Tolles Patschnäpfchen Was ich so alles aufhebe. Rostige und verbogene Nägel waren eigentlich bislang nicht unbedingt mein Begehr der Sehnsucht nach dem Guten Alten, Wahren und Schönen. Aber in der hintersten Ecke des Dachstübchens nahezu vergessene Nachrichten, die haben wohl etwas von dem, was irgendwann wieder auftaucht während der Suche nach einem Schatz, den man mal ins Verborgene geräumt hatte, die dort auf ihre Chance lauern, wieder ins Blickfeld der Öffentlichkeit zu geraten, um dann geradegehämmert und anschließend so lange mittels feinstem, mit Diamanten bestäubtem Papier geschliffen zu werden, bis sie wieder glänzen wie frisch aus der Manufactum von Otto und Edlem Halt geben dürfen, zum Beispiel dem mir vorgestern zugegangenen (man kennt sie, die Geschichte vom Teufel und dem Haufen), hochgeschätzten Kunstwerk, das vor zehn Jahren nicht in ein Handbuch aufgenommen wurde, weil die Zahl (der Auflage) unseriös sei: Edition Siegfried Sander, Kassel (heute Multiple Box, Hamburg) * «Obwohl Fisimatenten und Tohuwabohu am häufigsten vorgeschlagen wurden», meldeten am 26. April 2008 gleichstimmig die am Agenturtropf hängenden Tagesschau und vermutlich alle anderen Radiosender sowie Bildungsblätter, «ist der aus dem Ungarischen stammende Tollpatsch zum ‹besten eingewanderten Wort› in Deutschland gekürt worden. Das ist das Ergebnis eines Wettbewerbs des Goethe-Instituts in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Sprachrat. Gemeinsam hatten sie den Wettbewerb ausgerufen, um die ‹schönsten Wörter mit Migrationshintergrund› hervorzuheben.» Das war geradezu ungeheuerlich erneuernd, was einer wie ich da an Neuerlichkeiten erfuhr: Migrationshintergrund. Heute würde ich in aktuellen Bezügen gründelnd rätseln und vermuten, es könnte jemanden gegeben haben, der irgendwas für oder gegen den aus Ungarn stammenden Nicolas Sarkozy gehabt hätte. Doch Wahlkampf gegen einen machen, noch dazu gegen einen, der bereits Monsieur le Président de la République war und für den es zudem noch eine ganze Weile dauern sollte, bis er mit dem oder der Deutschen umgehen würde wie ein an Fisimatenten (Besuchen Sie mein Zelt; Er hat mich eingeladen) und folglich hochgradigem Tohuwabohu erkrankter Tolpatsch, der nichts im Kopf hat als schwänzelnde Milliarden? (Entsteht aus solcher Wirrung gar Liebe? Oder ist das eine aus altersschwachem Samen gezüchtete, gleichwohl von vielen herbeigesehnte europäische Seifenoper titels Merkozyalismus?) Fragwürdige Assoziationen beiseite: Auf jeden Fall erstaunt es mich, daß Herr Goethe so lange braucht, um das Wörtchen endlich durchzusetzen, das unsereins benutzt, seit er die deutsche Sprache erlernt hat, also seit einigen Jahrzehnten. Mit seinem ziemlich langen elegischen Gedicht hat er nicht so lange gebraucht. Doch da hatte ihn schließlich die liebe Notdurft getrieben, genauer, die Kutscher die Pferde von Marienbad nach Weimar. Aber vielleicht war es ja lediglich das zweite l im Wörtchen, das im bedächtigen Zuge der irgendwie womöglich doch leicht schwerfälligen oder auch -gängigen sogenannten Reform der Rechtschreibung aus dem ebensolchen Talpas einen Tollpatsch machte. Wie auch immer: Zu meinem aktivem Wortschatz, der allerdings bereits fünfhundert Wörter leicht übersteigt und deshalb nicht unbedingt über solche PR-Klimmzüge für die wortnotleidende deutsche Nation erhöht werden muß, gehört das schrullig-schöne fremde Wörtchen, bei dessen Lesart manche in die vollstenst tollerant gewordenen Patschhändchen geklatscht haben mögen, schon länger. Ich werde im nachhinein den Verdacht nicht los, die Stiftung Lesen könnte seinerzeit die Gäule angetrieben haben, diese schlimme Roßkutscherin deutscher Großbuchverlage mit dem alternden Leidhengst namens Goethe, von dem noch jeder fallengelassene Apfel ins Blatt oder in den Sender gehievt wird, als ob's ein deutsches Stück Discounterfleisch zum Weichreiten unter einem göthianischen Sattelhintern wäre, wenn es nur mit zu Druckendem zur deutschen Leidkultur zu tun hat. Tolpatsch gehört (wie die meisten anderen preisverdächtigen Termini!) bereits seit Jahrzehnten, also lange vor den Zeiten, als ich begonnen hatte, den Faden durch das Nadelöhr für das Autorenkamel zu fädeln, zu meinem kleinen, aber respektablen Sprachschätzchen; übernommen von der zu Beginn des 20. Jahrhunderts geborenen und der deutschen Sprache wahrlich mächtigen, weil beruflich (auch) von ihr und mehr mit ihr als mit uns lebenden Mutter; doch selbst meinem 1875 geborenen, eher östliches Deutsch sprechenden Vater war dieser also alte Begriff geläufig. Und deshalb wird er genauso auf meinem Dachstübchen der Erinnerung (gänzlich ohne Arbeit) auch so liegenbleiben — so krumm und verrostet er auch sein mag, nämlich in seiner ursprünglichen etymologischen Ableitung ins Deutsche: mit einem l. Tolle Patsche, diese neurechtschreiberischen Sprachräthe im Namen des Herrn Geheimraths, dem Vordenker der Geilschrift. * Rückseitige Beschriftung des obigen Kunstwerkes:
Der politische Analyst Mein inzwischen dreijähriger Henri II, für den ich eigentlich eher eine künstlerische Karriere vorgesehen hatte, plappert mittlerweile von der Schule, in die er mal kommen wird: trilingual (chinesisch, englisch, französisch und, als Nebenfach, deutsch) und privat, weil eine normale gar nicht mehr geht, wie Maman meint. Angedeutet hatte ich es vor einiger Zeit, als mir klar geworden war, daß neuerlich bald ein neues Wort die Gipfel aller Moden erklimmen würde, jenes Olympia, von dem die sprachlichen Himmelsstürmer meinen, es erklimmen zu müssen, um sich ganz oben zu wähnen auf der leicht geplätteten Kugel, die wohl deshalb in ihrer Form global genannt wird. Vorgestern nun war es endgültig: Da erzählte mir geistig Minderbemitteltem eine Fernsehreportin des aktuellen Tagesgeschäfts vom «politischen Analyst», der Professor sei an einer bayerischen Universität. Ein Politikwissenschaftler als politischer Analyst. Vielleicht lag's ja daran, daß er über Euro und Krise und Weltwirtschaft und die Möglichkeit sprach, irgendwelche Hebel zu nutzen, um anderen die Börse aufzustemmen, also über Blasen redete, die zu produzieren wahrlich nicht nur Angehörige der sogenannten Finanzmärkte in der Lage sind, weil sie nicht wissen, worüber sie konfabulieren, sondern auch Journalisten, deren Sprachvermögen an den heutigen Schulen mittlerweile offensichtlich auf einen kleinsten, aber auch wirklich von jedem (nicht) verstandenen gemeinsamen Nenner eingedampft, ja zu Tütensuppenstaub totreduziert zu sein scheint, so daß sie sich von anderswoher Begriffe ausleihen müssen, die alles zulassen, nur keine sprachliche Viefalt. An die Wortführer aus der Welt der Finanzen haben die Deutschen sich längst gewohnt, wie sie sich eben an alles gewöhnen, was von drüben kommt. Nein, nicht dieses Drüben, wohin derjenige gefälligst gehen sollte, der geäußert hatte, daß ihm dieses oder jenes nicht passe. Das Drüben von der anderen, sozusagen der Gegenseite, wo alles herkommt, das gut ist, quasi wie ein warmer Regen, der Gewinn verspricht. Von den Brüdern und Schwestern aus dem wilden Westen nämlich, die den Deutschen aus reiner, christlich-altruistischer Mengenlehre so kostbare Güter wie Marshall-Plan und Care-Pakete via Rosinenbomber bescherten, ohne die sie vermutllich mindestens so arg am Hungertuch genagt hätten wie die aus dem Osten, die schier ohne Ende Reparaturleistungen abzuführen hatten und sich ohne Westkredite höchstwahrscheinlich um einiges früher im Schmieröl blühender Landschaften hätten suhlen oder eben eine sibirische Provinz werden dürfen. Mit diesem Gewinn wurde es ihnen schließlich möglich gemacht, (sich) zu behaupten, etwa: an ihnen solle die Welt, zumindest Europa genesen, beispielsweise durch eine erfolgreiche Politik des Exports, bedingt durch das Absenken realer Löhne und Erhöhung zu erbringender Leistungen. Daß Deutschland 1953 entschuldet werden mußte, unter anderem durch Griechenland, davon wird zwar immer wieder mal geredet, aber die meisten hören nicht zu. Wie bei fast allem, das sie unmittelbar betrifft. Oder ihr Leidbild ins Wanken bringen könnte. Was ist das für ein Land, das immerfort von sich behauptet, eine Nation von Kultur, nicht im Sinne von Landwirtschaft, sondern eher französisch im Sinn von Civilisation (die Suchmaschine scheint, zumindest an vorderster Sprachfront, allerdings nur ein Computerspiel dieses Namens zu kennen), also weniger von Martin Luther als von den Encyclopédistes zu sein, und dabei ständig die aus einem anderen importiert, die das Überflüssige zum höchsten Gut und alles andere für schlecht, weil, beispielsweise, kommunistisch, erkärt hat? Weshalb sprechen die Deutschen, zum anderen Beispiel, eigentlich nur noch von Technologie, wenn Technik gemeint ist? Und wundern sich, wenn sie, wie bei ihrer Tütensauce aus garantiert nichtnatürlichen Zutaten, daß es Unterschiede gibt zwischen Ingredienzien. Klar, die kennen sie nicht (mehr). Die erste ist nämlich die Lehre von der zweiten. Bei den fortschrittlichen Brüdern und Schwestern aus dem wirtschaftlichen Westen ist das ein Klumpatsch. Und so schmeckt der sich modern gerierende, alles wesentliche abstrahierende Sprachbrei auch. Gefragt wurde ein politischer Wissenschaftler nach seiner Meinung zur ökonomischen Situation Europas. Da Europa nach Meinung der wohl meisten Deutschen ohnehin nur noch eine Sprache zu sprechen scheint, jene, die einst vom sogenannten alten Kontinent kam und im gewinnenden Westen ohne historischen Zeitbezug endgültig auf einen Begriff, auf den des Schnellfraßes eingedampft worden war, nimmt man das, was schneller geht, was kein weiteres Nachdenken erfordert: das vereinfachende Vereinfachte. Ein vor die Kamera gebetener Experte redete davon, die «Bewegung» (siehe Delius' Unterscheidung zwischen dem 68er-Singular und Plural) in den nordafrikanischen Ländern oder die von den neunundneunzig Prozent beziehungsweise einem seien von Intellektuellen forciert. Im Nebensatz fiel der Begriff Gebildete. Genau das ist es, zu dessen Unterscheidung ich mich hier und anderswo vielfach geäußert habe: Bildung, so wie sie heutzutage verstanden wird, hat mit der Fähigkeit, zu unterscheiden, ein eigenes Denkgebäude entwerfen zu können, wenig zu tun. Intellegere bedeutet: wahrnehmen und erkennen, abwägen zu können zwischen dem Denken des einen oder der übernommenen Schablone des anderen, das eigene Wissen mit einzubringen und daraus eine eigene Meinung zu formulieren. Daß es dabei zu Übereinstimmungen mit der anderer kommen kann, steht außer Frage. Aber derjenige, der lediglich zur Steigerung des Bruttosozialprodukts (seit etwa der Jahrtausendwende Bruttonationalprodukt) nicht einmal mehr 333 als Issos Keilerei auswendig lernt, der mag, sollte er's dennoch tun, vielleicht ahnen, daß sich seinerzeit da irgendwo in der damaligen zivilisierten Welt mal wieder einige die Köpfe eingeschlagen haben, mag sein aus Macht- und Ruhm-, damit verbunden wohl Gewinnsucht, aber er weiß deshalb noch lange nicht, warum sie's tatsächlich taten. Er mag also vielleicht das Angebot kennen, auf welchen Märkten für ihn eine Markenzukunft angeboten wird, aber Merkmale zur Unterscheidung hat er deshalb noch lange nicht gelernt, die ihn befähigen könnten, zu differenzieren zwischen schwarz und weiß, zwischen gut und schlecht, als Gottesanbeter möglicherweise noch zwischen gut und böse. Nun gut, ich mag das sein, was andere einen Sprachnörgler nennen. Zwar kann ich der Argumentation durchaus nickend folgen und gar bestätigen, daß auch das geschriebene Wort sich dem gesprochenen anpaßt, Wandlungen unterworfen ist. Auch Rezepte ändern sich. Aber mir ist es eben keineswegs wurscht, was in der Sauce oder Suppe enthalten ist, ob trockene, getrocknete Knochen, bald auch noch synthetisch rein hergestellt, oder tatsächlich Fleisch. Gut, möglicherweise wird mir demnächst das zu essen verboten, weil es nicht mehr korrekt ist, nicht mehr den Moralvorstellungen «gebildeter» Menschen entspricht. Ich hingegen habe bereits vor zwanzig und mehr Jahren, als der Konsumterror und das Billigheimerdenken sich zur Paarung entschlossen hatten, gewußt, wie schädlich Übermaß, Überproduktion sein kann. Aber solange noch ein Rest an Geschmacksnerven in mir sind, will ich schmecken, was dran und drinnen ist. Solange heißt der «Analyst», meinetwegen, so, weil der ohnehin ein-, gar weggedampft gehört. Der politische Wissenschaftler ist jedenfalls, wenn denn überhaupt dazu fähig, allenfalls ein Analytiker. Es sei denn, mein persönlicher Psycho überzeugt mich nach einem meiner nächsten Sprachwutbürgeranfälle auf dessen Couch liegend davon, auch er sei ein solcher. Dann bin ich allerdings dort, wo vor gut zwanzig Jahren die DDR war, die Globalisierung genannte Raserei einsetzte und mittlerweile auch das gesamte Deutschland zu sein scheint: sprachlos.
