Platon und der liebe Gott Gratulation an einen Staat Die einen haben einen lieben Gott, die anderen haben Platon. Denen antworte ich jetzt hier auf Seite eins, weil mir das gerade recht kommt und weil's schließlich einen Geburtstag zu feiern gibt; hier geht sowas ja, im gehaltvollen Qualitätsjournalismus wäre das nicht seriös oder so. Ich meine das nicht negativ, also nicht ironisch, und schon gar nicht, wie man das heute sprachlich leicht reduziert so bezeichnen würde: zynisch. Mir ist der alte große Weise in seiner Höhle ohnehin näher als der da oben über uns Wachende, dem anderen so ähnlich Sehende nämlich, der uns, wie ich gestern aus dem Mund von Frau Käßmann erfahren habe, die Menschenrechte geschenkt hat. Bei solchen Äußerungen müßte ich die Frau eigentlich und tatsächlich zynisch auf das reduzieren, auf das es gerne nach wie vor viele Menschen tun: auf das Weib. Die titelige Aussage trifft auf sie selbstverständlich nicht zu, dazu ist sie zu gebildet und zu aufgeklärt. Aber als Bischöfin muß man sowas vermutlich sagen. Täte sie das nicht, beispielsweise auch noch solches wie mehr Kirche ins Fernsehen, ich könnte mir durchaus vorstellen, mit ihr an einem Tisch oder sonstwo zu sitzen oder sonstwas zu wollen. Doch wieder Exkursion über Gott und Götter beziehungsweise den Glauben an sie oder auch nicht? Eigentlich habe ich mich ja eindeutig genug erklärt. Aber es treibt mich doch immer wieder um und voran. Ach, Herr Cosidetto, sind sie wirklich gestrandet? Als die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde, hätte man das sicherlich sagen können, da war's wirklich noch gefährlich für Menschen wie Sie. Aber heute? Ja, die Moral schreitet unaufhörlich fürbaß wieder zurück in die Zeiten vom guten alten Kaiser Willem, den man wieder zurückhaben will in nicht nur einem bundesdeutschen Ministerium. Aber so ist das eben bei vielen, die sechzig und älter geworden und dort angekommen sind, wo sie vor vierzig Jahren möglicherweise nun wirklich nicht hinwollten. Bei solchen wie mir ist das nicht der Fall, ich gehöre zu den Unverbesserlichen. Oder so: Wer sich ein wenig mit der Entwicklung der Gesellschaft(en), also mit (Kultur-)Geschichte beschäftigt hat, mit der Histoire de la Civilisation, wie das in Frankreich heißt, der, sei's drum, setzt sich zu Ihnen an den Meeres(st)rand, schaut den Horizont erweiternd ins olle Griechenland und hört Ihnen zu. Gerne. Ich gehöre zwar nicht Ihrer Fraktion an, halte aber Ihre intensionalen Intentionen (nur mal so, zur Erklärung für diejenigen, die damit nichts anfangen können) für bedeutungsvoll in Richtung der persönlichen Freiheiten, die der Mensch (eben nicht Gott) sich im Lauf der Zeit geschaffen hat und die die Kirche und was alles dranhängt an ihr immer zu verhindern gesucht hat — zumindest früher, wo man wieder hinwill (Frau Käßmann sicherlich nicht, aber die ist ja, das sei zu ihrer Ehrenrettung gesagt, auch kein Man; allerdings hat sie einige Kollegen, nicht nur in Rom). Was mich zunehmend ins Grübeln bringt: daß diese vielen mans, zu denen eben auch viele Frauen gehören, unter bisweilen seltsam anmutenden Vorwänden das Licht wieder löschen wollen, nicht nur das in den Schlafzimmern, sondern auch das des siècle de la lumière (obwohl's da ja nun wirklich den lieben Gott noch geben durfte; zumal man nichts anderes kannte). Ständig wird von Geschichte, von Geschichtsbewußtsein gesprochen und geschrieben, und daß das ja so wichtig sei. Nur, wann beginnt Geschichte? Bei Kaiser Willem? Oder nicht vielleicht dann doch ein bißchen früher? Möglicherweise sollte man sich mal darauf besinnen, daß das Denken und die Gedanken an die Freiheit, mit allem, was sich damit verbindet, zu Zeiten dieser anderen Götter bereits fröhliche Urständ gefeiert hat. Aber das, das wäre dann doch ein bißchen zuviel, soweit wollen wir dann doch nicht gehen. Dann wäre wir ja wieder bei 68 und diesen ganzen «frivolen», wie man früher mal das «Anzügliche» nannte, Begleiterscheinungen, bei diesen unapetittlichen und auch noch kriegsgegnerischen Hippies zum Beispiel. Und damit ist ja nun wirklich kein Staat zu machen. Mit Platon oder so.
