Angekommen

Paul zeigt mit der linken Hand nach vorne und beschreibt eine Biegung nach rechts. Aha. Ein Stückchen hinauf ins Städtchen und dann von oben draufschauen. Aber Fischfilmer Paul, weil er mit Fischen handelt, um damit seine Filmdokumentationen zu finanzieren, unser Vermieter, besser Verkäufer Paul wohnt direkt nebenan. Auch er bevorzugt den Blick nach Afrika. Und wenn wir nach unten gingen, konnten wir direkt hinein in unsere Quelle des Volksgesangs.

Es ist jedesmal so, wenn ich hier durchgehe. Sofort fällt mir der Film ein. Aber über Marius et Jeannette habe ich dieses Städtchen ja auch kennengelernt. Quatsch. Kennengelernt habe ich es durch diese freundliche Dame aus dem Office de Tourisme de Marseille, die mir geradezu emphatisch alles mögliche Material über l'Estaque zukommen ließ, nachdem ich auch nur einmal danach gefragt hatte. Ständig war anschließend was im Telefaxgerät oder im eMail-Postfach. Als ob ein Weibchen das Nest bauen würde, um das Männchen zu locken. Aber irgendwie war's ja letztendlich auch so. Das soll's ja geben in der Fauna. Nun geht diese freundliche Dame doch tatsächlich mit mir ein Bett anschauen, das nicht nur zum Anschauen da stehen soll.

Unsinn. Es ist ja bereits der zweite Anlauf. Denn der Vertrag war ja unterschriftsreif. Wäre es dazu gekommen, hätten wir genau diesen Weg genommen. Aber wer weiß, wozu es gut war. Es beschleicht mich — eine andere, seltsame Vernunft läßt es zu — ohnehin das Gefühl, daß das irgendwer irgendwie arrangiert hat. Es mußte wohl sein, daß ich zuvor einen auf den Kopf, in diesem Fall wohl in den Kopf bekommen mußte. Denn ob ich das vor drei, vier Jahren gepackt hätte? Offenbar eindeutig nicht. Sonst wäre ich ja wohl kaum davongelaufen. Und nun kommt mir alles so vertraut vor, als ob ich seit ewigen Zeit hier leben würde. Sicher, ich bin häufig derart voller Sehnsucht hier herumgeschlichen — die Amnesie gibt nach und nach etwas frei von den Ereignissen. Im besonderen die letzten zwei Jahre, in denen ich mich ohne Erinnerung magisch angezogen fühlte von diesem ehemaligen Fischerdorf, ich ständig versucht war, hier rauszuziehen. Irgendwie hatte meine persönliche Empfangsdame mich seinerzeit vor allem mit den Künstlern zu locken versucht, die hier ansässig waren: Braque, Cézanne, Dufy. Um nur die bekannteren zu nennen, gab man sich hier doch den Pinsel in die Hand. Sie meinte wohl, wer mit Kunst beschäftigt sei, den müsse das interessieren. Doch jemanden, der wie ich jeden halben Tag zum Bilderbetrachten verurteilt ist, wird man mit den trivialen Postkartenperspektiven und der touristischen Lyrik der Fremdenverkehrsämter wohl kaum enthusiasmieren können. Von mir aus sollen sie der Künstler und der Ab- oder Nachbildungen wegen ins Städtchen rennen. Mich interessiert allenfalls das, was all die Maler bewogen haben könnte, hier anzusiedeln. Robert Guédiguian ist das mit seinem Film vermutlich gelungen, weil er den Menschen focussierte, den diese Umgebung, diese Luft, dieses Licht, überhaupt dieses Leben nicht zur Art werden ließ. Der Maler Niele Toroni fällt mir dabei ebenfalls ein. Er hat der anderen Pariser Freundin mal einen denkwürdigen Satz in ihr Interview-Büchlein gesagt. Nicht der Betrachter mache das Kunstwerk. Denn zum Glück machten nicht die Trinker den Wein, sondern die Weinbauern mit täglicher Arbeit und jahrhundertealtem Wissen. Wenn das anders wäre, hätten wir sehr bald nichts mehr zu trinken. Sehr weise! Und Guédiguian hat dieses Alltägliche im Leben gezeigt. Das ach! so scheinbar Einfache — in seiner ganzen Komplexität. Das bißchen Liebe. Aber wie sie ein Leben eben zu verändern vermag. Und das alles in dieser zauberhaften Umgebung. In diesem Mikrokosmos eines wirklich poetischen, von mir aus poetisch verklärten oder auch verklärenden Alltags. Die reine Reinheit.