Sprachwu(r)st und Analogkäse Käse wird mitterweile nicht nur auf der Alm via Edelstahl sündenfrei produziert, sondern auch im tiefen Jammertal der Medien massenhaft geredet. Zwar bin ich mittlerweile an einiges gewohnt, aber dennoch zucke ich immer wieder zusammen, wenn selbst in öffentlich-rechtlichen, also in gewisser Weise sprachlich an klare Standards gebundene Spartenkanälen oder sogenannten Einschaltprogrammen wie denen von Arte, 3Sat, Deutschlandradio Kultur und so weiter Wörter falsch oder zumindest in zweifelhafter Anwendung eingesetzt werden. Das brachte mich vor ein paar Wochen zu der Überlegung, bestimmte Begriffe aus meinem öffentlich geäußerten Wortschatz zu streichen oder nur noch apostrophiert anzuwenden. Kreativ wäre da zu nennen, meist dargeboten als Feld-, Wald- und Wiesenstrauß diffusen Werbe- oder Polit-PR-Geschwurbels, ein Wort, so analog wie das, das ungestraft Käse genannt werden darf (wobei selbst bei «echtem» zur Authentifizierung häufig noch die Kuh mit aufs Bildchen der Plastikverpackung muß, die noch nie Gras gesehen, geschweige denn gefressen hat). Ein weiteres Beispiel, das mir vor ein paar Minuten aus dem Kulturradio kreischend ins Gehör sprang und dort detonierte, ist abstrakt. Es ging, wie anders, um eines der vielen neuen Glaubensbekenntnise, die ihre Mißverständnisse aus den Katechismen des Marktes nähren: dem der bildenden Kunst. Eine Kunstkritikerin belehrte den Einschalthörer eindeutig über den Unterschied zwischen abstrakter und figurativer Kunst. Vor einiger Zeit habe ich hier bereits einmal den Versuch unternommen, auf die Verwaschenheit solcher Begriffsbestimmungen hinzuweisen, die in ihrer Klarheit eigentlich leuchten müßten wie das Weiß von Frau Clementine. Abstrahieren heißt nichts anderes, als das Unwesentliche vom Wesentlichen (oder umgekehrt) zu trennen. Abstraktion bezieht sich folglich nicht alleine auf Geometrie oder Konstruktion, sondern durchaus auch auf Figuration, das gegenständliche Bild, beispielsweise auch auf das von Herrn Rauch. Es ging um diesen von mir bekanntermaßen nicht übermäßig geschätzten Hochpreisungsmaler. Der äußerte, als er noch im Dienst, also noch Lehrer oder, meinetwegen, Professor an einer Hochschule war, sich mal insofern besonders fachmännisch über einen Bereich, der, lies oben, gemeinhin der Abstraktion zugeordnet wird, der konkreten Kunst. Eines ihrer Bilder, meinte dieser qualmvoll nebulöse Neonarrativist auch noch, sei wesentlich schneller zu malen als eines aus der Gattung Realität. Darauf erteilte Wieland Schmied ihm in einem Branchenblatt gewohnt höflich, aber auch bestimmt und fachlich Nachilfe. «Eines bedenkt Neo Rauch nicht: Ein abstraktes Bild (nicht unbedingt geometrisch-konstruktiv, nicht unbedingt Hard Edge) mag zwar als solches schneller ‹ausgeführt› sein als ein realistisches, das viele Details und kunsthistorische Anspielungen enthält, die penibel gemalt sein wollen. Aber die ‹Vorbereitungszeit› ist viel länger. Damit meine ich nicht, dass etwa Sam Francis stundenlang vor einem Bild, einer Leinwand, einem Lithostein unbewegt verharren, meditieren, ‹sich sammeln› konnte — um das Bild dann konzentriert in großer Geschwindigkeit zu realisieren. Damit meine ich vielmehr das langsame, lange Zeit währende Suchen nach dem ‹inneren Bild›, zum Beispiel bei Ad Reinhardt, Josef Albers, Barnett Newman, aber auch bei Mark Rothko. Dazu eine Anekdote: Eines Tages kam ein Besucher (ein möglicher Käufer) zu Mark Rothko ins Atelier, sah eines seiner ‹wolkigen› Bilder, eine rote oder violette Fläche mit unscharfen Rändern über einer orangenen oder dunkelblauen oder schwarzen Fläche als ‹Grund›, und fragte: ‹Sagen Sie mal ehrlich, Meister, wie lange haben Sie dafür gebraucht?› Mark Rothko überlegte einen Moment, dann sagte er: ‹Genau 58 Jahre›».Die fünf Minuten sind um. Jetzt muß ich die Beine wieder hochlegen. Beispielbildchen: Romain Finke und Robert Jacobsen (auch Jakobsen), beide Privatbesitz; Photographien: © Jean Stubenzweig
Größter Anzunehmendster Unfall der deutschen Sprache ist er vielleicht nicht, der Super-GAU, aber er haut ihr knallgasigst den Deckel vom Kraftwerk. Denn er ist ebenso in keinster Weise richtigst wie die AKWs, für die man mindestens so viele Lastkraftwagens benötigst wie weiland in der Ukraine, um den strahlendsten Superlativstmüll abzutransportieren, die diese optimalst auf (Fehler-) Teufel-komm-raus-Anglisiererei hinterläßt und deren Dauerenergieabgabe kein noch so größtmöglichster Sarkophag verhindern wird. Dieses an absolutest sicherste deutsche Atomkraftwerks angehängste englisches Plural-s gehört offensichtlichst dazu wie bei den Digital Versatile Discs. Auch scheint eine vermeintlich anglische Super-Krone das bereits Höchstmöglichste zu adeln, nachdem die kleinstfränkische Steigerung trotz allertiefstenst Bemühens um faustische Juristerei auf der Strecke geblieben ist. Das Deutsche an sich ist ja nun auch wirklichst die unpräziseste Sprache überhaupst. Mir bereitet das soviel Schmerz, daß sogar ich mich in die Kürze flüchte.
