Müll und andere Schutzgebiete Der Freundin ist das vor zugestandenermaßen längerer Zeit passiert, was es jedoch nicht weniger aktuell macht, daß sie, damals noch typisch schludrige Pariserin, irgendwas weggeschmissen hat in Bern, wo sie ihre Kindheit verbrachte Da ist ihr ein Mann nachgerannt, hat ihr das Papiertaschen-tüchlein hingehalten und gesagt: Kann es sein, mein Fräulein, daß Sie etwas verloren haben?! Bei Birgit Vanderbeke habe ich gelesen — sie hat über einen Schulanfang in Frankreich geschrieben, mit ihrem «das Kind», wie es in ihrem Buch schlicht heißt: Da fragt die Lehrerin, ob es stimme, daß man in Deutschland bestraft werde, wenn man einen Yoghurtbecher wegwirft, ohne ihn vorher ausgewaschen zu haben. In Deutschland, so mein Eindruck, hat man begonnen, den Schweizern nachzueifern. In Frankfurt am Main, so wurde mir zugetragen, lauerten Menschen, die schon immer gerne Polizisten geworden wären, anderen auf und verteilten Ordnungsgelder an diejenigen, die Kippen auf die Straße würfen. Das ist es. Wer raucht, demnächst wohl auch öffentlich und dann am Ende gar noch ohne den vorgeschriebenen Fußgängerschutzhelm, wird an die Wand gestellt. Tod allen Nichtrauchern! hat Hans Pfitzinger mal geschrieben. So ähnlich, in diese Richtung. Mir reicht es schon, wenn ich die französisch-deutsche Grenze überfahre und ins Badisch-Schwäbische komme oder ins Allgäu, also durchaus auch ins Bayerische. Es gibt keine Grenzen mehr? Es ist auch heute noch jedes Mal ein Kulturschock für mich: vom auf den Felsen gepinselten, grundsätzlich unbeachteten Halteverbotsschild zum Ge- oder besser gleich Verbots-schilderwald, direkt dahinter, wo das Deutsche die Hoheit hat, da geht es los. Da sieht's überall aus, als ob fünfmal am Tag mit dem feuchten Tuch über die Straßen gewischt wird. Vermutlich lassen sich auf diese saubere Weise dort auch leichter Paß- und Zollkontrollen in Truppenstärke von Ostfeldzügen durchführen; na gut, irgendwohin muß es ja, das ganze Grenzschutztruppen-material. Bald traut sich niemand mehr, das ganze Zeugs (vorher) auf die Straße zu schmeißen. Am Ende wird das härter bestraft als der Geldtransfer zum außereuropäischen Nachbarn südlich von Weil am Rhein, wo die Welt noch in Ordnung ist, wenn auch nicht in Dortmund. Allerdings ist nicht zu vernachlässigen, daß die Raucher ohnehin demnächst unter die vom Nachbarn eingeführte und wiederbelebte Guillotine gelegt werden. Aber vorher werden sie noch ordentlich geschröpft. Dienen die so erzielten deutschen Steuergelder eigentlich nach wie vor der Terrorismusprophylaxe? Oder ist der oberste deutsche Ordnungshüter eines Rückkehrers in die Heimat wegen geistig gerade anderweitig beschäftigt? In der Stadt kurz vor Afrika wird nach wie vor zweimal am Tag gefegt, vor den Bars oder Cafés oder auch Kneipen und innen drin vielleicht sogar alle zwei Stunden; die Kippen sind zwar weniger, weil fast unbezahlbar geworden, aber sie müssen dennoch weg und auch die Lotterielose. Es ist nicht nur die Gewohnheit. Die Leute haben zu tun. Oder die vielen Angestellten der Verkehrsbetriebe, die in Bus und Bahn behilflich sind. Na gut, seit oder mit Sarkozy wird daran gearbeitet, das wird sich unter Hollande kaum ändern, den Wasserkopf Personal zu beseitigen. Aber dann gibt's jedesmal wieder Keile, das Volk kärchert zurück, und er muß sich gesetzestechnisch wieder was neues einfallen lassen. In deutschen Landen wirst du von den dreien, die aus Gründen der zu schützenden Überwachung noch herumstehen, nur, logisch, dafür sind sie schließlich da, unfreundlich angeraunzt anstatt höflich in den Bus gehievt. Nicht nur in München. Oder Berlin. Oder sonstwo. Hamburg bildet da eine Ausnahme. Aber das ist schließlich die Schwesterstadt von Marseille., französisch eben, da entschuldigt man sich noch augenblicklich, also mit frueundlichem Blick in die Augen des anderen, wenn man jemanden leicht angestupst hat. Das alles, obwohl alles Öffentliche bei weitem teurer ist als in Kurz-vor-Afrika, schließlich immer noch Europa. In Marseille fahre ich, immer noch, auch nach der Aufrüstung der Stadt zur Kulturmetrople, für einen passablen Preis mit Metro, Tram oder Bus (es sei denn, alle Räder stehen still, weil des Volkes Unmut es will, was des öfteren vorkommt da drüben, nicht nur im Süden). Rechtsrheinisch kostet's oftmals fast das Doppelte. Aufklärung? Dem Deutschen, der seine Infornation ausnahmslos aus den Tiegelchen regierungsschonender Pressebalsamagenturen bezieht und das Internet lediglich im Zusammenhang mit der Buchung der schönsten Zeit des Jahres und dem Billigeinkauf kennt, muß man anscheinend immer ein STOP(P)-Schild vor die Nase stellen. Er benötigt offenbar Verbote, weil er nicht selber denken kann oder mag. Verbote, Verbote. Weil er sonst nicht weiß, was sich gehört. Sich nach Feierabend in der Öffentlichkeit zu besaufen, zum Beispiel. Versammlungsverbot! Überhaupt benötigt es einen Verschluß der Alkoholika in den behördlichen Giftschrank und nicht in diese Lotterläden, die schließlich mal gegründet wurden, um Benzin zu verkaufen. Nun gut, man hat in Baden-Württemberg führungstechnisch seit einiger Zeit eine besondere christdemokratische Tradition zur Geistesabstinenz entwickelt; nicht etwa zur Geistlichkeit. Im Gegensatz zur Freigeistigkeit Sachsens. Dort ist man etwas gebildeter, gar intellektuell gewitzter, weiß man doch, daß man das Grundgesetz für so ein Verbötchen gar nicht unterlaufen muß, da es für Neufünfland schließlich nicht geschrieben wurde. Da lächelt der sozialdemokratische