«Du mußt das nicht verstehen.»



Die Abbildung zeigt Robert Filliou aus der Serie Leuchtende Vorbilder von Vollrad Kutscher, genauer: sie sind das letztendliche, kunsttrunkene Ergebnis von Séances en chambre noire.


«Freundlicher Jean», sprach und schrieb mich in jüngeren, noch ein wenig unbeholfenen Jahren ein mir gegenüber alterstechnisch eigentlich unbedeutend fortgeschrittener, aber geistestechnologisch um einiges vor mir das Feld vorhutender, also erkundender Herr an, ich ein immer noch von der Bettwärme des elterlichen 19. Jahrhunderts, von der Religion der reinen Aufklärung Gehüteter und damit auch einer gewissen Bildferne Geprägter, er ein gelernter Soziologe mit ausgeprägt «moderner» Neigung zum Dadaismus und auch zu dessen Verständlichmachung, der mir später im Lauf brotarbeitlichen Zusammentuns zum Freund wurde, eine eigenwillige Anrede, die ich bis heute sehr mag und schätze wie seine Weise oder Art der Kunstvermittlung. Fast blind war er, ohne Brille sah er nichts, aber auch mit ihr rumpelte er in fremder Umgebung ständig gegen Schränke oder unnütz in der Gegend herumstehende Immobilitäten, seine Wohnung bestand nahezu ausschließlich aus an Wände beseitigte Regale mit Büchern von A wie Alchimie oder Albertus Magnus bis Z wie Zarathustra oder Zinsrechnung, sah er sich etwa in einem Museum oder einer Galerie, wie diese Kunsträume früher genannt wurden, als sie noch nicht alleine dem Verkauf zugedacht waren, Gemälde an, war er gezwungen ganz nahe an sie heranzutreten, fast in sie hineinzukriechen oder hinter die Sache an sich zu kommen, um dann schier unglaubliche Erkenntnisse zum besten zu geben, die mit Ich sehe was, was du nicht siehst nur unzureichend bschrieben sind. Ich müsse das nicht verstehen, meinte er. Soweit ich mich recht erinnere, ging es damals um Schrift- beziehungsweise Sprechstücke von Schwitters, von dessen Bildern ich mich andererseits bereits verstanden zu wissen meinte. Ich solle mich einfach auf sie einlassen, dann kämen sie schon zu mir, quasi wie die Katze oder das Kind. Wenn ich bereits eine Nähe zu den Abbildungen der schwitterschen Wirklichkeitswahrnehmung festgestellt hätte, dann läge es nahe, daß auch sie bald auf mich zukämen. Das wesentliche aber sei überhaupt, solch ein Stück Kunst sei mir gewissermaßen sympathisch, dann gefiele es oder dessen Worte mir auch. Irgendwie, dieses Wissen war mir bereits vorher bekannt, gehörten immer zwei dazu, das Zusammen und der Hang. Die Liebe käme dann im Lauf der Zeit. Und wenn nicht, dann hemme es den Lauf dieses schönen Triebes auch nicht, sie hätte nicht einmal einen Interruptus, denn alles flösse, wie man es schon diesem Herrn Heraklit untergejubelt hätte, obwohl dessen Sinn dabei nach anderem stand, die Kunst als Leben lasse sich nicht verhüten, dieser Schoß sei immer fruchtbar, sie gebäre fröhlich vor sich hin, auch wenn manche der Meinung seien, er sei furchtbar und deshalb keine Kunst.

Eigentlich sollte es hier ja einen nächsten Absatz geben und sogenannt f. oder gar ff. weitergehen. Anlaß war und ist mir das Schreiben einer freundlichen, also einer lieben Dame, die mir mitteilte, sie verstünde nichts von Kunst, nicht zu vergessen das eines mich mittels seines auf der Tastatur recht weit nach oben zeigenden Fingers belehrenden Herrn, dem ich folglich folgen muß in der Meinung, Kunst habe gefälligst von Können zu kommen. Aber ich wurde beziehungsweise werde kurzfristig und -zeitig am weiteren assoziativen Flanieren gehindert. Deshalb interruptiere ich erst einmal und lasse es zur vorgerückten Stunde weiter pantha-reisieren, nehme später den gedanklichen Pfad wieder auf, haue mir mit Hilfe des kleinen Machetchens logischer oder wirrer Erinnerung den Weg frei durch den Chaos-Dschungel meines nach dem scheinbar picabiaschen Prinzip mittlerweile offenbar völlig postmodernisierten, also absolut nichts mehr verstehenden Kopfes. Ich bummle, also bin ich. Also eventuell ff.


