Die (Auto-)Biographie in uns «Wenn ich mich so umsehe», lese ich, «bei den Endzwanzigern und Mittdreißigern in meiner Umgebung, entdecke ich viele Menschen, die unzufrieden sind.» Vieles nickt man ab, weil man's kennt, anderes wird mit Staunen, auch mit Entrüstung zur Kenntnis genommen; manchmal steigt der ohnehin zu hohe Altersbluthochdruck nochmal um ein paar Werte an, treibt die leichte Verärgerung übers Gelesene an, daß man, käme man endlich selbst an die Regierung ... Dann weiß man, daß man schon aus Altersgründen nicht gewählt werden würde, aber man weiß ebenso, daß man sich erst gar nicht zur Wahl stellen würde, um nicht mitschuldig zu werden ... Faule Ausreden. Doch man bemüht sich immerhin ab und an, den Jüngeren zu verdeutlichen, daß das Alter nicht gleichbedeutend ist mit resignativem Rückzug in den Schaukelstuhl, es sei denn, jemand fesselt einen aus dem Füllhorn der notleidenden pharmazeutischen Industrie aufs Streckbett eines sogenannten Seniorenheims, bei ruhiggestelltem Blick aufs ratgeberische nachmittägliche Staatsfernsehen, das eine verängstigte Restperspektive bietet auf die, so lange ist das noch nicht her, zu knappe Rentenanhebung und heutzutage die deftige Senkung, selbst dann, wenn man hiesig oder auch sonstwo gar keine bezieht, oder die Schicksale sämtlicher in zoologischen Gärten Inhafierten proklamiert, während einem die von Guantánamo an den immer lichter werdenden und hängenden hinteren Gärten von Semiramis vorbeigehen, weil die ja schon irgendwie selbst schuld sein werden, denn sonst wären sie ja nicht dort gelandet. Nein, Alter ist nicht grundsätzlich gleichzusetzen mit Gleichgültigkeit. Manch einer rüttelt gar heftig an den Gitterstäben, und zwar anders als in der Art von Herrn Schröder, der damals reinwollte. Viele wollen raus aus dem, was diese Schröders ff. sich da an gesellschaftlichen Gefängnissen (für andere) zurechtgebaut haben. Es gibt sie, sie sind nur seltener zu finden, vor allem im netten Netz, und wenn doch, dann, um Stützstrümpfe noch billiger zu erwerben, auf daß sie ausreichende Gründe haben für die Klage über das Schwinden des Einzelhandels und damit auch über durchaus marktwirtschaftliche Veränderungen der Gesellschaft. Deshalb werden sie auch weniger gehört, denn die wirklichen Probleme scheinen eindeutig den Anfangs- und Endzwanzigern sowie Mittdreißigern zu gehören. Hin und wieder höre ich mittlerweile sogar bereits die über Vierzigjährigen stöhnen. Sie alle haben ihre eigene — altersspezifische? — Problematik. Und nun? Sich doch wieder einmal neu auf die Gottsucherei begeben oder mittels Gehhilfe shoppen gehen? Nein. Also geht man, so gut es eben geht, hinaus und richtet die Linse auf das aus, das da noch kommen könnte an diesem bißchen Zukunft, gleichwohl scheint der Blickwinkel etwas eingeengt, wenn man auf einer festen Burg von Geist und Kunst steht, und das auch ohne Kirchen- oder überhaupt Religionsmitgliedschaft, und dennoch oder vielleicht deshalb einem so seltsame Gedanken an Bio-, gar Autobiographisches die gehirnischen Synapsen durcheinandervirulieren. Man hat seinen gefestigten Standpunkt, von dem aus man im rechten — was ist schon richtig oder falsch in der Kunst und damit auch im Leben? fragt der Rand- oder Teilromantiker — Licht steht. Man möge mir verzeihen, daß mir das da oben durch die Windungen ging, bevor ich meine eigentliche Absicht aufschreiben konnte, ich es also als Aufhänger dafür benutzt habe, das gestern per Elektropost bei mir einging und über das ich mich köstlich amüsiert habe und über das ich heute noch genauso schmunzle und das unbedingt öffentlich zu machen ich von irgendeiner, vermutlich teuflischen Instanz gezwungen werde. Den über fünfzigjährigen Absender verschweige ich diskret, es sei denn, er gäbe mir sein Placet. «Was Biographisches, von mir? Der ich doch immer lache, wenn Skispringer mit 25 ihre Biographie veröffentlichen, Kinder noch, nicht nur im Gesicht, als ahnten sie, daß nichts mehr kommen wird, nach dem letzten Sprung. Oder Kinderstars, die die Bühnen rocken, wie man heute sagt, zumindest eine Sommersaison lang, die, bevor sie sich den Drogen, die sie nun leicht kaufen können, völlig hingegeben haben, mit 17 ihre Memoiren schreiben, also Erinnerungsstücke, die grad mal 100 großgedruckte Seiten füllen; Gott sei Dank gibt es viele Bilder im Buch: da muß man nicht so viel erinnern dann.»Das habe ich dabei «erinnert», es las sich zum Ende eines vergangenen Jahrtausends hin: «Was alle Autobiographien so wertlos macht, ist ja ihre Verlogenheit» — so beklagte Freud einmal, und bereits Goethe hatte die autobiographische Dichtung als lauter ›Maskerade› bezeichnet. So daß von dieser Textsorte vielleicht gar nicht als einer ars memoria, sondern mehr von einer ars oblivionalis zu sprechen wäre, wie noch jüngst in Harald Weinrichs Buch Lethe angeregt — produziert wird damit kaum Wahrheit oder Aufrichtigkeit, aber um so mehr Text nebst allen Inszenierungsformen, die die Schrift des Ich annehmen kann.Die Photographie des obigen Bedenkenträgers, wie man ihn lange Zeit zu bezeichnen beliebte, wurde getätigt von Martin Behr, Österreicher wie der Zitierte und Mitglied der Künstlergruppe G.R.A.M..
