Grabungsvolle Hymnen

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof. Der Reise dritter Teil.

Saint-Louis sollte später eine regelmäßige Anlaufstation werden für mich. Wenn ich zur Basler Kunstschau fuhr, übernachtete ich immer drüben in Mariannes Bettchen. Aber welche Position das Städtchen in meiner damaligen Reisepassage einnahm, das will die Erinnerung einfach nicht mehr hergeben. Woran das liegt, ist möglicherweise mit Sirren, nicht Sirenen erklärbar. Vielleicht war es aber auch zu ereignislos, so daß es den Erinnerungsplatz für wesentlicheres zur Verfügung stellt. Auf jeden Fall ist da ein Loch, das sich erst in Belfort gelinde wieder aufzufüllen beginnt. Die Ursache mag darin liegen, daß dort für mich eigentlich Frankreich erst beginnt. «Die Verkehrsschilder sehen nicht mehr aus wie nach dem täglichen Samstagnachmittagsbad. Oder sie fehlen überhaupt.» Ab hier beginnt man so langsam Zeit zu haben. Wenn auch in südlicher Richtung. Nördlich von Lyon, spricht der gemeine Südländer, leben keine Menschen.

Diese hochphilosophische Erkenntnis sollte allerdings erst später in mich fahren. Damals erlag ich mir dieses Wissen in eher trister Weise. Nein, nicht der Beginn einer Frankophobie, wie beim erfahrungsgeplagten Nnier, auch nicht dessen in allen möglichen Varianten erprobtes whack!. Aber ein Graben war's dennoch. In dem war ich gelandet. Ein anderes Nachtlager gab's nämlich nicht. Irgendwie hatten mein englischer Guide und ich das bezogen. Wie wir dorthin gekommen waren, gehört in den Bereich des Vergessenen. Fetzen liegen noch vor, wenn auch sehr viel kleiner als das Stück Pappe, das ich irgendwo gefunden hatte, um mich wenigstens ein klein wenig vor der unerbittlichen Feuchtigkeit und Kälte des noch nicht richtig begonnenen Jahres von unten zu schützen. Obendrüber blies die Erfahrung und das Ahnungsvolle.

Einen Nachmittag lang hatten wir bis hin zum wilden Winken versucht, von dem Ort wegzukommen, von dem ich nicht mehr weiß, wie wir hingekommen waren. Eines kristallisierte sich zu einem wutfunkelnden Gedanken heraus: Hier soll der Gleichheitsgedanke entstanden sein, der der Brüderlichkeit?! Darüber denkt man vermutlich nicht nach, wenn man, wie ich früher bereits über Jahre hinweg, im gemütlichen warmen und windgeschützten Automobil unterwegs ist. Einem im Graben Gelandeten hilft man heraus. Wenn er aus Blech besteht. Alles andere am Rand Stehende und Liegende, und dann auch noch aus frierender Haut und Knochen, ist nicht unbedingt Bestandteil einer Gesellschaft, die es sich in der nachrevolutionären Bourgeoisie bequem gemacht hat und vermutlich nach früher nicht erreichtem höfischen Leben strebt. Eine bitterkalte Nacht wurde es, aus der sich die persönliche Erkenntnis herausformte: Das ist nicht Anhalters Land. Deutlich unterstrichen wurde dieses Wissen von einer Erkältung, die sich in Anfängen bereits zeigte und die ein paar Tage dann im Fieber enden sollte. Glücklicherweise sollte das in einem ehemaligen hochherrschaftlichen Bett toben, bekämpft von altem Adel, unter den das Bürgertum sich gemischt und aus dem warme Menschlichkeit sich geformt hatte.

Aber das sollte sich eben nach dieser Tortur zeigen, die irgendwie und irgendwann in Paris im Gare du Nord endete. Ende. Genau. Verjagt von gemäßigt brüllenden Polizisten in Zivil: Sortie! Sortie! Abgang. Ausreise. Raus mit euch Pack, ihr mit euren Ruck- und Schlafsäcken, die ihr ohne Geld unser Land bereisen wollt. Wir wollen euch hier drinnen nicht. Hier geht der Bürger ein und aus, um einer ordentlichen Tätigkeit nachzugehen. Allenfalls noch der Fremde, der sein Reiseportefeuille im Land läßt und sich dann wieder trollt. Bei aller sonstigen Absence habe ich dieses Bild mit einer photographischen Genauigkeit im Kopf, die nur zu einer Zeit möglich war, als es die heutigen technischen Manipulationsmöglichkeiten noch nicht gab: diesen sich am frühen Morgen bereits heißer gebrüllt habenden Bediensteten des Bürgertums. Gut vorstellen könnte ich ihn mir auf einem zur Fête Nationale herausgeputzten Wagen, in von Madame akkurat gebügelter Gardeuniform, vernehmlich singend:

Aux armes, citoyens,
Formez vos bataillons,
Marchons, marchons!
Qu’un sang impur
Abreuve nos sillons!


