Die Angst des Tormanns vor zu vielen schwatten Perlen

Die aktuellen Ereignisse, die mich — die Gründe dafür muß ich noch abklären in mir — mehr erschüttern als vor rund zehn Jahren die in New York, werfen in meiner immerwährenden Magmaküche einmal mehr gewaltige Fragebrocken aus. Da bringt ein Mensch nach akribischer Vorbereitung andere Menschen um und nennt als Anlaß die Verteidigung der Welt vor ihrer Durchmischung. So lange ist das noch nicht her, daß das Durchrassung genannt wurde. Und bei Norwegen fällt mir ein, daß es dort Filialen gab, wo das Germanische (rück-)gezüchtet werden sollte, was es nach unserer Zeitrechnung bereits seit fast zwei Jahrtausenden nicht gab, nicht (mehr) geben konnte, weil das, was in der vereinfachten Bezeichnung je nach Region oder Vorkommnis Barbaren (ganz unten) oder Vandalen genannt wird und dabei eine Vielfalt an Völkern aufwies, längst ein anderes sogenanntes reines Volk aufzumischen begonnen hatte, das selbst längst von allen möglichen Mitbringseln aus dem Osten und dem Kontinent im Süden durchsetzt war, wo die Herren aus Rom nicht nur üble Kriege trieben, sondern auch ordentlich Liebe machten; wie das im linksrheinischen Abkömmling dieser Zivilisationsbringer genannt wird.

Liebe machen. Liebet und vermehret euch fröhlich miteinander. Ob's daran liegt? Alleine bei dem Gedanken daran, daß bei den einen solches Denken überhaupt nicht aufkommen soll und es deshalb gar keine Vorhänge gibt, während die anderen zumindest den weiblichen Part dieser vermutlich zu friedlichen, mehr oder minder lustvollen Maßnahme zur Lebenserheiterung vollständig zugehängt wissen wollen, wirft bei mir die Sirenen wegen der nahenden Scylla und Charybdis an. Pest und Cholera wirft die Assoziationsmaschine noch aus bei dieser anderen Bezeichnung für diese Ängste vor dem Fremden, vor der multikulturellen Gesellschaft.

Mehr als seltsam berührt mich dabei, wie zunehmend ausgeprägt die sich zeigen in letzter Zeit vor allem in skandinavischen Ländern. Wie ich's auch drehe und wende, ich lande immer beim Wissen um die überwiegend protestantische Kultur, die das Leben dort fest im Griff hat, spätestens seit auch diese Christen zu ihren barbarischen Kreuzzügen aufbrachen. Da ich einige Zeit meiner Kindheit und frühen Jugend dort verbrachte, meine ich zu wissen, wovon ich rede. Zwar umfing mich seinerzeit noch nicht unbedingt derartiges philosophisches Gewölk, aber da ich es noch eine Zeitlang als meine Heimat betrachtete, kehrte ich nach meinem Umzug ins zentralere Europa viele Jahre lang immer wieder dorthin zurück und sammelte weiterhin Erfahrungen und Erkenntnisse, die weit über die Grenzen des nordöstlichen Landes hinausgingen, in dem ich zuletzt bis zum Ende der Schule zuhause war. Vor allem in Schweden und Dänemark fiel mir immer wieder diese teilweise gnadenlose Gleichmacherei auf, die manchen zwar sympathisch sein mag, bei mir aber doch erhebliche Probleme aufwarf und -wirft. Eingebracht sei die aus der französischen Revolution stammende und immer wieder als Argument angeführte Égalité, die jedoch nichts anderes meint als die Gleichheit vor dem Gesetz. In Skandinavien aber lautet das Gesetz: Wer sich unterscheidet von dem, das allgemein gültig ist, muß mit Ausgrenzung aus der vereinheitlichten Masse rechnen. Der Andersdenkende darf ja noch sein, weil der Gedanke an sich sich einbilden darf, frei zu sein in seinem Kopfgefängnis. Wer aber seinem Denken gemäß handelt, der wird sich erheblich schwerer tun, als ein aus einem islamischen gottesnahen Staat die dortige Freiheit Suchender sich das in den Anfängen auch nur vorstellen kann. Alles ist eben relativ. Wer vorher keine Individualität leben durfte, dem dürfte die sanfte demokratische Vermassung nicht weiter auf- oder gar als Denk- beziehungsweise Handelshemmnis ins Gewicht fallen.