Tief im Hochbett der Stadtpomeranzen Nachdem ich am Sonnabend in einem anderen Land war und der Weltverbesserer in mir mich am darauffolgenden Sonntag zwang, quasi prompt darüber zu berichten, war ich doch fast einen ganzen Tag lang nicht an meinem Automat zur kulturkritischen Veränderung des Globus', strahlt mich ein idyllisches Bild der nebelstrahligen Morgenröte an. Frau Braggelmann scheint sich in die Tiefen der Vergangenheit ihres hochbeetigen Blogs zu begeben, um ihn mit ihr wiederzubeleben. Ursache mag wohl die einhellige Meinung sein, eine Suchanfrage sei nun wahrlich kein Grund, ein gesamtes erzählerisches Werk in den Orkus zu stoßen. Von der Zustimmung für die Meinungen in der Blogger.de-Hilfe-Spalte meinerseits abgesehen und auch von der Tatsache, daß ich die kleinen, teilweise köstlich schnoddrigen Vertällschen meiner kulturellen Unterweiserin in angelschen, überhaupt holsteinischen Angelegenheiten sehr vermissen würde. Zum Beispiel die schöne Geschichte von der «gestandenen Frau im rechten Alter», der sie dabei behilflich ist, via Internet zu einem passablen Ersatz für ihren Hinnerk zu kommen. «bis, ja, bis eines abends der entscheidende brief kam. gross, dunkelhaarig, drei-tage-bart (wie mein Harrald!) stattlich, gutgebaut, treu, romantisch, wohlhabend, mercedes s-klasse! am nächsten abend sollte das treffen stattfinden. im dorfkrug. sie putzte sich den ganzen tag heraus und war aufgeregt, wie eine 3(3)-jährige. nun, von natur aus misstrauisch, nötigte ich ihr meine begleitung auf. incognito und mit lesestoff am nebentisch selbstverständlich !Von dieser Art sind wohl einige unterwegs: gross, dunkelhaarig, Drei-Tage-Bart, stattlich, gut gebaut, treu, romantisch, wohlhabend, Mercedes S-Klasse! S wie Schwanz, der sich in den letzten Jahren aufgetane Vergleich liegt nahe. P wie Porsche, wie der Klatschreporter der ersten Klasse, den der ehemalige Kommunist und von seinem Fernseh- und Film-Publikum nicht nur zu dieser Zeit kaum wahrgenommene Dramatiker Franz Xaver Kroetz in Kir Royal so grandios verkörperte, als sei er nie ein anderer gewesen als dieser unsägliche Michael Graeter, der tatsächlich auf den nicht minder unsäglichen Festvitäten — den neodeodeutschen Komplett-Anglizismus Event sollte es noch lange nicht geben — derer um die schlich, die meinten, sie seien die Reichen und die Schönen, um die dann wiederum die schlichen oder sich an sie dranhängten, die auch dabei sein wollten, die Adebeis, wie die gegenüber den Berlinern nicht minder wortschöpferischen Münchner sie gerne nennen. Womit ich bei den zweit- bis fünftklassigen Reporterlein angelangt wäre, diese Volvo-Fahrer mit der Manta-Mentalität, die auf die Veranstaltungen dieser ganzen mehr als besser verdienenden Hubsis tanzen in der, je nach Betrachtungsweise, naiven oder schlicht von beschränktem Wissen genährten Hoffnung, er könne für sein buntes, gelbes Hochglanztratschblatt ein Interview mit dem ihn ansonsten keineswegs interessierenden Künstler herausholen. dessen Inhalt sich in der Frage erschöpft, welche seine Lieblingsfarbe sei. Ich habe diesen Typus männliche Stadtpomeranze, der mir nicht nur während meiner journalistischen Tätigkeit zwangsläufig immer wieder begegnete, da er meint, auf einschlägigen Veranstaltungen gäbe es immer was zu holen, und sei die Beute nur ein Gläschen Chamapgner und ein paar amuse-gueule, dem Gruß aus der Küche, für den späteren abendlichen Pilsprahltisch unter Kumpels oder, möge der oben beschriebene Fall nicht vergessen werden, um im Zwischennetz etwas zum besten zu geben, das hilfreich sein könnte beim Fischen im übermäßigen Angebot derer, die Anschluß im Sinn von Freundschaft, vielleicht oder wahrscheinlich gar Liebe suchen. Ich habe mich hier zu Frau Braggelmanns kulturellem Pflegephall einige Male geäußert, bin in Beschreibungen dieses Typus in allerlei Äußerungen auch in anderen Beiträgen zur Verbesserung der Welt herumgekurvt. Meine Befürchtung, er könnte einer von den oben beschriebenen Gernegroßen sein, hat sich offensichtlich bestätigt. Sie will immer nur helfen, auch bei ihm war das der Fall. Aus welchen Gründen auch immer, er hat auf jeden Fall Sausen in seinen vom Theaterfundus ausgeliehenen Frack bekommen. Und Auslöser war lediglich ein Scherzchen, das sich in einer fast mädchenhaft kicherigen Suchanfrage äußerte. Mehr war nicht. Dafür droht er nun mit einer Anzeige wegen Rufmordes. Ob der Herr sich mit seiner Anzeigerei, die sich anscheinend nicht auf diese beschränkt, sich eigentlich im klaren darüber ist, wer hier wessen Ruf mordet? Angesichts solcher Vorkommnisse wird einem die eigene Vorsicht im Umgang mit dem Internet mehr als deutlich. Mittlerweile dauert sie mich alle, die meinen, dort Freunde, am Ende gar ihr Glück zu finden, das nicht unbedingt in Status gewandet daherkommen muß. Freunde? Vielleicht gar im kulturell gewandelten Sinn von Farcebuch? Wo alle sich hingeben, um letztendlich abkassiert zu werden.
Der Name ist geändert, «aber die Geschichte handelt von dir. Mutato nomine/de te fabula narratur. Horaz, Sermones 1,1,69 f. «Wir haben genug über die Wahrheit diskutiert. Wir wollen jetzt ehrlich werden.» So zitiert Terra Dieter Hildebrandt. Das läßt mich mal wieder ein wenig ab- und ausschweifen. Die Fabuliererin Felicitas Hoppe, deren «fiktive», welchen Wert wir dem auch immer beimessen wollen, Autobiographie kürzlich erschienen ist und zu der sie sich in Cicero ausführlich geäußert hat, lieferte zur Wahrheit eine bemerkenswerte Definition. Sinngemäß hat sie in der Sendung Lesezeichen des Bayerischen Fernsehens gesagt, jedenfalls interpretiere ich das so: Man finde sie allein in sich selbst, oder auch: sie sei eine Möglichkeit, zu sich selbst zu finden. Des weiteren hat sie Armin Kratzert unter anderem ins Mikrophon gesprochen: «Ich habe herausgefunden, dass diese Felicitas Hoppe, der ich eine neue Geschichte gegeben hatte, eine andere Kindheit, als sie realiter hatte, die ich auf Reisen geschickt habe, die sie tatsächlich nie gemacht hat, dass die Felicitas Hoppe de facto dieselbe geblieben ist. Ich habe sie nach Kanada, nach Australien geschickt und stelle fest: Egal in welche Kulisse ich diese Person stelle, sie bleibt Felicitas Hoppe! Und das ist eine interessante Erfahrung, denn das, was wir faktisch für so wichtig halten, ist nicht das, was die Essenz unserer Person ausmacht. Also