Gehirngespinste Kopfschütteln, quasi die Zweite, wieder anderes Thema. Ich kann's auch Exkursion nennen. Eine solche tat ich, seit langer Zeit mal wieder, seit dem Erblinden meines Geläufs. Auf der Suche war ich, nach der Sonne, die gestern noch schien. Doch nun auch hier: die Dunkelheit des zuhäuslichen Giftschranks hat mich wieder. Lesen und Schreiben ist meines Erachtens ein Prozeß, mittels dem nicht nur Informationen erfaßbar und vermittelt werden können, sondern auch zu dem verhilft, das viele so gerne einem Stirnband gleich auf Hirnhöhe vor sich hertragen: Kreativität, und sei es der, irgendwann virtuos Märchen als Geschichte(n) zu erzählen. Kurzum: Es fördert die Intellektualität, die vom Wortstamm intellegere abgeleitete Fähigkeit, sehen, erkennen, unterscheiden zu können. Ich kam 1998 in die unglückliche oder, wer weiß das schon, glückliche Situation, einen Dachschaden zu erleiden, der nicht nur mein Denken und damit Leben völlig verändern sollte, ihm fast eine Wende von hundertachtzig Grad bescherte, mich darüber hinaus in logischer Konsequenz auch über längere Zeit mit Neurologen zusammenbrachte, die mir nicht nur Logorrhoe und maßlose Wißbegier attestierten, die sie nach Untersuchungen meines offenbar zu Lebzeiten sezierten Gehirns feststellten, das durch eine offensichtlich genetisch bedingte Fehlkonstruktion, gleichwohl reparablen, Schaden erlitten hatte, unter anderem dem kollateralen, mich intensiv mit Gehirnforschung zu beschäftigen. So kam es während der bis etwa 2005 andauernden Diagnosendialoge immer zu anhaltenden Austäuschen — der Privatpatient ist auch oder gerade deshalb gern gesehener Gesprächspartner, auch Ärzte plaudern bisweilen nicht eben zurückhaltend, es ließe sich gleichwohl behaupten, sie stellen ihr Wissen hin und wieder etwas eitel in den Vordergrund —, in denen mir das eine ums andere Mal der Reim bestätigt wurde, den ich mir im Lauf der Zeit meiner Beschäftigung mit meiner oben gelagerten Festplatte gemacht hatte und das mir insofern verwandtschaftlich bestätigt wird, als ich als Opi Zeuge dessen sein darf, was Eltern vermögen, die ihren Kindern nicht nur lesen und schreiben beibringen, sondern sie dabei auch intellektuell befähigt erklärend begleiten. Auch die Gespräche zwischen mir und einem Freund, der sein gutes Geld zwar als Augenarzt verdient, aber sein Studium der Neurologie immer nicht nur im Blickfeld gehalten und obendrein fünf Kinder hat, bestätigen mir immer wieder aufs neue, welche Bedeutung das Lesen und Schreiben auf die intellektuelle Entwicklung des Menschleins hat. Am eigenen Hirn mußte ich zudem erfahren, wie wenig hilfreich es für diese Belebung des Zellenhaushalts ist, Kinder statt vor dem Fernseher in einer Bibliothek zu parken. Nur die oben erwähnte Begleitung fördert ergänzend deren fruchtbringende Teilung, letztendlich auch die Sozialisation. Das mußte ich nämlich an mir selbst erfahren, da ich um der lieben Ruhe willen häufig im Giftschrank meiner Mutter eingesperrt ward und heimlich in Alfred Anderschs Die Rote lurte, als ob's ein Porno wär'. Was das Festhalten beziehungsweise das Auseinandersetzen, also das Unterscheiden ausmacht, erfuhr ich recht spät, als mir Zuwendung durch eine Kinderfrau zukam, die gemeinsam mit mir las und das Gelesene erläuterte. Aus mannigfaltigen Denkbeispielen schuf ich bereits in Jahren der Adoleszenz Abwandlungen über das Leben anderer. Während Gleichaltrige Liebesgedichte schrieben, verfaßte