Über Norwegen weiß ich recht wenig. Da mir auch dieses skandinavische Land und seine Leute immer sympathisch waren, hatte ich es ebenfalls im Blickfeld. Zu einer fundierteren Meinung reichen zwei Grenzübertritte ganz oben im Norden nicht aus, aber ich gehe davon aus, daß es sich in seiner Mentalitätsstruktur von seinen Nachbarländern kaum unterscheidet. Verstärkt wird das durch Einblicke aufgrund der aktuellen Vorkommnisse. Wie in den Nachbarländern haben auch dort sich national nennende Kräfte verstärkt breitgemacht und nehmen zusehends mehr politischen Einfluß.

Finnland nehme ich insofern ein wenig aus, da es innerhalb Skandinaviens immer eine eigenständigere Rolle gespielt hat, was auch in seiner anderswo wurzelnden Mythologie, einer sich daraus ergebenden kulturellen Entwicklung begründet sein dürfte; bereits sprachlich unterscheidet es sich durch seine Zugehörigkeit zum Finno-Ugrischen völlig. Zwar bin ich nicht mehr auf dem laufenden — seit der Wiederentdeckung meiner französischen Wurzeln vor etwa zwanzig Jahren drücke ich der Eishockeymannschaft von Suomi nicht mehr ganz so fest die Daumen —, aber ich gehe davon aus, daß die dortigen rechtslastigen Strömungen auf eine zunehmende Skandinavisierung oder auch Anlehnung an Schweden (der westliche Teil des Landes ist zweisprachig ausgeschildert, und ich hatte beispielsweise eine finnische Freundin, der die Landessprache nur in Brocken über die Lippen kam) zurückzuführen sind, die wiederum mit der Vereinigung Europas zusammenhängen dürften.

Nun gehört Norwegen nicht zu Europa, jedenfalls nicht in dieser politischen Form, die den einen als (geld-)segensreich und den anderen als Teufelswerk gilt. Dennoch hat es einer als potentielle Hölle ausgemacht, die präventiv und im Namen eines anders alleingültigen Gottes ausgelöscht gehört. All diesen Kriegern gemeinsam ist die Furcht vor dem Fremden. Ob sie sich nun im Namen eines islamischen oder eines christlichen Gottes auf den Kriegspfad begeben, es interessiert sie nicht, daß keiner der Pressesprecher dieser Herren da oben je verkündet hätte, man habe den Andersdenkenden umzubringen. Aber vielleicht wissen sie es auch nicht — und das, obwohl sie in der Lage sind, hunderte an Seiten ihrer Glaubensbekenntnisse zu formulieren und zu publizieren —, zum Beispiel, daß es eine Zeit gab, in der die Christen, die Juden und die Mauren friedlich zusammenlebten und das eine ums andere Mal ein bißchen Liebe machten, wodurch auch zu dieser Zeit zu einer gewissen Heterogenität beigetragen wurde. Aber so ist das eben, wenn man das wohlig warme Spanien nur kennt, weil man der ewigen Dunkelheit des Nordens wegen für zwei Wochen an die Sonnenbratstationen flieht und keine Zeit hat, im Landesinneren das Positive der Geschichte zu sehen.

Daß solche Strömungen ausgerechnet in solchen lupenreinen protestantischen Demokratien der Egalisierten mit Sehnsuchtshang zu monarchisch Erhöhtem verstärkt vorkommen, muß ich erst noch ein wenig in mir setzen lassen. Aber das da oben mußte jetzt erstmal raus, es hat mich zu arg gezwackt.

Gerne verweise als Nachtrag auf den Beitrag von Ulfur Grai in dessen Fahrtenbuch.
 
Mo, 25.07.2011 |  link | (3884) | 19 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Ach, immer diese Sterneköche

Wollen wir sie nicht, bester Jagothello, wie im Journalismus, Qualitäts- oder, meinetwegen, Spitzenköche nennen? Gut, abgegriffen ist das alles — wie meine Michelin-Straßenkarten, die ich ihrer Qualität wegen in Stapeln besitze wie andere, die das Kochen nur aus dem Fernsehen kennen, Kochbücher und auf die ich nach wie vor setze und sie wie feinstes Handwerkszeug auch weiterhin lustvoll erstehe, solange es sie noch gibt, schon alleine wegen des haptischen Erlebnisses, das mir kein Navigationsgerät liefern kann und deren Firmenname schließlich für den Sternenhimmel steht, der uns von den Bildschirmen überwiegend der Deutschen entgegenleuchtet, die's ja ansonsten in der breiten Masse spätestens seit Moltke mit den Froschfressern nicht so haben, da hinterlassen auch Nicolas' viele Bises auf Angelas Wänglein keine genüßlichen Speichelfäden.