Minister, und sagen wird er: Was wollt ihr denn, wir leben doch ohnehin im Status der Verfassung, Alles Müll, euer moralapostelisches Gequassle. Womit wir wieder beim Eingangsmüll wären. Bunte, also mehrfarbige Mülltrennung wider jede Vernunft, beispielsweise der des Wissens (aber sowas dringt eher seltener in den Empfangsbereich des eigenen Informationsbedarfs vor), daß die so unsinning ist wie der Müll selbst und vor allem die Abfallbeseitigungsgesellschaften mit beschränkter Haftung den Reibach machen. Oder dieser Kehrricht Landschaftsschutz. Denn schließlich bedarf der Arbeitsplatz vorrangig eines gewissen Schutzes. Weshalb zunächst die notleidende Automobilindustrie gerettet werden muß; zunächst die japanische oder koreanische, wir sind doch eine Welt, und die deutsche zahlt doch ohnehin kaum Steuern bei der Wirtschaftslage. All das mit einer weltweit anerkannten Koryphähe des Klimaschutzes als Vorsitzender der nationalen Aktiengesellschaft, quasi als Galionsfigur des Wirtschafts-containerdampfers. Und das trotz einer sich abzeichnenden gewissen Antriebsschwäche. Es wenig verblüffend ist das durchaus, mit welcher Akribie der Bürger sich diesem geistig höchst anspruchsvollen Ich-bin-Deutschland-Gedanken unterwirft. Deshalb wohl wird er diese Dame bevorzugt wiederwählen. Aber er rennt ja auch nicht nur zur Polizei, wenn auf dem Nachbargrundstück jemand raucht. Denn vermutlich ist es ein Kopf, egal, Rauch ist Rauch, das ist ohnehin gefährlicher als alles andere. Es braucht eben alles seine Ordnung, und wenn du die grünen Flaschen in den Behälter für die braunen wirfst, ist die nicht gewahrt. Und möglicherweise auch noch außerhalb der vorgesehenen Ruhezeiten. Einem Freund ist das unlängst passiert. In Garmisch-Partenkirchen. Es hätte auch im sauberen Zürich gewesen sein können. Mein Herr, das grüne Fläschli gehört aber ... Das will geahndet sein. Schließlich ist es verboten, nun ja, zumindest nahe an der Ordnungswidrigkeit. Ich weiß, ich sollte endlich endgültig nach drüben gehen. Aber selbst dort an der ehemaligen Hanfstraße beinahe vorm Office du Tourisme kann man ja seiner südlichen Sache nicht mehr sicher sein.
Solarisation Als meine Vermieter mir vor einiger Zeit eröffneten, in Zukunft würde die Sonne bei uns heizen, führte ich das zunächst darauf zurück, die Klimawandelproblematik könnte tatsächlich auch im abgelegenen Teil nicht nur Holsteins, sondern sogar in dem des Dörfchens mit noch nicht einmal zweihundert Einwohnern angekommen sein, in dem mein Büro liegt: fernab sogenannter Zivilisation. Hier stört kein Geschwindigkeitswahn die Idylle. Die DSL-Leitung plätschert daher wie das mäandernde Bächlein, aus dem man mal Nahrung beziehen kann oder auch wieder nicht, denn wenn die Fischlein lieber in Adenauers rheinischem Rosengärtchen auf der Stelle herumpaddeln, kommt hier nichts an. Nun gut, wir haben einen Teich hinterm Haus. Aber immer nur diese über zwei Jahrhunderte alten Karpfen? Mit dem Mobile zu telephonieren ist nur möglich, wenn ich an, vor allem auch in einer ganz bestimmten Position verharre. Oder vor die Tür gehe. Auch gut, denn das täte ich ohnehin viel zu selten, meint die Büddenwarderin immer wieder. Aus dieser Perspektive technischen Standards betrachtet, kam mir das fast kurios vor, als man hier von der Sonne als Heizung sprach. Andererseits, witzelte ich dann dagegen, habe sie diese Funktion längst inne. Denn wenn sie ab mittags die Besucherposition einnehme und somit mein Kathedrälchen der Altersarbeit beleuchte, heize sie, zumindest im wolkenfreien Sommer, dieses aufgrund der nahezu komplett verfensterten Westseite auf Saunatemperatur. Bei der ohnehin gern vorhandenen nordöstlichen Luftfeuchigkeit möchte man dann gerne weg aus der Nähe des Mare Balticum und flüchten nach Kühlungsborn am mer medittéranée, wo mir selbst fünfundvierzig schattige Grade nichts anhaben können, da sie trocken sind wie guter Wein. Ja, sicher doch, man würde nachholen, was beim Dachausbau damals vergessen worden war: ein Abluftrohr hoch oben auf der Galerie, wo manchmal meine heißen Träume Einzug halten möchten in mich, was ich der fünfzig feuchten Grade wegen dann aber unterlasse und es vorziehe, dann doch den längeren Weg ins städtische Alsterdorf zu nehmen. Und nein, das meine man nicht so mit der Sonne, warf Madame Lucette noch ein, sondern so photovoltaisch. Aha! und méritoire, entgegnete ich, die Einsicht in die Vernunft halte also auch hier Einzug, löblich, verdienstvoll sei das, auch außergewöhnlich für die Gegend hier, in der gemeinhin der Sommer mit seinem Auslöser Sonne auf einen Montag, manchmal auch auf einen Mittwoch falle, aber selten auf ein ganzes Wochenende, weshalb der Grill auch ab acht Grad (plus) angeworfen werde (Norddeutsche Griller sind härter), vermutlich, um den grün betonierten Garten zu heizen, und weshalb man sich die Wärme auch nach wie vor aus Nahost liefern lasse. Worauf eine leichte provinzlerische, um das unkorrekte oder auch -höfliche Adjektiv ardennische, nachgerade jungfräulich wirkende schamhafte Röte das Gesicht der frischen Sechzigerin überzog, sie zugleich aber auch Protest anmeldete. Auslöser seien zugestandenermaßen die Preise für das schwarze Gold aus dem Südosten, aber man heize zudem sehr viel mit Holz, darauf müsse sie dann doch hinweisen, was mich an die vielen in letzter Zeit umgehauenen uralten Bäume erinnerte, derentwegen ich mir unter anderem diesen Büroort ausgesucht hatte, und außerdem werde eine komplett neue Heizungsanlage gebaut, die