ich Versuche etwa über Nathalie Sarraute, weil man mich zunächst mit ihr alleine in der Bibliothek geparkt hatte und mir logischerweise die Tiefen ihrer Geisteswelt verborgen geblieben waren. Aber das Verfassen half, zumindest später hatte es seine Auswirkungen. Einmal mehr wäre dabei die kleistsche Technik des «allmählichen Verfertigens der Gedanken beim Reden» anzuführen, das ich gerne fürs Schreiben mißbrauche. Es kann nämlich für zur Unordnung hin Tendierenden beim Sortieren und Wiederfinden von irgendwann einmal Ab- oder Weggelegtem helfen; ich beispielsweise, der ich nicht gerade der legendären leninschen Schreibtischordnung huldige, werde beim Texten rascher fündig als beim Suchen auf der meist lustvoll unaufgeräumten Arbeitsplatte. ![]() Nun sind diese mit mir und ich mit ihnen befaßten Neurologen sicherlich keine Zukunftsforscher beziehungsweise vielleicht nicht allesamt auf dem neuesten Stand der Gehirnforschung und deren Experimente. Einig dürften sie sich aber darin sein, daß diese meines Erachtens schauerlichen Eingriffe in das Innerste des Menschen noch sehr lange Zeit — fünfzig oder hundert oder gar fünfhundert Jahre dürfen durchaus so genannt werden — brauchen, bis es zur alltäglichen Anwendung kommt. So sollte es noch ein ganzes Weilchen bei der Kenntnis bleiben, daß Lesen und Schreiben der Bildung förderlich ist, bis hin zu diesem intellegere, das Sehen, Erkennen, Unterscheiden meint, also Weiterbildung eben nicht nur im Sinne ökonomie-lobbyistischer Tätigkeit. Wenn es nach der ginge, das ist meine Rede seit langem und auch hier immer wieder, würde man ohnehin schon jetzt am liebsten den meisten Menschen das Gehirn amputieren oder zumindest mit einigen Kabeln ausstatten. Ach, was rede ich, kann ich mich doch es Eindrucks nicht erwehren, daß die Manipulation längst stattfindet, nicht eben wenige stellen sich als Selbstversucher zur Verfügung, indem sie ihr eigenes Denkorgan abschalten. Oder wie soll ich das anders deuten, als daß die Regierungsfestplatten der führenden Industrienationen, allen voran vielleicht die deutsche mit ihrem Bilden im Sinne des neuen Schaffens von unteren Klassen oder auch sich der Sklaverei Hingebungswilligen durch global agierende Konzerne, programmiert werden? Brot und Computerspiele hin, Minimallöhne und Leiharbeit beziehungsweise auf diese Weise geschönte Statistiken her. Ich kann diese Kadavergehorsamkeit nicht mehr ertragen, diesen Leichnam, aus dem es herausgrummelt: Was soll man denn machen? Eben gerade habe ich «meiner» geschätzten Postbotin, die mir eines meiner quartaligen Allwissensschriften anlieferte und die ich drei Wochen vermißt hatte — Anfang dreißig, Hörsturz —, das mongolische Märchen erzählt, in dem die Mutter ihren Kindern die Unverbrüchlichkeit von Gemeinschaft darstellt, altmodern manchmal auch Solidarität genannt. Erst gibt sie ihrem Nachwuchs einen Pfeil in die Hände, der leicht zu zerbrechen ist. Dann bindet sie fünf Pfeile zusammen. Der Bund ist nicht zu knacken. Selbst die sogenannt höher Gebildeten merken nichts, weil sie sich bereitwillig lediglich zum Auswendiglernen schulen lassen, bis zu der Stufe, an der sie zur Gewinnmaximierung auf gehobener Ebene beitragen, auf der sie dann mit dreißig der erste Schlag trifft. Man gaukelt ihnen auf einem bestimmtem Niveau vor, jeder könne «es schaffen». Jedem seinen Hörsturz. Bildung. Das bedeutet für mich das Sehen, das Erkennen, das Unterscheidungsvermögen, das