nicht, wann wir geboren sind, wo wir geboren sind [...], sondern wer wir sind und wie wir uns in dieser Umgebung verhalten.»Die Wahrheit wird von vielen, ich nehme an, sie dürften sich in der Überzahl befinden, mit der Wirklichkeit verwechselt. Jeder ist, da ziehe ich mal die Er- beziehungsweise das Bekenntis von Arthur Rimbaud als Ausgangsbasis heran: Je est un autre, mindestens sein Alter Ego, häufig sausen mehrere Iche nicht nur in picabiascher Manier durch die deshalb runden Köpfe. Manch ein forscher und/oder forschender, mehr oder minder gescheiter Kopf hat in letzter Zeit herausgefunden, ob persönlich oder angelesen, wer will das schon noch unterscheiden (mein unentschlossener Kommentar zu copy & paste), daß das Individuum (als Produkt der Moderne) oftmals lediglich vermutet, es sei ein solches. Viele Menschen lebten ein Leben, von dem sie sich wünschten, es sei das ihre. Dabei spiele die in letzter Zeit geradezu dramatisch überhöhte Werbewelt eine nicht unhebliche Rolle, und eine solche sei schließlich dazu da, um sie wechseln, zumindest die Richtung ändern zu können. Felicitas Hoppe macht sie sich ironisch zunutze. Im auf der Fischer-Verlagsseite abgedruckten Interview vom Januar 2012 stellt sie fest: «Hoppe gehört im Grunde ihres Herzens und ihrem ganzen Wesen nach natürlich in die Werbung. Denken Sie nur an ihre Agentur für alles. Sie weiß einfach, worauf es im Leben ankommt, vor allem dann, wenn die Rechnung nicht aufgeht. Ihre Lieblingsdevise lautet: ‹Wer zögert, verliert.› Und last but not least: ‹KRÖNE DICH SELBST – SONST KRÖNT DICH KEINER!›»Aber das ist eben nur die halbe oder ein Teil der Wahrheit. Der französische Psycho-analytiker und Essayist Pierre Bayard, und auch er ist wahrlich nicht der erste, der das herausgefunden hat, ließ uns in Comment parler des lieux où l'on n'a pas été ? wissen, in der eigenen, also durchaus auch der gemieteten Hütte sei es doch noch am angenehmsten, er wies auf Immanuel Kant hin, der sein Quartier in Калининград nie verlassen und dennoch die Welt bereist hat und in etwa, dennoch geradezu manifesthielt: Willst du dich, also quasi den Kosmos kennenlernen, dann bleibe am besten zuhause. Marco Polo kommt dann noch vorbei, an Karl May führt ohnehin jeder Weg ins wilde Absurdistan, Bayard meint, der Sachse habe sich Amerika so hingeschrieben, wie es seiner Meinung nach sein sollte. Hinter diese weitaus bequemere Art des Reisens zu kommen, dafür habe ich viele an- und nachhaltige Ausflüge benötigt, um eines Tages unschlüssig meinen zu können, es sei genug. Bosch meinte daraufhin, ich sei auf dem richtigen Weg: «Irgendwann wird auch der Letzte einsehen, dass diese ewige Reiserei zu nichts führt.» Doch diese Art zu reisen, früher nannte man das «mit dem Finger auf der Landkarte», ist es längst nicht alleine. Bayard hat sich 2007 auch zur Literatur geäußert: Comment parler des livres que l'on n'a pas lus ? (Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat.). Auch da war Bayard bei weitem nicht der Erste. Anleitungen für Bildungsschwindeleien haben lange vor ihm und auch vor dem netten Netz der schnellen Information andere verfaßt. Auf diese Weise lernt man zwar nicht die fabelhafte Welt der Literatur kennen, erfährt jedoch ein wenig mehr über sich selbst, zum Beispiel, wie eingeschränkt man lebt, wenn man nicht einmal bereit ist, sich von anderen auf die Reise schicken zu lassen. «Denn wenn man Erzählungen schreibt oder liest, sieht man Landschaften, sieht man Gestalten, hört man Stimmen: Man hat ein naturgegebenes Kino im Kopf und braucht sich keine Hollywoodfilme mehr anzusehen.»Und immer mehr oder weniger Wahrheiten treten zutage. Die Gebrüder Grimm beispielsweise haben sich keineswegs, wie man seinen Kindern früher weismachen wollte oder mußte, weil das Wissen fehlte, auf Wanderschaft begeben, um die fabelhafte oder auch mythologische Welt des Erzählens, letzteres ohnehin eine Tautologie, zu ergehen, man hat ihnen die Märchen zugetragen, sie haben sie größtenteils zu sich nachhause bringen lassen. Viele dieser über lange Zeit hin überlieferten Geschichten kamen von weit her, nicht wenige aus Frankreich. Die Grimms haben sie ein wenig redigiert, also umgeschrieben, ihnen wie später einst May ein bißchen deutsche Moral hinzuparfumiert, wie heutzutage sozusagen die Liebe durch den Magen lebensmittelig synthetisiert, so daß sich daraus zwangsläufig andere Er- und Bekenntnisse ergaben. Der Mensch an sich unterliegt ohnehin in weiten Teilen dem Glauben, also dem Geahnten, das haben ein paar Psychologen und einige weitere sie begleitende Randwissenschaftler herausgefunden, er habe das alles selbst erlebt, was er in die weite Welt hinausposaunt, aus welchem Grund auch immer. Und wenn dem nicht so sein sollte, dann will er's häufig unbedingt annähernd erleben. Immer häufiger müssen Schauspieler sich für ihre Rollen, Literaten sich für ihre Romanfiguren rechtfertigen oder öffentlich beteuern, sie hätten mit ihren Protagonisten nichts zu tun. Dem steht im Weg, was Jochen Gerz einmal auf die Frage nach der, der Zeitgeist gebietet es wohl, es so zu heißen, Authentizität entgegnete: Alles ist autobiographisch. Es ging dabei unter anderem um die Romantik, die akut auch aus anderem Licht betrachtet wird, also überwiegend alles andere als authentisch. Aus dieser Erkenntnis geht vermutlich auch eine in letzter Zeit häufiger aufkommende literarische Gattung hervor, die diese Vermischung von Selbsterlebtem und Fiktivem nicht nur ausdrücklich zuläßt, sondern auslebt, nenne ich's subjektive Authentizität. Ein Beispiel dafür liefert Marcy Goldberg. «‹T.› könnte man als Thomas Imbachs Abrechnung mit sich selbst verstehen, als die Verkörperung einer Schattenseite aus Schwächen, Scheitern, Schuldgefühlen.»Wahrheit ist demnach nicht, wie am Beispiel Fiktive Realität behauptet wird, gleich Authentizität. Mir scheint das überholt wie so vieles, mit dem zum Beispiel ich aufgewachsen bin. Sie kommt allenfalls der Wirklichkeit nahe. Um an die Wahrheit zu gelangen, muß man mittlerweile schon etwas tiefer in sich und sein Weltgefühl tauchen. Ich kann mich des Eindrucks nicht entziehen, Altmeister Nietzsche könnte in bisher ungeahntem Maße (post)modern, also neuzeitlich, gegenwärtig sein: «Die Lüge erfordert Erfindung, Verstellung und Gedächtnis, sie setzt mehr Kenntnisse und Fähigkeiten voraus als die Wahrheit.»