Ein weites Europa Brief aus den Kolonien «Jeder trägt seine Heimat an der Sohle und führt an seinem Fuß die Heimat nach Marseille.» Joseph Roth Mein so kluger und weiser Kulturjude — Deine mélange de réligions et culture sagt Dir etwas aus dem Coran, aus der 33. Sure von den Verbündeten: «Dann schlossen wir eine Allianz mit den Propheten, mit dir, mit Noah, Abraham, Moses und Jesus, dem Sohn von Maria, und wir schlossen ein festes Bündnis.» In dieser Sure spricht der Prophet in einer Sentence davon: Wenn ihr aber eure Väter nicht kennt, so laßt sie sein eure Brüder in der Religion und eure Genossen. Er war auch kein Frauenfeind, der Prophet! «Wenn ihr das Leben hier unten begehret mit seiner Pracht, so kommt. Ich werde euch versorgen und entlasse euch ehrenvoll.»* Es erstaunt mich, daß Du so vieles nicht mehr weißt, Du nach so vielem neu fragst. Hast Du wieder Schwierigkeiten mit der Erinnerung? Das wäre sehr schlimm. So sehr haben wir gekämpft, sie zurückzuholen, Deine, unsere Vergangenheit. Aber vielleicht liegt es daran, daß ich nun selbst eine solche bin, so weit weg. Doch ich möchte nicht vergessen. Auch nicht, daß Du es tust. So erinnere ich ... Nicht alles ist aus der Bonbonnière meines Papa. Solche Stücke hat Maman herausgesucht. Doch Papa hat zu Beginn dieser komischen Tragödie als Architekt diese Bonbonnière her- und hingestellt und sie auch geöffnet. Manchesmal hat Maman ihm vielleicht etwas zuviele dieser arabischen Hönigstücke herausgefunden und genommen. Vor allem, wenn Maman zuviele davon hat an ihre Töchter weitergegegeben. Es hat, glaube ich, oft Kampf gegeben in seinem Inneren, und er hat versucht, dieses Etui der Freiheit etwas zu verschließen. Gelungen ist es ihm nicht sehr oft. Aber — er hat immer gelächelt. Doch es war auch Maman, die hat sehr klug und weise darauf geachtet, daß es eine gute, ausgewogene Mischung bleibt. Und für uns Töchter hat es dann wirklich oft etwas weniger an Süßem gegeben. Aaron ein wenig mehr. Typisch für diese alte Bergvolkfrauen. Doch ich lebe noch. Wie Du siehst. Ich möchte noch einmal kurz nach Armenien reisen mit Dir. Du weißt, daß in keinem Land Westeuropas so viele Armenier leben wie in France. Weißt Du auch, daß es eine Zeit gab, in der laut gerufen wurde: Chirac, du kriegst unsere Stimmen nicht mehr! Jospin, wir haben dich noch nicht gewählt? Man hat es gerufen am 24. April 2001. Der 24. April ist der Tag, den meine Maman neben dem 14. Juli feiert. Nicht feiert. Sie gedenkt. Es ist der Tag des Mordes an den Armeniern. Chirac und Jospin haben diese Rufe gehört. Es ist zwar nichts Besonders herausgekommen, aber doch immerhin ein Satz, der Gesetz geworden ist: Frankreich erkennt öffentlich an den Genozid von 1915 an den Armeniern. Sogar die deutsche Regierung hat das später unterschrieben. Es gab ziemliche Proteste von jüdischer Seite, weil der alleinige jüdische Anspruch auf den Völkermord in Gefahr war. Es ging auch — einmal wieder — um das Geld, um den Handel zwischen Frankreich und der Türkei, um das fließende Geld. Frankreich ist, war, ich weiß nicht, ob es noch so ist, ich bin so weit weg hier, der größte Warenlieferant in die Türkei. Dann — wir als alte Angehörige der Revolution geben unseren Geist auch lieber den unterdrückten Völkern von Palästina. Und auch, die Türkei hat vielen Juden geholfen und eine traditionell gute Beziehung zu Israel. Theodor Herzl hat 1898 auf dem zweiten Kongreß