seinen Anfang beim Erlernen des Lesens und auch des Schreibens nimmt. Diese Fördermaßnahmen zu intellektuellen Fähigkeiten kann nur ereichen, der nicht, der sich nicht durch eine Bildung bremsen läßt, die wirkliche Lernprozesse verhindert. Ich bezweifle, daß man die tatsächlich erreicht, indem einem nahezu das gesamte Procedere aus dem Kopf gelöscht wird, das zum Erlernen der Unterscheidung zwischen Nord und Süd, der Orient- und Okzidentierung führt. Ebenso habe ich Zweifel daran, daß eine drahtlose Verbindung zwischen einem Kopf und dem Zentralcomputer in der Befehlsstation irgendwo im Élysée, im Kanzleramt oder überhaupt in Mountain View oder Menlo Park darin Platz schafft für umfassendere, anderweitig nutzbare Kapazitäten. Arbeitsblätter statt lesen und schreiben, das scheint mir ein Beweis dessen, wie wenig Kreativität tatsächlich gewollt wird, die meines Erachtens nur von einem Wissen geprägt werden kann, das Zurückliegendes mit Neuem verquickt, das Staben erkennt und in Bücher bucht. Ob die elektrisch funktionieren, das spielt dabei keine Rolle. Die Performance bleibt das Verfassen, eben das Zusammenfassen von erlernten Kenntnissen. Aber wen interessiert's, ich bin ohnehin ein altbackener, harter Brotkanten des Kulturpessimismus, weit weg und aussortiert vom und aus dem wirklichen Leben. Nein, darunter leide ich nicht. Denn seit einiger Zeit weiß ich: Und sie dreht sich doch.
Am Ende lange Sätze über kurze Gedanken Die immerzu den Kopf schüttelnde Dame aus der Hauptstadt der regierenden langen Sätze und der nichtssagenden oder nichts zu sagen habenden kurzen hat derart Feines über die Freude an der abwechselnden sprachlichen Vielfalt geäußert, daß es die Frontseite verdient. Zudem es Abwechslung bietet von der Eintönigkeit langwieriger Erzählerei. Kurz ist etwas für Betriebsanleitungen für Flachbildschirme und elektronische, sich selbst befüllende Brotbackautomaten. Die sind dennoch meistens unlesbar. Wenn sie von chinesischen oder koreanischen Studenten übersetzt wurden. Die sich im dritten Semester befinden. Als Nebenfach. Zur Informationstechnologie. Und die dann Technology mit Technologie übersetzen. Obwohl's deutsch eigentlich Technik heißen muß. Da die Technologie die Lehre von der Technik ist. Aber das wissen sie nicht. Da ohnehin alles ein globaler Sprachbrei geworden ist. In dem sprachliche Unterschiede vermeintlich niemanden mehr interessieren. Die von den Großrechnern der Betriebwirtschaft aus Kostengründen herangezogen werden, ums noch billiger verkaufen zu können als die Billigheimer im Westen. Oder von japanischen Ehefrauen. Die Klavier und Gesang studiert haben. Und mit einem Deutschen verheiratet sind. Zetbe in Düsseldorf, dem ins Deutsche integrierten Tokyo. Der will, daß sie zuhause bleibt. Und sich um ihr Sushi und seine Kinder kümmert. Und trotzdem hinzuverdient. Weil ein deutscher Mann das gerne hat. Es geht aber auch bei übersetzten Speisekarten. Für Deutsche, die sich auf der Durchreise nach Spanien befinden. Oder in Narbonne-Plage typisch französischen Urlaub machen. Oder in Le Grau du Roi, La Grande Motte oder Port Camargue. Weil's dort so schön ist wie in Spanien. Noch anders ist's aber auch möglich. Zum Beispiel in poetischen Reiseführern. Oder der Preisung gastronomischer Kleinodien. Wie in Italien. Immer noch der Deutschen heimliches Sehnsuchtsland. Da setzte vermutlich die Tochter des Hauses La Trappola charonisch, sprich kryptisch