Anhalters Bahnhof Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge. Der Reise zweiter Teil. Zwar war auch in die Schweiz Anfang der siebziger Jahre schon das eine oder andere Nachrichtenfitzli vom Autostop durchgedrungen. Aber das klang doch arg revoluzzerisch, am Ende gar kommunistisch. Dem wäre man selbstverständlich abhold. Doch so genau wußte man es nicht. Also erinnerte man sich seiner Bildung und bemühte diesen Herrn, der einmal festgehalten hatte, man solle in diesem Fall besser darüber schweigen. So mündeten meine Anfragen — ich hatte begonnen, die Anhalter-Praxis zu verinnerlichen — auf dem Flugplatz Zürich-Kloten zu einem Teil in erschrecktes Staunen und zum anderen in brüskierte Abwendung. Ich ging in das Flughafengebäude hinein, in eine der landesüblich gepflegten Toiletten, um mein Äußeres zu prüfen. Eine Vermutzungsgefahr durch mich war nicht zu erwarten, wie ich erfreut feststellte. Auch die Gesichtsfarbe hatte wieder diese Tönung angenommen, die man erlangt, wenn man relativ häufig versucht, den Berg und damit sich zu besiegen. Auch das Fahrzeug, das mich recht zügig vor die Tore der Welt- und Geldstadt brachte, hatte die Sauberkeit, die eines Schweizer Burgers würdig war. Er hatte mir, wenn er zwischenzeitlich mal nicht so sehr mit dem Hin- und Herreißen des Lenkrades beschäftigt war und uns ausnahmsweise nicht am Limit bewegte, von seiner Familie erzählt und daß sie quasi den Rütlischwur mitformuliert habe. Tell war sein Name nicht, das hätte ich mir gemerkt, gehört es doch zu dem, das man versucht hatte mir beizubringen, zumal ich ja für einen Teil meiner Lehrzeit im Land untergebracht war. Irgendwas von Tschudi oder Zwingli hatte er gemurmelt beim gemütlicheren Lenkraddrehen. Calvin war sein Name mit Sicherheit nicht, nicht nur aus meiner klanglichen Erinnerung. Ein klein wenig französisch sah er zwar aus, aber das streng Reformierte dürfte nicht so sein Stil gewesen sein. So startete ich einen erneuten Versuch, ebenerdig von der Startbahn wegzukommen. Fliegen wollte ich ja nicht. Das hätten Ehre und Portemonnaie nicht zugelassen. Außerdem lief es ja alles andere als langsam bis jetzt. Allerdings war es schon spät. Und es stand auch zu befürchten, daß vom Zürcher Flughafen aus niemand mehr nach Paris fahren würde am Abend, nicht einmal nach Basel, was ja in etwa meine Richtung gewesen wäre. Aber wie schweizerisch auch immer ich es ausdrückte, ich machte keinen Eindruck. Und nun? Zu Fuß zur Autobahn? Das wäre ungeschickt, denn nördlich von Kloten gerät man zwar nach Eglisau oder gar nach Schaffhausen. Doch da wollte ich nun nicht unbedingt hin. Auch dann nicht, wenn mich jemand mitgenommen hätte. Also dann doch ein Stückchen mit der Bahn? Das wäre ein früher Griff in die Geldbörse. Gut, ich hätte die Zürcher Verwandtschaft anrufen können. Die täte sich sicherlich sehr gefreut haben, mich wiederzusehen. Aber zu diesem Zeitpunkt beruhte das nicht unbedingt auf Gegenseitigkeit. Sicher, da hätte es ein gemütliches Plätzchen am Kamin und das eine oder andere Leckerli gegeben. Doch ich wollte ja per Anhalter ins Paradies. Allerdings standen die Chancen schlecht um diese Uhrzeit. Also mit dem Bus zum Hauptbahnhof und von dort aus auf den Schienen weiter? Kaum angekommen, entdeckte ich ein Gruppe junger Menschen, die nicht unbedingt den Eindruck machten, heute noch weiterfahren zu wollen. Ich gesellte mich hinzu und kam ins Gespräch. Etwas intensiver geriet das mit einem Engländer, ein paar Jahre jünger als ich, aber als Spontanreisender wohl um einiges erfahrener. Aus Italien war er angereist. Ein Schuhverkäufer hatte ihn hier abgesetzt. Er sei nicht dazu zu bewegen gewesen, ihn an der Autobahn hinauszulassen. Er sah keine Möglichkeit, heute noch wegzukommen. Es sei denn, mit der Bahn. Die Basler sähen ihr Schweizertum nicht so verkniffen. Und deshalb wohl würde man am dortigen Bahnhof auch nicht so abserviert, wie uns das im hiesigen spätestens gegen Mitternacht geschehen würde. Eine Fahrkarte kaufen bis nach Saint-Louis, dann könne man getrost die Nacht im Geschlossenen verbringen, denn zur Grenze nach Frankreich führen erst wieder am Morgen Züge. Mit Ticket würde sie einen nicht rausschmeißen. Es sei nicht ganz billig, aber immer noch günstiger oder angenehmer, als die Nacht in Polizeigewahrsam zu verbringen. Also doch die Tante über drei Ecken anrufen? Aber die versprach eher weniger Abenteuer. Und das ersehnte ich. Einmal im Leben. Wenigstens. Aber ob das gemütliche Bähnli nach Basel das bieten könnte? Meine Güte, ist das ein dröger Trip. Die Müdigkeit ist's. Mal sehen, was die Nacht bringt. Oder der Tag. Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse, Fluchtgedanken, Gnadenmahl oder Reiche Stunden. Der Reise vierzehnte Folge.