Falsche Bewegung



Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle. Das Banner der zeitgenössischen Weltkunst weht in Kürze wieder, bald sind die Automobile erneut geflaggt wie bei einem Fußballevent, welchem auch immer. Fürs erste habe ich mal eine Erinnerung ausgegraben. Die Photographie zeigt die angeregt spirituelle Erschöpfung auf dem Kasseler Tahrir-Platz im Jahr 2007, als der künstlerische Fundamentalismus noch nicht so ausgeprägt mit dem Szepter radaute. Die Säulenheiligen rechts oben stammen übrigens von Stephan Balkenhol. Burkhard Müller-Ulrich meint:
Die Kunst ist nämlich unterdessen zur neuen Religion geworden. Künstler werden wie Heilige verehrt, ihr Schaffen verweist auf einen letzten Rest Mystik in unserer durchrationalisierten Welt, der Umgang damit ist von liturgischer Andacht und Ehrfurcht geprägt, wie man sie aus Klöstern und Kathedralen kennt. Ja, die heutige Kunst erhebt nicht selten den Anspruch einer gewissen Göttlichkeit — selten allerdings so explizit wie jetzt in Kassel.
Beim Gespräch über die Lebenden halte ich mich am besten raus. Als nurmehr Bekucker vom Rand des Geschehens aus habe ich meine fast selige Ruhe. Diese Lebendigkeit neuerer Kunstdiskussion würde ohnehin meinen Blutdruck über die balkenholsche Höhe hinausschießen lassen, und diese Gefährdung meiner Gesundheit hat mir mein Onkel Dorfdoktor strikt untersagt. Burkhard Müller-Ulrich hat das Wesentliche angerissen. Ich kehre zu dem zurück, das da lautet: «Du mußt das nicht verstehen.»

Es gab eine Zeitspanne in meinem Leben, in der ich drauf und dran war, die Züge eines Puristen anzunehmen. Das ist eine Art Religionsersatz für Atheisten. Die vor tausenden an Jahren verfaßten, auch sie in den Stein der Historie gemeißelt, zehn Gebote des Bauhauses galten mir als Katechismus, gegen die Verunreiniger nahm ich einst das Kreuz auf und folgte dem Zug. Es ist seit längerem vorbei. Völlig entfernt habe ich mich nicht von diese Bildgeboten, sie bestimmen nach wie vor meinen Blick, diesen berühmten schicksalhaften ersten, der über Begegnungen entscheidet. ich schätze sie in ihrer Klarheit der Formensprache weiterhin. Aber ich bete sie nicht mehr runter wie einen Rosenkranz. Irgendwann hatte ich nämlich tatsächlich den Eindruck, Alexander Tzonis könnte recht haben mit seiner Aussage, die Jünger, ja diese und nicht die Urheber oder auch Schöpfer des Bauhauses, machten «aus jedem Teeglas ein Problem konstruktiver Ästhetik». Heute verbuche ich es unter Geschmack, der eine oder die andere wird es als einen guten bezeichnen. Doch mittlerweile ist es eine Mode geworden. Ach was, das war vor dreißig Jahren schon so. Ich war häufig zu Besuch in Häusern, in denen mich das Gefühl überkam, mich in Kathedralen zu befinden. Als Museen ließen sie sich auch bezeichnen. Was nach heutigem Wertmaßstab des modernen Konservativimus aufs gleiche hinausläuft. Siehe oben. Genaugenommen hat die in den Neunzigern endgültig eingesetzte Appleritis exakt diesen Ursprung, sowohl in der Formgebung als auch in der Anbetung dieser Reliquen. Wer der Chose auf den Grund geht, wird möglicherweise herausfinden, daß die im Prinzip nichts anderes darstellen, nicht anders zu beurteilen sind als der vielzitierte röhrende Hirsch. Lediglich die Geschmäcker haben sich ein wenig gewandelt. Die eine Masse will sich von der anderen mithilfe von Masse absetzen. An der Marke soll man ihre Glaubenszugehörigkeit erkennen. Meine Vorlieben eben auch. Sie reduzieren sich wie einer guter Fond. Essen ist der Sex des Alters. Ich habe das Glück oder, nenne ich's mal so: das Schicksal ist lieb zu mir, indem es mich nach meiner Privatisierung nicht dem «Angenagelten», wie ihn mein auch schon Federn lassender Adler Henri II kürzlich nannte, zuführt und auch keinen anderen samt Gemeinde anbeten läßt, sondern mich zusehends von dieser Last des Glaubens befreit, die mich in dem stärkt, das da lautet: Kunst ist, was gefällt.