der Zionisten dem osmanischen Sultan seine Loyalität versichert. Und Bernard Lazare, ein prominenter Verteidiger von Dreyfus, hat in der Zeitschrift Pro Armenia Herzl dafür sehr scharf angegriffen. Allerdings sind die Armenier heute sehr stark in Frankreich. Ich wiederhole es: Dafür verschmierten die Türken die armenischen Monumente ... Ich habe einen Brief von Dir gefunden auf meinem Computer, darin steht: «Ich erinnere mich aber auch, daß es in dieser Proklamation sowie in dem Gesetz auch hieß, wenn es der Türkei nicht einmal gelänge, die historische Tatsache des Völkermordes an den Armeniern anzuerkennen — wie sollten da die Staaten Westeuropas auf eine Änderung der türkischen Politik in der Kurdenfrage hoffen. Damit war auch das brünftige Verlangen der Türken gemeint, Europa zu penetrieren. Ich habe nie verstanden, weshalb die mit ihrem Fitzelchen Land in Europa sich dazuzählen. Na ja. Selbstverständlich weiß ich es — Absatzmarkt Europa. Arbeitsmarkt Europa. Ach, irgendwie ist mir das auch wurscht. Sollen sie halt rein. Aber dann gehört auch Armenien und Algerien rein. Die Regierungen sind ja bereits hier. Und einen General haben wir auch da.» Du meintest damals Mon feld-maréchal Marietta Taline Al Arfaoui née Malakian aus der Famille der Hagopian, dieses wilde Volk aus den Bergen. Mit Mohamed François Al Arfaoui. Aaron Al Arfaoui und Mirjam. Und gefragt hast Du — was machen wir mit den Saint-Louis aus dem Sénégal? Und Du hattest Dir selber geantwortet: «Der wird unser Sicherheitsminister. Seine Leistungsfähigkeit hat er ja ausreichend unter Beweis gestellt als Leibgardist des ansonsten nicht überlebensfähigen Risacher. Selbstverständlich gehört damit der Senegal auch zu Europa.» — Und angefügt hattest Du: «Du sprichst sehr viel mehr über Armenien als über arabische Problemata. Irre ich mich da?» Es ist richtig. Wir stehen Armenien näher als Algerien. Sogar Papa haben wir hineingenommen in diese Zone am Rande von Europa. »Europa!?» hattest Du laut gefragt und ausgerufen. Erinnerst Du Dich? Auch Maman ist extrem beeinflußt von der europäischen Kultur. Ihre Familie. Es sind die Kultivierungen aller dieser Länder. Alle haben ihre Bildung aus europäischen Ländern. Die meisten haben in einem europäischen Land studiert. Auch Papa. Er hat in Aix studiert. Er ist hiergeblieben. Nach dem Militär. Algerien war ja noch französisch zu dieser Zeit. Er war in Deiner Heimat, zumindest in der von Deiner Maman. Er ist gewesen für drei Monate in Metz. Und dort war er, Du hattest es einmal genannt: «Im hohen Norden, kurz vor den Pfahlbauten der barbarischen Boches.» Aber er war dort nur für drei Monate. Dann hat man ihn verschoben nach Lyon. Danach ist er nach Marseille gegangen. Aber seine Familie — sie lebt noch immer in Algerien. Sie möchten auch nicht weggehen. Doch auch ihr Blick ist nach France gerichtet. Und um Deine Frage nach Tunesien zu beantworten: Seine Eltern sind von Tunis nach Algier gegangen, bevor es autonom wurde von Frankreich. Wenn ich nicht irre, es war 1950. Dann sie wollten nicht mehr wandern, als Algerien auch von Frankreich wegging. Doch sie sind noch immer sehr verbunden. Mit France! Und Papa mit Algerien. Es ist so. Auch wenn sie seine wunde Seele immer zudecken mit ihren armenischen Küssen, diese armenischen Frauen mit ihren Gesängen und ihren schwellenden Lippen, diese Marietta Taline und Naziza und Mirjam und Anouk und Esther. Denn auch die beiden letzten sind halbe adoptierte armenische Töchter. Da kann auch ihr Papa, dieser starke Negerhäuptling nichts dagegen ändern. Wir Frauen sind stärker. Nein. Es stimmt nicht. Papa weint manchesmal. Es ist vor allem der schlimme Zustand in seiner alten Heimat. Es war ein so schönes Land einmal, sagt er immer. Sein Herz hängt mehr daran als