über den Styx der deutschen Sprache. Die aus-moderner-Weise-ausgestattete Küche kann jede Erfordernis befriedigen: die «Piadina» ist immer fertig, und der Bratenwender marchiert ohne Unterbrechung uber den Kamin der Hauptsaal, deren hohe Zimmerdeke mit Kätchen gemäldet ist. Auf-der-Plätze-zubereitete «cappelletti», Jagdbeute, kalter Ausschnitt, mit jede typische Nahrung der Gegend ist zusammen mit dem lokalen ganz echten Wein angebietet.Man möchte Ariadne zur Hilfe rufen. Auf daß die ihren Faden gleich einem Rettungsanker auswerfe. Der einem aus dem Labyrinth heraushelfe. Aber es erhellte die chronisch dunkle Unterwelt des Germanischen der jungen Frau. Sie hatte mal einen deutschen Freund. Der war auf der Durchreise im Marche. Und hat ihr auf dem Kopfkissen deutsch beigebracht. Vom Heiraten war die Rede. Als er eines morgens verschwunden war, da wußte sie nichts mehr. Außer, daß sie eine Frucht im Leib trug. Ob sie alemanna, crucca, germana, tedesca oder teutonica werden sollte, sollte ihr verborgen bleiben. Da hat sie sich gerächt. An der deutschen Sprache. Mit etwas längeren Sätzen. Die so unverständlich waren wie die kürzeren oder längeren deutschen der Chinesen, Japaner oder Koreaner. Aber sie waren schöner. Weiblicher. Denn es ging schließlich ums Essen und Trinken und um die Liebe. Zur Landschaft. Darin bewegt man sich ohnehin tänzerischer als in der Sprache der Technologie. Bzw. Technik. Mit ihrer SMS-Choreographie. Tanz der Kurzmitteilung. Wie klingt das denn! Aber das ist ohnehin Männersache. Männer, das habe ich neulich auf einem US-besendeten Flachbildschirm gesehen, tanzen nicht. Als ich mich beruflich noch in einer Umgebung befand, in der die etwas feinüppigeren Vixen als die eines Russ Meyer nackt auf den Tischen der Graphik tanzten, lernte ich einen Herrn kennen, der unter Pseudonym, weil sein Hausverlag seinen Namen nicht im Sumpf verkommener, US-amerikanischer Lebenswege untergehen sehen wollte, quasi unter dem Tresen Kunst vermittelte. Ihm folgte ich für eine vorübergehende Zeit, da mich die unerotische Nacktheit einer von mehrfach wechselnden Textchefs immerfort gleichgemachten Sprache schrecklich langweilte. Zwar lernte ich hochbezahlter Lehrling viel, aber ich hatte bald herausgefunden, ihnen nach der fünften Überarbeitung eines Artikels wieder die erste auf den Schreibtisch zu legen, die sie dann jeweils als vollendet erachteten. Nach einem Jahr sehnte ich mich fast zurück nach dem Rundfunk der zwar fürs Gehör richtigen, im besonderen aber geradezu feinziselierteren kurzen Sätze, mehr jedoch noch nach der Suche nach der verlorenen Zeit mit seitenlangen Sätzen in der Beschreibung von Madelaine, zumindest aber nach der Lektüre von Mirabeau, der schließlich auch noch anderes Aufklärerisches wie etwa Lauras Erziehung verfaßt hat. Bei dem Artvermittler unterm Tresen, der einige Zeit später ein großes Kunstmagazin gründen würde, erhoffte ich mir, mehr sprachliche Vielfalt ausleben zu dürfen. Was kam, war mehr als enttäuschend. Denn es war in dieser Illustrierten wie in anderen, noch dazu beinahe autorennamenlosen Wochenblättern ebenso üblich, alles auf eine, wie ich es empfand, Schmalspur zusammenzuredigieren. Wer auch immer ein Manuskript ablieferte, gedruckt wurden alle Text so, als ob sie von einem Autor stammten; Autorinnen waren zu dieser Zeit noch überaus selten, die meisten Damen steckten noch hochgeschlossen in der Sekretärinnenschublade, der Beruf der