Tod der Urne «Die Urne hat dem Sarg den Rang abgelaufen.» Das ist Bildungsradio in reinster Metaphernform. Es stammt aus den Nachrichten (sic) in der vielzitierten Herrgottsfrüh' von Hirn will Arbeit, dem von mir eigentlich recht gern gehörten, von Berufsjugendlichen für, man möchte es angehörs des Programms bisweilen meinen, übriggebliebenen oder ihren Stand tapfer verteidigenden Langzeitstudenten produzierten Wissenshörfunk, dem Neffen der Kultur und zugleich Kind des spätberufenen Oberopis Deutschlandradio. Gerade, um 13 Uhr, wurde das Thema, ebenfalls in den Nachrichten, erweitert, indem man die Sorgen und Nöte der Friedhofsverwaltungen besprach, die nicht mehr über ausreichend Leichen verfügten. Nicht nur keine Kinder mehr, sondern auch kaum noch Tote? Was ist los mit den Deutschen? Politisch scheint alles die Einfaltigkeit einer einzigen großen Koalition anzustreben, im Tod hingegen scheinen sie sich gar nicht mehr einig, da sind sie gespalten, gar gedreiteilt, denn auch die Seebestattungen nehmen zu. Nun gut, man soll ja positiv denken, also halte ich fest: Je ärger die Politik monokulturell anbaut, um so stärker läuft die Heterogenität in der Leichnamsprophylaxe dem Einerlei des Friedhofs den Rang ab. Dabei scheint die Sehnsucht deutscher Waldeslust der nach der Natur nahe-, wenn nicht gar gleichzukommen. Immer mehr Menschen meiden den Gottesacker, sie gehen nicht nur in den Tann, je nach Alter immer häufiger am (Ski-)Stock, wohl weil die Gesundheitindustrie via Nachmittags- und Frühabends-TeVau das als einzig probates Mittel des lebenserhaltenden Spaziergangs propagiert, sondern auch in den Buchenhain, um sich dort die Stätte ihres endlichen Friedens auszusuchen. Auch hier waren die Künstler einmal mehr, aber dafür sind sie schließlich da, Avantgarde. Ganz schön verblüfft habe nicht nur ich geschaut, als der immer fröhliche, rund sechzigjährige, trotz widrigen Wetters jugendlich oben offen im Roadster angebrauste Harry Kramer der zu einem vierzigsten Geburtstag eines Kunst- und Kulturvermittlers gegen Mitte der Achtziger in einer Kneipe im lauschigen Bad Godesberg versammelten Gratulanten verkündete, er habe sich ein Plätzchen neben einem Baum reservieren lassen, der zum (Habichts-)Wald unweit von Kassel gehört. Dabei ward er ein Friseur aus Lingen genannt, als solcher 1990 im Untertitel von Tanzspiel. Maschinenspiel. Elektrischer Tanz (Novalis) gar geehrt von Günter Metken im Kritischen Lexikon der Gegenwartskunst, und Lingen liegt im Emsland. Doch er war durch seine langjährige Tätigkeit an der Kasseler Gesamthochschule längst eingemeindet. Doch haben sich viele seiner Kolleginnen und Kollegen ohne Bezug zur Stadt, allenfalls zum Fünfjahresereignis documenta, der Wahl seiner Urnenversenkung recht bald angeschlossen. Nicht mehr Waldeslust, sondern Waldesgruft. Der Tod schafft selbst unter andersdenkenden Konkurrenten Gemeinsamkeit wenigstens am Ende. Ich tue hiermit in aller Öffentlichkeit kund, man möge es als testamentarisch verbrieft sehen: Ich will nicht verbrannt und dann im dunklen Wald verbuddelt werden. Schließlich bin ich keine assimiliert aufgebahrte Witwe. Künstler oder Deutscher oder Ökumenist oder Protestantist oder ähnlich Gelagerterist bin ich auch nicht. Das hat eben keinerlei religiöse Gründe, die habe ich bereits in später Kindheit tief begraben. Allenfalls kulturelle kämen dabei infrage, die einen unverrückbaren Grabstein erfordern. Aber selbst diese ideellen Rudimente habe ich längst beerdigt. Ich war und bin, wo auch immer diese seltsamen Anmutungen ihre Wurzeln haben mögen, ein Seeer, Mensch der See, an deren Sand möchte ich gehen, den weiten Horizont und bis hinter den mag ich sehen. Man möge mir einen dieser kulturell fest verankerten Steine um den Hals hängen und mich komplett, also nicht in solch ein enges Gefäß gestopft, denen hingeben, die ich immer so gerne gegessen habe, auf daß sie mich auffressen. Ich will ihnen wenigstens im Tod die Liebe durch den Magen zurückgeben, die sie mir ein Leben lang gegeben haben. Angesichts und mittendrin
Das Topolino-Schwein Die werte Frau Braggelmann meinte, ich solle nicht immer so schwergewichtige Inhalte transportieren, ihr erzählte ich doch auch lustige Geschichten. Anmerken sollte ich erklärungstechnisch, daß sie zur Zeit einen Pflegefall hat. Der männliche Phall gehört der Redaktion eines der wichtigsten Blätter der deutschsprachigen Gesellschaft an, das von ihr, der Gesellschaft, nicht von Frau Braggelmann, wie ich ihr gegenüber meinte, unterm Ladentisch gekauft wird. Frau Braggelmann als mütterliche Fachfrau (siehe rechts ⇒) entgegnete, sie würde es im1 Playboy versteckt durch die Gegend tragen, kurzum: sie kauft das bunte Blatt, weil sie vermutet, letztendlich doch von eines Photographen Blitz gestreift worden zu sein, als der durch die Menschenmassen knipste, was zur Vernissage eingeladen war. Das ist jedenfalls meine Theorie, geschuldet meiner Vorstellung, zu Lebzeiten doch noch ein Theoretiker zu werden. So nähere ich mich denn behutsam dem, ausgerechnet auf dieses der- oder ausrangierte Poesiealbum mit den Spielmädchen zu kommen. Ich muß mich outen. Nein, nicht so. Ich bin nicht so wie der Berliner Regierende, also so und das ist gut so. Ich war mal, einige Zeit vor Hans Pfitzinger, bei diesem unterm Tresen gekauften und im Schreibtisch gelesenen Blatt tätig, zunächst mehrfach als Urlaubsvertretung, und dann lümmelte ich ein ganzes Jahr lang mit dem immer gefüllten Champagnerglas in der Hand als Salon-Linker auf dem Sofa mit den Nackerten herum. Dort habe ich schreiben gelernt, jedenfalls anders, als man es an Hochschulen (nicht) lernt oder wie es an Pressestellen von Bauernverbänden (wohin zu bewerben mir, vor der Zeit als Spieljunge, mein Rundfunkmentor mir empfahl) gepflegt wird; rédiger heißt im Französischen: einen Artikel verfassen, ich habe dort solange die Texte renommierter Autoren umgeschrieben, bis ich selber richtig schreiben konnte und somit auch kalte Spalten füllen. Im damals noch zentral gelegen Haus in der Münchner Karlstraße waren auch Magazine wie jenes zugange, in dem Johannes Mario Simmel einst Karriere machte, die sich jedoch durchweg zur reinsten gelben Presse für seltsam Bedürftige entwickelten. In einer solchen Bunten, mittlerweile nicht mehr nur örtlichen Nähe ist Frau Braggelmanns Pflegefall tätig. Der benötigt nämlich seit neuestem Beratung, muß sich mit dem beschäftigen, was der eigentliche Anlaß für dieses Zusammentreffen so vieler auffregattierten Damen samt unerheblichen Begleitern ist, mit der Kunst. Der Kunsthistoriker Hubsi samt filmisch glänzender, vielleicht deshalb, es mag aber auch sein wegen ihrer ästhetischen