ausschließlich mit nachwachsenden Rohstoffen betrieben würde, was mich darüber nachdenken ließ, wie lange wohl es noch Wälder geben würde, denn seit langem sehe ich kaum mehr Wanderer, sondern fast nur noch behelmte Holzsägerbuam durch sie eilen, der Ölpreise wegen und so. Doch dann fiel mir die genaue Rechnung ein, die Madame und ihr Gatte kürzlich aufgemacht hatten und die für uns Mieter günstiger als zuvor aussehen sollte: eine etwa zwanzigprozentige Kostenreduktion durch das Heizen mit «nachhaltigen» Pellets. Wobei mir nicht klar ist, wohin die Preisentwicklung sich entwickeln wird. Aber méritoire, durchaus. Nun ist das neue Dach drauf, die Handwerker kamen, sahen, siegten, nun sind sie und das Gerüst endgültig weg, mein Abluftrohr noch immer nicht gebohrt, auch gut, das spart Heizkosten, und die neue Bedachung ziert eine riesige Photovoltaik-Anlage. Zwar kann ich jetzt mobil überhaupt nicht mehr telephonieren und auch der digitale Fernsehempfang ist nur noch möglich, wenn ich während des Anschauens meiner bevorzugten Sendung über den «Yak-Mist in der Energiewirtschaft» die Antenne mit der Hand in Richtung innere Mongolei aussteuere, aber zuviel elektrische Medien sollen ja gar nicht gut sein, und deshalb ist man schließlich auch nicht aufs Land gezogen mit seiner Arbeit. Ich könnte jetzt einen Fuß vor die Tür setzen und es photographieren, das energiegeladene Sonnensegeldach, die Gelegenheit vielleicht nutzen, ein wenig mobil zu telephonieren, aber dieser lange Weg — vor allem jedoch tendiere ich dazu, es der Phantasie der geneigten Leserschaft zu überlassen, die sich das vorstellen möge, deshalb mal von der vorderen, dann von der hinteren, fast alle Seiten der Revolutionskate also und dann noch das mittlerweile nachhaltig bedeckte Loch. So sind wir denn alle stolz, zumindest der Vermieter bekundete ein wenig davon während unseres gestrigen Gespräches. Hundertausend Euro kostet das Kraftwerk, ohne die neue Pelletheizung. Und, ach ja, à propos, weshalb man die denn überhaupt noch benötige, war dann meine abschließende Frage, wenn es ohne weiteres möglich sei, mit diesem Kraftpaket oben drauf das komplette Haus zu versorgen? Nun ja, der Strom werde verkauft. An das uns beherrschende Energieunternehmen. Zum Doppelten des Preises, den wir pro Kilowattstunde bezahlen für Licht und Luft aus dem Ventilator. Lieferanten sind überwiegend Braunkohle und sowas ähnliches wie Krümmel (wir werden von einem anderen Heilsbringer bedient als von diesem schwedischen). Das bißchen Sonne fällt nicht weiter ins Gewicht, Pellets sozusagen, früher nannte man das Peanuts, meine ich mich zu erinnern, außerdem zahlt das ohnehin der, der immer irgendwie seine Steuern zahlt, so er keine Verluste et cetera einzubringen hat. Rechnen muß man halt können.
Irre Natur Ich habe von jeher einen leichten Hang, mich mit Menschen zu umgeben, die von anderen gerne als irre bezeichnet werden. Künstler beispielsweise. Zu dieser seltsamen Species zählte auch der promovierte Psychologe, den die Liebe von Wien nach München und in geradezu unausweichlich kerzengerader Folge in einen Familien-Corral getrieben hatte. Vier oder gar fünf Gründe also für den Irrsinn. Dieser Irrsinnige kommentierte in den Achtzigern, als im der Klassik geweihten Isar-Athen die ersten Vorboten einer zeitgenössischen romantischen Sehnsucht nach freier Natur am weiß-blauen Himmel dräuten, dieses Phänomen gerne beiläufig aufklärerisch: Was brauch ich Natur? Ich hab doch den englischen Garten. Die meisten zuckten mehr oder minder höflich mit den Schultern, man wollte es sich schließlich mit diesem zwar irren Sympathischen oder andersrum, aber eben oder vielleicht deshalb Kopfgesteuerten aus ahnungsvollen Gründen nicht verderben. Einige lachten, da sie wußten, daß dieser Mensch selten einen Fuß vor seine Tür geschweige denn hineinsetzte in diesen Volkslustgarten, den auch sie in der Regel nur dann aufsuchten, um am Chinaturm eine Maß oder auch zwei, dann langsam der unausweichlichen Obstler wegen, weil's so besser rutscht, das Manna, lustig werdend, nicht zuletzt deshalb schließlich eine dritte zu sich zu nehmen. Aber tatsächlich verstanden hat den sarkastelnden Witz auch nach einer möglicherweise vierten Maß gar niemand nicht oder auch nicht mehr. Denn selbst, wenn man mit dem Radl da war, hieß das noch immer nicht zwingend, in des sehr frei oder auch sehr viel vogelwilder noch als die neuen Fauves arbeitenden Kreateurs Natur gewesen zu sein, selbst dann nicht, wenn man zuvor die Hirschau beradelt hatte. An den irren Theo muß ich denken, wenn sie (jetzt wieder verstärkt wegen der schönsten Zeit des Jahres) unterwegs sind in Gottes freie Natur, die mittlerweile allumfassend behelmtem Rentnerformationen, gerne im Partnerlook auf zwei Rädern durch radwandergerecht aufbereitete Fluren und Auen oder nordisch skibestockt ab durch die Wälder, die sehr jugendlichen, überwiegend mittelständischen Pulks in der Anreise in ihren hier einmal sinnvoll genutzten, da ansonsten überwiegend vor Restaurants stehenden geländegängigen Fahrzeugen ohne jeden Krisenkratzer hin zum reißenden Gebirgsbach, der leicht entschärft wurde, um beim Rafting die Gefahren des Überboardings zu mindern. Irgendwann kam mir zu Ohren, er sei entmündigt worden, der Theo. Ob es tatsächlich so war oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis. Sollte es jedoch so gewesen sein, dann geschah es sicherlich wegen seiner überstrapazierten Narretei, die Natur in ihrer Freiheit zu leugnen, wider jede Glaubensvernunft.