an Tunesien. Wir hatten vor einiger Zeit alle eine Petition unterschrieben. Sie war gerichtet an die Regierung, weil sie schon seit vielen Jahren die algerische Politik unterstützt, die die Opposition töten will und damit große Teile der zivilen Bevölkerung. Frankreich hat eine entscheidende Rolle beim Aufbau der Kriegsmaschinerie in Algerien! Es lieferte Waffen und bildete Soldaten aus. Es gab in France eine große Discussion über Folterungen während des Freiheitskampfes, doch unsere Regierung gab ihren Segen für sehr schlimme Verletzungen der Rechte von Menschen dort in Algerien. Dafür haben wir das alle unterzeichnet. Papa hat nicht bitten müssen. Nein. Es war sogar Maman, die mit diesem Papier ankam. Maman, la combattante. Mon Général. Sie kämpft immer. Auch bei Attac. Dort übersetzt sie in das Armenische und das Arabische. Parolen des Kampfes. Und ich helfe ein wenig. Maman kämpft. Nicht nur flüchtenden Männern ... Zurück zu Papa. — Es erstaunt mich sehr, daß Du das alles nicht mehr weißt. — Geboren ist er 1938 in Tunis. Geheiratet hat er 1960 in Marseille. Eine armenisch-persische Bergziege. Und ich bin sehr schnell gekommen. Obwohl Papa ein Musulman und Maman eine Christenfrau aus jüdischem Blut waren. Sie haben schon immer sehr gerne zugemacht ihre Augen. Wie Papa beim Schweinefleisch. Wenn man schließt die Augen und sagt, stelle dir vor, es ist ein Fisch, dann sieht Gott es nicht. Das habe ich von Dir. Ja, wir sind — keine richtigen Araber. Europäische Araber mit armenisch-persisch-jüdischem Bergblut. Von allem ein bißchen. Aber nicht richtig ist, was Du geschrieben hast: «... schon gar nicht gottesfürchtig.» Man kann es so nicht sagen. Es hat schon immer Religion gegeben. Mehr Glauben als Religion. An einen Gott, nicht verschiedene. Und auch etwas Strenge es hat schon gegeben. Mon Dieu! In dieser Zeit. Es ist nicht wie heute! Ein Mädchen mußte gesittet sein. Und nicht nur eines des Islam. Wenn es heute wiederum auch völlig anders ist. Es ist nicht zu vergleichen. Allerdings meine ich damit nicht diejenigen, die assimiliert sind. Doch sie haben nie einen Versuch gemacht, mich zu verkuppeln, mich zu verheiraten. Diese Mischung hat uns, das glaube ich, sehr gut getan. Diese Mischung aus allen Religionen. Dieses schöne Durcheinander, wie Du es einmal genannt hast. Nachdem Maman Allah wissenschaftlich untersucht hat und Papa damit ein wenig zum Schweigen gebracht. Es hat geöffnet. Und es hat nie eine Kritik gegeben an meinem Studium. Sie haben das immer nicht nur gebilligt, sondern es auch unterstützt. Weil es mir gefallen hat, deutsche Sprache und Kultur zu lernen. Leider ist Papa krank geworden mit seine schlimme Arthritis und konnte nicht mehr gut Geld verdienen. Als er wieder gesund war, gab es keine Arbeit mehr für ihn. Dann war er eben doch ein Araber. Obwohl er eine französische Uniform getragen hatte. Und meinen Doktorhut mußte ich an die Stange hängen. Merde. — Und deshalb sitze ich jetzt auf der Blumeninsel der Europäischen Union und gewähre deutschen Touristen meine Gunst. Sans rancune ... * 33. Sura von den Verbündeten, in: Der Koran, Verlag Julius Kittls Nachfolger, Leipzig-M.Ostrau o. J., Seiten 416 – 419 Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
