«Die Kunst des Ignorierens»

Das las ich bei KrethPlendi. Es hatte wahrlich ein Lob verdient. Und so schrieb ich ihr ein paar Zeilen, die ich hier auf meiner Denkmüllhalde etwas ausführlicher entsorgen möchte, auf daß sie sich keine Sorgen machen muß wegen eventueller Okkupationen.

Es ist ein Sprachbild, bei dem ich das Bogenschießen assoziiere. Ohne dabei an die Arbeit zu denken, die mit dem Erlernen dieser Disziplin verbunden ist. Andererseits tue ich mich da leicht, hatte mir meine Krankenkasse, die vorgestern erwähnte, die jährlich zig Millionen in die Förderung von etwas derberen sportlichen Aktivitäten steckt und des Ausgleichs wegen auch schonmal ein paar Menschen in die Hängematte schickt, vor einiger Zeit ein bißchen was nachgelassen. Wegen Erreichung der Altersgrenze. Deshalb schaukle ich so zenig für mich hin.

Das Ignorieren ist wohl das, was auch beim «erschöpften Algorithmenstürmer» Schirrmacher in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Oder bei Herrn Jauch. Die beiden haben sich dieser Tage im Kultursender wie alte Freunde Seit' an Seit' sitzend zu ihrer Ratlosigkeit geäußert und waren sichtlich emotionalisiert ob der Gefahr, ihre Gehirne könnten all dem nicht mehr ausweichen, sie seien gefangen in diesem schier unglaublich engmaschigen Netz aus eMail, Kurzmitteilung und neuester Nachricht. Auf den Erstgenannten werden die meisten ja nicht so achten, weil der Bücher schreibt. Letzterem stehen sehr viele emotional näher und sind dabei (wenn sie mal vom Netz wegkommen). Doch auch der weiß offensichtlich nicht, wie man ein Gerät ausschaltet. Und Zusammenhänge kann er auch nicht erklären; so lange ist es noch nicht her, daß man ihm mit diesem ganzen Kultur- und Nachdenkkram ziemlich auf die Nerven ging. Bei ihm sowie seinen ganzen spaßigen Vor- oder Nachahmern gibt's jedoch bis heute nichts anderes als 333, bei Issus Keilerei. Wissen wird das genannt, in einem Atemzug mit Bologna etwa, was gleichzusetzen wäre mit Pisa. Demnach nimmt alles seinen Lauf, wie seit einigen Jahren, als die Wirtschaft die Bildungspolitik der Länder übernommen hatte. Mit Hilfe dieser neueren Technik der Organverkümmerung könnte es sein, daß das Kognitive als Bestandteil der Reflexivität noch rascher als früher beseitigt wird.

Als ich Frau Braggelmann besuchte, kringelte sie sich gerade, da sie die Fernsehbilder sah, die die aufgeschreckte Öffentlichkeit erreichten: Studentendemonstrationen! Haben die nichts anderes zu tun? Nicht die Entrüstung erheiterte sie so sehr, auch nicht, daß sie, die zwar noch recht junge, aber dann doch noch von den Jahren der Informiertheit gestreifte Maid, mit dem Begriff Demonstration andere Ereignisse in Verbindung brachte, sondern die Äußerung eines sogenannten Studierendensprechers, man komme ja zu nichts mehr unter diesen Studienbedingungen. Und auch das war es nicht unbedingt, was sie den Kopf schütteln ließ. Wie er es sagte, dieser Wortführer ohne die rhetorische Begabung vielleicht eines Rudi Dutschke, das löste ein Schmunzeln aus. Man könnte meinen, meinte sie, er hätte damit die Parties gemeint, auf die er so gar nicht mehr komme. Nun ja, nach politischen (Ehren-)Ämtern drängt es die meisten nicht mehr, so müssen das diejenigen tun, die dann doch noch soviel Zeit haben. Vielleicht, weil sie niemand auf Parties einlädt. Möglicherweise, weil der junge Mann sich zu sehr für Politik interessiert und sich ständig dazu äußert, wenn auch überwiegend zur Abteilung Bildung? Eine selbstauferlegte Beschränkung, die dann allerdings zu einer gewissen Irritation führt über die Partei, die er kürzlich gewählt hat, weil sie ihm beruflich ein besseres Fort- und anschließend ein höheres Einkommen versprochen hatte.

Nicht vergessen werden sollte dabei jedoch, daß solche Versprechen auch vor den letzten Wahlen und auch von anderen Parteien gemacht wurden. Unter der Prämisse, hoch das Bein, die Wirtschaft braucht Soldaten (wir nannten das früher: frische Luft muß rein), wurde eine Bildungstruppe in Marsch gesetzt, die das Wissen in den Schützengräben ff. landen ließ. Also richtiges Wissen, nämlich das erwähnte, mittels Kognition und Reflexivität durchdachte. Und eben nicht nur die Jahreszahl von Issus Keilerei, wie in der Fern(seh)schule des Günther Jauch. Oder in den bayerischen Gymnasien früherer Jahre. Die dafür bessere Noten verteilten. Oder schlechtere für diejenigen, die beispielsweise aus dem bildungsflachen Bremen oder sonstwoher in die hügelige Voralpenstadt umgezogen worden waren, weil Papa Arbeit erhielt von der rüstigen Industrie. Bonus-Malus-Regelung nannte man das, das heute offensichtlich nur noch als Begriff der Gesundheitspolitik bekannt zu sein scheint. Zwar konnten sie, vielleicht weil Mama in der Penne nicht ständig gepennt hat, erklären, weshalb diese üblen Prügeleien stattgefunden hatten und was das für Folgen für die späteren Geschichtsbücher haben sollte. Aber bairisch wichtig waren: Fakten, Fakten, Fakten. Also: Daten, Daten, Daten. Und zwar genau. Wie beim Computer, weil der sonst nämlich versagt: 1 + 0; also nicht so ungefähr, wie ich so etwas angehe (und auch zum Ziel komme, weshalb wohl ich immer wieder mal nach dem Weg gefragt werde).

Und genau so verhält es sich heute. Wer heutzutage studiert, der studiert eigentlich nicht mehr im Sinn von Horizonterweiterung, sondern hockt in einem bayerischem Gymnasiumskarzer der siebziger Jahre. Das wiederum hat mit einer anderen, einer europäischen Regelung zu tun, die von der deutschen Bildungspolitik erledigt wurde, als gälten allein die Kriterien vorälplerischer Bildungsschützen. Kurzerhand wurde Bologna in eine Art Kurzfassung von Bayreuth zusammengeschossen. Einfach den Stoff, für den andere früher möglicherweise ein Jahrzehnt oder noch länger benötigt haben, zeitlich leicht verdichten in vier Jahre Master oder gar drei und das dann Bachelor nennen, auf daß man anschließend gleich das «Sparen» lerne, wie die Wirtschaft und deren persönlichen Abgeordneten Kostenreduktion zulasten jener Sklaven nennen, die als «Generation Praktikum» es in unser aller Bewußtsein geschafft hat.