Höflichkeit Luft ablassen. Wegen Detonationsgefahr. Lieber Herr Steuerberater (übertragbar auf andere Dienstleister), «Ihre mail», schreiben Sie, «beantworte ich erst jetzt, da ich ob des Tonfalles nicht in die Luft gehen wollte, sondern mit dem Respekt und der Höflichkeit, welche Sie als Mandant verdienen antworten wollte.» — Ich hingegen antworte Ihnen verspätet nicht aus (zu unterdrückender) Unhöflichkeit, sondern weil ich — oftmaliger Bestandteil flehentlicher Hinweise meinerseits — häufig auch länger unterwegs bin. Ich bin sehr gerne ein höflicher Mensch, nichts ist mir fremder als das, es gehört gar zu meinen Lebensprinzipien. Dazu gehört jedoch auch: Wenn man sich mir gegenüber alles andere als höflich benimmt, dann mag ich es auch nicht sein. Und Ihre elektronische Post zu meiner Steuererklärung, die war mehr als unhöflich. Denn Höflichkeit ist nicht mehr, wie zu Zeiten bei Hofe, nur floskelhafte liebesdienerische Form. Längst gehört unter Bürgern auch Inhalt dazu. Civilisation heißt das im Land (nach) der französischen Revolution, vor der Köpfe rollten, wenn man dem König nicht die höfische Ehre zukommen ließ, auf die er ein Recht zu haben meinte. Ich verweigere mich dem sich in Europa zunehmend ausbreitenden, logischerweise geschichtslosen US-amerikanischen Verständnis vom Umgang mit Kunden. Ein Hinweis auf Design wäre in diesem Zusammenhang vielleicht noch hilfreich: nicht nur mehr oder minder schöne oder beschönigende Hülle eines Nichts bedeutet das, sondern die Form hat einer Funktion zu folgen, in diesem Fall Information und Begründung. (Weitere geschichts- und ästhetikphilosöphelnde Ausführungen dazu erspare ich Ihnen jetzt; obwohl mir aus gegebenem Anlaß durchaus danach wäre.) Aber in Ihrer Post war trotz zweimaliger Bitte darum weder das eine noch das andere vorhanden. Nichts als Ärger bei mir, etwa über eine (mal wieder) verspätete Abgabe durch Sie, mit Konsequenzen — für mich. Das war und ist eine unnötige, unakzeptable und damit äußerst unhöfliche Leistung (die ich hier nicht detaillierter schildere, da ich anderen Menschen das langatmige Fazit einer unerquicklichen, offensichtlich viel zu lange anhaltenden — und hiermit für beendet erklärten — Beziehung ersparen möchte; aber raus mußte es: pffft). Arbeit müsse sich wieder lohnen, meint die Steuerberaterpartei. Da sind wir einer Meinung. Aber eben auch für den Empfänger der Dienstleistung, hätte ich dann noch anzufügen.
Neu- und altgierig Da's ein Thema für sich zu werden droht, kommt's auf Seite 1. Mit der nach Wissen strebenden Gesellschaft meine ich zunächst einmal das, was ich gerne Klappentext- oder auch Kreuzworträtselwissen nenne. Bei Bouvard und Pécuchet gibt es hübsche Parallelen insofern, als die beiden meinen, dadurch zu höherem Ansehen zu gelangen, zumindest zu gewinnen: «Wissen ist Macht, nichts wissen macht nichts — doch wie macht man sich das erworbene Wissen zunutze? Wenn man weiß, daß man nichts weiß — woher weiß man, was man wissen soll, und wie kommt man an das Wissen heran? Schließlich kann das Gefühl von Unwissenheit enorm nagend sein.» Nimmt man heutige Quiz- oder Wissenssendungen, schaut nach den gefragten Titeln im Buchhandel, scheint das in diese Richtung zu laufen. Es ist noch nicht so lange her, als der Geschäftsführer eines Zeitungsverlages mir gegenüber äußerte, das sei der neue Trend — und verwies auf die Ausschlachtung aller Zeitungsartikel des Hauses, eingepackt von Buchdeckeln, alles so geistig edel wie das führende Blatt des Hauses selbst. Dann überrollte ihn das Internet wie ein mit Makulatur beladener LKW; Papier hat enormes Gewicht. Aber nicht nur davon kann man überrollt werden, wie die Literaturliste zu Dummheit, Irrtümer et cetera belegt, was die beiden Nachfahren der Encyclopédistes ja auch dazu bewegt, die Welt korrigieren zu wollen. Allerdings sind die Korrekturen selbst längst vom US-Großscanner digitalisiert, so daß auch wirklich jeder die Fehler des anderen aus dem Internet ab- und und in den Qualitätsjournalismus hineinschreiben kann. Walter Vitt hat das mal thematisiert, einige Zeit vor dem aufrechteren Gang von Wikipedia, wo allerdings ohnehin nie wirklich niemand abschreibt, und es später in ein Büchlein binden lassen.* Doch zurück zu der nach Wissen strebenden Gesellschaft und den ganzen Rätseleien. Es ist auch kein Wunder angesichts der aktuellen curricularen Systeme, die zumindest im Hochschulbereich genau das beabsichtigen, was man zuvor eigentlich nur von den juristischen Repetitorien kannte: Auswendiglernen; schulisch beispielhaft bekannt als das vielzitierte 333 — Issos Keilerei. Aber weshalb und wieso es zur kriegerischen Auseinandersetzung kam, das Wissen um Zusammenhänge fand in Benotungen kaum Niederschlag (schon gar nicht in Bayern, wo der aus der Fremde hinzugezogene Abiturwillige als erstes einen Malus einidruckt bekam). Und so sieht's heute bei den Universitätsabgängern aus. Nicht nur bei den Bachelors. Da habe ich einiges an jüngsten Erfahrungen. Wobei auch diese Neuheit ein alter Hut zu sein scheint, wie ich hier erfahren mußte, bezugnehmend auf die «eingeschränkte Halbwertzeit», nach der beispielsweise für viele Kunsthistoriker die Geschichte der Kunst, mit, sag ich mal, bei Beuys beginnt. — Hintergründe zum Dilemma sind auch in Somlus Welt angerissen. Und genau das scheint viele Menschen wißbegierig werden zu lassen, aus dem mittlerweile ein ebenfalls