monnemer (12.02.09, 08:35) (link) Der Name Tschudi läßt die Synapsen klappern wie ein Stellwerk und -zack- sitzt man wieder im Deutschunterricht. Wahrscheinlich hat er Ihnen nur gesagt wie er *nicht* heisst. Alter Trick der Schweizer.
Einfacher mit den Namen ist´s in wallisischen Bergdörfer. Da gibt´s dann nur einen pro Dorf. Hier Andenmatten, dort Aufdenblatten. Recht überschaubar.
Dazu noch Zurbriggen und Bumann,
und dann hat man schon dreiviertel des Telefonbuchs abgedeckt. Zumindest im Saas-Tal.@Tschudy: Hach ja. Im D-Grundkurs gehörte es ja nicht zum Lese-Kanon, ich habs zu der Zeit aber privat gelesen. Passte mitsamt dem eingebetteten Kierkegaard-Zitat ("Sieh, darum ist es so schwer, sich selbst zu wählen, weil in dieser Wahl die absolute Isolation mit der tiefsten Kontinuität identisch ist, weil durch sie jede Möglichkeit, etwas anderes zu werden, vielmehr sich in etwas anderes umzudichten, unbedingt ausgeschlossen wird.) irgendwie zu den Mühen meiner Identitätsfindung. Aber letztlich war mir mein eigener "Pollackenname" (O-Ton ausgerechnet von O. W*ttk*wski, haha) dann doch lieber als "Gantenbein". ;-)
Zurbriggen = Saas-Almagell. 1 x laut den Namen gerufen und jedes Fenster geht auf. Ich hab´ das mal ausprobiert.
Mark, den Stiller haben wir doch aber im GK gelesen, oder nicht? Bitte dringend um Aufklärung! Ah, dann war Bumann
entweder Saas-Grund oder Saas-Fee. ;-)Also ich kann nicht ausschließen, das Sie Stiller im GK gelesen haben. Sie waren ja nicht mit mir bei Dr. W*rm*r im Kurs, oder? Ich weiß nur, dass obengenannter O.W. sich intensiv damit beschäftigte, weil Stiller im Leistungskurs sogenanntes Sternchenthema war. Den Grundkurslehrern war es wohl freigestellt, was sie jenseits ihrer Sternchenthemen ("Emilia Galotti" - *kotz!*) an Lektüre drannehmen. Tatsächlich lässt mich mein Gedächtnis im Stich, was wir außer diesem blödesten aller Lessing-Dramen im Grundkurs gelesen haben. Oder ich laufe Gefahr, mit dem Literatur-GK (ebenfalls bei Dr. W.) durcheinander zu geraten. Ich weiß nur, dass Stiller nicht dabei war, denn den hatte mir der O. empfohlen, woraufhin ich ihn mir aus dem Bücherschrank meiner Tante entlieh.
*patsch*, klar ich war ja bei meinem Freund Wi*bo*s.
Wir haben den Stiller wohl da gelesen, so vollgekritzelt, wie mein Exemplar ist. Aber sei´s drum, gutes Buch - gerne gelesen. Definitiv.
Im Literatur-GK haben wir bei Dr. W. übrigens "Der Richter und sein Henker" von Dürrenmatt (Schweiz-Bezug galore!) als Hörspiel vertont. Der nette Lehrer war so arglos-vertrauensselig, dass er mir den Schlüssel seines blankgewienerten Audi 80 in die Hand drückte, damit ich mit Mitschüler C.S. Innenaufnahmen von einer Autofahrt mache. Damit man was hört auf dem Tape, musste ich natürlich wesentlich mehr Gas geben, als es in der Tempo-30-Zone angezeigt war. Har, har. ;-))
Gut, dass Sie kein Bulle (auch hier Schweiz-Bezug galore!) erwischt hat.