Herkunft angeheirateten Fernsehdame, hat's nämlich mit der Artistik der Besserverdienenden. Sogar eigens dafür, will mir scheinen (hier spricht der Theoretiker), hat sein Bruder Frieder, unweit des baden-badischen Festsaals der Republik, ein Museum bauen lassen, auf daß gezeigt werden kann, was sich so angesammelt hat im Leben eines Sammlers und Platz genug ist für die Photographen, die all jene knipsen, die sich in Hubsis buntem Bilderwald abgelichtet sehen wollen, den sie dann im Playboy versteckt nachhause tragen, um nach ihrem wahren Ich zu suchen, zumindest dem, das sich vor ihren Badezimmerspiegel entzieht. Wir hatten das alles im Bauer-Haus, darin waren alle Schreib-und-Kuck-Semester vertreten, auch solche des Künstlichen. Es entstanden sogar Freundschaften, zum Beispiel zwischen Dr. Sommer und mir. Diese lang anhaltende platonische Liebe zwischen zwei Männern zerbrach allerdings, als dieser Seelsorger der Jugendlichen mich therapieren wollte. Ich hatte mich allerdings in ihn verguckt, weil er einen Topolino hatte und auch ein Schweinchen, das regelmäßig bei ihm beifuhr, wenn er von seinem Landsitz aus in die Stadt aufbrach, um andere Menschen zu psychologisieren. Die junge Sau meinte, in der bayerischen Metropole der Freizeit der Schönen sei die Luft gesünder. Zuhause fielen nämlich ständig solche Blätter von der Wand auf die Platte des antiken Herdes, worauf die Katzenherde sie umringte und nach Muttis Brustduftdrüsen suchte. Dabei wurde sie selbst noch von ihrem psychologischen Herrn gesäugt. Diese lustige Geschichte sollte, wollte ich erzählen. Aber offensichtlich habe ich doch nicht richtig schreiben gelernt bei den flotten Lehrmädels des savoir vivre oder es wieder verlernt, denn immer wieder mäandert mir der Fluß woanders hin, wo nichts Hand und Fuß zu haben scheint, wie meine gestörte Liebe zur Theorie. Vielleicht hätte ich mich doch von Doktor Sommer therapieren lassen. Ich höre deshalb jetzt besser auf und denke darüber nach, was ich eigentlich kommunizieren wollte. Am besten, ich rufe Frau Braggelmann an. Die kann nämlich auch ganz gut vom Weg Abgekommene behandeln.
Wünschelrutengänger sucht erquickenden Quell «Wer schreibt, um Bildung zu zeigen, muß Gedächtnis haben; dann ist er bloß ein Esel. Wenn er die Fachwissenschaft oder den Zettelkasten benützt, ist er auch ein Schwindler.»Karl Kraus Gesucht und gesucht habe ich in meinem Archiv, ich wußte, daß ich es irgendwo in meinem etwa ab 1992 angelegten Lagerschuppen der irgendwann wieder verwertbaren krummen und verrosteten Geistesnägel anderer, gegen den der vielzitierte Heuhaufen mit seiner berühmt-berüchtigten Nadel ein geradezu (be)dürftiges Häuflein darstellt, digital gestapelt hatte. Schließlich gab es seinerzeit noch keine Maschinen wie etwa Kuckel, das kam erst einige Zeit später, bis es zum Monster wurde, das ich nur noch in Blaulichtfällen ab Seite 139 an mich heranlasse, wenn alle anderen nichts mehr abzugeben in der Lage sind. Seinerzeit mußte noch alles aus Büchern abgeschrieben und in Zettel's Kasten gelagert werden, zu dem meine letztlich saudoofe Festplatte mißraten ist, in der ich offensichtlich immer noch nach analogen, utopischen (Land, das nirgends ist) Unsystemen suchend alles mögliche finde, jedoch meist nicht das, was ich suche. In der Kunst wird das das objet trouvé genannt. Bin ich denn ein Künstler!? Wer, wie oder was auch immer — während der intensiven Räumsuche bin ich kurz vor dem Fenstersturz beinahe letztes Ende darauf gestoßen: Ist Genialität etwas anderes als Wiederfinden?Georg Christoph Lichtenberg Nun schätze ich das nach Südniedersachsen emigrierte bucklicht Männlein aus dem südhessischen Ober-Ramstadt ja durchaus. Alles Erdenkliche läßt sich mit ihm ausschmücken. Und Erdenkliches hat er schließlich ebenso von sich gegeben. Das Allererdenklichste hat wohl der nicht minder geschätzte Sangesphilosoph Mauri Antero Numminen (der übrigens besser deutsch schreibt als so mancher deutscher Skandinavistik-Experte bei Radio Hirn will Arbeit schwedisch spricht und weitaus mehr vom Tango Tango versteht als die Darsteller meines Lieblingsfriseusensports, die sexy Turniertänzer, indem er Platon sagen läßt: «Ich habe mit meiner Empfehlung gemeint, daß ein Mann vor seinem fünfunddreißigsten Lebensjahr eine Frau überhaupt nicht berühren soll. Du hast dich, und das ist in der Tat lobenswert, bis zu deinem fünfunddreißigsten Lebensjahr von den Frauen ferngehalten. Aber was du jetzt treibst, gehört bereits zu dem, was man den Liebesakt nennt. Der Nichtvollzug des abschließenden Teils bringt dir keinen einzigen zusätzlichen Punkt.»)dazu beigetragen. Aber das, stelle ich gerade fest, ist ja dann doch wieder etwas anderes, die beiden bringe ich nur zu gerne durcheinander, der hier hieß nämlich Wittgenstein, dieser andere Logiker. Man muß das Wiedergefundene nur richtig einordnen. Nenne ich das mal Chaostheorie. So sieht es aus mit meinem Navigationssystem, das mit meiner Weltkarte im Oberstübchen offensichtlich ebensowenig klarkommt wie das elektrische, das auf der Autobahn zur Uni Bochum ständig und immer lauter werdend flötend mahnt: Bitte wenden! In diesem Sinne, und so weiter. Aber ich bin schließlich eine Antwort schuldig, für die ich letztlich in den Irrgarten meiner archivierten Gedanken anderer eingestiegen bin. Die Frage derjenigen, die einen meiner Aufsätze gelesen hatte, die ich mich hier einzustellen nie getrauen würde, weshalb ich denn so unendlich viel zitieren und das auch noch mit «unerträglich übermäßigen Anmerkungen» versehen würde. Irgendwann bin ich dann doch auf die Quelle gestoßen in meinem Wünschelrutenverfahren, und zwar ohne mit Hilfe des Elephantenfußes adoleszent-halsbrecherisch den Gipfel des Apo-Thekenschranks zu erklimmen und gar den linnenen Wälzer aus der Anderen Bibliothek (als sie noch eine andere war) nochmals von vorn bis hinten durchlesen zu müssen; es wäre nicht das erste Mal, ich habe auch schon monatelang nach einem Buch mit grünem Einband in den Regalen gesucht, aus dem ich zitiert hatte und meinte, da ich mich so angenehm im Schreibfluß befand, die Fußnote könne ich später nachtragen, und das ich — und somit auch nicht die entsprechende Seite — nie wiederfand. Kurzum: «In meinen Zitaten lasse ich andere sagen, was ich selber nicht so gut ausdrücken könnte, sei es aus Mangel an Sprachgewandtheit, sei es aus Mangel an Scharfsinn.»Michael de Montaigne «Was sich mir nicht auf Anhieb erschließt, tut es um so weniger, je mehr ich mich hineinbohre.» (II, 10)Eine Suchmaschine zu bedienen, ist nicht schön, auch nicht die des eigenen Hirnstübchens. Denn es macht viel Arbeit. Mehr noch als die Kunst, über die Kunst zu schreiben.