sprachlich reduziertes neugierig geworden ist. Was dann entwicklungstechnisch den Nagel auf den Kopf trifft: altgierig ist nicht cool. Außerdem müßte man da möglicherweise komplette Bücher lesen. Wofür keine Zeit ist, denn die benötigt man für die zwei oder drei Jobs; zum Beruf hat's die ökonomische Ausrichtung des Studiums nicht kommen lassen; möglicherweise lag's am reinen Auswendig- oder am Zuweniglernen. Pech gehabt. Mit den aktuellen Ereignissen kam mir auch leicht Vergangenes in Erinnerung. Kürzlich ärgerte sich die junge Frau in der Familie sehr darüber, daß die Note für die Diplomarbeit wegen ein paar Zehnteln nicht für den Höchstwert gereicht hatte. Aber bereits Mitte der Neunziger nahm der Freund eine geradezu ungeheuerliche Rigorosum-Schlacht auf sich, um den Doktor auf den Schild eines auch wirklich nicht mehr besser zu bewertenden summa cum laude zu heben. Andererseits — was nutzt die ganze wißbegierige Leserei, wenn's einem so ergeht wie unseren beiden Helden Bouvard und Pécuchet (die in die Kommentare verbannt sind): * Walter Vitt: Palermo starb auf Kurumba. Wider die Schlampigkeiten in Kunstpublikationen. Köln/Nördlingen 2003. — Vitt beklagt die vielen biographischen und sachlichen Fehler, die in Künstler-Lexika und Katalogen zu finden sind und durch unkritisches Abschreiben dann in der Häufigkeit ihres Aufscheinens zu «Wahrheiten» mutieren. Der Autor vertraut der Verläßlichkeit lexikographischer Arbeit im Kunstbereich nicht mehr. Mademoiselle Mimi gehört zu ihm. Aber man darf unter CC.
Bild-Abfall Ich habe früher sehr gerne photographiert. Zwanzig, dreißig, vielleicht gar vierzig Jahre lang. Bis mir eines Tages diese herumumirrenden Menschen, diese (vom Autor leider gelöschten) tout tristes mit ihren Spannoskopen vor den Bäuchen oder den ständig verdeckten und damit eingeschränkt sehfähigen Augen derartig auf die Nerven gingen, daß ich meinte, es unterlassen zu müssen, zumal man ja den idealen Bildspeicher in sich trägt: das, was man gemeinhin Gehirn nennt. Es war einfach zu erschreckend, mir diese fliegenartigen Re-Aktionen ansehen zu müssen: Sobald sie das «entdeckten», was ein paar Meter weiter am Kiosk, im Milch- oder Zeitungsladen oder im Café zu hunderten in den Verkaufsständern angeboten wurde, rissen sie ihre ungemein teuren, bisweilen kleinwagenteuren Kameras hoch, um das zu tun, was die Skiläufer mit ihren eigentlich für Rennläufer gedachten Brettern tun: im Stemmbogen den Idiotenhügel hinunterrutschen. Und zwar immer und immer wieder denselben. Millionen Fliegen können nicht irren. Sie knipsten und knipsen alles, worauf sich die Art-Genossen bereits gestürzt hatten: das Hamburger oder Münchner Rathaus, die Gaudí-Architektur in Barcelona, das große Loch in New York, die Hafentürme in La Rochelle, das Château auf If, die Calanques, jede einzelne, bis nach Cassis und wieder zurück, die Brücken in Venedig, die daraufhin noch mehr seufzten. Sie photographierten und photographieren, wie sie sich vorwärts, besser: rückwärts beweg(t)en, immer schön auf dem Trampelpfad bleiben, den ihnen die Touristenbüros oder Kunst- und Kulturagenturen in ihren aufwendig nichtssagenden Prospekten beziehungsweise Internetzen getreten hatten. Bloß keinen Jota abweichen. Nichts sehen (und photographieren), das abweicht von einer Norm, die ausnahmsweise mal nicht bürokratisch verordnet wurde. Eine vergammelte Blume, ein zertretener Zweig hat nicht «schön» zu sein. Ein überquellender Mülleimer, der Dreck, auf dem sie stehen, ist Angelegenheit des Müllabfuhr-Beauftragten. Es ist wie im skandinavischen bis romanischen, im westfranzösischen bis ostrussischen Fernsehen: immer nur die vielen «schönen» Menschen, die endlos weiten, garantiert unberührten Landschaften. Schiefe Dächer oder verfallene Häuser oder kaputte Menschen nur dann, wenn sie unter ‹apart› zu rubrizieren sind. Milan Kundera fällt mir dazu ein: «Hinter allen europäischen Glaubensrichtungen, den religiösen wie den politischen, steht das erste Kapitel der Genesis, aus dem hervorgeht, daß die Welt so erschaffen wurde, wie sie sein sollte, daß das Sein gut und es daher richtig sei, daß der Mensch sich mehre. Nennen wir diesen grundlegenden Glauben das kategorische Einverständnis mit dem Sein. Wurde noch vor kurzer Zeit das Wort Scheiße in Büchern durch Pünktchen ersetzt, so geschah das nicht aus moralischen Gründen. Sie wollen doch nicht etwa behaupten, Scheiße sei unmoralisch! Die Mißbilligung der Scheiße ist metaphysischer Natur. Der Moment der Defäkation ist der tägliche Beweis für die Unannehmbarkeit der Schöpfung. Entweder oder: entweder ist die Scheiße annehmbar (dann schließen Sie sich also nicht auf der Toilette ein!) oder aber wir sind als unannehmbare Wesen geschaffen worden.Ob der wohl ein Problem hat? Ja, ich habe eines. Als ich vor ein paar Jahren die städtische Großwohnung aufgab beziehungsweise im Wissen eines in der Folge um zwei Drittel reduzierten und dann auch noch geographisch konträr verteilten (Wohn-)Raumes, gingen hunderte von Photographien, allesamt erstellt bis zur Abbildungs-Abstinenz und in Vergessenheit geraten, samt Negativen in den Müll. Ich benötigte sie nicht mehr, es befand sich ja alles auf der organischen Festplatte. Doch nun weiß ich: Man soll nie etwas wegwerfen, auch kein mißratenes Bild! Selbst mit einer krummen Photographie ließe sich eventuell noch eine gerade, weil erläuternde Seite