Ich mach's heute nicht so lang. Es steht noch anderes auf meiner «Agenda». Morgen mache ich weiter in meiner Meinungsmache gegen alles Religiöse. Auf Kon- sowie auf Destruktion, auf Bilden sei schwieriger als zerstören, diese kürzlich an mich gesandte, mich gemahnende Botschaft, werde ich möglicherweise eingehen. Denn meinen Kopf schüttelt es immer heftiger. Aber wer weiß, vielleicht ist es eine Art Veitstanz, dieser faux mouvement, der ja bekanntlich erst mit fortgeschrittenem Alter Bewegung in einen bringt.
 
Di, 05.06.2012 |  link | (2713) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Zur Multiplikation

Aus meinem halbverdunkelten, immer leicht eingeschränkten Blick durchs Badezimmerfenster-schnittlauchpetersilienblau, die fliehenden Linien scheinbar etwas fester im Auslösergriff als sonst:




Ein Student kämpft gegen Windmühlen
[...] Max Schrems ist ein der Jurisprudenz zugeneigter Student aus Wien, der bei der irischen Datenschutzbehörde 22 Anzeigen gegen das populärste Social Network dieser Tage einbrachte und sich damit international Gehör verschafft hat. Die Anzeigen betreffen allesamt Praktiken, die mit den geltenden Datenschutzrichtlinien nicht unter einen Hut zu bringen sind. Dabei handelt es sich etwa um Löschpraktiken, die diesen Namen nicht verdienen oder um fehlende Auskunftsmöglichkeiten in Bezug auf die im Netzwerk gespeicherten Daten. Interessierte können sich die Anzeigen im Wortlaut auf der Website der Gruppe europe-vs-facebook durchlesen. [...]

Die Mobilmachung der Worte
[...] Was soll uns das sagen, daß sich die gelisteten Worte alle im Text wiederfinden? Nicht, daß ich listengeil mal vorne landen will, sondern daß wir den Krieg vergessen haben. Das Leid und den Horror den Nationen über uns bringen. Den «Demozid» den Regierungen über ihre entfernten Nachbarn und ihr eigenes Volk bringen, wohl wissend, daß sie im schlimmsten Fall, wie Henry Kissinger, mit dem Friedens-nobelpreis ge-outet werden. All die Meister des asozialen Superlativs. [...]

Kein Wort über Gauck!
Verstehen Sie nun, warum mir nichts einfällt? Gaucks Wahl ist der worst case. Schlimmer hätte es nicht kommen können. Die Atomphysiker haben einen Fachausdruck für solche Fälle: Supergauck.

Coast-Gardening
Ich hatte so einen in der Familie. Er fuhr in jüngeren Jahren mit der Küstenwache vor Seattle im Pazifik Patrouille, war Demokrat und folglich sanfter Lehrer für Schwererziehbare und füllte ansonsten sein Leben in der Freizeit auf mit dem Sammeln von Marines and Artefacts.

Es gab da eine Debatte
[...] (ist das das rechte Wort?) bei Phyllis Kiehl (‹Tainted Talents›) über Netzliteratur, Lewitscharoff-Bashing, Autor und Werk, Wert und Unwert von Literatur, die zwischen einigen Beteiligten hässlich wurde. Da ich mich (zu Beginn) daran beteiligte und durchaus harsche Worte fand, möchte ich dazu (im wesentlichen zu meinem Beitrag und seinen Folgen) hier Stellung nehmen. [...]