Womit ich wieder bei Frau KrethPlendi wäre. Sie schreibt vom «selbstbestimmten, emotionslosen Umgang mit dem Internet» und von der «Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen», gar von «Emotionsersatz» ist die Rede. Da ist viel dran. Aber ob tatsächlich, wie sie vermutet, ausgerechnet die nächste Generation das erlernen, gar verstehen wird? Die von der Wirtschaft und den ihr angeschlossenen politischen Parteien derart verbraucht wird, daß sie mit Anfang dreißig beim Psychiater auf dem Sofa hockt, auf daß der gegen ordentliches Honorar diesen Höllenbrand löscht, indem er sie zu einem neuen Bewußtsein bringt? Letzteres wäre notwendig, wenn auch vor dem Gang zum Seelenklempner, der auch nur an der Strategie der Großunternehmen partizipiert. Sich verweigern, dafür auf die Straße gehen wie einst im Mai. Was hat die junge Biologin davon, sozusagen im Affenzahn den Baum der Erkenntnis erklommen zu haben, Diplom hin, Master her, doch für das Gehalt unter dem Arbeitslohn einer Laborglasreinigerin arbeiten zu müssen? Als hochqualifizierte Fachkraft irgendwelcher wildtypischen Mutanten, mit denen eine pharmazeutische Großküche dann ein geradezu pandemisches Geld verdient. Und der oberste Küchenmeister seinen Bonus. Nicht Malus. Weil er die anderen die Arbeit hat machen lassen.

Oder einfach kommunizieren in der Community. Ohne das Thema Shopping-Hopping etc. pp. Und ohne Computer. Einfach nur herumsitzen oder -stehen und miteinander sprechen. Vielleicht darüber, was Gefühl oder Konzentration oder Macht bedeuten und bewirken können. Vermutlich würde das mehr Wert schaffen.
 
Fr, 27.11.2009 |  link | (4420) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 

Herbstelei

Überall fallen lieblich die Blätter, im etwas rustikaleren Norden gleich ganze Stämme.
Fortsetzung in den Kommentaren

 
Mo, 16.11.2009 |  link | (2225) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 

Geldgezähmter Wildwuchs

Wohl vom Zentrifugalhafen ausgehend wird zur Zeit im Hermetischen Café die kulturelle Situation Hamburgs erörtert. Auslöser ist ein Offener Brief. In und mit ihm wehren sich die zentralnordelbischen «Kreativen» dagegen, sich vor den Karren einer «Markenstadt Hamburg» spannen zu lassen. Unter anderem meint der geschätzte Kid dazu:

«Gegen den Sog von beispielsweise Berlin kommt Hamburg natürlich schlecht an. Die haben dort die EU-Subventionsmillionen keine Hemmungen, werben radikal alles ab, was in anderen Städten nicht bei drei auf dem Fördertopfbaum ist, und machen dort wirklich das Beste aus den Brachflächen.»

Nun will ich nicht behaupten, daß sei ein wenig hermetisch gesehen. Aber gerade dieser Tage vernahm ich aus Berliner Kreisen, die Bundeszentrale auch für kulturelle Bildung sonne sich nicht minder in den Kreativ-Lorbeer-Strahlen, die von den Freien, sprich kaum oder gar nicht Subventionierten geschaffen würden.

Dabei stellt sich die Frage: War das je anders? Ich erinnere mich jedenfalls nicht beziehungsweise habe unangenehme Erinnerungen an berechtigte Klagen aus München* (wo ich lange lebte) oder anderen Städten. Bereits in den Siebzigern, verstärkt dann in den Achtzigern ging das los, als seitens derjenigen, die Freiheit monetär interpretieren, die Versuche einsetzten, in ein gerademal gediehenes Beet föderaler Förderstruktur die völlig fremdartige Pflanze US-amerikanischer Kulturförderung zu setzen: Weniger aus dem Steuersäckel sollte kommen, dafür mehr aus den Portokassen solventer Unternehmen. Völlig unberücksichtigt blieb dabei, daß in den USA in diesem Zusammenhang Subvention nahezu unbekannt war, deutsche kulturelle Unterstützung jedoch unabhängig von der Privatwirtschaft sein und bleiben sollte. Aber die US-Genetik steckte quasi ursächlich in bundesdeutschem Boden, weshalb es relativ unbemerkt blieb, wie sehr diese gänzlich andere Art ins Kraut zu schießen begann. Als dann die deutschen Lande weiter wurden und die Gelder sich ohnehin weltweit andere Flußläufe suchten, war das Ziel erreicht, das dann auch noch via Europa Nahrung erhielt: Abbau von Subventionen. Daß dabei auch noch die Kultur unter die immer gigantischer werdenden Traktorenwalzen geriet, die den Boden immer tiefer in ihn drückten, auf daß bald nur noch genetisch verändertes Saatgut aufgehen wollte (und sollte), blieb weitgehend unbemerkt. Jedenfalls von der breiten Bevölkerung, für die Kultur, alternativ zum Glashaus «klassischen» Treibens, bei Tarzan als König der Löwen aufgeht. Nach wie vor ist der Undressiertes oder Wildwachsendes nämlich nicht ganz geheuer, also Einzusperrendes oder wegzuspritzendes Unkraut. Wie auch anders?

Mit Hamburg verbinde ich ohnehin von jeher die Pfeffersäcke, die in vorderster Reihe stehen und alles andere zustellen. Dort wird besonders gerne mit mildem Lächeln auf die soziale Gesinnung von Handel (und Industrie) verwiesen, die früher als Mäzenatentum gekennzeichnet war (und der auch heute noch gehuldigt wird), aber als Sponsoring allüberall längst einheimische Pflanzen verdrängt. Erschwerend wirkt sich dabei allerdings aus, daß es chinesische (Hamburg hängt ja im besonderen an diesem Tropf) oder sonstige Investoren aus der großen weiten Welt kaum interessiert, ob Dichter, Musiker, Tänzer et cetera, die einen kulturellen Bodensatz bilden, aus dem später einmal große Blüten blühen sollen, kommunal oder regional etwas zu beißen haben. Die Situation des Gängeviertels unterstreicht das deutlich.

