Unter Eulen

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen. Der Reise sechster Teil.

Heutzutage fällt es mir leicht, die Schlupflider sich glätten zu lassen ab einer bestimmten Müdigkeit. Das geht in allen Körperpositionen. Doch ich befinde mich mittlerweile im Ohrensesselalter, weshalb zumindest Wohlmeinende mir meine Schlafattacken nicht weiter übelnehmen. Damals war ich jedoch noch eine Weile keine dreißig, zu Gast in einem nicht nur architektonisch hohen Haus und trug auch noch merkliche Rückstände dessen in mir, was man mal gute Erziehung nannte. Dennoch wäre ich nur zu gerne zur Ruhe gegangen, nicht einmal das Turmzimmer hätte es sein müssen, der vermutlich seit Hausgründerzeit den Raum zierende Chaise longue hätte sich meines desaströsen grippalen Infekts sowie meines die letzten Tage doch etwas vernachlässigten Schlafbedürfnisses angenommen. Sicherlich hätte ich mich wie zuhause gefühlt, wo ich während der Kinderzeit des öfteren am Rande des nachmahlzeitlichen Gebrabbels auf einem solchen Langgestühl ruhen durfte. Lange hätte ich die einlullelnden Stimmen nicht gehört, wäre doch Helios mit Höchstgeschwindigkeit in die Garage gebrettert (ich bitte um Vergebung, Herr Schmidt).

Doch dann trat die Jonkfrouw in den Raum, beschürzt einer Dienstmagd ähnelnd, nein, eher identisch mit sich selbst als Hausfrau und vor allem Mutter auch kleinerer Kinder mit Vorliebe für unpatriotisches Ketchup, das sich allerdings mit einheimischer Mayonnaise die Fleckenwaage hielt. Ihr Gatte erhob sich und knickte seinen Oberkörper leicht nach vorn; diesen mich leicht seltsam anmutenden ehrerbietigen Gruß ihr gegenüber sollte ich noch oft sehen, die Anrede in dritter Person blieb jedoch immer aus. Ich hegte die Hoffnung, direkt und von ihr persönlich ins Bettchen gebracht zu werden, auch ohne Gutenachtgeschichte und -küßchen wäre es mir recht gewesen. Aber dann sah ich den Servierwagen, den sie hinter sich herzog. Zwei Gläser mit Milch befanden sich darauf sowie eine Schale mit gelblichem Inhalt, vermutlich Honig. Drei Löffel davon rührte sie ein und reichte es mir. Ich war tapfer. Heute würde ich das Feigheit nennen. Aber ich brachte das Gemisch hinunter. Es war nicht ganz so furchtbar, wie ich zunächst annahm. Möglicherweise fraßen belgische Kühe damals anderes Gras als berlinische oder bayerische, oder der Honig war so gänzlich anders als alle anderen Sorten, die ich jemals zu mir genommen hatte, möglicherweise auch, daß die Milchwärme draußen im Cheminée der Eingangshalle mittels belgischer hundertjähriger Jungeiche hergestellt worden war. Auf jeden Fall tat es kein bißchen weh an meinen Geschmacksnerven. Einen Teller mit ein paar Schnittchen habe sie ins Zimmer gestellt, der sich als Grundversorgung für eine Messe von Generalstabsoffizieren erwies, sie sähe mein dringendes Schlafbedürfnis, auch habe der Infekt mich wohl fest im Griff, und es sei alles angerichtet oben im Eulenturmzimmer. Was war das? Eine Abhöranlage oder weiblicher, gar mütterlicher Instinkt? Woher wußte sie von meinem Turmwunsch? zuckte es kurz in mich, aber rasch wieder verjagt durch Hypnos' sich ankündigenden Gesängen. Als ich mich zwei Tage später getraute, sie nach ihren hellseherischen Fähigkeiten zu fragen, teilte sie mir leicht lächelnd mit, mein gebannter Blick aus dem Fenster, als sie sich kurz im Zimmer befunden habe, sei so verklärt gen Turm gerichtet gewesen, daß jeder Zweifel ausgeräumt gewesen sei.

Heute weiß ich nicht mehr, wie lange ich in einem Stück geschlafen hatte. Aber gut erinnere ich mich mittlerweile, daß ich trotz meiner ohnmachtsnahen Müdigkeit immer wieder aufwachte, mich anfänglich fürchtete wegen der seltsamen Geräusche, tatsächlich an Gespenster dachte, befände ich mich schließlich in einem Schloß, nicht ganz so alt wie jene, in denen mindestens ein Familiengeist Fremde wegzuspuken gedachte, aber doch betagt genug, daß alles permanent knirschte und knackte, aber nach dem vierten oder fünften Mal des Wachwerdens fuhr des Hausherrns Hinweis in mich, der mir dann doch einleuchtete: Eulen. Vermutlich zwei Familien. Oder einmal Eule plus Turmfalke (hier ist richtig was los!). Vermutlich äußerst nachtaktiv. Während die erste morpheussche Attacke über mich kam, ging bei denen über mir der Alltag, die Allnacht los. Vermutlich existierte da eine familiare Analogie: acht Junge oder zweimal vier oder mehr. Und die spielten da oben nächtens Hockey mit Mäusen und ritten auf Ratten querturmein. Wie ihre menschlichen Geschwister tagsüber da unten im kinderparadiesischen Keller mit Hartgummibällen und auf metallenen Geräten. Das brachte mir eine längere Schlafphase ein. Allerdings auch die Erkenntnis, es könnte angenehmer sein, künftig nicht mehr so extrem naturnah ruhen zu wollen.


Von meinem Aus- beziehungsweise Umzug in eine friedlichere Umgebung erzähle ich das nächste Mal.

Die gezeigten sowie verlinkten Abbildungen stellen lediglich Beispiele dar, die Ähnlichkeiten vermitteln sollen; sie stehen in keinem Fall in Beziehung zum Drehort der Geschichte.

Die Photographie stammt von Tijl Vereenooghe/Erf-goed.be und ist lizensiert unter CC.



Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse, Fluchtgedanken, Gnadenmahl oder Reiche Stunden. Der Reise vierzehnte Folge.
 
Fr, 27.02.2009 |  link | (4384) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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