Es sind aber meine Erfahrungen und sie haben ihre Schranken in meiner Person (meinem Geschlecht, meinem kulturellen und sozialen Hintergrund, meiner Körperlichkeit, meinen Vorlieben u.v.m.). Solche Schranken nehme ich auch für Autor:innen an. Sie sind für mich die Subjekte, mit denen ich — über ihre Texte — virtuell kommuniziere. Das ist eine phantastische und auch sehr störungsanfällige Kommunikation. Es ist aber daher nicht gleichgültig für mein Interesse und meine Anteilnahme, wer schreibt oder geschrieben hat. Das ist keine Frage der Qualität, sondern eine der Anschlussfähigkeit. [...]

Der ungläubige Thomas
[...] Es steckt, das Verlangen des ungläubigen Thomas zeigt es, im Bilderwollen genauso viel Gewalt wie im ursprünglichen Bilderverbot. [...]

Wie in der Wörterwelt das Konkrete der Abstraktion geopfert wird, so wird in der Bilderwelt ausgeschlossen, was als nicht bildwürdig gilt. Die Installation MOUNTAINS OF DISBELIEF von Thomas Hartmann zeigt Ihnen vieles, aber sie trifft offenbar diese Unterscheidung zwischen bildwürdig und bildunwürdig nicht. Vor meinen Augen entsteht hier — jenseits des Logos — ein faszinierender und lustvoller Einspruch gegen die Herrschaft der erstarrten und erstarrenden Sinn-Bilder. Es ist nicht wahllos, was und wie Sie hier etwas zu sehen bekommen, aber es ist auch nicht zwingend in jenem zwanghaften Sinn, der behauptet, etwas könne nur so und nicht anders sinnfällig und bedeutsam werden. Sie können umher gehen in dieser Kirche und zeigen: auf bunte Bälle und Trinkhalme, auf Sumo-Ringer-Hosen und Joseph-Silhouetten, auf Teppichrohre und Kruzifixe, auf Grass und Ente, Pfeife und Schlange. Sie können einen eingehegten Altar umkreisen oder eine Raucherecke finden. Aber wann immer Sie versuchen werden, sich ein Bild zu machen, werden Sie vor diesen Gebilden feststellen, dass der Bilderrahmen überschnitten wird, dass es aus ihm herausquillt und in ihn hineinwuchert. Immer wieder kann man hindurch und hinaus schauen. Sie können sinnstiftende Bezüge herstellen zwischen Formen und Farben, Zitaten und Metaphern und doch wird sich wohl kaum alles schlüssig zu einem einzigen Gesamtbild fügen. Das Gebilde, das hier entstand, ist stabil und fragil zugleich: Es hält, aber es wird nicht bleiben. Die Bildwerke aus Pappe und Papier, Zeitungsausschnitten, Spielzeug und Müll, die hier gezeigt werden, können woanders ganz anders zusammen gesetzt sein. Sie stehen nicht für sich allein, sondern sind in Beziehungen und Abhängigkeiten gebracht, die jedoch nur befristet gelten. Metamorphosen deuten sich an; alles kann zu anderer Zeit, an anderem Ort sich anders fügen. Vielleicht werden Sie stehen bleiben und staunend schauen, während andere durch die Pappkonstrukte hindurch auf Sie schauen, wie Sie zeigen, was Sie gerade sehen. Die Gesetze des Bildes: Kohärenz, Konzentration, Kontemplation sind hier außer Kraft gesetzt. Stattdessen finden Sie Übersprünge und Überfülle, stoßen Sie auf Weiterungen und Wucherungen. [...]

Verdammt. Romantisch (eine Polemik)
[...]Das Romantische wehrt sich gegen die ewige Schufterei und die böswillige Nützlichkeit. Man will nichts haben, sondern werden. Der Romantiker ist der Mensch gebliebene Antipode des „Homo oeconomicus“, jenes imaginierten Monsters, dem anzugleichen sich die Apologeten der Geldwirtschaft tagtäglich mit ihren Weckmaschinen, Mobiltelefonen und Terminkalendern abmühen. Abends wollen sie aber doch ein bisschen Kerzenschein und weiß gewaschene Unterhosen. Der Feierabend-Romantiker verkostet guten Wein, tiefrot wie Blut. Auch Dracula, nicht wahr, war doch im Grunde ein Romantiker? So rot wie Blut, so weiß wie Schnee, so schwarz wie Ebenholz. Ach ja, die Liebe... [...]
Dabei schmetterlingt mir so etwas wie eine Blaue Blume durch das Herz.
 