Durchaus auch ein bißchen wie bei Amélie Poulain. In deren Augen — in ihrer faszinierenden Schönheit der an meiner Seite arg heftig verwandt — zu schauen hatte ich vergangenes Jahr in Sarlat, in einem Dordogne-Kleinstadtkino das Vergnügen. Verstanden hatte ich ja wieder mal nur die Hälfte; was müssen die aber auch immer so schnell reden. Doch diese kohlrabenbraunen Boules — pardon, Madame, braun, nicht schwarz! — haben dieses Märchen von der Nähe zum Menschen mir fast im Alleingang erzählt. Der von Libération hat dabei genau so viel begriffen wie ich zu den Zeiten, als meine Gedanken noch festgemauert in der Erden der garantiert phantasiefreien Ideologie schliefen. Es sei mal wieder ein Klischeebild, das von den Franzosen geliefert würde, meinte er unter anderem. Einfaltspinsel. Manchmal täte auch anderen ein neurologischer Defekt ganz gut. Ich muß heute noch heulen vor Glück oder vor Sehnsucht, wenn ich an die Bilder denke, in denen Jean-Pierre Jeunet und sein Drehbuchautor Guillaume Laurant dieses Zauberwesen Audrey Tautou durch das Paris des zehnten und achtzehnten Arrondissements haben hüpfen lassen. Und zu lachen gab's auch nicht eben wenig. Geschmunzelt habe ich fortwährend. Wenigstens der deutsche Spiegel-Autor schien aus den Polit-Kitsch-Windeln herausgewachsen zu sein. Er hatte das begriffen: «Ein gigantischer Glückskeks — süß und süchtig machend.» L'art pour l'art! Im besten Sinne. Kunst kommt von Kunst und ist nur für sie bestimmt. Ohne Botschaft. Das war schon wie ein prächtiger Landwein aus dem Süden. Nein. Das war Chabert de Barbera von 1983, vin doux naturel du Maury, «süß und süchtig machend» eben! Getrunken im abendlichen Vierzig-Grad-Sommer im Marché du vin am Cours Palmarole in Pérpignan. Aber mit Naziza und ihrem Süßen, ihrem Papa. Audrey Tautou auch mit dabei. Gerne. Und meine der politischen Reflexionsunfähigkeit nicht gerade verdächtigen Freunde aus dem Périgord, die den Film zum zweiten oder gar dritten Mal gesehen haben. Gemeinsam mit mir. Und, natürlich, Marius und Jeannette sind auch mit dabei und Robert Guédiguian und seine zauberhafte Jeannette Ariane Ascaride. Noch eine meiner (vielen) heimlichen Lieben. Er hat sie wohl deshalb vor vielen Jahren vorsichtshalber geheiratet. Unsere neuen Nachbarn.

Wir trinken alle diesen süßen Wein. Nicht den — nochmal Toroni — dieser Franzosen, die sämtliche Bücher über den Wein gelesen haben, aber wenn sie drei Gläser trinken, haben sie Magenschmerzen. Eintauchen. Einfach nur tun. Nicht immer erstmal denken und dann tun. Die Gedanken kommen von alleine. Diese Erfahrung habe ich ja nun ein paar Jahrzehntchen inhaliert. Es reicht. Jetzt mag ich lieber Wein machen. Na ja. Zumindest dabei zuschauen. Und dabei an die Genüsse denken, die er verursacht. Das sind erträgliche Gedanken. Obwohl? Die Gattin hat ja was von einem kleinen Weingarten erzählt. Vielleicht kann ich ja tatsächlich ein bißchen machen. Meine Lust, ein wenig in der Scholle herumzuwühlen, ist ja seit der Stunde Null, seit meiner Neu- oder überhaupt Geburt enorm gewachsen. Früher hätte mich nichts und niemand dazu gebracht, eine Erdkrume auch nur anzuschauen, geschweige denn anzufassen; sogar vor Würmern schrecke ich nicht mehr zurück. Heute begrüße ich am Morgen meine — selbstgezogenen! — Pflanzen. Das werde ich hier in besonderem Maße fortsetzen! Und vielleicht würde der Mann, der diesen kleinen Weinberg gekauft hat und der zugleich mein Schwiegervater zu sein scheint, nach einer Rückholaktion aus dem unfreiwilligen Perpignan ja mit mir dorthin gehen und mir ein bißchen was darüber erzählen. Ich würde mich sogar etwas bücken. Obwohl das nicht unbedingt meine Stärke ist. Eine ganze Generation zivilisationsmüder akademischer Besserverdiender träumt vom Weinbau. Und ich werde es möglicherweise gar tun? Aber keine Bücher lesen und Magenschmerzen kriegen. Dann muß ich den Wein eben alleine trinken; das tun die stillen Winzer ohnehin. Ich lese ja auch keine Computerbücher. Von ihnen bekommt man Kopfschmerzen, und sie halten einen vom Tun ab. Tun? So lange ist es noch nicht her, daß ich vom Nichtstun schwärmte.