Hamburgs Bürgerschaft hat zig spendenabzugsfähige Millionen für die Elbvielharmonie gegeben. Aber würde sie das auch tun, ginge es nicht um Hoch(glanz)kultur? Vermutlich nicht. Denn in dieser Feudalstruktur — deren Wiederaufnahme ja obendrein zunehmend gefordert und gefördert wird, nicht zuletzt durch wortführerische Trittbrettfahrer wie Sloterdijk — schaut man kulturell nunmal lieber zurück statt nach vorne. Dort hat man nämlich nicht gelernt und will es auch nicht wissen, daß ein Acker gepflegt sein will, soll er beste Früchte tragen. Nicht vergessen werden sollte dabei auch, daß offensichtlich nicht nur die (Hamburger) Grünen vergessen haben, was Humus ist.

So bleibt die (schwarzmalende?) Frage: Wohin wird dieser Globalisierungsmoloch noch führen, wenn er, nach der endgültigen Unterzeichnung des Lissaboner Vertrages, via europäischem Zentralismus in die Haushalte der Staaten eingreift? Zwar ist ohnehin bereits jetzt nahezu alles den (ungeschriebenen?) Gesetzen der weltweiten Privatwirtschaft unterworfen, nach denen die «kulturelle Erbauung» eben nur dann etwas wert ist, wenn sie Unterhaltung bietet beziehungsweise Marktchancen hat. Aber dann dürften im Tanzsaal die Lichter endgültig ausgehen. So dürfte es anschließend keinerlei Rolle mehr spielen, ob der Tänzer im berlinischen oder hamburgischen Kiez auftritt. Denn dann ist es auch in Barcelona oder in Warschau zappenduster. Und auch in Zagreb wird's dann kein zu bestellendes Brachland mehr geben, auf dem irgendein Wildwuchs malt, singt oder tanzt.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Das ist keine Absage an Europa! Es ist eine Absage an ein Europa, das alleine vom Geld regiert wird.


* So hieß es beispielsweise im März 1984 im in Bonn erscheinenden Vorwärts: «München gilt als Kulturhauptstadt der Bundesrepublik. Traditionsgemäß haben vor allem die bildenden Künste in der Isar-Metropole ihre Heimstatt gefunden. Doch wie stets hat die nach außen so glänzende Medaille eine trübere Kehrseite: Es mangelt in der CSU-dominierten Stadt nicht an Verwaltungsbauten, wohl aber an Atelierräumen. Rechtzeitig vor den Kommunalwahlen ist es den Münchner Parteien eingefallen, dieser mißlichen Situation entgegenzutreten.» Dennoch blieb getitelt:
«Und wo denn bleiben die Künstler?»
Als dann die SPD (wieder) an die Regierung kam, änderte sich allerdings auch nicht bewegend viel.

 
Mi, 04.11.2009 |  link | (3304) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 

Voller Stolz ...

Heute erreichte mich über den wegen seines vorauseilenden Gehorsams und dem damit verbundenen, geradezu lächerlichen Bildverbot menschlicher Nacktheit — pietistisch geprägte US-amerikanische (Doppel-)Moral eben — zu unrecht einzig und allein gescholtenen Photographie-Aussteller Flickr (ich habe mich zu ihm mal geäußert) die Nachricht, eine meiner Abbildungen von Wirklichkeit sei in eine sogenannte Galerie aufgenommen worden. Nun nehme ich zwar zwischendrin auf einer solchen eine ordentliche Mütze Schlaf im oberen Teil meines Dorfbüros, aber im anderen Zusammenhang reißt mich der Begriff nicht unbedingt aus ebensolchem. Vor allem die Entwicklung der auch bereits in die Tage gekommenen jüngeren Entwicklung im Geschäft mit der (bildenden) Kunst als merkantil geprägtem Religionsersatz schläfert mich eher wieder ein; zu umfassend sind meine Erfahrungen mit den allgemein doch recht kümmerlichen Absichten, in den Künsten mehr sehen zu wollen als mehr oder minder gut unterhaltende Hochkultur.

Nun gut, ich bin ohnehin alles andere als ein Künstler, von daher gesehen betrifft mich diese Veröffentlichung auch eher weniger — zumal nicht ich gemeint bin, sondern der abgebildete Gegenstand —, wenn ich auch jemand bin, der seit jungen Jahren damit beschäftigt ist. So gesehen empfinde ich als kunstbegrifferweiternd die Rubrik, innerhalb der sie stattfindet: Worauf die Deutschen stolz sind. Glücklicherweise steckt da eine gewisse (Selbst-)Ironie drinnen; dieser Nationalstolz war mir nie geheuer. Ein in China lebender Deutscher mit vermutlich chinesischer Ehefrau hat sie offensichtlich begründet. Da reiht er dann solche Perlen auf wie die deutsch-deutsche Grenze; das Denkmal dessen auf dem im Städtchen so genannten «Fäkalienmarkt», der als der Roider Jackl in die Münchner Geschichte einging; die (mir unbekannte, aber was heißt das schon) Rockband Epsilon; ein mir bis dahin ebenfalls noch nie vorgekommenes Stück Thüringer Wald; Carl Friedrich Gauß als Repräsentant der guten alten Deutschmark; das Bier der Brauerei, die mir unvergessen bleiben wird, da ich aus deren Gaststätte im Bamberg mal rausgeflogen bin, weil ich in ebendieser, für alle sichtbar, mehrmals eine Frau (auf den Mund!) geküßt habe und sie auch noch zurück, sie also ebenfalls; eine Anspielung auf den mir als unser Hausphilosoph wohlbekannten Werner Enke; die Bratwurst, selbstverständlich für einen Coburger die fränkische; das Goggomobil; ins Japanische mutiertes DDR-Automobil-Design; mit Hans Holbein die Erinnerung an Lukas Cranach und Albrecht Dürer, das hölzerne Laufrad des Karlsruhers Karl von Drais und deshalb Draisine genannt — und dann eben «German modernist literature's glorious monument», die von mir abgelichtete Zettelei. Bemerkenswert dabei ist unter anderem, daß der deutsch-chinesische, chinesisch-deutsche Chronist zur Erklärung offenbar gezwungen war, nicht nur die deutschsprachige Wikipedia einzuspannen, da es diesem Denkmal zeitgenössischer deutscher Literatur offensichtlich nicht gelungen ist, ins Englische einzudringen, obwohl das Werk durchdrungen ist von ihm. Womit wir wieder bei der guten alten Kunst wären — als Instrument der Wahrnehmung.