Fr, 01.06.2012 |  link | (1854) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Fundsachen



 

Eintagsmuseum Widdersberg

© Kuno Lindemann + Jean Stubenzweig. Die Maße der 1983 zur Ausstellung im Kunstverein Ingolstadt entstandenen Gemälde liegen jeweils bei circa 80 x 60 Zentimeter.
Ich bitte um Vergebung für die dürftige Abbildung; mir geht jedwede photographische Fähigkeit ab, nicht einmal fliehende Linien bekomme ich eingefangen und Fremdkörper oder den Blitz der Hilflosigkeit aus dem Bild gehalten.

Die anfänglichen achtziger Jahre in München, über das gesamte westdeutsche Land hatte sich bereits schwerer Kohl-Geruch verbreitet, über Bayerns Isar-Athen dräute mancherlei seltsames Kunsverständnis, oftmals arge Schlichtheiten, eingeführt von wortaufgeblasenen Einführungen, von Mündern gesprochen, aus denen bisweilen diensteinfältiges Pathos speichelte. Es gab allerdings auch ein fröhliches Durcheinander, von amtsbeflissenen Kulturbeamten gerne Chaos genannt. Mittendrin befand sich der sanft-mürrische, fast wortkarge, aber explosive Künstler Kuno Lindemann. Ich war sicher, er habe sich bereits Ende des genannten Jahrzehnts, spätestens jedoch in den Neunzigern endgültig von seinem Metier verabschiedet, da der große Erfolg sich nicht einstellen wollte. Nun habe ich allerdings dank Internet herausgefunden, daß es noch im neuen Jahrtausend mit ihm noch einmal eine Ausstellung in Pforzheim gab. Mich freut das sehr, und ich würde es begrüßen, raffte er sich noch einmal auf (eine Abbildung aus den neunziger Jahren in artnet).

So gesehen müßte eigentlich ein ganz anderer Text hier stehen, ausgelöst von einem Ausflug in mein Fundus-Wunderland, bei dem drei Manuskriptseiten sich aus einem Rahmen lösten, darin eines seiner ungemein energischen, energetischen, mit der Bürste gezeichneten Blätter, von dem ich fast mit Verblüffung festgestellt habe, daß es auf mich so kraftvoll wirkt wie vor etwa dreißig Jahren (das Bild füge ich nachträglch ein, sobald es mir gelungen sein sollte, es zu photographieren). So sei zunächst ein Fitzelchen aus dem Text von Gerhard Götze, dem seinerzeitigen Herausgeber des in München erschienenen und längst verblichenen Magazins NIKE zitiert. Es führt ein in die Arbeit dieses Malers, der bereits vor seinem Studium ein Meister war, ein Malermeister.
Häufig nahmen wir das Leben somnambul. Tschernobyl lag gerade zwei Tage zurück und unsere Schritte eilten nicht mehr »so« sorglos die Treppenstufen hinab. Plötzlich hatte uns die Sinnlosigkeit allen Tuns überrannt. Wir erwogen Äther; suchten spontan die nächstliegenden Apotheken auf, doch unser Gesichtsausdruck verriet die Absicht.