Bild-Abfall Ich habe früher sehr gerne photographiert. Zwanzig, dreißig, vielleicht gar vierzig Jahre lang. Bis mir eines Tages diese herumumirrenden Menschen, diese (vom Autor leider gelöschten) tout tristes mit ihren Spannoskopen vor den Bäuchen oder den ständig verdeckten und damit eingeschränkt sehfähigen Augen derartig auf die Nerven gingen, daß ich meinte, es unterlassen zu müssen, zumal man ja den idealen Bildspeicher in sich trägt: das, was man gemeinhin Gehirn nennt. Es war einfach zu erschreckend, mir diese fliegenartigen Re-Aktionen ansehen zu müssen: Sobald sie das «entdeckten», was ein paar Meter weiter am Kiosk, im Milch- oder Zeitungsladen oder im Café zu hunderten in den Verkaufsständern angeboten wurde, rissen sie ihre ungemein teuren, bisweilen kleinwagenteuren Kameras hoch, um das zu tun, was die Skiläufer mit ihren eigentlich für Rennläufer gedachten Brettern tun: im Stemmbogen den Idiotenhügel hinunterrutschen. Und zwar immer und immer wieder denselben. Millionen Fliegen können nicht irren. Sie knipsten und knipsen alles, worauf sich die Art-Genossen bereits gestürzt hatten: das Hamburger oder Münchner Rathaus, die Gaudí-Architektur in Barcelona, das große Loch in New York, die Hafentürme in La Rochelle, das Château auf If, die Calanques, jede einzelne, bis nach Cassis und wieder zurück, die Brücken in Venedig, die daraufhin noch mehr seufzten. Sie photographierten und photographieren, wie sie sich vorwärts, besser: rückwärts beweg(t)en, immer schön auf dem Trampelpfad bleiben, den ihnen die Touristenbüros oder Kunst- und Kulturagenturen in ihren aufwendig nichtssagenden Prospekten beziehungsweise Internetzen getreten hatten. Bloß keinen Jota abweichen. Nichts sehen (und photographieren), das abweicht von einer Norm, die ausnahmsweise mal nicht bürokratisch verordnet wurde. Eine vergammelte Blume, ein zertretener Zweig hat nicht «schön» zu sein. Ein überquellender Mülleimer, der Dreck, auf dem sie stehen, ist Angelegenheit des Müllabfuhr-Beauftragten. Es ist wie im skandinavischen bis romanischen, im westfranzösischen bis ostrussischen Fernsehen: immer nur die vielen «schönen» Menschen, die endlos weiten, garantiert unberührten Landschaften. Schiefe Dächer oder verfallene Häuser oder kaputte Menschen nur dann, wenn sie unter ‹apart› zu rubrizieren sind. Milan Kundera fällt mir dazu ein: «Hinter allen europäischen Glaubensrichtungen, den religiösen wie den politischen, steht das erste Kapitel der Genesis, aus dem hervorgeht, daß die Welt so erschaffen wurde, wie sie sein sollte, daß das Sein gut und es daher richtig sei, daß der Mensch sich mehre. Nennen wir diesen grundlegenden Glauben das kategorische Einverständnis mit dem Sein. Wurde noch vor kurzer Zeit das Wort Scheiße in Büchern durch Pünktchen ersetzt, so geschah das nicht aus moralischen Gründen. Sie wollen doch nicht etwa behaupten, Scheiße sei unmoralisch! Die Mißbilligung der Scheiße ist metaphysischer Natur. Der Moment der Defäkation ist der tägliche Beweis für die Unannehmbarkeit der Schöpfung. Entweder oder: entweder ist die Scheiße annehmbar (dann schließen Sie sich also nicht auf der Toilette ein!) oder aber wir sind als unannehmbare Wesen geschaffen worden.Ob der wohl ein Problem hat? Ja, ich habe eines. Als ich vor ein paar Jahren die städtische Großwohnung aufgab beziehungsweise im Wissen eines in der Folge um zwei Drittel reduzierten und dann auch noch geographisch konträr verteilten (Wohn-)Raumes, gingen hunderte von Photographien, allesamt erstellt bis zur Abbildungs-Abstinenz und in Vergessenheit geraten, samt Negativen in den Müll. Ich benötigte sie nicht mehr, es befand sich ja alles auf der organischen Festplatte. Doch nun weiß ich: Man soll nie etwas wegwerfen, auch kein mißratenes Bild! Selbst mit einer krummen Photographie ließe sich eventuell noch eine gerade, weil erläuternde Seite bauen. Die Stunden sind nicht mehr zu addieren, die ich mittlerweile damit verbracht habe, in diesem weltweiten, geradezu gigantischen Bildangebot etwas zu finden, das in etwa geeignet wäre, bestimmte Themen anschaulich(er) zu machen, Texte, meinetwegen, zu illustrieren. Alleine drei Tage habe ich beispielsweise benötigt, um die Zersiedelung der Dörfer dargestellt zu finden. Kaum etwas war zu finden. Die Tristesse der Kleinstädte allüberall, produziert