Ich sehe, wie meine Beschützerin neben mir hergeht, den Kopf etwas gekünstelt leicht nach vorne in Richtung des meinen schiebt und ein wenig grinst. Wie vor vier Jahren. Ich bin angekommen.


Es sei nicht verschwiegen: Das da oben entstammt größtenteils einem Manuskript für ein schrecklich dickes Buch und ist hierfür nachbearbeitet. Verschwiegen sei ebenso nicht, daß die geradezu ungeheuerlich romantische — la vie est un roman —Schilderung zweier Tage des Rückblicks (mit diesem Anfang), obwohl fast fertig gesetzt, zurückgezogen wurde, da die sentimentale Reise deux jours dann doch eine andere Richtung nahm; es gibt Menschen, die sowas Realität nennen. Verschwiegen sei die Richtung dieser anderen Wirklichkeit — die allerdings manchmal abstrusere Phantasien entwickelt, als der Créateur des Traums dazu in der Lage wäre.

Keine der hier verlinkten Abbildungen steht in einem unmittelbaren Bezug zur Geschichte, zumindest nicht der hier erzählten; und wenn doch, dann wäre es Zufall.

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung

 
Di, 19.05.2009 |  link | (2964) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage


hanno erdwein   (19.05.09, 08:43)   (link)  
Sehnsucht weckend,
was Sie dort geschrieben haben. Sehe alles deutlich vor mir, schmecke den Wein und rieche die würzige Luft nach Meer und Erde. Sorry, wenn ich das so euphorisch von mir gebe. Ich kann nicht anders ...


jean stubenzweig   (19.05.09, 14:43)   (link)  
Nicht nur Ihnen
geht das so. Es ist aber auch schön dort, in diesem Arkadien, in dem ich das Böse mal eben vor die Tür oder in die Ecke gestellt habe, auf daß es sich schäme. Oder einfach mal pausiere.


nnier   (19.05.09, 11:05)   (link)  
Gut, dass es so ein dickes Buch ist. Ich lese, wie Sie wissen, immer gerne darin.


jean stubenzweig   (21.05.09, 11:40)   (link)  
Zu Ehren
kommt's auf diese Weise dann doch noch, das Buch, das kein Buch werden sollte, zumindest seitenweise. Und das ist gut so (oder war das jetzt ein aus dem Zusammenhang gerissenenes Zitat?).


vert   (20.05.09, 02:06)   (link)  
Mich interessiert allenfalls das, was all die Maler bewogen haben könnte, hier anzusiedeln.
[...] diese Umgebung, diese Luft, dieses Licht, [....]


als ich irgendwann mal in der provence saß, die hitze ließ den horizont flirren, stürmten die reichen farben und gerüche betörend und betäubend auf mich ein.
etwas lakonisch bemerkte ich, dass ich mir hier auch ein ohr abschneiden würde, wenn ich nur etwas sensibler wäre.
ich bin bisher immer mit allen ohren zurück gekommen.
auch gut so.


jean stubenzweig   (20.05.09, 02:39)   (link)  
Ohne Anis
wird das auch nix. Mit der Sensibilität.















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5815 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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