man sich mittendrin in der Noblesse oblige befindet, das konsequenterweise auch in meiner Bestsellerliste ganz weit oben steht, fast bis an das Phänomen anderer Verblendungen hinreichend, dann doch irgendwie auch wieder unter sich bleiben, ohne Pöbel, Plebs, Gesindel, Pulk, gemeines Volk und Schar. In einer solchen ist selbst der kleinste Zwitscherer ein Star.

Aber wirklich gemein möchte niemand mehr sein. Umgangssprachlich ist das Gemein-Sein längst zum Synonym für die kleine Böswilligkeit geraten, zur Anschuldigung aus wohl auch der verbalen Perspektive des Unterstands, hervorgegangen aus niederer Bildung. Niederwild durften zur Hochzeit des Adels nur diejenigen jagen, die sich an der untersten Stufe der blaublütigen Gemeinschaft befanden. Das Hochwild gehörte den Oberen des Standes. Das sind diejenigen, die auf den grünen Hügel, den Olymp des Gesamtkunstwerks eilen, unter ihnen einige wenige nicht so blauen Blutes, die dafür den Schal des Feuilletons am Wehen halten. Die beschreiben als chronistische Bewahrer Weg und Fortgang der Hochkultur.

«Kunst, Kultur und Schönheit eine Abfuhr erteilen!» eröffnet (Dank an die Kopfschüttlerin) der Tagespiegel sein Torte, Tip, Tingeltangel. Es sei «laut Prinzipal Holger Klotzbach, 61, das erklärte Anfangskonzept der Bar jeder Vernunft» gewesen. Ein letztes Aufbäumen der Blattkritik noch: «Aber — und jetzt grinst er — so ganz habe das dann doch nicht geklappt.» Und dann verschwindet jeder Einwand hinter nostalgischer, also verklärender Erinnerung. Man mag wohl keine (Anzeigen-)Kunden vergraulen. Es darf jedoch auch angenommen werden, daß die Redaktion diesem theatralischen Gemisch insgesamt unvoreingenommen gegenübersteht. Auch die wird schließlich immer jünger und erteilt sach- und fachgemäß nicht mehr dem eine Abfuhr, was sich einst abhob von denen da oben auf ihrem Hochsitz. Schließlich sitzt man selber obenauf.

Kultur ist nach meinem Oberlehrer Brockhaus zwar unverändert die Gesamtheit der Lebensäußerungen eines Volkes. Aber das deutsche will nunmal keinen Porsche fahrenden und auch noch gerne gut essenden Sozialisten, es will überhaupt keinen Sozialismus in der Demokratie, wie sich das bei diesen Nachbarn, die genau wie die anderen Südländer dahinfaulen, abzuzeichnen scheint. Solche Leute können nicht mit Geld umgehen, das ist sattsam bekannt. Die bibelnäheren Hugenotten, letztlich neuzeitliche Schöpfer der alles erlösenden Märkte, werden schon wissen, warum sie von dort abgehauen sind. Man will's und soll's nunmal einfach besser haben als die Alten vor den Achtundsechzigern. Die hatten schon ihre Toskana mit ihrem Wein, Spaghetti und überhaupt diesem Armenfraß. Sollen die doch zurückkehren an ihren Wirthaustisch, in den erlebnislosen Biergarten, zu ihrem Hier können Familien Kaffee kochen. Das neue, das junge Volk aber will ein mehrgängiges Menu, auf jeden Fall Champagner und Hummer, wie diese Franzosen, nur eben anders: perlenschäumenden Rebenwein von der englischen Insel und Kamtschatkakrabben. Daß Stalin die eingesetzt hat, um das arme Volk zu ernähren, macht die Angelegenheit nur pikanter. Das unterseeische Geschlibber und ihre Froschschenkel sollen die Franzmänner und deren Weiber selber schlucken. Das ist nämlich Tierquälerei.

Nun gut, nur einfach so zu essen beim Zusammensitzen, das ist ein schon langweilig. Zuhause läuft schließlich während des Abendmahls auch die (global-)europäische Alltagsästhetik der Fußballheroen mit, deren besten sich mit Tütensuppen und Kartoffelchips wohl ernähren. Ein wenig Abwechslung möchte also schon sein, sei es der Kitzel durch einen hochfliegenden Artisten ohne Trapez oder mittels ein paar im Labor gezüchteten weißen Mäuse, die man formvollendet sexy Tango tanzen gelehrt hat, bei artgerechter Haltung selbstverständlich. Die Argentinier haben es ja auch aus der Armseligkeit dieser Zeit geschafft. Die tanzen den sogar mittlerweile selber.

Ach, mir schwinden die Wortkräfte. Ich bin wohl auch zu alt für derartige geistige Ertüchtigungen. Es scheint vorteilhafter, zurückzukehren an meinen Platz im zirkusfreien Altenheim:


 
Di, 19.06.2012 |  link | (2132) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 







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