Die Liebe zum Tier oder Romantischer Exotismus Ein recht malade auf mich wirkender Mann an die Fünfzig versucht einen etwa anderthalb Meter großen, vermutlich mangels Bewegung ziemlich fetten Gecko aus einem Terrarium zu heben. Mein erster flüchtiger Gedanke geht in Richtung jener Tierfreunde, die sich mit einem Wellensittich oder einer unter den Maulkorberlaß fallenden Edelk(r)ampftöle nicht mehr abfinden, weil sonst die individuellen Charaktereigenschaften in der Masse untergehen könnten. Nachdem er es schließlich geschafft hat, setzt er ihn auf einem gefließten Couchtisch mit Häkeldeckchen ab und versucht ihn später vom halbierten Imitat Brüssler Spitze zu lösen, das ein wenig den calvinistisch freien Blick von außen in die Wohnung verhindern soll. Beschämt will ich den Blick abwenden, zumal ich beim Switchen unbeabsichtigt hineingeraten war in eine dieser mitteldeutschen Sendungen, die unter dem Begriff Reportage immer wieder unabwendbare Schicksale ehemaliger Ostzonenbewohner zur Schau stellen. Doch dann höre ich noch, der am untersten Unterhaltsrand gerade noch vegetierende Mann habe die Tierchen, ursprünglich mal vier an der Zahl, geblieben waren drei, von seinen verstorbenen Eltern geerbt und bekomme sie, trotz intensivster Bemühungen nicht los, kein Zoo, keine Tierhandlung habe Interesse, auch kein sonstiges Asyl solle ihnen gewährt werden. Und das, obwohl der die Hinterlassenschaft seiner Erzeuger liebevoll pflegende Sohn sich in Kürze einer langwierigen Behandlung in einem Krankenhaus unterziehen müsse. Also schalte ich die zunächst (vor-)urteilsbeladenen Gedankengänge ab und bleibe im Programm, zumal sich tatsächlich ein Bericht über ein Phänomen abzeichnet, das bereits vor einiger Zeit ansatzweise kopfschüttelnde Ratlosgkeit in mir hervorgerufen hat. Geschildert wird eine offenbar seit einigen Jahren zunehmende Liebhaberei, von der ich bislang annahm, sie sei eine vorübergehende Erscheinung gewesen, die ihre Anfänge in den Achtzigern mit Ratten als Schmusetierchen nahm und von mir allenfalls als abschließendes Kuriosum wahrgenommen wurde, als die Medien verlauten ließen, es sei ein Krokodil in einem Baggersee gesichtet worden. Doch diese Fälle scheinen sich zu häufen. Denn in nahezu allen Fällen bedenken die Käufer dieser niedlichen Exoten, daß diese naturgegeben wachsen. Und so, wie früher zu Urlaubsbeginn das am Ferienort nicht gelittene Hündchen (oder auch schonmal der leibeigene Nachwuchs) an Raststätten vergessen wurde, so entledigt man sich offenbar mittlerweile seines inzwischen fast zwei Meter langen Hauskaimans an einem Badegewässer. Drei und mehr Meter lange Schlangen wie beispielsweise einer Python gibt man offensichtlich bevorzugt an inzwischen renaturierten und damit ihrer Dschungelheimat nahekommenden Flüßchen die Freiheit, wenn der Boa Constrictor das Leben als Familienmitglied nicht ohnehin nervlich zu aufreibend geworden war und sie bei der alten Dame der Nachbarwohnung stille Geborgenheit gesucht hat. Längst scheinen Tierheime vor umfangreicheren Umbaumaßnahmen zu stehen, mit denen Hundezwinger, Hasenställe sowie Katzen- oder Meerschweinchenkäfige aufwendig zu errichtenden Terrarien weichen müssen. Ganze Völker sind offenbar beseelt von ihrer Liebe zum Tier, das die besonderen Charakteristika des Einzelwesens spiegelt. Riesige Märkte haben sich da aufgetan, in denen von der (noch) kleinen Vogelspinne oder der niedlichen Kreuzotter nahezu alles angeboten wird, was nicht gewöhnlich ist. Bereits für zehn Euro bekommt man solche Schnuckeligkeiten in ehemals Cremes und Fertignahrung eine Heimstatt bietenden Behältnissen überreicht. Und wie sollte es anders sein: Erhebliche, zunehmend und immer rascher wachsende Marktanteile hat das Internet. So kommt es dazu, daß ein Mann mit drei von ihm offerierten giftigen Schlangen in einer Stoffreisetasche mit der Bahn fünfhundert Kilometer durchs Land fährt. Doch nicht etwa nur von bunten Blättchen oder anderen Bildungszeitungen bereits intellektuell Überbeanspruchte leben auf diese Weise ihren Hang zum romantischen Exotismus aus, der also nicht nur unter denen vorzuherrschen scheint, denen es nicht vergönnt ist, Abenteuerreisen in ferne Länder unternehmen zu können (wo ihnen dann solch ein Tierchen im Hotelzimmer oder am Swimmingspool zur Klage wegen Minderung des Urlaubsglücks gereichen könnte). Auch manch ein Ingenieur, Kultureventmanager oder Physiker scheint davon geradezu besessen. Einige offenbar besser Verdienende haben nicht etwa einer Geliebten eine wegen der Möglichkeit des Verdunkelns gemütliche Zweizimmerwohnung für gelegentliche Stunden im Zentrum einer Stadt gemietet. Vermutlich weil das zu aufreibend wäre, unterhalten sie solche Immobilien eher der Liebe (zum Tier) wegen. Ein solcher will von seinen Riesenschlangen auch nicht ablassen, nachdem ihm eine entfleucht ist und als Rache für seine mangelnde Aufmerksamkeit mit ihren Zähnen den Stiefel durchdrang, worauf er in eine Klinik transportiert werden mußte, die in der Mitte der achthundert Kilometer nach München lag, von wo aus das Gegengift geblaulicht worden war. Quasi in letzter Minute blieb das Bein dann doch dran. Bezahlt hat die Rettungsaktion die Krankenkasse. Und wie das oft so ist, wenn man sich mal näher mit einer Sache beschäftigt hat: Vergangene Nacht landete ich beim schlaflosen Zappen gar bei einem Zoodirektor, der mit seinem Otter an der langen Leine durch Stadt, Land, Fluß und Flur Gassi geht. Ach, um der Vollständigkeit Gerechtigkeit zu geben: Die drei oben erwähnten Geckos haben dann doch noch Asyl geunden. Es dauerte eine Weile, weil das Tierheim zuvor noch umgebaut werden mußte.