Kuno sprach von den drei Fischern in der Camargue, denen er eines Morgens begegnete. Sie hatten ihre neues Netz eingeholt, und statt reicher Beute an Fischen, war nur verklappter Industriemüll und Plastikrückstand darin. Gemeinsam befreiten sie das Netz von dem vermeintlichen Gut und brachten ihre Wut mit jedem neuerlichen Handgriff zum Ausdruck. Nach Beendigung machte sich Kuno als Strandläufer auf, schuf Ritzen in die Sanddünen und sammelte den umliegenden Zivilisationsmüll, von dem er annahm, ihn später künstlerisch zu verwenden. In Algen verwobene Plastikreste füllt er vakuumverpackt in Dosen; doch der Zeitlauf relativiert, schafft unversehens neue Impulse, die künstlerisch zu verarbeiten herausfordern.
Später zerstörte Lindemann Mauern, er skulpturierte mit dem Preßlufthammer. Die Photographien von Siegfried Wameser geben einen Eindruck von der Umgebung wieder, in der er teilweise tätig war. Und auf diese, nicht nur für mich unvergleichliche Weise schuf er skulpturale Gemälde.
Bedeutungsträger wird fortan die Rohheit, Sprödigkeit des Materials, wobei es nachgerade unterschiedslos bleibt, ob es Produkte des Abfallcontainers oder neue industriegefertigte Produkte sind. Sie werden amalgamiert und stehen für ein künstlerisches Synonym: »Kuno Lindenmann geht durch die Wände.« In dessen Vollzug entstehen Skizzen, aber auch eigenständige bildnerische Gleichnisse, Synergien zu den Installationen, die das Thema intonieren. Heftig aufgetragene Schraffuren in Teer oder grell bis verhaltenen Farben nehmen sich aus wie Applikationen einer Obsession. Die Widerspiegelung konstruktiver Emblematik in diesen Arbeiten verweist auf den Topos der Tradition.
Gerhard Götze in Nike
Diese Zustandsbeschreibung von Gerhard Götze einer bemerkenswerten Arbeit sollte hier also eher stehen anstatt dieses nachfolgenden Geplappers im Stil eines Kunstfunktionärs, der gut im Geiste von Herrn Kohl hätte schreiben können oder der der Herr Apotheker, ein Passauer Stadtrat namens Dr. Gottfried Schäffer, Ende der Siebziger auch stellvertretender Vorsitzender des «Vereins Europäische Wochen», selbst hätte sein können, der mir in den Siebzigern mal etwas von einer «europäischen Kulturübung» geistesfeucht ins Mikrophon hauchte. Dieses Textchen, das eigentlich ein Vorträgchen ist, ist tatsächlich aus dem jahrzehntelangen Versteck hervorgekrochen, um das damalige Ereignis wachzurufen. Es möge als späte Erinnerung für alle seinerzeit im oberbayerischen Dörfchen Widdersberg Anwesenden gelten, wo im großen Haus der Lindemann-Freunde einen Tag lang ausnahmlos Arbeiten von ihm gezeigt wurden und an dem es überhaupt recht fröhlich zuging. Sie dürfen sich diesen kleinen Beleg ins Familienalbum kleben, sollten sie via Internet draufstoßen.

Eine Einführung in die eintägliche, saubere Arbeit von Kuno Lindenmann

Meine Damen, meine Herrn, sehr verehrte Anwesende.
Zunächst einmal möchte ich Sie um Verzeihung bitten bezüglich meiner Abwesenheit. Leider ist mir bei meinem kürzlich gemachten Versuch1, die Kunst auf den Kopf der Kritik zu stellen, dieselbe auf denselben gefallen, wodurch sich eine gewisse Sprachlosigkeit, Sprachleere einstellte. Da wir jedoch über den schier unerschöpflichen Schöpfergeist aus dem Gott sei dank bereits erforschten Tiefen unserer technologischen Entwicklungen, genauer: über deren Resultate verfügen können, können wir meiner Sprachlosigkeit einen ihr adäquaten Partner zur Seite stellen, quasi als Sprachrohr der Sprachlosigkeit; die Elektronik, bisweilen Walkman genannt. So will ich denn Herrn Kohl2 meinen Dank für die durch ihn gewährte zumindest sprachliche Unterstützung aussprechen und Sie, verehrte Anwesende, um Verständnis für die hier unumgängliche Maßnahme, mein kurtes Grußwort, um das ich gebeten wurde, auf diesem Wege dennoch zu übermitteln. Denn ein fehlendes Grußwort bei einer Museumseröffnung, das wissen wir alle, würde das gesellschaftliche Gefüge dieses unseres Landes gefährlich ins Wanken bringen. Und das, was wiederum, wie sicherlich nicht nur ich meine, erwiese der Kunst unserer Zeit keinen Gefallen, kann sie doch nur in einem entsprechenden Rahmen sich zur vollen Blüte entfalten und somit eine Wirkung erzielen, die über das Maß einer gesellschaftspolitischen Irrelevanz eines zunehmenden Versuches ihrer Popularisierung hinausgeht. Kunst braucht ds Gepränge wirkungsvoller Präsentation, ansonsten sie im Sumpf der Nivellierungstendenzen desjenigen steckenbliebe, das sich in immer neuen Aktivitäten anheischig macht, in ihr, der Kunst, etwas anderes entdecken zu wollen als das, das muß an dieser Stelle einmal gesagt werden, als das, was sie nur sein kann, nämlich die Reflektion darüber, wie man sich in ihr und mit ihr ausruhen kann von unserem Alltag, der wiederum einzig in dem positiven Denken manifestiert ist, das sich sich an Leistungsfähigkeit orientiert.