in den Amtsstuben, wo wird sie gezeigt? Nirgendwo die (nicht nur gewerblichen) Dreckgürtel, die nahezu jede französische historische Stadt umgeben. Immer nur das Edle und Erhabene. Es ist sinnlos. Es gibt allenfalls mal Schräges oder Schrilles, auch durchaus Komisches, vor allem aber all das, was in die Lade subjektiver Schönheit (diese Tautologie muß hier sein) paßt — von dem die photographierende Menschheit meint, es müsse unbedingt abgelichtet werden. Tausend-, ja millionenfach das Immergleiche. Ohne jeden Zweifel sind Photographien darunter, die zum Wettbewerbssieger geeignet sind. Aber nahezu alle sterben in Schönheit. Sie sind «ästhetisch hochwertig». Doch es ist eine Ästhetik, die so sinnentleert ist wie das Ornament, das als Bedeutungsträger seit ewigen Zeiten seine Funktion verloren hat (und nach dem sich die Menschheit dennoch zu sehnen scheint, indem es sich über den Hintern oder auf die zarte Schulter nadeln läßt). Formalästhetik! Nur noch Form. Neoneoneo-Klassizismus: innen hohl. Inhalte werden nicht ernsthaft «in Betracht» gezogen. Ich photographie also wieder, wenn auch nur manchmal. Wenn ich nachhause in den Süden reise, mag ich mich mit der doch recht voluminösen Digital-Apparatur nicht belasten, die ich mir dann doch irgendwann (gebraucht) gekauft habe, über ein Bildchen produzierendes Telephon will ich nicht verfügen, und meine Minox-Filme entwickelt mir niemand mehr, es sei denn zum Preis einer neuen Kamera. Photographieren, um langwierige Genehmigungsprozeduren zu umgehen, nicht Gefahr zu laufen, mich mit unterbeschäftigten oder von unangenehmen Energien angetriebenen Juristen auseinandersetzen zu müssen (eben weil ich kreative Leistung zu schätzen weiß und deshalb das Urheberrecht achte; ich bin schon bemüht, ausschließlich freigegebene Bilder zu verlinken). Kaum jemand hilft mir dabei, nach Möglichkeit auch das abzulichten, das andere nicht festhalten — oder aber es nicht sehen (wollen) oder für nicht veröffentlichungswürdig halten, weil es «häßlich» ist. Der neue Mensch fordert seinen Tribut: ästhetische, plastische Chirurgie — Schönheit. * Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, aus dem Tschechischen übersetzt von Susanna Roth, München 1984, p 237; französisch: L’insoutenable légerté de l’être, Paris 1984
Angekommen Paul zeigt mit der linken Hand nach vorne und beschreibt eine Biegung nach rechts. Aha. Ein Stückchen hinauf ins Städtchen und dann von oben draufschauen. Aber Fischfilmer Paul, weil er mit Fischen handelt, um damit seine Filmdokumentationen zu finanzieren, unser Vermieter, besser Verkäufer Paul wohnt direkt nebenan. Auch er bevorzugt den Blick nach Afrika. Und wenn wir nach unten gingen, konnten wir direkt hinein in unsere Quelle des Volksgesangs. Es ist jedesmal so, wenn ich hier durchgehe. Sofort fällt mir der Film ein. Aber über Marius et Jeannette habe ich dieses Städtchen ja auch kennengelernt. Quatsch. Kennengelernt habe ich es durch diese freundliche Dame aus dem Office de Tourisme de Marseille, die mir geradezu emphatisch alles mögliche Material über l'Estaque zukommen ließ, nachdem ich auch nur einmal danach gefragt hatte. Ständig war anschließend was im Telefaxgerät oder im eMail-Postfach. Als ob ein Weibchen das Nest bauen würde, um das Männchen zu locken. Aber irgendwie war's ja letztendlich auch so. Das soll's ja geben in der Fauna. Nun geht diese freundliche Dame doch tatsächlich mit mir ein Bett anschauen, das nicht nur zum Anschauen da stehen soll. Unsinn. Es ist ja bereits der zweite Anlauf. Denn der Vertrag war ja unterschriftsreif. Wäre es dazu gekommen, hätten wir genau diesen Weg genommen. Aber wer weiß, wozu es gut war. Es beschleicht mich — eine andere, seltsame Vernunft läßt es zu — ohnehin das Gefühl, daß das