Zwischen PR-Anstrengung und Qualitätsauslese Für den Rundfunk, entnehme ich einer mit einem Ausrufezeichen versehenen Notiz in meiner nach längerer Zeit gerade mal wieder angeworfenen elektrischen Klappkladde, sei eine besondere Befähigung nicht erforderlich, denn da würde schließlich immer nur geredet. Ein sogenannt renommierter Zeitungsjournalist hatte sich in spritueller Anmutung in die Tiefen der Wahrheitsfindung begeben. Mutmaßungen über Jakob müßten jetzt hier angestellt werden. Ach nein, das ginge dann doch zu sehr in die unbekannten Tiefen des literaturhistorischen Ozeans, dieser Herr scheint mir eher das Schnorcheln zu bevorzugen. Gemutmaßt sollte also werden, lebendig aus der Sprache der US-Fernsehserienforensiker, also in der Art und Weise, wie heutzutage der Autobahndorfpolizist, expertisiert durch Sprechübungen im heimischen Wohnzimmer des Reihenhäuschens, oder der Pressesprechautomat eines Automobilklubs meinen, in ein Mikrophon hineinreden zu müssen, die noch nicht wissen, weshalb dieser Jakob via Leitplanke mal wieder in fremdem Territorium, oder, wie man heute auch sagt, Terroir gelandet ist. Denn was ist das für ein journalistischer Alltag, in dem davon ausgegangen wird, daß der Hörfunk-Mensch sich einfach ins Studio setzt und draufloslosplappert? Dieser Qualitätsjournalist, entnehme ich des weiteren meinen Aufzeichnungen, die weniger reportagecharakteristisch als mehr von Stimmungen bestimmt sind, höre ausschließlich bei Sendern rein, die nichts anderes ausstrahlen als Musike, Musike und nichts als Musike, lediglich unterbrochen von ein paar spekulativen Wetterberichten zu auf- und untergehenden Sonnen am Aktienhimmel. Aber selbst die müssen, fällt mir ein, wie die jeweiligen Weisheiten zu Musiktiteln et täterä, zunächst einmal er- und dann verfaßt werden. Aber vielleicht bin ich doch nicht mehr so auf dem laufenden und weiß deshalb nicht, daß so etwas längst aus dem neudeutschen Bauch-Gewühl und Hertie (Gefühl und Härte — Neue Kunst aus Berlin, 1982, Kunstverein München und Kulturhuset Stockholm) heraus geschieht. Was ich als ehemaliges — gar lang ist's her — Radioschreiberlein weiß: Das Schreiben von Beiträgen für den Hörfunk ist vielleicht dann doch mindestens ein bißchen so anstrengend wie das Befüllen von elektronischen Poesiealben aus dem Journalistenalltag. Florian Felix Weyh hat sich im Südwestrundfunk unter dem Titel Reich das mal ein! zwar vor einiger Zeit, aber deshalb nicht minder aktuell zu Journalistenpreisen zwischen PR-Anstrengung und Qualitätsauslese geäußert. Nein, hier soll jetzt kein Bezug zu akuten Skurrilitäten aus dem Bereich der Wahrheitsfindung hergestellt werden. Hier geht es schließlich ums Radio. Hat der Hörfunkautor das alles im Kopf und spricht es dann mal eben ins Mikro? Oder muß der sich nicht doch eine Weile hinsetzen, das eine oder andere lesen, für Interviews in das eine oder andere Dorf fahren, sich vorher und nachher Gedanken machen und alles zusammenfassend beschreibend und kommentierend, überhaupt alles auf die Reihe bringend, in seine elektronische Schreibmaschine tippen, dann in den Schneideraum gehen, um die O-Töne zu bearbeiten, ins Studio gehen, um den Text zu sprechen oder vielleicht vorher noch mit dem Regisseur die Musikakzente, überhaupt die Durchläufe besprechen und und und? Es steht die Befürchtung an: Das begrenzt des täglich mit Facts Beschäftigten journalistische Vorstellungskraft.