Wenn ich mich recht erinnere, hatte dieses Nacktheitsverbot seinerzeit unter anderem mit der noch nicht so ausgeprägt kapitalistischen kommunistischen Volksrepublik China zu tun. Nun kommen ausgerechnet von dort solche entblößenden Photographien. Nun gut, da macht sich niemand über die fernöstliche Kultur und deren spätere revolutionäre Absage an die Abbildung geistiger Nackedeis lustig, sondern da apokalypst fröhlich subjektiv wohlfeiler deutscher Humor für sich hin. Daß offenbar daraufhin ein weiterer Chronist diesen Traum auch noch in Europa Fotografie-European photography-la photographie d'Europe eingliedern wollte, entspricht ja dann durchaus auch den von mir mal erwähnten Intentionen, hier geäußert von ennalyt: «Der 37. Bergsee, die 18. Kirche oder der Tick, alles in einen schrägen Rahmen zu setzen: ok! Das sprengt dann Toleranzgrenzen.»

Und wer weiß, vielleicht erhält Arno Schmidt auf diese Weise der Vermittlung am Ende doch noch einen englischsprachigen Wikipedia-Eintrag.
 
Fr, 30.10.2009 |  link | (1993) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 

Diesen rot leuchtenden Vierteln

könnten Sie, bester Nnier, so elegant Sie mich am Ende auch ausgeschrieben haben mögen, nicht einmal ausweichen — in Marseille, führen Sie denn einmal hin, befindet das Quartier lediglich scheinbar am Rand des musikalischen Lebens oder ist unbetonter Mittelpunkt. Selbst wenn Sie die Oper vermeiden wollten, weil keiner Ihrer Lieblingsvokalisten mangels Neigung sich dort zum besten zu geben bereit wäre, müßten Sie schon außerordentliche Anstrengungen unternehmen, den Kontakt zu vermeiden, da die Vöglein genau dort zwitschern, wo der schnöde Alltag vor sich hinbummelt: seitlich des Alten Hafens.

In Lyon begleiten sie geographisch zwar nicht unmittelbar die Königin der Nacht, aber wenn Sie beispielsweise auf nicht ausgetretenen oder -gefahrenen Pfaden zum Markt am Ufer der Saône möchten oder der touristische Drang Sie in eine dieser Sträßchen treibt, die in der Schwesterstadt Frankfurt am Main Freßgass' heißen könnte, hier aber tatsächlich nahezu ausnahmslos aus Restaurants bestehen, wird die (visuelle) Berührung nicht ausbleiben. Es geht dort, nahe der Place d'Albon sowie unweit der sich als Beichtstätte anbietenden Église Saint-Nizier, je nach Sichtweise, allerdings weitaus gesitteter zu als in der Rue du Président Edouard Herriot, wo in beinahe gesamter Länge, von der Place des Terreaux bis zur Place Bellecour, die schöne Warenwelt prostituierlicher blinkt, als es das Tonnendach beim Furioso zuwegebrächte. Es gibt keine Sperrbezirke, das durchkatholisierte Land kommt damit ebenso gut klar wie mit ohne Kirchensteuer.

Doch ich will ein bißchen gerecht sein — vor noch nicht allzu langer Zeit ging das auch im protestantisch disziplinierten Berlin, am Savignyplatz, ähnlich dezent wie im französisch-katholischen Süden. Aber mittlerweile haben sich auch dort Sitte und Anstand und rechts und links weitere dieser nichtssagenden, sozusagen sterilen (sterilisierten?) Restaurants durchgesetzt, in die sich niemand setzen mag, es sei denn ein gänzlich orientierungsloser Mensch wie die gestern gehörte Abiturientin: (Helmut Kohl? «Bundeskanzler der DDR?»). Die übriggebliebenen Achtundsechziger, die ja erwiesenermaßen an allem schuld sind, weinen sich schräg gegenüber im noch nicht kastrierten Zwiebelfisch aus.

À propos Andreas Möller, womit wir wieder in der vom Geld gebildeten Lyon-Schwester Frankfurt am Main wären sowie bei dessen nicht nur geographisch tödlichen, wie die im außereuropäischen Ausland dahinvegetierenden Schweizer es ausdrücken würden, «Verunfallungen» (danke für den Link, ein amüsanter Text!) beziehungsweise dem darin enthaltenen Hinweis auf «Mein Freund ist Ausländer», dieser anderen Form der Prostitution — zu dem Thema hat sich Anfang der Neunziger bereits jemand aus, wie anders, Nordrhein-Westfalen ausführlich geäußert: Mein Ausländer ist ein Fußballspieler.
 
Di, 06.10.2009 |  link | (1595) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 

Junges Glück, Sühne und Schuld

Für Anschlußwillige

Bis fast in die Mitte der siebziger Jahre gab es noch das Böswillige Verlassen. Solches wurde während eines Sühnetermins geklärt. War die Frage der Schuld vom Vorsitzenden Richter festgehalten worden, mußte der eigentliche Scheidungstermin gar nicht mehr wahrgenommen werden. Von der familienfreundlichen Gesetzgebung moralisch gestärkt, schlüpften Söhne und Töchter wieder unter die Fittiche beziehungsweise in die Behausung der Eltern.


Auf den doch ein wenig arg jungen Studenten, durchaus als Jüngelchen zu bezeichnen, hatte die noch Jüngere blondäugige Blitze auf den gestaltungsbeflissenen Tänzer geworfen, der Bewegung in ihr Leben bringen könnte. Die Tanzerei zu zweit machte was her zu dieser Zeit, als die Musik noch nahezu ausnahmslos zum wochenendlichen Schwoof des sinnlichen Abschleppens und Abgeschlepptwerdens aufspielte. Und es war zudem sein einziges Aphrodisiakum. Das die erwünschte Wirkung zeigte. Die beiden fielen nach Beendigung der Musik übereinander her, wie wegen des Saftüberdrucks kurz vor dem Platzen stehende junge Menschen sich eben ineinander verschlingen. Sie blieben länger in dieser verwirrten Körperhaltung, als er es gewohnt war. Es war nicht unangenehm gewesen. Denn als sie, die, bis auf die Augenfarbe vielleicht, dafür aber mit einem noch entzückenderen Näschen versehen, seinem Schönheitsideal extrem nahe kam, ihre meerwasserblauen Augen in seine ziemlich andersrassigen versenkt hatte, um ihm zu eröffnen, daß sie gedenke, bei ihm zu bleiben, kam durchaus Wohlgefühl auf. Dies würde ihn auf nicht unangenehme Weise wohl aus der Heimatlosigkeit befreien, schloß er, die ihn seit seiner frühesten Kindheit peinigte. Er gab rasch seine Bude in der Wohngemeinschaft in Charlottenburg auf, da man dem jungen Paar eine kleine Wohnung vermietete, obwohl es nicht verheiratet war.