Gesellschafts- oder Hofexpertin war noch nicht erfunden, der einer Redaktionsleiterin, Textchefin oder gar Chefredakteurin schlicht undenkbar. Journalistinnen wie Wibke Bruhns durften allenfalls auf den Bildschirm, und zwar als Nachrichtensprecherin, etwas früher in leitende Positionen gelangende wie Luc Jochimsen waren eine Seltenheit. Medien waren Männersache. Bloß keinen Tanz, und schon gar keine langen Spielereien. Also mehr Frauen an die Medienmacht? Ich bin unschlüssig, ob mit ihnen mehr an- und abschwellende, sich steigernde und wieder abebbende Sarabande getanzt wird, absolvieren viele doch sogenannte Hochschulen, um wenigstens zunächst einmal an die Front zu kommen, in denen allerdings meistens gelehrt wird, alles zu verknappen, sich kürzest zu fassen wie zu Zeiten in der Telephonzelle, weil für komplette, nicht vorn und hinten abgehackte Sätze, für Vorspiel keine Zeit mehr ist oder es, wie's mir manchmal vorkommt, zum Lifestyle gehört, sich möglichst undeutlich auszudrücken und das auch noch rasend rasch quasi wegzusprechen, daß gleich gar nichts mehr übrigbleibt, vermutlich, weil den stundenlang zuhause vor dem Flachbildschirm oder ganze Nachmittage im Café vorm DiddaldaddelEiphone Hockenden die Zeit davonlaufen könnte. Ich werde wohl auch bald zum Internetausdrucker werden, schon aus Protest gegen diese Verflachung, die noch dünner macht, als es diese Geräte ohnehin bereits sind. Sie haben schon recht, zu diesem Elektrobuch passen keine langen Sätze. Jedenfalls nicht meine, «sprachgewordene matroschkas» — ach, wie schön, die «hierhin oder dahin» wollen, die «scheinen ziellos oder führen einen manchmal in die irre, weil man denkt, man denkt schneller, aber falsch gedacht». — Ich kaufe schließlich auch schon seit langem keine Brötchen mehr beim Bäcker, weil ich weiß, bei dem gibt's auch nur noch Einheitsbrei aus der Fabrik, den er als Handwerk verkauft. Neulich habe ich mein Brot selbst gebacken, so richtig, nicht mit der Maschine, sowas kommt mir ebensowenig ins Haus wie ein Elektrobuch, sondern von Hand, den Teig aus Mehl, Hefe, Wasser sowie etwas Olivenöl und Salz in die Schüssel gegeben, gerührt und geknetet, ihn hin- und hergewendet, ihn ruhen lassen, dann noch einmal geknetet und gewalkt, ihn hin- und hergewendet, bis ein wohlschmeckender langer Satz daraus wurde. Es hat nicht viel länger gedauert als das Schreiben einer ausführlicheren Sentenz über einen Absatz. Zuhilfe kam mir dabei die Erinnerung an eine temporäre Tätigkeit bei einem Bäcker, der im Hinterhof eine Sau im Stall stehen hatte und die ich auch essen durfte, deren Fett ich sogar gerne aß, weil es so schmackhaft war, die aber auch von einem Fleischer geschlachtet worden war, dessen Wurstsuppe nie aus meinem Gedächtnis entschwinden wird, so, wie die Freude über Ihre feine kleine Würdigung des behutsamen Entblätterns, des dazugehörenden Müßiggehens, für die ich mich herzlich bedanke.
Die andere Liebe Fortsetzung Flaches Land | Liebe wie gemacht Die Sonne ging dort auf, wohin Elias nicht mehr zurückwollte, jedenfalls nicht in nächster Zeit. Seine zuletzt gegenüber dem Studieren bevorzugten häufigen Dienstbarkeiten als sich tänzerisch bewegender Kellner zur Aushilfe in einem überwiegend von gut und manchmal auch seltsam bis komisch betuchten Männern frequentierten Lokal am Wittenbergplatz hatten ihm mehr als höfliche Trinkgelder eingebracht und ihn die Miete für drei Monate in der nun verwaisten Wohnung