Geteiltes Leid Zwar hängt alles mit allem zusammen, aber der Adel soll jetzt in Ruhe seiner Asche frieden. Jedenfalls hier. Nun ja, ich weiß nicht so recht, geschätzter gonzosophischer Genosse, vielleicht nicht so sehr das Leid als vielmehr der Verdruß über die Schlampigkeiten und deren Folgen, die wir Politiker und Medien gleichermaßen zu verdanken haben. Wobei ich nach wie vor unsicher bin, wer da zuerst gekräht beziehungsweise nachgeplappert hat — der homo politicus oder der den homo ludens spielerisch interpretierende Autor. Es gibt ja nicht eben wenige, die das unter Sprachwandel zusammenfassen, während ich das für einen nachlässigen und nicht etwa -haltigen, teilweise recht beschönigenden, also zeitgemäß oder -geistig kosmetisch-chirurgischen Umgang mit dem geschriebenen und im Anschluß gesprochenen Wort halte, auch ließe sich sagen und schreiben: deren Entsorgung. Man schmeißt die Sorge auf den Müll, Wörter könnten eine bestimmte Bedeutung haben und präziser sein als hohle Worte. Das Laubacher Feuilleton hat das in den neunziger Jahren immer wieder aufgegriffen, weil die große Runde der Dilettanten sich durchweg einhellig wunderte, was da alles so herauskam, wenn man die Zeitung aufschlug oder das Radio- oder auch das Fernsehgerät einschaltete. Ob es dieses vor Ort war, das aus dem Bergbau stammt und allerdings bereits lange vor dieser sich abzeichnenden Entwicklung Einzug hielt in eines Politikers Mundwerk, der das Gewerk unter Tage lediglich von Besuchen in Polen kennen dürfte (meines Wissens war er es, der diesen Begriff während der über Tage stattfindenden hamburgischen Sturmflut von 1962 bundesweit einzuführen versuchte, dabei allerdings mindestens dreißig Jahre warten mußte, bis er sich durchzusetzen begann). Ich selbst habe das lange Zeit redigiert und Autoren benachrichtigt, sie unter anderem darauf hingewiesen, daß wenn die Feuerwehr sich vor Ort befinde, den Brand nicht gelöscht und sie gleich gar nicht nicht gerettet kriege, wenn sie nicht hineinfahre in den Ort. Es hat nichts genutzt, diese sprachliche Kurzärmeligkeit hat sich ebenso nachhaltig ausgewirkt wie diese ganze Anglisiererei, die besonders grundiert in den hamburgischen Hanseaten verankert ist, die sich den Angeln und den Sachsen historisch nunmal verbundener fühlen, ob das nun Sinn macht oder ergibt oder sinnvoll ist oder man das korrekt erinnert, beispielsweise das mit dem Denken. Begierig wird letzt- oder schlußendlich alles geschluckt, was wenigstens ein bißchen einen schicken Geschmack hat. Das schließt den AKüFi mit ein, denn es klingt nunmal rasanter, von Doku oder Info et cetera zu sprechen und unterstreicht zudem die eigene Wichtigkeit, denn heutzutage will schließlich jeder keine Zeit mehr haben, weil auch er soviel zu tun haben will wie diese ganzen Leute aus den bunten Blättern, die im Wartezimmer der Arztpraxis herumliegen, in dem sie sich, wie Frau Braggelmann mir erzählt hat, lieber aufhalten als zuhause, weil's da so langweilig ist. Nun gut, nennen wir's, meinetwegen, Sprachwandel. Aber es geht mir zusehends auf die Nerven, wenn Menschen, die bislang in der Lage waren, plastisch und anregend von ihrem Alltag in der Tischler- oder Fleischerei zu erzählen, mit einem Mal im Hofladen hinterfragen müssen, was denn das Huhn aus dem Freilauf für in die Suppe nochmal gekostet hat. Ich kann nur ahnen und vermuten, wer oder was dahintersteckt, wenn eigentlich genügsamen Menschen solche pseudoakademischen Sprachflöhe ins Ohr gesetzt und die von denen dann logischerweise auch benutzt werden. Dabei haben sie das nicht unbedingt aus dem Blatt mit den vier Buchstaben, dem man nicht entkommt, liegt es doch wirklich auf jeder Brötchen- oder Wursttheke, sogar auf der des biologisch orientierten Dorfkramers. Selbst aus Blättern oder Radio- und Fernsehsendungen, denen wenigstens sprachlich eine gewisse Qualität nachgesagt wird, quellen solche Sprachverunfallungen längst zuhauf hervor. Lieschen und Fritzchen saugen es begierig auf, von Bedeutungen nichts ahnend, weil es in der Schule nicht (mehr?) vorkommt und ohnehin das Internet seit Mitte der Neunziger für die Alphabetisierung der Gesellschaft zuständig ist (ganz unten im Text). Denn auch Frau Dr. Müller, das ist angesichts mancher Lektüre meine Erkenntnis, plappert längst genauso unsortiert vor sich hin. Wahrscheinlich hat auch sie keine Zeit mehr gehabt, ihre Dissertation vor Abgabe zu lesen. «Die Menschen seien nicht dumm und hätten ein feines Gespür dafür, worauf es [...] ankomme.» Eine solche Sprechblase hätte auch ein Politiker von sich geben können, am ehesten noch oder am liebsten im Zentralorgan der deutschsprachigen Bildungspolitik.