Berlin war in den späten sechziger Jahren dabei, sich an seinen Ruf als ehemalige metropole de tolérance zu erinnern. Ach, Studenten, die sind eben anders, und wenn dann auch noch jemand dabei ist, der einer geregelten Arbeit nachgeht, also Sicherheit bietet! Vielleicht war es auch einfach nur die Not des Vermieters, die Wohnung nicht so ohne weiteres für teures Geld vermieten zu können. Der große Treck aus West-Deutschland war damals noch nicht so recht in Bewegung gekommen. Erst beträchtliche steuerliche Begünstigungen sowie Übernahmen der Umzugskosten durch die Behörden ließen ihn Fahrt aufnehmen. Der jungen Kauffrau war das unter vielen Anreiz gewesen, sich in die weite Welt aufzumachen, sich in das Abenteuer des fernen Insellebens zu stürzen.

Man richtete sich ein. Die ersten Möbel eines damals recht edlen und entsprechend hochpreisigen finnischen Herstellers wurden gekauft; das von ihr eingebrachte Markenbewußtsein überdeckte seine politisch gerade erst anerzogene Ablehnung durchgestalteteter Güter. Andererseits: an Geld mangelte es auch nicht — die Eltern ließen, nicht ohne Gegenwehr der Mutter, den Sohn nicht darben, und sie erarbeitete fast nochmal soviel. Nach drei Monaten kam das jüngste Gericht in Gestalt eines erfahreneren Paares über die beiden. Es war nach des Töchterleins euphorischer Telephonplapperei gegenüber Mutti eilends angereist aus einer Kleinstadt inmitten der westlichen Republik. Der Vorstehende stand mitten im Zimmer und dirigierte die Frucht seiner Frau mit einer einzigen, sehr gradlnigen Armbewegung in Richtung Tür. Solange ihr nicht verheiratet seid, belferte der Weltkriegsgeübte mittleren Rangs in den Raum, lebt ihr auch nicht zusammen! Die verweinten Augen der Jüngeren und die wohl im Weiblichen begründete Sanftmut der Älteren stimmten den Feldherrn der Moral unter der Bedingung um, daß innerhalb von zwei Monaten geheiratet würde. Es geschah der Wille des Herrn; keines göttlichen, denn eine Mischehe mit einem Unchristlichen, das hätte gerade noch gefehlt.

Da die Aussteuer, die von der Taufe an angehäuft wurde, von beachtlicher Masse war und vom südlichen Zonenrandgebiet aus ihrer Funktion zugeführt werden mußte, hatte die Wohnung im Umfang angepaßt zu werden. Es gelang ohne weitere Anstrengung. Die Umgebung wurde einem jungen, solventen Ehepaar gerecht, dem die Zukunft gehörte. Der Mietpreis für die aus dem Jugendstilhaus in Schwarzarbeit herausparzellierten hundertzwanzig Quadratmeter befand sich bereits außerhalb der gesetzlichen Preisbindung. Mehr als zweihundert Mark monatlich nur für Miete, die waren in diesen Zeiten nicht jedem gegeben. Auch die Lage paßte zur ins Abseits praller Lebenslust beförderten stillen Liebe, eine nicht unbeträchtliche Entfernung zum Zentrum der Stadt, der Anliegerverkehr kurz vor dem Forst, hinter dem Berlin scharf bewacht Ost genannt wurde, verhieß hinter der beschaulichen Loggia die Ruhe einer sich abzeichnenden jahrzehntelangen Zweisamkeit. Spandau bei Berlin, sagte der Busfahrer beim Grenzübertritt. Und wenn er besonders regionalisch eingefärbt war, rief er in der Gegenrichtung in der Ruhlebener Straße: Berlin bei Spandau. Doch das junge Paar machte seine gelegentlichen mitternächtlichen Zwanzig-Kilometer-Ausflüge zu den Vergnügungen am Lehniner Platz — dort, wo später das ehemalige revolutionäre Theater Schaubühne von Peter Stein eine moderne neue Heimat finden sollte — ohnehin zumeist mit dem väterlichen Geschenk ehemännlicherseits.

In diese mittelständische Karosse war er, der dann nicht mehr ganz so frischgebackene Gatte, weitere drei Monate später, dann auch eingestiegen, nachdem er sich von seiner eigens für die Eheschließung als volljährig erklärten Gattin, tschühss, bis übermorgen, verabschiedet hatte. Um in einer anderen großen Stadt eine junge Frau zu besuchen, die ihn ein paar Tage zuvor am Bahnhof Zoo nach dem richtigen Weg gefragt hatte.

Die Ehefrau und deren Schwiegermutter, beide anfänglich wegen unterschiedlicher Standes- oder auch Stammeszugehörigkeiten unvereinbar, gaben gemeinsam eine Vermißtenanzeige auf. Der Gesuchte gilt bis heute als verschollen. Vielleicht sind sie ja noch verheiratet, die beiden.

Woher ich diese Geschichte so gut kenne? Ich war einmal im Leben Trauzeuge. Aber auch nur, weil mich diese meerwasserblauen Augen unwiderstehlich bittend angeblitzt hatten — als sie den andern nahm.
 
Fr, 18.09.2009 |  link | (2255) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 

Eine Liebesheirat ...

Solches lese und höre ich immer wiede (gerne präsentiert vom Qualitätsjournalismus des ersten Jahrtausend-Dezenniums). Gibt es heutzutage denn einen anderen Grund zu heiraten? Gibt es überhaupt (noch) einen Grund, in den «Heiligen Stand» der Ehe einzutreten? Mit Gütertrennung und sonstigen präjudikativen Absicherungen? Ehevertrag! Einbeziehung des möglichen, fast sicheren Zerreißens eines gesegneten Bandes. Jedem Anfang wohnt ein Ende inne? «Die neueren Theorien», schrieb Ortega y Gasset, «haben den kosmologischen Gesichtspunkt verloren und sind fast ausschließlich psychologisch geworden. Die verfeinerte Psychologie der Liebe hat, indem sie eine scharfsinnige Kasuistik ausbildete, unsere Aufmerksamkeit von der kosmischen, der elementaren Seite der Liebe abgelenkt.«* Wie recht er hat! 1933 hat er das veröffentlicht. Meine Güte — wenn der geahnt hätte, was da noch alles den Lauf der Liebe bestimmen würde!