Die Wege zwischen dem englischen Begleiter und mir trennten sich an der arg frischen Luft. Ich teilte ihm draußen mit, mich wieder hineinbegeben zu wollen. Seiner Entgegnung, meine Rückkehr dort hinein könne gegebenenfalls in la taule landen, in einem der berühmt-berüchtigten französischen Knäste, flapste ich irgendwas von end! finish! closing date! enough! oder so hin. Kerzengerade sollte mich mein Weg in Richtung Fahrkartenschalter führen. Der Bürgerbedienstete sah mich, wollte auch auf mich zueilen, doch die Masse derer, die's noch nicht nach draußen geschafft hatte, hielt ihn wohl davon ab, mich sofort am immer noch durchnäßten Kragen zu packen und in die blaue Minna zu schmeißen. Das Fremde hatte mich sozusagen gerettet.

Was das Ticket ins flandrische Sumpfgebiet gekostet hatte, daran erinnere ich mich nicht mehr. Es war mir egal. Die damals noch nicht grundsätzlich vorhandene Bargeldreserve gab es her. Hätte sie's nicht getan, ich weiß nicht, was ich alles getan hätte, um aus diesem Bahnhof wegzukommen, den ich später noch so oft und in gelöster Atmosphäre durchqueren sollte. Der nächste Weg war der zu einem Telephon. Sofort ward abgenommen in der freundlichen belgischen Fremde. Für den frühen Nachmittag kündigte ich meine Ankunft an. Über Lille und Kortrijk würde ich fahren und sei dann ja so gut wie angekommen. Nein, bedankte ich mich für das Angebot, mich in Brügge abholen zu lassen, denn ich klänge doch nicht so gesund, nein, denn ich hätte es bis ins lebensfeindliche Paris geschafft, dann würden meine Abenteuerenergien mich auch noch bis ins voraussichtlich angenehmere Städtchen bringen. Zumal es ja nur noch ein Viertelstündchen oder so wären von Brügge aus.

Wie lange die Reise dauerte, daran erinnere ich mich nicht. Ein ganzes Weilchen sicherlich. Der TGV durchbrach damals ja noch keine Geschwindigkeitsrekorde, und an sowas Edles wie an den Thalys ward Anfang der Siebziger wohl noch gar nicht gedacht. Beide hätten wohl auch meinen Etat überfordert. So gondelte ich also dahin, wie ich es auch heute wieder tue, da mir mein Leben die Rennerei nicht mehr abverlangt. Ob's vier oder fünf oder mehr Stunden waren, es ist nicht von Belang. Ich hatte meinen warmen Sitzplatz, niemand brüllte mich mehr an, gar um mich aufzuwecken, denn in tiefen Schlaf war ich schnell gefallen. Geweckt wurde ich erst wieder von den Douaniers, aber die waren friedlich. Lange Haare hatten sich offensichtlich im französisch-belgischen Grenzverkehr bereits als nicht unbedingt drogendealerisch zu erkennen gegeben, zumal es mir offenbar gelungen war, die Ondulation auf der Toilette wieder einigermaßen ins Unverdächtige hin umzuwandeln. Auch gelang es mir, dreimal umzusteigen, obwohl ich jedesmal aufs neue wieder in einen tiefen Erholungsschlaf gefallen war. Ich vermutete wohl zu recht, daß mir für ein Weilchen nichts mehr Übles geschehen konnte.

Doch dann, der Zug war im Bahnhof des Städtchens angekommen, ein enormer Auflauf. War ich in eine Demonstration geraten, war eine solche Menschenansammlung an einem solchen Örtchen überhaupt möglich? Es stellte sich heraus, daß ich der einzige Fahrgast war, der hier freiwillig den Zug verlassen hatte. Demnach galt das mir. Dann spielte auch noch eine etwas weiter zurückstehende Kapelle auf, den Uniformen nach möglicherweise die einer Feuerwehr. Und ein aus allen erdenklichen Altersgruppen gemischter Chor samt rhythmisch dazu jaulendem Getier sang und krächzte fröhlich in meine Richtung:

Wee hen, de onbezonnen’, die vals en vol verraad,
De Vlaamse Leeuw komt strelen en trouweloos hem slaat.
Geen enkle handbeweging die hij uit ’t oog verliest:
En voelt hij zich getroffen, hij stelt zijn maan en briest.
Zij zullen hem niet temmen …



Den Rest erzähl' ich lieber ein andermal.

Die Photographie stammt von Henk van Kampen unter CC.



Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse, Fluchtgedanken, Gnadenmahl oder Reiche Stunden. Der Reise vierzehnte Folge.
 