bauen. Die Stunden sind nicht mehr zu addieren, die ich mittlerweile damit verbracht habe, in diesem weltweiten, geradezu gigantischen Bildangebot etwas zu finden, das in etwa geeignet wäre, bestimmte Themen anschaulich(er) zu machen, Texte, meinetwegen, zu illustrieren. Alleine drei Tage habe ich beispielsweise benötigt, um die Zersiedelung der Dörfer dargestellt zu finden. Kaum etwas war zu finden. Die Tristesse der Kleinstädte allüberall, produziert in den Amtsstuben, wo wird sie gezeigt? Nirgendwo die (nicht nur gewerblichen) Dreckgürtel, die nahezu jede französische historische Stadt umgeben. Immer nur das Edle und Erhabene. Es ist sinnlos. Es gibt allenfalls mal Schräges oder Schrilles, auch durchaus Komisches, vor allem aber all das, was in die Lade subjektiver Schönheit (diese Tautologie muß hier sein) paßt — von dem die photographierende Menschheit meint, es müsse unbedingt abgelichtet werden. Tausend-, ja millionenfach das Immergleiche. Ohne jeden Zweifel sind Photographien darunter, die zum Wettbewerbssieger geeignet sind. Aber nahezu alle sterben in Schönheit. Sie sind «ästhetisch hochwertig». Doch es ist eine Ästhetik, die so sinnentleert ist wie das Ornament, das als Bedeutungsträger seit ewigen Zeiten seine Funktion verloren hat (und nach dem sich die Menschheit dennoch zu sehnen scheint, indem es sich über den Hintern oder auf die zarte Schulter nadeln läßt). Formalästhetik! Nur noch Form. Neoneoneo-Klassizismus: innen hohl. Inhalte werden nicht ernsthaft «in Betracht» gezogen. Ich photographie also wieder, wenn auch nur manchmal. Wenn ich nachhause in den Süden reise, mag ich mich mit der doch recht voluminösen Digital-Apparatur nicht belasten, die ich mir dann doch irgendwann (gebraucht) gekauft habe, über ein Bildchen produzierendes Telephon will ich nicht verfügen, und meine Minox-Filme entwickelt mir niemand mehr, es sei denn zum Preis einer neuen Kamera. Photographieren, um langwierige Genehmigungsprozeduren zu umgehen, nicht Gefahr zu laufen, mich mit unterbeschäftigten oder von unangenehmen Energien angetriebenen Juristen auseinandersetzen zu müssen (eben weil ich kreative Leistung zu schätzen weiß und deshalb das Urheberrecht achte; ich bin schon bemüht, ausschließlich freigegebene Bilder zu verlinken). Kaum jemand hilft mir dabei, nach Möglichkeit auch das abzulichten, das andere nicht festhalten — oder aber es nicht sehen (wollen) oder für nicht veröffentlichungswürdig halten, weil es «häßlich» ist. Der neue Mensch fordert seinen Tribut: ästhetische, plastische Chirurgie — Schönheit. * Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, aus dem Tschechischen übersetzt von Susanna Roth, München 1984, p 237; französisch: L’insoutenable légerté de l’être, Paris 1984
Weit geöffnete Fenster Gewußt habe ich es ja schon immer. Na ja, immer vielleicht eher nicht. Aber doch seit vielen Jahren. Weshalb ich ja auch ständig predige. Nein, das Predigen überlasse ich von anderem Geist Beseelten. Ich trage vor. Dafür bin ich gefürchtet; da bricht sich eben die in Rente geschickte Berufung Bahn. Mir braucht eines der Kinnings nur die Frage nach einer bestimmten Büchse zu stellen, meinetwegen nach der mit den feinen Keksen von Oma Preetz, und unversehens findet es sich bei Pandora wieder. Dann hat es zwar immer noch kein' Cookie aus kurz vor Kiel, aber das mittlerweile universitätsdiplomierte und dennoch nicht so schrecklich viel wissende Kind weiß immerhin, auch wenn's das gar nicht wissen wollte, was es bedeutet, allzu leichtfertig diese riesige Unheilsdose bar jeder Hoffnung Internet zu öffnen. Und ein bißchen von dem bekommt's gleich mitgeliefert, was man heutzutage an der Schule offensichtlich nicht mehr lernt und auch nicht an der Universität: Ursache und Wirkung, Zusammenhänge. Manchmal bleibt sogar was hängen. Denn aus Höflichkeit, bisweilen sogar Interesse leiht man mir ein Ohr. Aber man befindet sich schließlich nicht an einer Hochschule, wo der Student sich in die erste Reihe setzt und sofort einschläft. Denn man will ja gesehen worden sein; schließlich gibt's 'nen Schein dafür. Doch habe ich's tatsächlich schon immer oder seit einigen Jahren gewußt? Nein. Genau betrachtet war das, was ich so gerne im zumindest engeren Menschenkreis verkünde, nicht mehr als ein Anflug von Ahnung. Seit gestern lerne ich nämlich. Gewaltig. Und mich fröstelt arg inmitten des schleswig-holsteinischen Spätfrühlings mit frühsommerlichen Temperaturen. Dabei wollte ich nichts anderes als neulich Töchterlein auf der Suche nach was besserem als dieser abfallartigen Alimentation, die die globale Nahrungsmittelindustrie uns in die Eingeweide schiebt und uns dabei vorher noch die Papillaren verätzt, auf daß wir nichtmal mehr Müll von süß oder salzig unterscheiden können. Nein, so stimmt das auch wieder nicht. Ich war von einem dieser Viren befallen, die durch das Netz schwirren wie Gasbrocken durch das All, um irgendwann in so ein dämliches Wirtstier einzuschlagen, wie ich eines bin. Das von Vogel- oder Schweinegrippe kommt dem Auslöser eines grippalen Infektchens gleich gegenüber dem, das bei mir einen K(r)ater ungeahnten Ausmaßes verursacht hat: Neugier. Wollte ich doch tatsächlich wissen, wer sich da ständig heimlich still und leise bei mir einschleicht, um immerfort in einem winzigen Blättchen meines elektrischen Poesiealbums zu lesen. «Vielleicht ein Ästhet?» wie der eine (allerdings