Eisenbahnromantik Besonders in deutschen Landen frisch auf den Tisch des allzeit bereiten Konsumenten servieren die Medien gerne die Inflation. Doch so sehr diese offensichtlichen Urängste des zur Sparsamkeit erzogenen Menschleins immerfort aus ihm herausdrängen, ihn sozusagen über die rechtzeitige Erziehung «authentisch» machen, nicht zuletzt, da ebendiese Unterhaltungssendungen inflationär zunehmen, in denen vermutlich in Kürze viertelstündlich die Gold- und Silberkurse durch den Äther beinahe dauerfunken, es existiert dabei ein Widerspruch, den ich mangels psychologischem Einfühlungsvermögen nicht nachvollziehen kann — die inflationär produzierte Eigeninflation. Möglicherweise gibt es Verbindungen zwischen dem, das der Mensch nicht hat, und weshalb er sich ständig getrieben sieht, es zumindest virtuell in derartigen Massen zu fordern, daß sich bei der dann tatsächlich erfolgenden Forderungserfüllung selbst der Magen des allerärgsten Vielfraßes wegen Überfüllung in die Rotation begibt. Als Beispiele ließen sich Fernsehsendungen nennen, in denen es ums Kochen oder um die Liebe geht oder um nutzlose Gegenstände, die man zu verkaufen trachtet, um im Anschluß daran Gegenstände erwerben zu können, die garantiert nicht benötigt werden. Zu diesen scheint sich eine weitere hinzuzugesellen: die Eisenbahn, gerne verpackt in dieses blümchenartige Geschenkpapier mit in der fernöstlichen Fabrik vorgefertigten Schleifchen namens Romantik, die sich dann in einer ähnlichen Logik präsentiert wie die Aufklärung im aktuellen chinesischen Kommunismus. Des Eindrucks kann ich mich nicht erwehren, je weniger Menschen mit der Bahn fahren, vielleicht weil es immer weniger nutzbare Strecken gibt oder dort, wo sie noch existieren, gar keine mehr hineinpassen in die Waggons, um so mehr sehnen sie sich nach diesem scheinbar nicht mehr existenten Verkehr auf den Schienen. Reichte es vor noch nicht allzu langer Zeit aus, dem nächtlich Einsamen die Position eines Lokführers anzubieten, von der aus er virtuell irgendwo von A nach B durch irgendeine Landschaft fuhr, so tuckern mittlerweile soviele Bähnleins durch die Fernsehlande, daß selbst wiederbelebte Geleise nicht ausreichen würden, diese Langsamreisen realiter durchzuführen. Mir wurde zugetragen, daß es sich bei den potentiellen Interessenten dieser meist technikspielerischen Bahnfahrten überwiegend um Menschen handeln soll, die sich im Ruhezustand des Lebens befinden. Vor etwa fünfzehn Jahren bin ich nach einem langen Reifeprozeß zu jemandem geworden, der dieses Reisen mit Muße schätzen gelernt hat, nicht zuletzt auch deshalb, weil ich, im Gegensatz zum ständig irgendwo tunnelnden ICE oder dem in drei Stunden die Strecke Paris-Marseille durchzischenden TGV dabei etwas von Ländern und Menschen sehe und dabei hin und wieder gar von der Muse oder einer Mitreisenden geküßt werde. Das ist mit ein Grund, weshalb ich von der anfänglich genutzten ersten Klasse in die zweite umgestiegen bin. So ziehe ich es beispielsweise vor, für die Bahnreise vom Holsteinischen nach Berlin durch Branden- und Mecklenburgs Weiten zu rollen. Davon einmal abgesehen, daß trotz zweimaligen Umsteigens ich auch nicht später ankomme, als führe ich mit dem Expreß von Hamburg aus zur hauptstädtischen Zentralstation — ich sehe eigentlich nie Menschen meines Alters in diesen Zügen. Aber die reisen vermutlich nicht wie ich zu Zeiten, in denen sie Zeit hätten, allen anderen die Plätze zu überlassen, die diejenigen benötigen, die sich auf dem Nachhauseweg von des Tages Last ein wenig ausruhen möchten. Oder sie sitzen auf den vor drei Monaten und deshalb äußerst preiswerten bequemen Sesseln der Großraumwagen, bevorzugt karten- oder sonstwas spielend bei mitgebrachten Analogkäsebroten, und auch hier am liebsten während der Stunden des Berufs- oder Wochenendverkehrs. À propos: Auch hier scheint es Analogien zu geben — wer am meisten Zeit hat, geht dann zum Einkaufen seiner analogen Grundnahrungsmittel, wenn am meisten los ist in den Läden. Man möchte schließlich auch mal unter Menschen. So sehe ich nächtlich einsamer, weil von unendlicher Müdigkeit und dennoch Schlaflosigkeit Malträtierter in zunehmendem Maße, wie immer mehr Menschen in hundert Jahre alten Bähnchen auf stillgelegten Strecken drängen. Offensichtlich kann es gar nicht eng genug zugehen, so gemütlich oder auch romantisch muß das sein. Oder sollte es dabei, um in die philosophische Dimension meiner Ansprüche zurückzukehren, andere Seinsursachen geben? Wer war zuerst da — die Bahn oder das Ei, das die Unterhaltungsindustrie gelegt hat? Was treibt die Herde Mensch derart gar in eigens dafür gebildete Schaukästen wie etwa dem hamburgischen Wunderland zusammen, daß sogar öffentlich-rechtlich pausenlos neue Strecken eröffnet werden müssen, derweil in der Wirklichkeit kaum noch ein Vorankommen ist (wobei nicht die berechtigten Streiks auf den privatisierten und deshalb lohndezimierten Bahnstrecken gemeint sind)? Hatten die Älteren während ihrer Kindheit mangels Masse keine ausreichende Gelegenheit, damit zu spielen? Müssen wegen dieser Verklärung einer nicht vorhandenen Erinnerung die Kleinen einen ganzen Nachmittag auf ihre Spiele am Computer verzichten? Ich habe einen Traum — der Wutbürger demonstriert sich seine Welt zurück, in der er seine Eisenbahn wiedererhält, die in Staats-, also Steuerzahlerbesitz sich weniger um Gewinne und mehr um diejenigen bemüht, die sie als bequemes und, ja, auch das noch, umweltfreundliches Transportmittel benötigen. Dann kämen einige weniger tiefergelegte Bahnhöfe mehr zusammen, und die in kleineren Städten würden samt Toiletten und Fahrkartenschalter wieder in Betrieb genommen. Das wäre mal eine andere Maßnahme, für Arbeitsplätze zu protestieren. Aber das ginge dann auch schon wieder in Richtung einer Inflation. Die der Nostalgie ist schließlich billiger.
Ich habe den Titel (erneut) geändert in der Hoffnung, bei Heilssuchenden die Hoffnungen reduzieren zu können. Der Reihe nach: Unser Jüngster hat sich — frage mich bitte niemand nach meiner Meinung zu diesem Tun, ich mache es wie Carlo Schmidt, ich warne Sie — stechen lassen. Nachdem er herausgefunden hat, daß er nicht zu den Jeti-Rittern gehört, sondern er sich in der allerdirektesten Erbfolge der piratischen Störtebekers befindet, mußte neben den Totenkopf noch eine handtellergroße Windrose auf des heroischen Jünglings andere Brust. Die präsentierte er nun stolz. Doch bei näherer Betrachtung fiel auf, daß dieses edle Gewächs einen (genetisch bedingten?) Webfehler hat. Die Fachfrau, neudeutsch Expertin, hatte vermutlich ihr Navigationsgerät nicht zur Hand. Nord und Süd hatte sie noch, wie das heutztage heißt, auf dem Radar, Aber der Osten ist ihr nach West gerutscht. Peking liegt nun quasi mitten im Konsumismus. Begründung: Sie habe von der Vorlage falsch abgeschrieben. Nun wären das vermutlich nicht mehr als die Lacher, der Hohn und der Spott, die zwar tief unter die Haut gehen. Aber da kommt die Angst des Jüngsten hinzu: die analphabetische Stecherin könnte ihm klammheimlich einen radikalen Rechtsruck als Code in die Brust genagelt haben. Kennt sich da jemand aus — könnte diese Ostwestumkehrung Symbol einer bestimmten politischen Gesinnung sein? Helfen Sie uns, wenigstens nicht deshalb die Schleifmaschine ganz schnell ansetzen zu müssen.
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