Mi, 18.02.2009 |  link | (2977) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel


nnier   (18.02.09, 09:47)   (link)  
"Einem im Graben Gelandeten ...
... hilft man heraus. Wenn er aus Blech besteht."
Das habe ich wieder mal sehr gerne gelesen - und den Rest auch. Wunderbar erzählt! (Woher ist das: «Die Verkehrsschilder sehen nicht mehr aus wie nach dem täglichen Samstagnachmittagsbad. Oder sie fehlen überhaupt.»?)


jean stubenzweig   (18.02.09, 11:27)   (link)  
Einfach zuviel Dezenz
meinerseits beweist das mal wieder. Ich muß mir einfach diesen verlogen guten Ton abgewöhnen. Schlecht verlinkt? Im nächsten Satz heißt es «linkisch»: «... Zeit zu haben.» Das führt auf Ärmenrenspeisung. Da steht's dann ziemlich am Anfang.

Ach ja, lieber Nnier. Wir erzählen uns eben gegenseitig einen. Deshalb wird's so schön. Zu lesen. Hier wie dort.


prieditis   (18.02.09, 15:01)   (link)  
De Vlaamse Leeuw
Hat man dort die Staatsreform der siebziger gefeiert?
Die festlegung der Sprachgrenze?
Oder - vorweggenommen - die Unabhängigkeitserklärung Flanderns (Ein Aprilscherz - im Dezember) von 2006?

Oder einfach nur, wie ich es kennenlernte, weil sich dazu die Glegenheit bot, mit Wurst und Bier gemütlich den lieben Gott einen guten Mann sein lassen...
De Vlaamse Leeuw wird dann gesungen, weil, nun weil der Flame ein bodenständiger Mensch (so in etwa wie die Westfalen) ist und Neuerungen immer ein wenig mit skeptischen Blicken betrachtet werden.

Auzüge aus "modernem" Liedgut der niederländisch-flämischen Musik (nicht zuverwechselen mit der franko-flämischen Musik):

't Leven heeft geen enkele zin
Er is geen einde of begin
Kom patron, schenk nog eens in
Zo houden we de moed er in
...

oder hier:

Ik zag je op een feestje, toevallig was jij daar
En wat ik algauw vreesde werd ongelofelijk waar
...

Dat heeft toch cultuur, oder nicht!? ;o)


jean stubenzweig   (19.02.09, 04:15)   (link)  
Der flämische Löwe
war damals dort durchaus los. Zwar sollte das aufgeführte Theater den Gast erheitern – und der Aufführungen sollte es noch einige geben –, aber zumindest die Dame des Hauses, wie ich im Lauf meines Aufenthaltes feststellen sollte, steckte tief in ihrer Tradition, in der ihrer alten Familie, seit Urzeiten in der Gegend ansässig. Still litt sie, immer freundlich und milde dabei lächelnd, wohl manchmal an der wilden Verbürgerlichung, die da in ihrem fußballplatzgroßen Häuschen samt dem es umgebenden, etwa einen Kilometer im Durchmesser messenden Park stattfand. Cultuur war das, fürwahr, wenn auch eine eigenartige (Mischung).

Das sind allerdings zunächst einmal nichts als Vermutungen aus der Erinnerung – meine Güte, das ist etwa fünfunddreißig Jahre her. Und ich will versuchen, das alles so genau wie möglich zusammenzubringen. Tatsächlich hatte des vorletzte Woche wieder Einzug gehalten in meinem Kopf, mit einem Mal war es wieder da. Irgendwann die nächsten Tage werde ich es wohl zusammenbekommen haben. Sicher fällt mir dann auch die eine oder andere assoziative oder auch faktische Einzelheit ein.

Ich bitte also zunächst um etwas Geduld. Zumal ich gerade unterwegs bin und kaum dazu komme.


jean stubenzweig   (20.02.09, 04:27)   (link)  
Elektronisch Postalisches
ist bei mir zur Zeit schwieriger abrufbar, da ich wandele und überhaupt leicht abwesend bin.

Sollte also jemand eMails gesandt haben, wird er voraussichtlich bis Montag auf Antwort warten müssen. Aber ggf. hier schonmal bescheid geben, wäre nicht von Übel.


monnemer   (20.02.09, 11:09)   (link)  
Ach so, ich frug mich schon...

Inspiriert durch die Fotos von Herrn nnier werden ich allerdings ab morgen auch für eine Woche nicht erreichbar sein.
Spontan wird der Hamsterkäfig verlassen und geforscht, ob er die eventuell in der Schweiz aufgenommen hat.


bueddenwarderin   (20.02.09, 09:16)   (link)  
ogen op, holl rechten kors,
süs suppst du aff un geihst in' mors!















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