Vom kalten Spaltenfüllen erzählte ich nebenan bei der immerwährend kopfschüttelnden und rührenden Dame. Wie ich meinen Kontrollmechanismen entnommen habe, interessieren sich einige für das Thema. Es kann allerdings auch die Lust an noch mehr Knigge gewesen sein. Doch mit dem geht man heutzutage schließlich nie fehl. Da ich also mal wieder im nachhinein nachgedacht habe, kroch durch meine organische Festplatte der Gedanke, vielen könnte der Begriff aus dem Holzmedienchinesischen möglicherweise doch nicht so geläufig sein wie zunächst vermutet. Deshalb trage ich als in den siebziger Jahren mal fest bestallter kalter Spaltenfüller mit Option auf Nachrufe zu Lebzeiten das, auch wegen des einnehmenden kostbaren Platzes, hier nach. (Sollte ich der irrigen Annahme unterlegen und der Sachverhalt dennoch bekannt sein, dann lassen Sie bitte Gnade walten, liebe Kopfschüttlerin. Aber auf jeden Fall dient die Erklärung dann der allgemeinen Aufklärung, der ich als Zeitgenosse Oswald Kolles mich verpflichtet sehe.) Wird eine Zeitung gestaltet, entstehen des öfteren Löcher, die aufgefüllt sein wollen. In heutigen Zeiten hat das in der Regel einen einfacheren Verlauf, da sich mehr Bilder in den Blättern befinden, die man beliebig vergrößern oder verkleinern kann, so daß entstehende «weiße Flecken» im Layout auf diese Weise ausgeglichen werden können. Entstehen können die allerdings auch dann, wenn ungeplant eine Celebrität oder anders auf sich aufmerksam gemacht habende Person des öffentlichen Lebens vom Himmel kommt oder aber längst nach Anzeigensschluß doch noch eine mit Gewinn winkende Reklame reinkommt, die die alteingessene Verlagsleiterin oder der allzeitbereite alerte Chefredakteur bei der sonnabendlichen Benefiz-Veranstaltung Verlegernachwuchs in Not des Interessenverbandes aus dessen Taschen oder auf dem After Working Seminar Die Elite kniggt nicht ein, veranstaltet vom in den Konzern eingebundenen Partnerschaftsunternehmen, aus dem tiefen Herzen geleiert haben. Das Verhältnis zwischen redaktionellem Anteil und Anzeigenaufkommen ist qua Kodex vorgegeben bei einer auflagengeprüften Zeitung. Wenn man das heutzutage auch nicht mehr allzu genau nimmt und der Teufel in der Not auch schonmal eine PR-Fliege der chemisch-pharmazeutischen vulgo Lebensmittelindustrie zum redaktionellen Greif umformuliert. Der Presserat, nicht zuletzt wegen ständiger Verquickung von Werbung und journalistischen Inhalten, aber auch anderer Kollateralschäden zu Lebzeiten Lieblingsfeind von Hans Pfitzinger, hatte als Tiger irgendwann alle Zähne verloren. Früher war man mangels lustigen und häufig teureren Bildchen gezwungen, diese Krater mit billigem Text aufzufüllen. So mußten (und müssen bisweilen noch) die Damen und Herren in den Redaktionen, meistens diejenigen, die laut Plan den aktuellen Dienst kurz vor Drucklegung schieben, hier und dort einige Füllwörter einfügen. Ist das Loch zu groß, friemeln sie auch schonmal eine die Seite füllende Belanglosigkeit aus dem sogenannten Stehsatz ein, also in der Schublade auf ihren Einsatz wartende Texte, oder dichtet schlicht etwas hinzu. Dann hat man kalt Spalten gefüllt. Das ist dann das, was die Nachbarin zu Recht als liderlich bezeichnet. Wenn es in unserer schönen neuen bunten Welt derart auch kaum noch wahrgenommen werden dürfte. Photographie: Transatlantikblog (CC)
Pisa und Bologna, Rom und Mekka In meinen jüngeren Autorenjahren, da meinte mir gegenüber ein erfahrener Redakteur als höfliche Reaktion auf meinen leicht bürokratisch verklausuliert geratenen Bericht für die Hörermassen des Rundfunks, ich solle es doch besser vielleicht mal als Lehrling bei der Presseabteilung mit dem Ziel eines -sprechers des Bauernverbands versuchen. Das versetzte mir einen derartigen Hieb in die Mördergrube, daß mein Herz davonlaufen wollte. Ich hielt es fest und nahm mir vor, über meinen Leisten zu springen. Ich landete in einer Flickschusterei, die man heute vielleicht als Life-Style- oder auch Arsch-und-Tittenblatt bezeichnen würde. Dort lernte ich Texte schmieden, solange, bis sie heiß wurden. Dann ging ich wieder zurück zum Radio und wurde Redakteur und Autor. Dort schreibt man aber völlig andere, eben ins Ohr gehende und keine verschrobenen Texte, die man zweimal lesen muß; die Welt ist schließlich so zeitlos geworden. Daraufhin bin ich zurück in die Branche, derentwegen man heute auch schonmal angeklagt wird, man sei mit Verursacher der Grünen; davon, daß Bäume vermehrt in Kuscheligkeit produzierenden Öfen landen oder anderen, tiefergelegten Baumaßnahmen weichen müssen, wird in solchen Fäällen eher weniger gesprochen. Unverdrossen machte ich also weiter, gab in der beruflichen Zeit den Überwacher von Büchern und machte in der freien Zeitung. Für alle Zeit geblieben ist mir, nie Pressetexter für den Bauernverband oder Quotenjäger werden zu wollen.