hinterlegen lassen. Denn hinzugekommen war auch der mehrfache Verdienst, entstanden aus dem von nichts als Heiterkeit bestimmten, ungezwungenen Einschenken meist hochprozentiger und mit exquisiten Limonaden gemischten polnischen, in Automobilen mit Kennzeichen des diplomatischen Corps nach Westberlin eingeschmuggelten Vodkas aus Flaschen mit darin enthaltenen Grashalmen auf Gesellschaften solcher Auftraggeber, die sich durchweg aus den Gästen der sonntäglichen Frühschoppenkneipe quasi rekrutierten, die in ihn ihre körperlichen Sehnsüchte projizierten. Zwar erfuhren sie bald Ernüchterung oder gar Entttäuschung, verstand Elias es doch immer wieder geschickt, ihre Annäherungen bei gleichbleibendem Lächeln abzuwehren. Doch sie zeigten den sichtbar wohlgestalteten jungen Mann offenbar gerne auf ihren zunehmenden Festivitäten her, die meist in ehemaligen Werkstätten von Handwerkern stattfanden, die ihre Betriebe in Hinterhöfen aufgegeben hatten, hatten aufgeben müssen, da die sich selbst zumindest ökonomisch in zunehmendem Maß aufklärende Gesellschaft immer weniger Interesse an schlichteren Tätigkeiten zeigte. Dieser zunehmende Teil der Gesellschaft, der die von Studenten sowie deren Mitläufer erzeugten Unruhen allenfalls am Rande wahrnahm, auch Tote wie die eines jungen Mannes namens Benno Ohnesorg waren allenfalls von Kommentaren wie verdient oder selber schuld begleitet, begann, sich dem Fertigen zuzuwenden, das beispielsweise im Mobilaren immer häufiger aus Skandinavien kam und keine Reparateure des Alten mehr benötigte, da bei Defekten oder Nichtmehrgefallen immerfort gleich zu Neuem gegriffen wurde. Man war auf bundesrepublikanischen Steuermitteln sanft gebettet nahezu durchweg aus den westdeutschen Provinzen in die Stadt gekommen, um fiskalbegünstigt sowie überhaupt höher honoriert abseits kleinstädtischer oder gar dörflicher Langeweile Spaß zu haben in den Lofts, die als Mitbringsel von wenigen tatsächlich Weitgereisten die Freude am Leben immer weiter hinaufsteigen ließen. Diese paar Botschaftsüberbringer brachten auch Zeichen der Veränderungen mit wie etwa Neudeutungen der Liebe, anfänglich am Rande wahrgenommene, aber bald um so intensiver übernommene Errungenschaften aus ferner, sich bisweilen als kurios darstellenden Lebensauffassungen einer anderen Welt. Love and Peace ward diese magische Erkenntnis genannt, uneingeschränkte freie Liebe, hier geschlechtsspezifisch umgesetzt in den oberen Etagen der Hinterhöfe, wohin Hüter einer gesetzlich sanktionierten christlichen, oftmals besonders verkniffenen, sich reformatorisch gerierenden Moral höchst selten, in jedem Fall unwirksamen Zutritt hatten. Schwul nannten sich in der protestantischen Stadt nur ein paar wenige Forsche, die sich gleichwohl auf ihren geradezu esoterischen Maskenbällen produzierten. Homosexualität, soweit reichte der Bildungsstand des größten Teils der Gesellschaft nicht zurück, galt nicht als historisch weit hinter die Antike reichendes gleichwertiges Mitwachsen, sondern als Krankheit, die ausgemerzt gehörte, also beseitigt wie das unnütze, weil wirtschaftlich untaugliche Vieh einst im März. Ein solches untaugliches Stück Vieh war Elias begegnet, als er während einer weiteren studentischen Nebentätigkeit als Vertreter eines Leasinggebers einem honorigen Herrn aus einem für Bildung zuständigen westdeutschen Ministerium mit berlinischem Zweitwohnsitz eine hochwertige Stereoanlage anzubieten hatte, deren