Der gute Koch also, ob besternt oder bekochmützt oder einfach nur durch Gästelob ausgezeichnet, stützt sich zunächst aufs traditionelle Handwerk; die glücklicherweise sich offensichtlich langsam durchsetzende «Mode» regionale Küche gehört dazu. José Bové und die Conféderation paysanne fordern das seit längerer Zeit, um dieser Malbouffe-Industrie die Grundmauern zumindest zu rammen. Bestandteil dieser Küchen sind die holzbeheizten Herde. Da muß man zu keinem dieser sich Künstler nennenden Zauberer in die Bude, denn auch die Köchin in der Auvergne oder im tiefen Oberbayern kocht mit Holz. Der alte Vert oder dessen Nachbar, der Lozère-Boche, die stapeln diese Kochingredienz bis heute fein säuberlich sortiert hinterm Haus. Im Rahmen meiner Schnellausbildung wurde mir darüber mal ein ausführlicher Vortrag gehalten: Sogar bestimmte Holzsorten würden bevorzugt, und die müßten auch noch abgelagert sein wie gutes Fleisch. Bestätigt hat das in einem kürzlich gesehenen schmackhaften Film über Schweinsbraten eine niederbayerische Metzgersgattin, die beiläufig über die Qualitätsverbesserung ihrer verschiedenen Braten und Wammerl im Herd oder der Räucherkammer durch Holzbefeuerung sprach. Zu Zeiten, als ich gerne und öfter in dieser Gegend bis in die tiefe Oberpfalz unterwegs war und mit Lust in dortigen Gasthöfen genoß, standen alle Köchinnen am Holzherd. Auch die Randkielerin Frau Braggelmann gerät ins Schwärmen, wenn sie von ihrer Kindheit erzählt, in der nur mit Holz gebraten und gekocht wurde; sie hat sich sogar später für ihre Tätigkeit als kinderbekochende Geschmacksbilderin die von ihr Hexe genannte Miniaturausgabe eines solchen Holzherdes zugelegt.


Und nun verkauft uns die Sterne vom Himmel runterkochende PR-Industrie des passiven Fernsehkochens das als die Erfindung des Feuers. Es sollen sogar bereits Herde namens Prometheus angeboten werden, in denen Ceranfelder mit holzbeheizten Back- und Bratröhren kombiniert werden. Die einen nennen's Kultur, die anderen Zivilisation.
 
So, 24.07.2011 |  link | (2373) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Werbende Wirklichkeit

Von allem der Anfang

Betrachtete ich mich selbst, ich sähe mich in einem dieser Werbefilme, in denen die Männerwelt noch in Ordnung ist. Zumindest die des materiellen Mittelstandes. Ich liege in einer eigenartigen Wirklichkeit — in einem lichtdurchfluteten sogenannten Designerbett, inmitten eines großen, nahezu dekorationsfreien, in der Sprache der bei der Kunst klauenden Werbetexter und ihrer journalistischen Nachplapperer also minimalistischen Zimmers, das infolge dieser Logik lediglich von hochwertiger Unterhaltungselektronik illustriert ist und auf dessen gleißend weißen Wänden sich eindeutig die Mittelmeersonne bricht. Wie die Gestalter diese symbolhafte Ausleuchtung zuwege gebracht haben, ist mir quasi nicht ganz einleuchtend. Und als Eyecatcher haben sie noch eine riesige, halb heruntergebrannte, wachsfarbene Kerze installiert, die zweifelsohne den sakralen Charakters dieses Raumes betont. Sehr publikumswirksam. Und es ist ein Duft, den man meiner leicht bewegten Nasenspitze ansieht und der sehr langsam, aber mit ausreichender Geschwindigkeit, demnach kosten- und zuschauergerecht mein linkes Augenlid nach oben fahren läßt. Der verbale Spot kommt von einer zauberhaft méditerranen Stimme, die in undinengleichem, aber dennoch erdennahen Ton einer Polyglotten, also vermutlich Stewardess oder Fremdenführerin, verkündet, der Café sei fertig. Das Werbefilmchen endet mit dem Eintreten der Person, die zu den Flötentönen gehört, sozusagen meine persönliche Melitta. Selbstverständlich ist sie mit einem weißen Unterhößchen und einem T-Shirt gerade noch gewandet. Hierbei muß dem Requisiteur allerdings ein Fehler unterlaufen sein, der ihn den Job kosten könnte. Es sei denn, eine andere Firma hat sich an den Produktionskosten beteiligt. In unübersehbaren Kapitälchen auf den augenfängerischen Wölbungen des bis zum Bauchnabel reichenden Hemdchens wird in Abwandlung der Immunschwächenwarnung verkündet: Gib GATES keine Chance! Wie auch immer — es muß sich um eine unvergleichliche Nacht gehandelt haben. Der Fernsehzuschauer kann gar nicht anders denken. Und ich nicht minder. Ich schalte wohl besser diese durch mein Hirnkino laufende Seifenoper ab und versuche wenigstens auf die vor mir stehende Realität einzugehen. Daß die Natur bisweilen kitschiger ist als deren Abbildung, das erschwerte ein Gespräch und ließ mich fast wieder zurücksinken ins Kissen weichgespülter Erinnerung.