* «Manche», schrieb Roland Barthes in seinem Le Plaisir du Texte, «wollen einen Text (eine Kunst, eine Malerei) ohne Schatten, der getrennt ist von der «herrschenden Ideologie»; aber das wäre ein Text ohne Fruchtbarkeit, ohne Produktivität, ein steriler Text (siehe den Mythos von der Frau ohne Schatten). Der Text braucht einen Schatten: dieser Schatten, das ist ein bißchen Ideologie, ein bißchen Darstellung, ein bißchen Subjekt: notwendige Geister, Luftblasen, Streifen, Wolken: die Subversion muß ihr eigenes Halbdunkel hervorbringen.» Multikulti ist tot, heißt es. Ich bin gegenteiliger Meinung, war immer, auch aus eigener Erfahrung, ein Befürworter der Bastardisierung der Menschheit, da sie frisches Blut in sklerotische Domaines bringt. Wir, die einen früher, die anderen später, sind weltweit seit Jahrhunderten ein einziges Konglomerat, nur die gesellschaftlich Zurückgebliebenen oder an den Rand Gedrängten leiden unter den Defiziten, die ihm die (mittlerweile) vermeintlich Gebildeten oktroyiert haben. Wer gelernt hat, so zu lesen und zu schreiben und zu hören, daß ihm auch Zwischentöne nicht nur nicht entgehen, sondern auch als der Gesang der Sirenen in seinem Gehör ankommen, der wird wissen, daß sogenannter Klartext ihm häufig als ein monokulturelles, beruhigendes Kardinalsmäntelchen über den Kopf gelegt werden, das ihn bereit machen soll, so zu funktionieren, wie andere das wünschen. Gegen alle diese (Rechtschreibhör-)Schwächen hilft nur eines: über die Türme von Pisa und Bologna, Rom und Mekka hinaus zu schauen, von denen zu lernen, die das Denken, nicht das Glauben erfunden haben. Das waren nicht unbedingt diejenigen, die den geleerten Knast von Paris gestürmt haben, gedacht hatten bereits zuvor ein paar andere. Gut, das hatte Folgen, nicht nur für Europa. Aber wir können gut und gerne noch einige Jahrhunderte oder auch Jahrtausende in der Geschichte zurückgehen. Dann landen wir am Ende bei denen, die das Rad und noch ein paar andere nützliche Dinge mehr erfunden haben, auf die wir uns heute stützen, wenn von Wirtschaftswachstum die Rede ist. Dessen Erfinder und Erdenker aber, die wollen wir allesamt nicht haben bei uns, denn das sind allesamt Wirtschaftsflüchtlinge, die obendrein unser Blut durcheinanderbringen, unser edles, reines, rassiges. * Ich bin Ihnen beiden sehr verbunden, daß dieses Streben nach vierzig Jahren angekommen ist, wahrgenommen wurde. Mein Dank sagt Ihnen: Lieber klein und wenig als reine Masse und nach draußen drängende Übersättigung.
Mein (verlorener) Kampf Als noch nicht die ganze Welt im Zwischennetz gefangen war. Angeregt durch eine Anmerkung von Herrn Nnier zu diesen Jahres war ich archäologisch tätig geworden und bin während meiner tiefschürfenden Forschung nach der Vergangenheit von Sprache über ein paar Bruchstücke meiner eigenen gefallen: Ich war als Junge für alles über längere Zeit unter anderem als Lektor oder auch Redaktor tätig, und etwa fünfzehn Jahre später war ich von der sich zusehends verlängernden und erweiternden Sprachpotenz immer jünger werdenden Autorinnnen und Autoren derartig überwältigt, daß ich begann, Rundbriefe an die Autorenschaft zu versenden. Es war ein leichtes, das Internet hatte gesiegt. Weshalb ich es auch bald wieder aufgab, an die Liebe zur Sprache zu appellieren; mittlerweile bin sogar ich selbst völlig verschludert und zerlumpt. Hier also für Liebhaber des Schmunzelns über Puristereien ein paar Tonscherben aus den (Un-)Tiefen einer verlorenen Liebe. Um den Trümmerhaufen nicht überhand nehmen zu lassen, greife ich als «Sprachpfleger» (so wurde früher im Bayerischen Rundfunk der Blockwart mit dem Rotstift genannt) nach und nach in die Güllegrube. Ein Nadelöhr für das Autorenkamel Stand: 07.10.2001 9:21 Zur (hausorthographischen) rechten Schreibung und typographischen Formatung et vice versa ein Vademecum, andere würden einen Cicerone bemühen — mit einer Anmoderation von Albrecht Fabri: «Erörterung ist Komplement, und nur doch dem Inkompletten gegenüber hat das Komplement eine Funktion; auch das wiederum drückt sich im Sprachgebrauch aus. Die französische Redewendung ›trouver à dire à quelque chose‹ besagt soviel wie: eine Sache unzulänglich, an einer Sache etwas auszusetzen finden.Aus: Zur Theorie der Kritik, aica-Schriften zur Kunstkritik, Bd. 10, Köln 2000 Es gilt grundsätzlich die alte Rechtschreibung, auch in Groß-Kleinschreibung sowie Interpunktion. Veränderungen in unserer Hausorthographie werden (wenn überhaupt) schrittweise vorgenommen, um im Lauf der Zeit eine sinnvolle (was auch immer das sei) Annäherung an neue (?) Standards zu erreichen. • Auf jeden Fall völlig unsinnig ist, genauer: jeder angestrebten Vereinfachung zuwider läuft die neue Regelung ß/ss. Deshalb haben wir — auch, um andersprachigen Publizisten das Zitieren zu erleichtern und ihnen die Quälerei des ß abzunehmen (allein die Suche auf der Tastatur!) — dieses ß zur Gänze getilgt. Es gilt also grundsätzlich das Doppel-ss, auch wenn drei hintereinander stehen wie bei ‹Genusssucht›. Wen(n) es zu arg schmerzt, dann ist auch ein Bindestrich zulässig (was, in ihrer Wankelmütigkeit, sogar die Neudeutsch-Kommission «empfiehlt»), etwa: Genuss-Sucht. Nicht vorenthalten werden soll ein Leserbrief der Süddeutschen Zeitung vom 1. September 2000. Hans Joachim von Hopffgarten aus Homberg merkt an: «Mir ist keine europäische Sprache bekannt, in der in einem Wort drei gleiche Konsonanten, wie jetzt in Schifffahrt oder Betttuch, folgen. Ich kann daher eine Reihe von Autoren verstehen, die in ihren Werken diese bildliche Schriftentstellung der Reformer nicht mittragen wollen.» Der neueste Stand am 17. Oktober 2001: Nach vielfacher und erheblicher (berechtigter) Kritik an der neududendeutschen ß/ss-Schreibung haben wir unserer oben beschriebenen hausorthographischen Variante den Garaus gemacht. Völlig zu Recht entgegnet S. D. Sauerbier (stellvertretend für viele), wir müßten schließlich die Schreibweisen anderer Sprachen auch akzeptieren; und wer, wie der Erstleser, die französischen Accent aigu, Accent grave et circonflexe diese Sprache für die der Liebe schlechthin hält, kann dem, wenn auch mit allem möglichen knirschend, nur zustimmen. Also: aus