auch dafür zuständige) fröhlich kommentierte, möglicherweise um meine Verlustängste ein wenig zu kompensieren; ich gehöre der Fraktion an, die gegen eine Freigabe all dessen ist, für das andere sich oftmals tage-, wochen-, monate- oder auch jahrelang die Köpfe zermartert haben und das Franz Xaver Kroetz mal zu Recht Schwerstarbeit oder so ähnlich genannt hat. Ich weiß es immer noch nicht, wer sich an dieser einen Geschichte delektiert oder oder sie möglicherweise als Reisebeschreibung mißversteht. Es werden täglich mehr, doch der- oder diejenige(n) bleiben im Verborgenen, und das, obwohl ich mein inneres Fenster aufgerissen habe — nein, dieses Metapherlein bleibt hinkend irgendwo in Marshall McLuhans Botschaft hängen. Es war zuvor schon sperrangelweit geöffnet, das Fenster zu meinen Innereien. Ich war so frei wie die Gereformeerden: Schau ruhig herein, mein Herz ist rein. Allerdings hatte ich auch nur annähernd eine Ahnung davon, wer da ständig vor meiner vorhanglosen Transparenz vorbeischlendert beziehungsweise sich in my home is my castle ungestört umsieht, alle möglichen Schubladen aufreißt und meine kleinen oder auch größereien Geheimnissereien in Ruhe durchschaut. Man braucht sich nur so eine Statistik-Software in den Computer zu laden, und schon ist man darüber informiert, wer wo und wann hockt, welche Weichware er benutzt et cetera pp., um über einem Text einzuschlafen, von dem ich immer noch nicht weiß, wer ihn immer wieder aufruft. Es gibt sie schließlich, diejenigen, denen es nicht nur gelingt, sich bei mir einzuschleichen und mich auszuhorchen, sondern auch ihre Herkunft zu verschleiern. (Ich nähere mich der Bedeutung des Begriffs «Schleyerfahndung» auf seltsame, gänzlich neue Weise, also völlig anders als in den Siebzigern oder den Achtzigern, als man wegen und gegen Volksbefragungen noch protesierend auf die Sraße ging.) Da heißt es dann einfach unknown. Mein ohnehin bereits vorhandener Verfolgungswahn wird von diesen von mir gerufenen Geistern gefüttert. Las ich da in meiner frisch erstandenen spionischen Wunderwelt doch tatsächlich von einem Besuch aus Bonn — sofort ergriff mich die Panik, und ich rief Zeter und Mordio schreiend um Hilfe, weil ich eine Attacke aus dem von Würmern und Viren beherrschten staatlichen Totenreich befürchtete. Da antwortete mir mein großer, souveräner Helfer, den ich hier nicht nennen mag, da ich nicht weiß, ob er das mag: «Das andere da, das ist wie vermutet harmlos. Jemand in Bonn hat also heute zur Frühstückszeit 17 min in Ihrem Blog gestöbert, verwendet das Betriebssystem Windows XP, surft mit dem Firefox, hat JavaScript aktiviert, seine Bildschirmauflösung beträgt 1280 x 1024 usw ...» Allerdings schloß er mit Worten, die mir seit langem schon durch den Kopf geistern: «... und das sind nur die Daten, die automatisch mitgesendet werden! Was Unternehmen wie die Bahn und andere über das Verhalten ihrer Mitarbeiter wissen, mag man sich gar nicht vorstellen.» Dieser Tage berichtete die Büddenwarderin mir von der Kollegin, die im besten Wortsinn auf Teufel komm' raus sich einen Mann aus dem Netz angeln und partout nicht glauben wollte, daß man von denen dann doch vielleicht nicht so von Glück berauscht sein würde. Gegen diese Verdächtigungen verwahrte die Kollegin sich erheblich, das sei mit Sicherheit alles seriös und die beste Methode, in neue Familienfreuden zu geraten. Daraufhin lud die Büddenwarderin die Glücksucherin zu sich ein und ging mit ihr in einschlägigen Internetseiten spazieren. Letztere will's nun doch lieber mittels der klassischen Zeitungsanzeige versuchen. Denn das, was da alles freiwillig preisgegeben werden solle und auch müsse, das war ihr dann doch zuviel. Da könne sie ja gleich in des Des Kaisers neuen Kleidern auf die Straße gehen ...
Bahnbesinnlichkeit Die geldgenerierte (dunkel-)grüne Bürgerlichkeit fährt von Blankenese aus selbstverständlich mit der S-Bahn, die sich, wie auch der rollende Hamburger Untergrund, hanseatisch, also quasi auf der hochkulturellen Trasse bewegt und deshalb auch Hochbahn heißt, ins Ottodorf Poppenbüttel im Alstertal, wo man Oma ihr klein' Häuschen hingestellt hat. Nicht, daß man sie loswerden wollte. Aber da ist die Luft doch auch sehr gut, und sie kann dort mit ihren Freundinnen nunmal viel besser an ihren Skistöcken gehen oder die Gegend beradeln. Zuhause, in ihr'm ollen Dörp ist ja mittlerweile alles so eng und verbaut und alles vollgestellt mit Trends und diesen CO 2-Dreckschleudern. Aber man muß ja sehen, wo man bleibt — in diesen unwirtlichen Zeiten. Oder man hat Omi in diesem lieblichen Fischerdorf belassen und ihm selbst (nicht ihr!) den Rücken gekehrt und ist selber umgezogen in den lichten und luftigen Norden. Der Kinder wegen und so. Also schon in der Stadt geblieben. Der besseren Ausbildungsmöglichkeiten wegen. Auf jeden Fall macht das glaubende oder gläubige Grün am Berliner Tor Station und läßt sich in einer (be-)sinnlichen Pause entzücken von der hochgewachsenen nordelbisch-protestantischen Moderne mit ihren Kursen in der offenen Kirche. Gemeinsamkeit ist eben alles. Deshalb wird heftig bejaht in der Gemeinde. Und länderübergreifend, also zusammen mit den (ein klein wenig) andersdenkenden Nachbarn den Ärmsten unter die Arme gegriffen. Arbeitsplätze (ab-)schaffen. Denn der Mensch definiert sich über seine Arbeit. Er kann schließlich nicht den lieben langen Tag zur Kirche fahren.