Aber Dr. W. war ein Guter, schade, dass ich nie das Vergnügen hatte in einer seiner Klassen zu sein. Ja,
da haben Sie wirklich was verpasst. Ich hatte in der Oberstufe ja schweren Frust geschoben, erstens wegen des Griffs ins Klo mit dem hochmathematischen Chmie-LK und zweitens, weil ich wegen des verf*ckten Chemie-LKs auch noch im Englisch-LK bei Herrn K. landete, der versucht hat, mich und uns alle zu f*cken wo's geht. In der schwierigen Zeit war der Doc. W. ein echter pädagogischer Lichtblick, der nicht nur verhindert hat, dass ich den ganzen Schulbettel einfach hinschmeiße, sondern mir auch für das Danach einiges mitgegeben hat an Interesse für Sprache, Literatur und Politik. Ich hatte ihn Jahre später mal in der Stadt getroffen, da hatte ich grade ein, zwei Geschichten in der "Zeit" veröffentlicht, die er auch gelesen hatte. Das hat ihn wirklich ganz aufrichtig gefreut, mir nach diesem schriftlichen Lebenszeichen auch real übern Weg zu laufen. Und wir sind dann noch nen Kaffee trinken gegangen und haben uns ganz prächtig unterhalten. Leider ist er ja aus dem aktiven Schuldienst raus und dann noch ein hohes Tier im Oberschulamt geworden, was einerseits für ihn natürlich erfreulich ist, für die Schüler aber ein herber Verlust.>> kommentieren Nun bin ich verblüfft.
Erstaunlich, was mein der Müdigkeit abgerungener Beitrag dann doch für Reaktionen abruft. Aber es liegt nicht an mir, sondern an der Schweiz. Die ist eben allemale ein Thema.Zunächst einmal hab ich schallend lachen müssen, lieber g., über Ihre Anekdote zu meinem Flug über die Berge, über den schweizer Rennfahrer. Exact, so einer war das. Dann klappern die Synapsen vom Monnemer, der sich beim Namen Tschudi ausgerechnet in den Deutschunterricht zurückversetzt sieht. Und Mark793, sein Stadtmann in der düsseldorferischen Diaspora, widerspricht, ihn gleich abwandelnd in ein Ypsilon am Ende und mit Kierkegaard noch einen obendrauf setzend. Ich bin begeistert. Dann noch «Hier Andenmatten, dort Aufdenblatten.» Ich bin erstaunt über so viel Schweiz-Interesse. Mir leuchtet das auch nicht so recht ein mit dem Zusammenhang im Deutschunterricht. Aber ich bin ja auch anderswo zur Schule gegangen. Gantenbein, gut, das ist Literatur. Der Stiller auch. Ja! Aufklärung. Aber jetzt noch «Pollackenname». War'n die bis nach Mannheim gekommen? Ich meinte immer, die seien alle im Kohlenpott und im Saargebiet eingefahren. Gab's dort Eisen- und Stahlbau? In Ludwigshafen?
Mark, er hat "Ludwigshafen" gesagt!
@monnemer:
Er wird es als Auswärtiger nicht wissen, was das für eine Beleidigung ist. @Stubenzweig: Eigentlich ist der Name von noch weiter östlich. Er endet wie Putin, Jelzin und Stalin, und meine Ahnen väterlicherseits kamen nicht auf Einladung des Schlotbaronats nach Deutschland. Vielmehr suchte die Wehrmacht Fremdarbeiter in der Ukraine, und mein Vater (offiziell Kriegsverschleppter) meldete sich wohl freiwillig westwärts. Väterlicherseits
stamme ich selbst aus ganz weit Ost. Und die Literatur war Bestandteil meiner Lehrzeit, zwar nicht im besonderen die des Ostens, aber eben auch.Ich schweige.
Lumbehaffe ist ok. Damit wäre das aus der Welt.
Yep, das wär geklärt.
@stubenzweig: Haben Sie's gefunden oder gar gewusst - auf der Google-Hauptstraße liegt die Info nämlich nicht herum. ;-)Manchmal führt so ein kleiner biographischer Austausch unter Bloggern ja auch zu ganz interessanten Verknüpfungen. Ich wußte es.
Nein, ich wußte lediglich, daß es die zweite gewesen sein mußte, da die erste anders endete, diejenige also, die ihm einen Roman aufschrieb und er sie daraufhin heiratete. Aber sicherlich nicht nur deshalb. Den genauen Namen mußte ich allerdings nachschlagen.Die «Verknüpfungen» sind tatsächlich interessant. Das ist dann der Hinweis auf die manchmal geradezu «unheimliche» Nutzbarkeit des Netzes. Wenn man bedenkt, wie lange früher die eine oder andere Recherche gedauert hat ... Oh,
da habe Sie womöglich auf eine falsche Spur gelotst. Ich erlaube mir, das Missverständnis per Mail aufzulösen...Weniger die Tiefe der Literatur,
sondern eher die unendliche Weite eines Dachbodens mit seinen Bücherkisten hat sie preisgegeben. Die Schwester. Und damit Sie.Ja, da war ich zunächst wohl ein wenig neben der Spur. Danke für die elektrische Post! >> kommentieren Spamming the backlinks is useless. They are embedded JavaScript and they are not indexed by Google. |
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