ist's mit der Spaß-Sucht oder des Spaßes Sucht nach noch mehr s wie Spasssucht, es heißt wieder wunderbar schlicht Spaßsucht. Mit sofortiger Wirkung kommt das gute alte ß wieder in den Produktionsablauf zurück. Mit sofortiger Wirkung getilgt ist auch die nachfolgende Regieanweisung: «Voll der Widersprüche in uns haben wir eine Konzession an die Kommission gemacht: Aus der Phantasie machen wir den fantasielosen Elefanten.» Der Elephant erhält seine Phantasie zurück! • Städte- bzw. Ländernamen sind Eigennamen und werden bei uns entsprechend respektvoll behandelt, also nicht, wie mittlerweile üblich, Romplakat, sondern Rom-Plakat, nicht Frankreichurlaub, sondern Frankreich-Urlaub; bei einem solchen denkt man auch sehr viel eher an die 13,5 Prozent eines 89er Chateau Laroque Grand Cru von Alexis Lichine aus Saint Christophe an den St.-Emilion-Côtes (wo man 1996 zum Grand cru classé aufgewertet wurde); überdies dient es auch einer besseren Lesbarkeit (um die es der von einem Massen-Chianti beseelten Neudeutsch-Kommission ja angeblich geht, der durch die Sozialkanailleisation gepumpt wurde). • Eigennamen: Hierbei ist unbedingt darauf zu achten, daß die jeweiligen Akzente (s. o.) eingehalten werden; ausgenommen bei Namen von Personen, die selbst einer international besseren Lesart wegen ausdrücklich darauf verzichten. In keinem Fall darf geschehen, was im (eigentlich — zumindest annähernd — deutschsprachigen) Österreichischen Fernsehen und mittlerweile auch in unserem Privat-TV üblich ist und vermutlich mit einer nachgerade überzeugungstäterischen dämlichen Ehrfurcht der österreichischen Sportreporter vor den US-amerikanischen Kommentatoren bzw. deren Unfähigkeit einhergeht, Umlaute zu sprechen, da sind: Hakkinen statt Häkkinen (andererseits und seltsam: do you häve enough money geht doch auch). Also, denn wir haben schon genug Germslang (so Hans Pfitzinger in der Guten Alten Zeit des Laubacher Feuilleton): entweder deutsh oder inglish. Hierzu auch eine Strophe aus einem der pointiertesten Poeme, die der Erstleser gelesen hat, seit er lesen kann. Claus Koch, dieser von der Süddeutschen Zeitung acht- und ziellos über Bord geschmissene Rettungsring für eine vom Absaufen bedrohte (Schreib-) Kultur, meinte in seinem brillanten Essay Der Inländer: «Wer mehrere Sprachen spricht, wird sich schwerlich als Inländer seines Landes eingeengt fühlen. Weil er das Glück hat, weniger Identität zu besitzen, kann er sich besser amüsieren, wo es auch sei. Aber es ist nun einmal so, daß die Mehrheit der Inländer in allen Ländern keine Fremdsprachen beherrscht und daß die Zahl der Sprachkundigen trotz der gewaltigen Reiserei nur wenig zunimmt. Das Englische zählt dabei nicht. Denn wenn es auch von sehr vielen benutzt wird, so doch nicht als eine Sprache, sondern als eine vorzivilisatorische Verständigungstechnik, mit der man wenig versteht. Keine Sprache wird ja so sehr mißhandelt wie das Englische von den unzähligen Ausländern, die in ihrer Unverschämtheit meinen, sie seien dadurch nicht so inländisch.» Fortsetzung folgt (eventuell).
Münsterlyche Lyrik Schweden hat den Elch. Seit langem wird er nicht nur von den ganz Jungen besungen, sogar der jüngere Teil der Älterngeneration schleppt besonders gerne Töchterleins ins Reich der vier Buchstaben. Das Münsterland hingegen hat den Hirsch. Und er ist trotz seines Alters nicht totzukriegen. Seit 1959 wird er beklungen; Reim hin, Reim her. Einer der Sänger ging vor ein paar Jahren in Rente, und wie das so ist im Pensionärsdasein: Man hat zuviel Zeit, und da man schließlich den ganzen Jungdynamischen ohne Zeit, die zeitlos zu nennen deren Status sicherlich nicht so recht treffen würde, nicht ständig den eiligen Weg zur Kassiererin des Supermarktes oder in der dreißiger-Zone von A nach B versperren möchte, bleibt man zuhause und spielt ein bißchen Web 2.0. Derjenige, den ich konkret meine, hat offensichtlich die Hektik als ehemaliger WDR-führender öffentlich-rechtlicher Nachrichtenübermittler drangegeben, er hat sich, wie ich auch, der Erinnerung hingegeben und sich Zwo Null bemächtigt. Walter Vitt heißt er, und ich habe ihn in den Neunzigern kennengelernt als einen, der wie kein anderer auf Sitzungen Kunstkritikern, denen das Engagemeng theoretisch emphatisch aufflatterte oder damit auch entglitt, in die Welt der Tagesordnungen, nenne ich sie mal Wirklichkeit, zurückholen konnte. Im nachhinein frage ich Langsamdenker mich allerdings, ob er mit uns nicht doch ein wenig DADA praktiziert hat, als dessen Kenner er via Johannes Theodor Baargeld wirkt. Nun hat er nach beinahe zwanzig Jahren einen Nachfolger als Präsident. Aber ob der so dada sein kann, warten wir's ab; ich würde es aus Altersgründen nennen: lassen wir's sein. Zumindest ist er noch zu kurz im Amt, das aber ohne jeden Zweifel sein muß; ich würde an so etwas verzweifeln, alleine an der Tatsache, daß es die sogenannte Meinungsvielfalt gibt, der als Dirigent Rechnung getragen werden muß. Walter Vitt hat sich also erinnert an seine Zeit, als es noch Studentenzeitungen titels Semesterspiegel gab, die vermutlich das spiegelten, was mit Bachelor in sechs Semestern eher weniger zu tun hatte, sondern allenfalls geistige Verbindungen zu meinen zwei frühen jungmännischen, von Unentschlossenheit geprägten herstellt, die mit dem Assi im Keller endeten, beim Tischtennis. Nein, Mißbrauch mit Abhängigen war das nicht, eher als ein anderes Verhältnis der Studienbedingungen ist das zu deuten. Da kam es durchaus zu heftigen Schmetterbällen, wie ich sie