irgendwer irgendwie arrangiert hat. Es mußte wohl sein, daß ich zuvor einen auf den Kopf, in diesem Fall wohl in den Kopf bekommen mußte. Denn ob ich das vor drei, vier Jahren gepackt hätte? Offenbar eindeutig nicht. Sonst wäre ich ja wohl kaum davongelaufen. Und nun kommt mir alles so vertraut vor, als ob ich seit ewigen Zeit hier leben würde. Sicher, ich bin häufig derart voller Sehnsucht hier herumgeschlichen — die Amnesie gibt nach und nach etwas frei von den Ereignissen. Im besonderen die letzten zwei Jahre, in denen ich mich ohne Erinnerung magisch angezogen fühlte von diesem ehemaligen Fischerdorf, ich ständig versucht war, hier rauszuziehen. Irgendwie hatte meine persönliche Empfangsdame mich seinerzeit vor allem mit den Künstlern zu locken versucht, die hier ansässig waren: Braque, Cézanne, Dufy. Um nur die bekannteren zu nennen, gab man sich hier doch den Pinsel in die Hand. Sie meinte wohl, wer mit Kunst beschäftigt sei, den müsse das interessieren. Doch jemanden, der wie ich jeden halben Tag zum Bilderbetrachten verurteilt ist, wird man mit den trivialen Postkartenperspektiven und der touristischen Lyrik der Fremdenverkehrsämter wohl kaum enthusiasmieren können. Von mir aus sollen sie der Künstler und der Ab- oder Nachbildungen wegen ins Städtchen rennen. Mich interessiert allenfalls das, was all die Maler bewogen haben könnte, hier anzusiedeln. Robert Guédiguian ist das mit seinem Film vermutlich gelungen, weil er den Menschen focussierte, den diese Umgebung, diese Luft, dieses Licht, überhaupt dieses Leben nicht zur Art werden ließ. Der Maler Niele Toroni fällt mir dabei ebenfalls ein. Er hat der anderen Pariser Freundin mal einen denkwürdigen Satz in ihr Interview-Büchlein gesagt. Nicht der Betrachter mache das Kunstwerk. Denn zum Glück machten nicht die Trinker den Wein, sondern die Weinbauern mit täglicher Arbeit und jahrhundertealtem Wissen. Wenn das anders wäre, hätten wir sehr bald nichts mehr zu trinken. Sehr weise! Und Guédiguian hat dieses Alltägliche im Leben gezeigt. Das ach! so scheinbar Einfache — in seiner ganzen Komplexität. Das bißchen Liebe. Aber wie sie ein Leben eben zu verändern vermag. Und das alles in dieser zauberhaften Umgebung. In diesem Mikrokosmos eines wirklich poetischen, von mir aus poetisch verklärten oder auch verklärenden Alltags. Die reine Reinheit. Durchaus auch ein bißchen wie bei Amélie Poulain. In deren Augen — in ihrer faszinierenden Schönheit der an meiner Seite arg heftig verwandt — zu schauen hatte ich vergangenes Jahr in Sarlat, in einem Dordogne-Kleinstadtkino das Vergnügen. Verstanden hatte ich ja wieder mal nur die Hälfte; was müssen die aber auch immer so schnell reden. Doch diese kohlrabenbraunen Boules — pardon, Madame, braun, nicht schwarz! — haben dieses Märchen von der Nähe zum Menschen mir fast im Alleingang erzählt. Der von Libération hat dabei genau so viel begriffen wie ich zu den Zeiten, als meine Gedanken noch festgemauert in der Erden der garantiert phantasiefreien Ideologie schliefen. Es sei mal wieder ein Klischeebild, das von den Franzosen geliefert würde, meinte er unter anderem. Einfaltspinsel. Manchmal täte auch anderen ein neurologischer Defekt ganz gut. Ich muß heute noch heulen vor Glück oder vor Sehnsucht, wenn ich an die Bilder denke, in denen Jean-Pierre Jeunet und sein Drehbuchautor Guillaume Laurant dieses Zauberwesen Audrey Tautou durch das Paris des zehnten und achtzehnten Arrondissements haben hüpfen lassen. Und zu lachen gab's auch nicht eben wenig. Geschmunzelt habe ich fortwährend. Wenigstens der deutsche Spiegel-Autor schien aus den Polit-Kitsch-Windeln herausgewachsen zu sein. Er hatte das begriffen: «Ein gigantischer Glückskeks — süß und süchtig machend.» L'art pour l'art! Im besten Sinne. Kunst kommt von