Und ein herausragender Vertreter dieser Leistungsfähigkeit, die uns tagtäglich weltweit zu höherem Ansehen verhilft, ist der Künstler, mit dem in disem Museum an diesem heutigen einzigen Tage eröffnet wird — und auch wieder geschlossen: Kuno Lindenmann Nicht nur. daß er alltäglich unter Beweis stellt, daß sich die Definition des Begriffes Kunst aus der Conditio sine qua non Können rekrutiert, indem er als Malermeister in des Wortes wahrstem Sinne der Jugend unseres freiesten aller freien Staaten den Umgang mit der Materie lehrt, er nachgerade verifiziert, welche Unabdingbarkeit das Handwerk doch ist, will daraus große Kunst entstehen. Weil Kuno Lindenmann ein Könner unter dem Fixstern Handwerk ist, darf er Künstler sein. Doch damit nicht genug. Er leistet, wie wir am heutigen Tage alle sehen können, er leistet mehr, und zwar unserer Gemeinschaft wahrlich einträgliche Dienste. Kuno Lindemann ist, wenn ich e einmal so vereinfachend ausdrücken darf, ein sauberer Künster. Gäbe es ihn nicht, und das haben zahlreiche Ausstellungen bewieen, stünde der Begriff Privatinitiative im Verständnnis der Allgemeinheit nicht in einem solchen hohen Kurse. Oder, anders formuliert, die Müllabfuhren unserer Stadt und der umliegenden Kommunen hätten einen vielfach höheren Einsatz zu leisten bei der wesentlicher werdenden architektonischen Vergagenheitsbewölltigung. Gilt es doch aufzuräumen damit, was uns an architekturideologischem Ballast bald über den Kopf gewachsen wäre. Überall dort, wo die Monumente doktrinärer Baumaßnahmen der Vergangenheit, eine Glätte, die uns Klarheit suggerrieren soll, eliminiert werden, trägt Kuno Lindemann kraft seiner fundierten Materialkenntnisse dazu bei, Platz zu schaffen für Bauwerke, die vom guten Geist des Gestern durchweht sind. Und in aller Konsequenz hält er es dabei mit Hippokrates beziehungsweise Johann Wolfgang von Goethe: ars longo vita brevis — die Kunst ist lang, das Leben kurz, das will heißen, er scheut auch nicht davor zurück, extremen Kontakt mit den Matrerialien aufzunehmen, die ihn bewegen und die uns, in bildhaerische Form gebracht, hierher zu kommen bewegt haben. Ein Handwerker fürwahr, nimmt er für seine Arbeit nicht nur den Kopf zuhilfe, sondern auch seine Gliedmaßen. Zuweilen, das hat er unlängst bewiesen, stellt er gar sene Gesundheit unter das Primat der künstlerischen Aussage, die einzig darauf abzielt, unser architektonisches Dasein zu schmücken.

Ein Künstler wie Kuno Lindemann, der solche kreative Leistung auf den allgemeinverständlichen Nenner Alltäglichkeit zu bringen vermag, der Kunst und Körper in die Einheit zwingt und nicht, wie so häufig, aufoktroyierten Zwängen schieren Intellektualismusses unterliegt, der hat es wahrlich verdient, in der gewiß nicht alltäglichen Idee eines Eintagsmuseums personifiziert zu werden.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


Anmerkungen
1 Bezug auf Rudi Dutschke, dessen Buch Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen 1974 bei Wagenbach erschienen war.
2 Als Dank für dessen immer wärmende Worte, über die wir damals ständig gackerten.

 
Do, 31.05.2012 |  link | (2589) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges



 







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