Langsam erinnere ich mich genauer. Ich hatte ihr damals gar nicht richtig zugehört. Ich wollte, aber konnte den Blick nicht abwenden von diesen fast schwarzen Augen in Form der Landkarte Armeniens. Das war viel mehr, als mich taggeträumt hatte. Da stand dieses Modell einer Marseillaise vor mir. Das war die Ausgeburt der von vielen rechts des Rheins so gefürchteten Hölle Multikulti, die im südwestlichen Europa nicht nur zum Alltagsbild gehört, sondern ohne insofern unvorstellbar ist, als sie sonst gar nicht die erforderlichen Temperaturen produzierte. Und es war wieder mal typisch für mich fleischgewordenen Schwarzseher. Anstatt den einstmals geplanten Eroberungsgedanken wenigstens ansatzweise umzusetzen, schoß mir die Frage durch den Kopf, wer mit dieser pechfarbengekräuselten, zu Lande schwebenden Wasserfrau wohl das Leben teilen darf. Welcher bachmannsche Hans* ihr wohl dieses Leben zur Hälfte nahm. Doch diese Nixe würde ihren Trottel vermutlich auch noch lieben, weil ihr seine Eitelkeitsseele wurscht war. Daß ich einmal dieser Hans sein sollte, konnte ich zu diesem Zeitpunkt, nach der Mitte der neunziger Jahre ja noch nicht ahnen.

«Ich weiß von einem angenehmen, privat geführtem Haus mit identischem Komfort, dort drüben, gegenüber, an an der Ecke, am Quai du Port. Hôtel Residence», sprach sie mittenrein in meine orientierungslos verstörten Augen. Es sei auch etwas günstiger. Etwas. «Dort haben Sie auch einen Blick auf den Hafen, auf das Meer. Ich kann es Ihnen besorgen. Mit einem Balkon.» Dann war es das erste von vielen späteren Malen, daß sie mich mit leicht spöttischem Blick auf meine Absenz aufmerksam gemacht hatte. Ob sie so undeutlich spreche, ob ich sie nicht verstanden hätte? flüsterte sie mir ihre Ironie direkt in meine herumirrend abwesenden Augen. Nein-nein, doch-doch, hatte ich gestottert und mich wagemutig entschuldigend zu einer Bewunderung ihrer Erscheinung aufgerafft, daß ich gerade zwischen ihren elektronischen Briefen, die sich aus einer einstigen Korrespondenz mit ihr als Mitarbeiterin des Tourismusbüros ergeben hatten, und ihrem Äußeren eine nachgerade phänomenale Übereinstimmung festgestellt hätte. Daß meine Wunschvorstellungen von ihrer Erscheinung völlig überrollt wurden, verheimlichte ich. Ein anderer würde es strategisch-diskret nennen. Bei mir handelte es sich um schiere Feigheit. Oder um Angst, etwas Falsches zu äußern. Und ohne sichtbar auf einen Erfolg aus zu sein, hatte ich ihn offensichtlich. Denn die Reaktion war ein zauberhaftes Lächeln. Ich hätte das ausnehmend schön gesagt, und es würde ebenso mit meinen Briefen konform gehen, die ich ihr gesandt hätte und über deren ungewohnte Ausgeschriebenheit für einen rein geschäftlichen Vorgang wie den einer Hotelbuchung sie erstaunt gewesen sei. Dennoch sei ihre Frage damit nicht beantwortet. Nun erinnere ich mich sogar peinlich genau, daß ich ziemlich dümmlich gefragt hatte, um welche Frage es denn ginge, bitteschön. Da hatte ich dieses herzerfrischende, fröhliche Lachen, diesen von Alt bis Sopran schwingenden multiplen Glockenklang zum ersten Mal gehört. Sie hatte dann ihre Frage in etwas einfacherer Form wiederholt, mich noch mehr verunsichernd, da ich meinte, leicht spöttische Blitze in ihren Höllenaugen gesehen zu haben.