erst sehr viel später wiedererleben sollte, als mich im Wodkarausch ein geübterer Artist in den Himmel des Kokses schoß, um anschließend alle Sätze Einundzwanzig zu Null abzuschließen. Nun ja, das ist auch eine Ausübung von Macht. Schön war's trotzdem. In Münster also geschah das, Ende der der fünfziger, Anfang er sechziger Jahre dieses kaum vergangenen Jahrtausends, der Stadt, in der ich verwundert stand angesichts der wunderbaren und großartigen alten Architektur; von der man mir später mitteilte, daß sie komplett nachgebaut worden war, also ein ziemlich dreistes Stück romantizistischer Geschichtsklitterung darstellte — wie es gerade wieder in Berlin vollzogen wird. Aber eines hatte ich rasch begriffen im Münster der Achtziger: Das ist durch und durch studentisch. Manch feinen Anblick hatte ich damals, womit ich nicht unbedingt alleine die Kunst meine, derentwegen ich angereist war. Dort also entstand das, von dem ich eigentlich erzählen wollte, von dem mich aber mal wieder mein völlig asoziales Ich-Leben abgelenkt hat, von der Hirsch-Lyrik. Es ist eben so: Ein Hirsch, ein alter, kaum noch was hört, obwohl der Junghirsch heftigst röhrt. Ach ja, einfach selber schauen und lesen: Forstlyrik. Mich jedenfalls überkömmt das gut, vielleicht, weil es so unerforscht ist. Danke, lieber Walter Vitt, für den Sprachraum, den Sie mir außerhalb der Tagesordung eingeräumt haben. Obendrein haben Sie mir eine schöne Erinnerung gegeben an diese zauberhafte Hispanistik-Studentin, die mich nach dem fünfzehnten Bier plus Körner davon überzeugen sollte, daß der irische Limmerick ursächlich maurisch-münsteranisch und zweizeilig sei, was sie mit ihrer Dissertation belegen würde; mithilfe der wurde sie oberste Pressefrau an einem führenden Museum zeitgenössischer bildender Kunst der BRD.
Seltsame Polyglotterie Die Frau spricht französisch und italienisch wie deutsch. Sie spricht aber nur mit Franzosen französisch und Italienern italienisch. Oder vielleicht mal mit einem welschen Schweizer. Aber Französisch den Franzosen. Und Italienisch den Italienern. Das Spanisch nicht zu vergessen, das sie mit mit den Spaniern, und das Spanisch, das sie mit den Latinos des lateinischen Amerika spricht. Auch mit den Brasilianern weiß sie sich zu verständigen. Wie sie dort übehaupt grundsätzlich in diesem singenden Portugiesisch angesprochen wird, weil sie vom Typus und den Bewegungen her wie eine im Land Geborene und Aufgewachsene wirkt, also mit dieser eigenen Art, die irgendwie mit Südeuropa zu tun haben könnte, auch dann oder weil Blond sich kringelt. Wie das überhaupt immer sehr rasch geht: Kaum ist sie in einem Land, in dem Ureuropäisch gesprochen wird, beherrscht sie den jeweiligen Dialekt bald darauf soweit, daß man sie zu sich nach Hause einlädt, um sich mit ihr zu unterhalten. Englisch spricht sie, weil es ohne Englisch eben nicht geht. Aber die sonstige Leidenschaft ist nicht zu spüren. Es sei denn, die Bewohner Bostons hätten eine solche. Dann schätzt man sie als eine Indigene der letzten gut zweihundert Jahre ein. Das liegt wohl am Resteuropäischen, das man sich dort erhalten hat. Wie die Canadier sich ihre französischen Rudimente des 18. Jahrhunderts. Im Deutschen verhält sich es sich etwas anders. Nicht, daß man heraushörte, wie sehr sie sich in diesem Land über viele Jahre bemüht hat, die Spuren ihrer anderssprachigen Herkunft zu verwischen. Das ist ihr nämlich durchaus gelungen. Nur der Geübtere nimmt wahr, wie sehr da immer etwas sperrt. Das ist einfach nicht der Sprachgesang, der ihr Französisch zum Pariserischen, ihr Italienisch zum Florentinischen macht. Dann nimmt das Oberbayerische oder das Berlinische immer wieder mal versuchsweise Platz, weil sie sich dort aufgehalten hat und dort und eingeborenes Sprechen nunmal jeweils sofort aufgenommen wird, aber man spürt doch deutlich, daß es auf Besuch ist. Und nur wer genau hin- beziehungsweise wer einmal hineingehört hat in dieses Phänomen, der vernimmt diese frappierende «ursächliche» Sprachverwandtschaft zum alten Griechenland. Homers Odysee wurde von Albert Meyer ins Bärndütsch übertragen: «Loset guet, syner Värse sy schöni Hexameter! Wie sie ansonsten so konsequent alles Fremde aus einer jeweils gesprochenen Sprache heraushält, erstaunt mich immer wieder und nötigt mir allen erdenklichen Respekt ab. Immer wieder habe ich darüber nachgedacht, woran das liegen könnte. Ich vermute, es liegt am Respekt, den sie mehr oder minder unbewußt den Sprachen erweist. Sie, die wahrhaftig in der Welt Herumgekommene, muß einen Anglizismus, einen Fremdeinfluß nicht vermeiden, er gerät ihr einfach nicht hinein in eine andere Sprache. Sie spricht entweder englisch oder französisch oder italienisch oder portugiesisch oder spanisch oder eben bärndütsch (und damit quasi altgriechisch). Vom Verdacht irgendeiner nationalen Tümelei ist sie frei, da sie keiner Nation angehört, auch wenn sie einen «Rotkreuz-Paß» besitzt, wie familienintern gewitzelt wird. Sie hat wohl immer sofort die kulturellen Wurzeln der jeweiligen Sprachheimat verinnerlicht. Lediglich ins Deutsche schleichen sich ständig fremde Einflüsse ein. Da gewinne ich bisweilen den Eindruck, sie wäre in eine Kunstsprache hineinerzogen worden, die keine eigene Kultur hat. Dann kauderwelscht sie, als sei ihr das ansonsten vorhandene Sprach- und Selbstbewußtsein gänzlich abhanden gekommen. Als ob sie immer noch versuchte, das Fremde zu vertuschen. Für Ratlose • Für Geschichtsinteressierte
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