Tonabnehmer des Plattenspielers alleine in etwa den gleichen Betrag kostete wie eine der Waschmaschinen, die er ansonsten im Programm hatte, das vorwiegend denjenigen galt, die auf der ganz weit hinten liegenden und für viele nicht sichtbaren Seite dieser Hinterhofmedaille lebte, von der Zille einst schrieb, dort würde die Miete mit dem Revolver kassiert. Den zu Wochenenden aus Bonn nach Berlin entweichenden Ministerialdirigenten einer höchsten Besoldungsgruppe hatte ihn sein Maurer anempfohlen. Der war zu dem jungen Ehepaar ins Haus gekommen, als er auf Weisung der Vermieter letzte Arbeiten an der in vier Wohnungen aufgeteilten Jugendstilvilla vornahm, deren Eigentümer, zugleich Betreiber einer gehobenen Würstchenbude am Wannsee, es über sogenannte gute Beziehungen gelungen war, sie in einen sogenannten weißen Kreis hineinzukomplimentieren, der die Mieten aus der ansonsten üblichen Preisbindung herausnahm. Mit ihm war Elias ins vertiefte Gespräch gekommen, in erster Linie wohl deshalb, da sich dessen außerordentliches kunsthistorisches Wissen herausstellte, das ihm das eine und andere Mal weiterhalf bei seinem noch hinzugenommenen Nebenfach. Fast so etwas wie eine Freundschaft hatte sich schließlich daraus entwickelt. Dieser Maurer, der sich als schlichter Geselle etwas abgabenfrei hinzuverdiente, war auch tätig geworden bei dem in ein anderes, ebenso den Wurst- und Kaffeefürfamilienbudenbetreibern gehörendes Haus in diesem unverfänglichen, weil gediegen-bürgerlichen Stadtteil am westlichen Rande West-Berlins, in das der hochrangige Beamte zweitwohnsitzend eingezogen war. An einem lauen Junisonnabend war Elias serios, aber dennoch leicht bekleidet vorstellig geworden in der Hoffnung, einmal höherwertig als im Maß von Dreckwäsche in die Kasse anderer greifen zu können. Der Herr griff auch sofort zu, vermutlich, weil er in diesem Finan-zierungsmodell Zukunft sah, vielleicht aber auch in der Hoffnung, Elias zukünftig fest in die Wäsche greifen zu können. Zuletzt tun dürfen hatte das ein um einige Jahre älterer Cousin, dem er mütterlicherseits vertrauensvoll ans Herz gegeben worden war anläßlich eines Lagers während der Feierlichkeiten zur Mitsommernacht in einer abgelegenen Nähe zum Polarkreis, der letzten Festivität vor seinem Ylioppilastutkinto, wie das Abitur in seinem Land heißt. Das ihm gegebene Vertrauen war sicherlich auch aus der Tatsache entstanden, daß der Verwandte obendrein als erzieherischer Leiter einer streng protestantischen Gemeinde tätig war, deren Leitlinien zwar nicht unbedingt mit denen seiner eher von freiem Geist beseelten Mutter übereinstimmten, die den Sohn jedoch von Fehltritten abhalten sollten. Verfrühte Sexualität beispielsweise gehörte dazu. Daß er längst Erfahrung darin hatte, seit ihn Dreizehnjährigen die wundersam weiche und zärtliche Schwedin polnischer Herkunft zu umsorgen begann, die zu internatsfreien Wochenenden von Kapellskär übersetzend als sich unausgelastet fühlende gereifte Dame eines freudigen schwedischen Hauses auch das der ansonsten zweisam lebenden Rönnrots bediente oder vielleicht einen ihre andere Nothelferinnentätigkeit überdeckenden Nachweis benötigte, sich, wie auch immer, aber eben irgendwann auch seiner angenommen und ihm endlich das und etwas mehr gegeben hatte, wonach er sich seit Kleinkindzeiten sehnte, das entzog sich der Mutter Kenntnis, war sie doch immerfort beruflich mit diesem Herrn Wittgenstein zugange, dessen