Wenn ich nur daran denke, wie dieser Mann verunglimpft wurde während meiner späten Jugend, also während des Studiums. Es war sozusagen ein Verbrechen, den überhaupt zu lesen. Dabei hat dieser Klarseher davon geschrieben, daß er die Liebe meint und nicht die Verliebtheit, diese «psychische Angina» . Es ist wie heute — man sagt Erotik und meint die Sexualität. In den späten Sechzigern sprach man vom Bumsen und meinte — heimlich — die Verliebtheit. Rausch eben. Aber Liebe? Das war ein absolutes Tabu. Zumindest im Elfenbeinturm der gebildeten Abgeklärtheit. Liebe hatte ein Anachronismus zu sein. Und Stendhal — den Theoretiker des Don-Juanismus, nicht etwa den geradezu glorifizierten Erzähler! — hat Ortega y Gasset ebenso der Unfähigkeit zur wirklichen Liebe geziehen wie auch Platon mit seinem platonisch-naiven, ja theoretischen Geplappere. Doch auch die durfte man ja nur aus der Perspektive der reinen (gesellschaftspolitischen) Vernunft, für die Theoriefestigkeit lesen. Zu Diskussionszwecken eben. Also haben — mal wieder — ein paar Zusammenhänge gefehlt. Und dann wundert man sich, daß unsere Kinder die Blaue Blume mit der Roten Rose im Knopfloch verwechseln. Aus der Möglichkeit, das Leben als Roman, als Liebe zu leben, wird ein Leben, von dem man für die Brunft den Klappentext hernimmt. Da werden dann Anzeigen geschaltet, in denen vom zärtlichen Abendessen vorm kerzenscheinbestandenen Kamin bei einem Glase roten Weines gesäuselt wird. Dabei war's arschkalt an den Kaminen der Romantik. Aber man fühlte eben hoffnungslos glücklich, weil man die Kälte der Beziehungslosigkeit nicht kannte und die innere Zimmertemperatur eher damit aufheizte: «Über den Turbinen und Maschinen mannigfaltiger Art, die wir in den Strom hineinsenken, dürfen wir nicht seine uranfängliche Kraft vergessen, die uns geheimnisvoll umgibt.» Das hat Ortega geschrieben, als das zweite Jahrtausend bereits gute dreißig Lenze zählte. Das also könnte ein Anlaß zur Heirat sein! Heutzutage. Wieder? Das ist durchaus eine Erkenntnis. Und vielleicht war es ja genau das, was geschah und sich lediglich aus dem bedauerlichen biologischen Ereignis der schwachen Erinnerung genauer Kenntnis entzieht. Denn damals, in den Anfängen der wilden Sechziger, die hinaufführten auf die Barrikaden der Siebziger?

Das Damals gehört der Zukunft: irgendwann die nächsten Tage wird's erzählt.


* José Ortega y Gasset: Über die Liebe, Meditationen. Die Liebe bei Stendhal. Übersetzt und herausgegeben von Helene Weyl. DVA Stuttgart 1973 (84. – 86. Tausend), S. 124f., 139

 
Do, 17.09.2009 |  link | (2516) | 10 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 

Mensch und Vieh

Der Mensch an sich ist wie das Vieh, das er, je nach geographischer beziehungsweise kulturell ursächlicher, also durchweg religiöser Gegebenheit am liebsten verspeist. Er steht im Weg herum und gerät in der Regel nur dann Bewegung, wenn ihn jemand oder etwas antreibt. Das kann ein Unformierter sein oder ein anderes verhärmtes Würstchen. Schwerfällig bewegt er sich, wenn ihm eine Buße, volksmundig auch Strafe genannt, in welcher Form auch immer, angedroht wird. Kregelig wird's dann, wenn's eine Belohnung gibt für etwas, das ihm gar nicht gebührt. Egal, Hauptsache kostenlos. Dann ist es ihm auch wurscht, ob ein Mitmensch da im Weg herumsteht. Der magazinal Informierte nennt das dann gerne alles fließt, Hintergründe interessieren nicht weiter, Hauptsache das dazu gereichte Bier läuft umsonst aus dem Hahn. Dem Gebildeteren fließt es als panta rhei aus dem gespitzten Mündchen, wobei auch er in der Regel vernachlässigt, was diese sprachliche Bewegung verursacht haben könnte, denn irgendwie ist auch ihm das egal, zumal er nicht den Wandel konstatierend anstrebt, sondern daß es immer so bleiben möge: billig, besser noch ohne Bezahlung, auch, wenn das Würstchen nicht mehr Würstchen heißt, sondern petite bouchée, hierzulande gemeinhin wohl besser bekannt als canapé, und es dazu ein petite gorgée, ein Schlückchen aus der guten Pulle gibt. Dann treibt die Avantgarde einen Keil in den Block der Herumstehenden; irgendein Bock ist immer bereit, die Hörner zu senken. Es spielt bei alldem keine Rolle, ob man sich auf einer landwirtschaftlichen oder anderskulturellen Veranstaltung befindet. Diese Gesetzmäßigkeiten gehen durch alle gesellschaftlichen Schichten. Zumindest rechtsrheinisch. Dennoch kann man auch überrascht werden, interessanterweise im protestantischen Norden dieser Republik. Ausgerechnet dort hört man nach einem Rippenstoß oder Fußtritt des öfteren mal das Wörtchen Tschulligung; Berlin, das sei nebenbei angemerkt, gehört nicht zum Norden, es liegt mittendrin in der deutschen Kulturlandschaft, die anderswo Civilisation geheißen wird.

Messen habe ich in meinem Berufsleben viele besucht, jahrzehntelang im Schnitt fünf bis sechs pro Jahr. Zum ersten Mal war ich jedoch ohne freien Eintritt, also inclusive Kassenschlangestehen auf einer Messe — auf einer für Landwirtschaft. Das Ereignis Mitte der siebziger Jahre kann nicht hinzugezählt werden, da es sich um die Randbeschönigung des vermutlich größten alljährlichen Besäufnisses der Welt handelte und es mich nicht wirklich interessierte. An die Folgen des letzteren erinnere ich mich bis heute: von Wiesn-Bier erholt man sich nur schwer. (Vermutlich geht vom dunklen Gebräu der nicht minder trinkfreudigen Mecklenburg-Vorpommern keine solche Gefahr aus, denn die anwesenden Chinesen genossen es ausgiebig. Aber es war ja auch noch früh am Morgen.) Und ich stellte rasch fest, daß sich so ein Bauern-Event in keiner Weise von einer Kunst- oder Buchmesse unterscheidet. In der Kleidung vielleicht. Die Landbevölkerung läuft nicht ganz so arg uniformiert herum. Obwohl ...