Kunst und ist nur für sie bestimmt. Ohne Botschaft. Das war schon wie ein prächtiger Landwein aus dem Süden. Nein. Das war Chabert de Barbera von 1983, vin doux naturel du Maury, «süß und süchtig machend» eben! Getrunken im abendlichen Vierzig-Grad-Sommer im Marché du vin am Cours Palmarole in Pérpignan. Aber mit Naziza und ihrem Süßen, ihrem Papa. Audrey Tautou auch mit dabei. Gerne. Und meine der politischen Reflexionsunfähigkeit nicht gerade verdächtigen Freunde aus dem Périgord, die den Film zum zweiten oder gar dritten Mal gesehen haben. Gemeinsam mit mir. Und, natürlich, Marius und Jeannette sind auch mit dabei und Robert Guédiguian und seine zauberhafte Jeannette Ariane Ascaride. Noch eine meiner (vielen) heimlichen Lieben. Er hat sie wohl deshalb vor vielen Jahren vorsichtshalber geheiratet. Unsere neuen Nachbarn. Wir trinken alle diesen süßen Wein. Nicht den — nochmal Toroni — dieser Franzosen, die sämtliche Bücher über den Wein gelesen haben, aber wenn sie drei Gläser trinken, haben sie Magenschmerzen. Eintauchen. Einfach nur tun. Nicht immer erstmal denken und dann tun. Die Gedanken kommen von alleine. Diese Erfahrung habe ich ja nun ein paar Jahrzehntchen inhaliert. Es reicht. Jetzt mag ich lieber Wein machen. Na ja. Zumindest dabei zuschauen. Und dabei an die Genüsse denken, die er verursacht. Das sind erträgliche Gedanken. Obwohl? Die Gattin hat ja was von einem kleinen Weingarten erzählt. Vielleicht kann ich ja tatsächlich ein bißchen machen. Meine Lust, ein wenig in der Scholle herumzuwühlen, ist ja seit der Stunde Null, seit meiner Neu- oder überhaupt Geburt enorm gewachsen. Früher hätte mich nichts und niemand dazu gebracht, eine Erdkrume auch nur anzuschauen, geschweige denn anzufassen; sogar vor Würmern schrecke ich nicht mehr zurück. Heute begrüße ich am Morgen meine — selbstgezogenen! — Pflanzen. Das werde ich hier in besonderem Maße fortsetzen! Und vielleicht würde der Mann, der diesen kleinen Weinberg gekauft hat und der zugleich mein Schwiegervater zu sein scheint, nach einer Rückholaktion aus dem unfreiwilligen Perpignan ja mit mir dorthin gehen und mir ein bißchen was darüber erzählen. Ich würde mich sogar etwas bücken. Obwohl das nicht unbedingt meine Stärke ist. Eine ganze Generation zivilisationsmüder akademischer Besserverdiender träumt vom Weinbau. Und ich werde es möglicherweise gar tun? Aber keine Bücher lesen und Magenschmerzen kriegen. Dann muß ich den Wein eben alleine trinken; das tun die stillen Winzer ohnehin. Ich lese ja auch keine Computerbücher. Von ihnen bekommt man Kopfschmerzen, und sie halten einen vom Tun ab. Tun? So lange ist es noch nicht her, daß ich vom Nichtstun schwärmte. Ich sehe, wie meine Beschützerin neben mir hergeht, den Kopf etwas gekünstelt leicht nach vorne in Richtung des meinen schiebt und ein wenig grinst. Wie vor vier Jahren. Ich bin angekommen. Es sei nicht verschwiegen: Das da oben entstammt größtenteils einem Manuskript für ein schrecklich dickes Buch und ist hierfür nachbearbeitet. Verschwiegen sei ebenso nicht, daß die geradezu ungeheuerlich romantische — la vie est un roman —Schilderung zweier Tage des Rückblicks (mit diesem Anfang), obwohl fast fertig gesetzt, zurückgezogen wurde, da die sentimentale Reise deux jours dann doch eine andere Richtung nahm; es gibt Menschen, die sowas Realität nennen. Verschwiegen sei die Richtung dieser anderen Wirklichkeit — die allerdings manchmal abstrusere Phantasien entwickelt, als der Créateur des Traums dazu in der Lage wäre. Keine der hier verlinkten Abbildungen steht in einem unmittelbaren Bezug zur Geschichte, zumindest nicht der hier erzählten; und wenn doch, dann wäre es Zufall. Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
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