Nichtwissen um das Nichts sie unbeirrt und beharrlich erforschte und betrieb wie das Auffüllen eines im All endenden Lochs. Diese Zärtlichkeit war für ihn auch das Maß aller Dinge geworden, ihr allein wollte er sich fortan hingeben. Doch im Ferienlager waren die Geschlechter streng getrennt, woran sich zwar nicht alle hielten, allen voran die Schüler und offenbar besonders gerne die Schülerinnen der gymnasialen Oberstufe, aber die üppige Ainniki, die ursprünglich Tuulika, kleiner Wind, heißen sollte, dann aber doch nach Kulervos Schwester den Vorzug bekam, weil die nationaleepische Kraft Einzug halten sollte in die Familie, die ihre rotblonden Zöpfe fortwährend und geradezu frivol zu flechten schien, dieser von ersten Annäherungen Träumenden umschwärmte kleine Wind einer Kollegin seiner Mutter, deren Gatte vor ihrem ständigen Verlangen geflüchtet und in die befreiende Platonik konvertiert war, der er ab nachmittags in den Tanzlokalen des lange vor Mauri Antero Numminen* für seine Züchtigkeit legendären finnischen Tangos huldigte. Doch Ainniki schien ihm gegenüber nicht die gleiche Leidenschaft zu entwickeln, möglicherweise, weil ihm die erforderliche kalevalheroische Kampfesbereitschaft abging, wie sie die anderen Jünglinge an den Tag bis hinein in die Nacht legten. Elias fühlte sich unbeachtet; daß er sich später deshalb einmal als geschlechtlich würde diskriminiert fühlen dürfen, dessen konnte er sich noch nicht gewahr werden, schließlich befand man sich im Finnland der fünziger Jahre. Dem Cousin und Erzieher war sein schmachtendes Begehren gleichwohl nicht verborgen geblieben. Um ihn von entschieden zu frühen Begegnungen mit dem anderen Geschlecht fernzuhalten, nahm er ihn in ein Duschzelt beiseite und bemühte sich, ihm das eigene nicht nur in voller Pracht darzubieten, sondern es darüber hinaus auch bewegend zu ergreifen sowie ihn in weitere Techniken der Liebe einzuführen. Jedoch alles, was an ihm währenddessen festmachte, waren die Gedanken an die zärtliche Fürsorgerin seines Wohlbefindens, die er imanigativ in ein sanftfarbenes Aquarell übertrug, das dabei Ainnikis Formen angenommen hatte. Ob es in Belgien eine Ainniki geben würde, die ihm dann wohlgesonnen wäre, darüber war er sich im Unklaren. Fest stand jedoch, kein noch so standhafter Mann würde fortan in der Lage sein, sich ihm allzu körperlich zu nähern. Als er kurz hinter Aachens Europaplatz in eine Tankstelle einbog, lächelte ihn beim Aussteigen neben einem bunt bemalten Auto eine heiter wirkende Frau an, stellte sich sich als Hanneke vor und fragte ihn, ob er nicht Lust verspüre. Sie meinte damit ihn als Begleiter zu einem Fest in Heerlen, das das Mittelalter thematisierte. Heerlen, das wußte er von seinem letzten Besuch in der Stadt am Dreiländereck, liegt nicht in Belgien, sondern in den direkt daneben liegenden Niederlanden. Hanneke fuhr voraus. *«Der Nachmittagstanz im Maestro paßte uns bestens. Die Band war die von Kai Gideon, dem Mann, den ich aus der 1997er Tango-Dynastie am meisten schätze. Er ist, wenn man so sagen kann, geistig den übrigen voraus, und seine innere Ausgeglichenheit kommt auch in seiner nuancenreichen, teils sogar mystischen Stimme zum Ausdruck. Das hat vermutlich damit zu tun, daß er im Kloster Valamo am Ladogasee war und heute als orthodoxer Religionslehrer arbeitet.» Tango ist meine Leidenschaft Es besteht die Absicht einer Fortsetzung.
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