Auf jeden Fall sind die Verhaltensweisen nahezu identisch. Jeder will der erste und am nächsten dran sein. Gedrängelt und geschoben wird bereits vor dem Gelände. Nun ja, etwas mehr Rücksicht als drinnen wird durchaus noch genommen. So direkt gerempelt und gestoßen wie in den Messehallen wird vor und auf den Parkplätzen nicht. Dem Reisegefährt könnte sonst ja Schaden entstehen. Aber vor den Boxen wird geboxt; wahrscheinlich heißen sie deshalb so. Dabei ist es unerheblich, ob's Bücher, Kunstwerke oder Rindviecher zu begutachten gibt. Und so manches Mal möchte man selber mit dem Boxen beginnen, wenn sie in der Mitte des Ganges die Nachbarn aus dem Dorf getroffen haben, die sie so lange nicht mehr gesehen haben und sich deshalb genau dort gegenseitig ausführlich berichten müssen, wie das gestern ausgegangen ist beim ziemlich feuchten Grillen (oder Golfen, je nach Erbmasse). Ganz arg wird's, wenn das Gerücht in Umlauf gerät, da würde jemand was verschenken. Die Hähne hören auf, genervt zu krähen, die gezierlichten Hybriden lassen sich hinten auf den Schinken gucken und käuen vorne in aller Ruhe wider, denn ihre Hallen sind geradezu verwaist, weil alles unerbittlich in jene strebt, in denen regionale Verkostung stattfindet. Und wenn sich dann herausstellt, daß es nur Verkostpröbchen sind, die kostenfrei angeboten werden, dann steht der eine oder andere auch schonmal breitschultrig sein Revier behauptend vor dem Käsestand und stopft sich die Stückchen handvollweise in den Mund.

Ab frühem Nachmittag, weil's dann im Fernsehen beginnt, das Qualifying, wird's auf dem Messegelände ruhiger, dann wird es auf dem Nachhauseweg anderwegig geprobt: das alltägliche Training des allgemeinen Sozialverhaltens, hier dann auf den Straßen (aber das hatten wir bereits, zumindest teilweise). Deshalb und wohl auch aus Verbundenheit zu ihrer ländlichen Herkunft hat sich Frau Braggelmann ein neues Fahrzeug zugelegt.
 
Mo, 14.09.2009 |  link | (2362) | 14 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 

Widerstand

«sensible Geister und empfindsame Köpfe»,
schrieb Prieditis zur Äußerung von Paula Jacques in Sensible Männer, «sind bereits in den zwanziger Jahren auf offener Straße niedergeknüppelt und gemeuchelt worden. Insofern stimme ich dem Zitat nicht zu ....». Ich erklärte dazu bereits etwas, will das jedoch außerhalb des Erzählerischen nochmal aufgreifen. Es war zwar immer wieder Thema bei mir, allerdings oft nur am Rand erwähnt. Mir scheint es an der Zeit, mich auch ohne den Gewandschutz des Kardinalsmantels Erzählung dazu mal äußern zu müssen. Denn zum einen sind da die beiden Länder, die ich im Jahrzehnteblick habe und die mit Motivation für meine Bloggerei sind, wie ich das kürzlich jugendlich öffentlich-rechtlich kundgetan habe. Und zum anderen gibt es aktuelle beziehungsweise sich anbahnende Ereignisse.


Völlig im klaren bin ich mir darüber, daß es zu allen Zeiten irgendwie Widerstand gegeben hat — gerade eben wegen der sensiblen Köpfe, die dies oder das haben kommen sehen. Ich habe den einen oder anderen persönlich kennengelernt, der innerhalb der nicht mehr so ganz jungen Geschichte manch einen Knüppel auf den Kopf bekam oder auch richtig schlimme Dresche oder auch sehr viel mehr einsteckte. Der eine hat's überwunden, der andere seinen Schmerz in einer bestimmten Sprache auf ewig schweigend mit ins (mittlerweile eigene) Grab genommen, nicht nur in einem Teil der Levante; letzteres habe ich in Familienbesuch mal zu erklären versucht. Ich selber will auch keineswegs für mich in Anspruch nehmen, ich hätte mich eventuell heldenhaft den Braun- und Schwarzhemden oder auch einfach geistig und schlicht Uniformierten entgegengestellt. Eher wohl hätte ich versucht, mich in das winzigste verfügbare Loch zu verkriechen. Aber eine starke Gemeinschaft, das kann ich mir vorstellen, hätte meine nicht nur pazifistisch bedingte Feigheit vor dem Feind besiegen helfen können.

Als Beispiel seien die aktuellen (oder auch zurückliegenden) Ereignisse in Frankreich genannt. Eben diese kämpferische Gemeinschaft gegen die Machenschaften von unfähigen oder auch schlicht unwilligen Konzernführungen hat es ermöglicht, Werksangehörigen wenigstens einige zehntausend Euro Abfindung für teilweise jahrzehntelange harte Arbeit zukommen zu lassen (im Vergleich zu den Millionen, die diejenigen zugesteckt bekamen, die das Unheil mit angerichtet haben). Wer sich dem nicht (so resolut) entgegenstellte, indem er Manager in deren Büro festsetzte oder gar mit der Exekution der ehemaligen und hinfällg gewordenen Existenzgrundlage drohte, ging leer aus. Die etwas Älteren kennen das aus der bundesrepublikanischen Zeit, als man innerhalb der Bannmeile noch festgenommen wurde, wenn man nicht dem hohen Haus entsprechend gewandet war, einem Oppositionsredner und späteren Innenminister das Wort entzogen wurde, weil er dieses Geschehen lautstark beklagte, als ein späterer Außenminister und Vizekanzler senatsunwürdiger Reden wegen des Plenumsaals verwiesen wurde, was ihn zu der vielzitierten mehr oder minder leidigen Äußerung verleitete: «Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.» — «Wer sich nicht wehrt», hieß es dann, als auch auf der rechten Seite des Rheins, nicht nur nahe des friedlichen Rosengärtchens sich Auflehnung abzuzeichnen begann, «lebt verkehrt.»