Väter. Noch'n Versuch. Subjektivität sucht ihren Platz. Und wohin damit, wenn nicht hierher? Nur hier darf mir der Blut bis aufs digitale Blatt kochen. Ich heb's auf die Frontseite, da's wieder so ein allgemeinplatziges Rumgeballere ist. Ich gedenke auch weiterhin nicht, mich pädagogisch zur Objektivität durchzuarbeiten. Dafür haben wir Eltern. Früher hießen einschlägige Publikationen so. Über sie haben wir uns gerne lustig gemacht (offensichtlich kann man das heute noch, sehe ich gerade). Ich bin ohnehin einer der Untalentiertesten, was die Pädagogik betrifft. Ich habe mit Sicherheit noch sehr viel mehr Fehler gemacht als mein Vater. Er war Jahrgang 1875 und hat mich manchmal gewickelt. Manchmal. Wenn er denn mal da war. Zu meiner Ehrenrettung: Da er zu seiner Vaterzeit noch häufiger unterwegs war als ich zu der meinen, konnte er auch nicht so viele Fehler machen wie ich. Vermutlich habe ich mich deshalb so nach ihm verzehrt und all das als die Liebe eines Sohnes zu seinem Vater interpretiert. Na gut, er war ja wirklich lieb zu mir. Nachgeeifert habe ich ihm dann auch, zumindest was die Absencen betrifft – irgendwas mit Genen entschuldigt man das heute wohl. Was zulasten meiner Mutter ging. Irgendeiner bleibt immer auf der Strecke. Muß nicht, ist aber oft so. Das habe ich aber auch sehr viel später festgestellt. Festzuhalten wäre allerdings auch, daß er es war, von dem ich Zärtlichkeit erfahren habe. Nicht nur beim Windelwechseln. Auch weiß ich von ihm, wieviele Väter seiner Generation das ebenfalls getan haben. Aber eben: nicht so ein Theater darum gemacht. Doch vielleicht lag's ja schlicht daran, daß man sich bedeckt hielt: Denn zu dieser Zeit war ein Mann eben kein Mann, tat er solchen Weiberkram! Mein Vater war berufstätig. Meine Mutter ebenso. Beide sehr angestrengt engagiert oder vielleicht besser: anstrengend, jedenfalls für mich. Ich kannte es gar nicht anders, konnte mir anderes gar nicht vorstellen — wenn ich mir's auch manchmal gewünscht hätte. So zogen wir durch die Weltgeschichte. Sowas kann schon ein bißchen haltlos machen. Von daher meine ich zu wissen, wie man's nicht machen sollte. Zum Beispiel: einen Winzling in eines dieser modernen Transportmittel stecken, auf daß er in völlig ungewohnter Umgebung aufwache, er früh eine Angst davor entwickle, ihm könnte eines Tages ein fremder Himmel auf den Kopf fallen und ihm deshalb später ständig ein diffuser Heimat-Begriff Durcheinander schafft in seinem Kopf. Da er zudem so oft den Aufenthaltsort mit hat wechseln müssen, daß Kinderfreundschaften sich nicht entwickeln konnten. Wie oft habe ich das gehört: «Das ist ja toll, wie sie in der Welt herumgekommen sind!» Ein Kind will nicht in der Welt herumkommen, sondern zunächstmal die eigene entdecken; das Herumziehen kommt später. Aber das alles ist schon wieder ein Thema, bei dem mir Altvorderen die fortschrittlichen Pädagogen vermutlich das Fell über die Ohren ziehen werden. Nicht nur die Pädagogen, sondern durchaus auch die Vorsitzenden unserer globalen Wanderbewegungen, die mehr flexible allzeitige Bereitschaft fordern; nur so lasse sich eine zunehmende Arbeitlosigkeit verhindern. Und so weiter. Na gut, ganz so schlimm ist's bei mir vielleicht dann doch nicht gekommen. Einigermaßen bin ich dann doch noch geraten. Möglicherweise ein bißchen sehr viel anders, als die schon ziemlich alten Alten sich das vorgestellt oder besser gewünscht haben. (Das Alter der Eltern — wieder ein anderes, sicher ebenso diskutierenswertes Thema, hochaktuell zudem.) Irgendwie hat's dann doch geklappt. Aber es kann schon unangenehm lange dauern, bis man das auf der Reihe hat, was Heimito von Doderer in seinen Tangenten mal so notiert hat (und ich hier schon mehrfach zitiert habe): «Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.» Wir alle wissen doch, daß es bei den einen funktioniert und bei den anderen eben nicht. Das habe ja sogar ich mitbekommen im Lauf der Jährchen. Ich bin ja auch so ein moderner Flickerlteppichvater geworden. Und Großvater noch dazu. Mehrfach auch noch. Man lernt eine Menge dabei. Zum Beispiel, sich nicht so wichtig zu nehmen. Leicht gerät man in die Gefahr, in der sich daraus ergebenden Lächerlichkeit umzukommen. Das passiert leicht, wenn man sich die falschen Schuhe anzieht. Nun gut, die einen können's, die anderen eben nicht. Lesen zum Beispiel. Im Blütenstaubzimmer. Aber wer weiß — vielleicht hat mich das alles ja etwas zu sehr mitgenommen, weil ich in meiner «Rolle» als Vater nicht ausreichend Beachtung gefunden habe oder ihr nicht gerecht wurde, und mache deshalb jetzt hier so einen Krawall. Ich geh' jetzt ein bißchen mit einem Enkeltöchterlein spielen. Oder einem der -Söhnchen. Irgendeines der unzähligen Plagen wird doch wachzukriegen sein. Opa will. Jetzt.
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