Dann hatte ich ihr Banales von meiner ambivalenten Beziehung zu dieser Hotelkette erzählt, die allüberall im Land zentral gelegenen alten Familienbesitz aufgekauft hatte, von meiner Neigung zu großen, komfortablen und auch insgesamt Freiraum bietenden Zimmern. Ohne Familienanschluß. Ihr leichtes Schlucken nach der letzten Anmerkung hatte ich nicht interpretieren können und es deshalb sofort aus möglichen Zerwürfnissen gedrängt. Drei Tage später war ich dann umgezogen — sozusagen worden — in ein für ein für mein sonstiges Hotelprogramm geradezu gigantisches, wunderbar helles, außerordentlich dezent komfortables Zimmer, in das andere Mercure, dem im Börsen-Zentrum, in architektonisch gleichermaßen nicht sonderlich gelungener baulicher Einheit mit den Nouvelles Galeries, in dem nicht so viele Halstuchträger herumstolzierten und Kofferträger oder Chauffeure zwischen Hotel und Garage standen. Es war mehr eine Arbeits- und Kurzreisendenherberge, gerne frequentiert auch von nordafrikanischen Gästen. Das war mir tatsächlich eindeutig sympathischer. Und auch nochmal hundert Francs günstiger als der Meeresblick in der Gründerzeit-Schatulle am Quai des Belges, wo man für den Luxus knarzender Dielen und fehlender Steck- oder Telephondosen gesondert zahlen durfte. Wie im Libertel Beaux-Arts Tradition an der Place des Jacobins in Lyon auch. Nach ganz weit oben hatte sie mich verfrachtet, mir eines dieser sogenannten Club-Zimmer organisiert, mit Blick auf Notre-Dame de la Garde beziehungsweise Altem Hafen und dem Tor zum Château d'If oder nach l'Estaque oder den von mir ganz persönlich entdeckten Îles de Frioul, der Île Pomègues, aus deren Turm ich von einem Saint-Louis befreit worden war, noch bevor ich diese andere, mit ihm verwandte Sehenswürdigkeit kennenlernen sollte, die hier vor mir stand und die ich offensichtlich irgendwann geheiratet hatte. Daß ich später, wieder ohne Familienanschluß, einmal in einem dieser Türme vis-à-vis ganz oben landen würde, war noch nicht einmal von Ahnungen eingekreist.

Zuvor hatte sie noch ohne irgendwelche Ausflüchte oder sonstiges Aufheben meine vorsichtig-höfliche Frage nach einem gemeinsamen Essen und ungewöhnlich knapp beantwortet und mich damit in völlige Verstörtheit geschickt: Ja, sehr gerne. Heute abend? Sie kenne ein angenehmes kleines Restaurant hier in der Nähe. Oder ob ich mehr die gehobene Ausstattung wünsche? kam's noch leicht süffisant hinterher. Dann müßten wir allerdings umdisponieren. Oder so ähnlich. Gelächelt hatte sie dabei, daß ich nicht wußte, ob sie mich nun veräppelt oder einfach nur nett zu mir ist. Ich war völlig fertig mit den Nerven. Was würde sie wohl ihrem Hans* an Ausreden vorlügen? dachte ich so für mich hin. Geschäftsessen? Na ja, was anderes wäre es auch ja nicht. Dennoch war ich so außer mir, daß ich gar nicht mehr wußte, wohin ich zuerst hinrennen sollte, um die zwei Stunden bis zu unserem Rendez-vous totzulaufen. Eine Seefahrt kam ja nicht infrage. Da war mir die Gefahr zu groß, während der fünfzehn Minuten zwischen Château d’If oder dreißig zwischen den Île des Frioul und dem Quai des Belges zu kentern und somit die zarten Anfänge einer Begegnung über Bord zu werfen. Also kreiste ich, angebunden an die Leine der Hoffnung, wie ein Satellit weiträumig um ihren Standort, der Anlaufstelle für Touristen. Für alle meine anderen ziellosen Ziele würde ich Zeit genug haben, wenn sie mir gesagt haben würde, daß sie sich für den schönen Abend bedanke und dann doch endlich zu Mann und Kinderchen zurückkehren müsse. In meine Hoffnungsschimmer getaucht, wollte ich keinen Menschen sehen. Also würde ich nicht zu meiner Aussichtsplattform vor dem Bar-Tabac an der Ecke Rue Pythéas an der Bushaltestelle gehen. Das wäre mir zuviel Reizüberflutung gewesen. Nur an sie wollte ich denken, mich von den anderen Urbanantilopen nicht ablenken lassen. Nach einer eventuell mißlungenen Verfolgung dieser einen würde ich meiner Augenjagd ausreichend frönen können. Einen schöner, angenehm ruhiger Platz nistete sich alsbald in meinen Gedanken ein. Nistplatz Place de Lenche.