Das ist es, was ich unter anderem auch meinte mit den Wurzeln in der Geschichte. Wobei hier nicht unerwähnt bleiben darf, daß der rechtsrheinisch so herbeigesehnte Elite-Gedanke in kaum einem anderen Land so ausgeprägt sein dürfte wie im linksrheinischen der Égalité. Diese Gleichheit aus dem revolutionären Liberté, Égalité, Fraternité meint allerdings, das wissen einige nicht (mehr), nicht etwa, alle Menschen hätten einander zu gleichen wie das eine Ei dem andern, sondern es bezieht sich auf das Recht, vor dem alle gleich zu behandeln seien. Vor diesem Hintergrund wird es etwas heller, wenn es dem Deutschen den Geist vor soviel Gewalt verdunkelt, es ihm unverständlich wird, daß hier die Staatsgewalt nicht zurückschlägt. Die hält sich in Frankreich aktuell schon alleine deshalb zurück, um nicht noch mehr davon zu erzeugen. Denn ein paar Rudimente aus dem Grundschulunterricht sind noch vorhanden in den Hirnwindungen der an bestimmten Hochschulen einzig für Führungsaufgaben ausgebildeten Politikern und Konzerndirektoren. So geschieht dann im Geburtsland der Revolution durchaus hin und wieder etwas, das im Land der Staatsraison undenkbar wäre: Ein Gericht stellt ein einmal angestrengtes Verfahren wegen — nennen wir's mal Haus- oder Landfriedensbruch — ein. Man könnte es auch zentralistisch geregelte Politik des inneren Friedens nennen. Auch ein Monsieur le Président ist sich im klaren darüber, daß nicht alles wegzukärchern ist. Denn das ist eine andere Gewalt als die von einigen benachteiligten Randfiguren der Gesellschaft, mit denen man ohnehin von jeher macht, was man will, und sei es, daß man sie einfach ausgrenzt, nicht nur an die Ränder der großen Städte, diese ganzen Andersgearteten, die sowieso nicht ins Land gehören, auch wenn sie (etwa als unglückliches Überbleibsel aus der Zeit der Kolonialisierung) Franzosen sind. Hier lehnt sich nämlich eine Kraft auf, die ein anderes Verständnis von Staat hat. Nicht nur, wir sind (vielleicht) ein Volk. Sondern: Wir sind der Staat. Merken Sie sich das, Herr Präsident.

Pathos raus. Wieder hinein ins Nachdenkliche. Nicht sich seinem «Schicksal» ergeben, das einem als Kadavergehorsam offensichtlich in die geistige Wiege gelegt wurde. Nein, ich will hier alles andere tun, als rabiater Gewalt das Wort zu reden; sogenannte autarke Linke beispielsweise sind mir ein Greuel. Sich auflehnen ließe sich theoretisch wahrlich auch auf andere Weise bewältigen. Massenbewegt auf die Straße könnte man gehen. Einen Spaziergang in Massen machen zum Wahllokal. Als ob autofreier Sonntag wäre, wie vor bald vierzig Jahren, als schonmal alles verheizt schien. Doch es wird darauf hinauslaufen: Ach nöh! Wen soll man denn überhaupt noch wählen?! Man kann's ja doch nicht ändern. Das mit der Gewalt zwar durchaus! Aber dafür gibt's doch ein Grundgesetz oder eine Verfassung oder wie das heißt, mit dem man die Kindergewalt verbietet und so. Und außerdem macht sie ihre Sache doch ganz gut. Jeden Tag steht's doch in der Zeitung. Nicht nur, daß sie sich ihrer Umwelt bewußt wäre. Auch daß sie die Weltwirtschaft und damit uns und unsere Arbeitsplätze gerettet hat. Soll sie's doch wieder machen. Es wird uns schon nichts passieren.

Gut, Frankreich hat sich in seiner grenzenlosen Fremdenfreundlichkeit einen griechisch-ungarisch-sephardischen recht Kleinadligen zum Präsidenten gewählt, der nach Gutsherrnart politisch zu agieren gedachte. Nun ja, es gibt ja nicht eben wenige im Land, die recht gerne im guten alten Hofstaat eines Sonnenkönigs flanierten und dessen anbetungswürdigem Satz lauschten L'État, c’est moi!. Aber der ist nunmal abgeschafft, und in der späteren Folge sollte das Wir regieren. Er hat sich längst einiger Rezepturen entledigen müssen, der aktuelle Napoléon; diese Lehre hat er offenbar aus seiner Zeit als Innenminister nicht mit hinübergerettet. Und ich bin überzeugt, wären morgen Wahlen, er würde wieder Bürgermeister irgendwo in einem hell leuchtenden Arrondissement, wo man ihm bourgois huldigte. Er hätte wieder mehr Zeit, könnte seiner italienischen Chanteuse de Charme lauschen, der Freund alles Fremdem.

Oder anders: Möge sich ein Volk doch endlich mal darauf besinnen, daß man mittels Kraft durch Gemeinsamkeit Änderungen herbeizuführen oder gar drohende Gefahren abzuwenden vermag ...

Jetzt kann ich mich ja wieder unter den Schutz des geschützten Kardinals begeben.
 
Mi, 19.08.2009 |  link | (1902) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 

Zaungast



«In einem typischen Berliner Prachtbau der zwanziger Jahre mit lichten Deckenhöhen bis zu 3,80 m können Sie sich in die Zeit zurückversetzen, zu der die großen nationalen und internationalen Film- und Bühnenstars hier ein- und ausgingen.»

•••

«Daß er nur der Zaungast sein darf, bestärkt den Zuschauer in dem Glauben, hinter dem Zaun läge das Paradies: Daß die Gezeigten selbst Betrogene sind, der Prominente sein eigener Komparse, die Kaiserin ihr eigenes Mannequin — die makabre Ironie dieses parasitären Blitzlichtbetriebes durchschaut der Zuschauer nicht. Weit entfernt, an der kaiserlichen Würde zu zweifeln, die sich der Kamera preisgibt, bekleidet er mit ihr noch das Mannequin, das sie imitiert. Der Darsteller, der dem Zaungast ein gesellschaftliches Paradies vorspielt, ist von ihm abhängig, genau wie der Dompteur vom Affen; das Verhältnis beider ist dialektisch verschränkt; die Dressur des Zaungastes wirkt auf den Darsteller zurück; der eine ist jeweils Affe und Dompteur des anderen, beides zu gleicher Zeit.»

Hans Magnus Enzensberger (1962)

in: Scherbenwelt, Die Anatomie einer Wochenschau, aus: Einzelheiten I, Bewußtseins-Industrie, edition suhrkamp 63, Frankfurt am Main 1964
 
Mo, 17.08.2009 |  link | (2652) | 10 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 







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