Und heute, fast vier Jahre später, wurde ich also von meiner langjährigen Ehefrau sogar zum Aussichtsturm gesandt. Die Erinnerung daran, daß er zugleich unser gemeinsamer Treffpunkt war, daß dort ein braver Ehemann seine Gattin in der Regel von der Arbeit kommend erwarten würde, die hatte noch nicht so recht Einzug gehalten.

Doch ich bin sicher, daß auch dieses Geheimnis sich lüften ließ. Denn immer mehr heben sich die Schleier. Und fühle mich so gut, daß ich es schon wieder mit der Angst zu tun bekomme. Einen Narren würde sie mich jetzt schelten. Als ich dann langsam, aber um so heftiger Sehnsucht nach ihr bekomme und inmitten dieses Einsamkeitsanfalles in Richtung Canebière schaue, hat Gott Schicksal — nein: Göttin Schicksal, Déesse, die Schwester des gleichnamigen Automobils DS 21, Déesse Destinée also! — tatsächlich Mitleid mit mir und läßt sie mich erblicken. Doch sie bewegt sich, entgegen ihrem sonstigen Eilschritt, ungewohnt langsam. Rennt sie nur so, wenn sie mich am Bein hat? Ständig schaut sie nach unten, dreht sich dann wieder um. Doch nun sehe ich des Rätsels Lösung. Sie spricht mit jemandem. Nun denn. Sie ist hier zuhause. Gott und die Welt kennen meine Göttin. Bei mir wird das noch ein Weilchen dauern mit dem Kennenlernen der neuen Welt. Ich schaue kühl in die Zeitung und tue so, als ob mir das Herz eben nicht zerspränge ob ihrer Ansicht. Und tatsächlich sehe ich in Marseillaise einen Vorbericht auf La Marseillaise, diesem riesigen, klassischen, knapp einwöchigen Pétanque-Turniers mit über zehntausend Spielern, das jedes Jahr im Juli im Parc Borely mit Finale am Alten Hafen stattfindet. Immer ein paar Wochen vor der Meisterschaft des Jeu provençale, das im Gegensatz zur Rentnerversion Pétanque mit Zwanzigmeteranläufen gespielt wird. Pétanque ist die einzige Sportart, die mich ein bißchen interessiert. Wohl deshalb, weil ich die Kugeln auch einigermaßen zum Ziel hin bewegt bekomme, dem Cochonnée, dem Schweinchen. Und weil ohne Pastis nichts geht? Früher war's jedenfalls so. Da mochte ich dieses anisgetränkte Zielwasser im Übermaß. Als ich wieder aufblicke, steht in etwa zwei Metern Entfernung meine Elfe und lächelt. Meine Güte, sie steht vor mir wie im Traum. Sie war zuhause und hat ihr dunkelblaues Kleid mit den weißen Punkten angezogen. Obwohl es noch recht frisch ist. Auch das Kleid. Oder hat sie es mal eben in den Nouvelles Galeries aufgetrieben? Es ist ihr zuzutrauen. Nein, es ist kein Traum. Doch, es ist ein Traum. Er findet allerdings in der Wirklichkeit statt. Ich lächle begeistert zurück. Ja, das ist diese Entzückende, die ich vor vier Jahren ganz hier in der Nähe geküßt habe. Die mich geküßt und dann geheiratet hat. Der Vorhang hebt sich zusehends. Meine Güte, habe ich ein Glück! Ich bin zurück. Mitten im Kitsch.

* ... daß ein Mann Hans heißen muß, daß ihr alle so heißt, einer wie der andere. Es ist immer nur einer, der diesen Namen trägt. Ingeborg Bachmann: Das dreißigste Jahr, in: Das dreißigste Jahr, Erzählungen, Piper-Verlag, München 1961

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Fragmente eines Romans

 
Sa, 23.07.2011 |  link | (1893) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage



 







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