Zweitampel

Zu Zeiten, als Europa begann, alles niederzureißen, jedenfalls die Innengrenzen, genauer: sie in der DDR abzubauen und weiter draußen als die Liberalität neu definierenden Schutzwall gegen die in die Hochzivilisation einfallenden Ur-Menschen wieder zu errichten, als es erste Anzeichen für eine Vereinheitlichung der Tankstellen, Supermärkte und anderer, der Gesundheit dienenden Versorgungsstätten vom Skagerag bis ins endlich dauerhaft heim ins Tausendjährige Reich geholte Nordafrika, ebenso von West nach Ost, auf daß sich nun auch wirklich niemand mehr wie in der Fremde fühle, sondern wie in der Gebärmutter der europäischen Mutterkuh, da fand im kleinen gallischen Mende ein für die Einheimischen recht befremdendes Ereignis statt: Eine zweite Verkehrsampel wurde aufgestellt.

Sie war notwendig geworden, da die Mittelmeer(sehn)süchtigen von Saint Etienne kommend zusehends mehr den direkten und zudem péagefreien Weg gen Süden nahmen, um irgendwie an die Badewanne zu gelangen, vielleicht aber auch, um sich das noch jungfräuliche Tal bei Millau anzuschauen, das man ungefähr zehn Jahre später beginnen wollte zu überbrücken. Wer im Städtchen auf der linken Seite der N 88 beim Händler mal eben noch ein paar Insektizide besorgen mußte, auf daß man seine Früchte selber essen könne beziehungsweise sie nicht von diesem Getier gefressen würden, also dann hinüberwollte zum Fleischer, dem konnte es passieren, daß er die benachbarte Feuerwehr zuhilfe holen mußte, um dorthin zu gelangen. Die Pompiers täuschten dann auf die Schnelle eine Übung vor und sperrten die Straße ab, auf daß der Mensch an das Getier komme, das die Gattin ihm einzukaufen befohlen hatte, wenn er schon in die Ferne schweifte vom Hof bei Châteauneuf-de-Randon aus. Ansonsten gab's ja eher von der eigenen Sau, aber bei dieser Gelegenheit wollte man dann doch auch mal ein ordentliches Entrecôte vom Rind. Pferde gab's leider recht wenige, die waren nicht so geeignet für das hiesige, doch recht unwegsame Gelände.

Schwierig genug war es ohnehin, ins Städtchen zu gelangen. Erst den alten R 4 aus der Scheune zerren, ihn ankurbeln und sich dann über die Eselspfade und oft mittendurch durch die teilweise verfallenden, weil leerstehenden Höfe auf die D 985 quälen, um dort dann Ewigkeiten zu warten, bis einer von diesen Touristen einen mal reinließ auf die N 88. Ein Landsmann hielt eher selten, eigentlich nie an. Der ging grundsätzlich davon aus, daß ein Einheimischer sich auskennt und deshalb schon irgendwie zurechtkommt. Aber die ansonsten eigentlich nicht so anpassungsbereiten Boches, über die wunderte man sich immer wieder mal, in letzter Zeit öfter, da sie vermehrt auftauchten. Der Natur wegen. Sonderlinge eben. Meistens sprachen die nichtmal richtig Französisch.

Nun ja, neulich hatte er beim Bal des Pompiers in Grandrieu doch tatsächlich einen getroffen, der ihn nach dem Alter seines Traktors gefragt hatte. Er hatte ihn sogar einigermaßen verstanden. Aber dieser Boche ihn dann offenbar nicht so richtig. Wenn sich einer schon hier im Margeride ansiedelt, wie ihm Yvette von der Bar erzählt hatte, dann muß er eben auch das hiesige Patois lernen. Auch wenn er weitab da oben hockt auf vierzehnhundert Metern. Na gut, er hat es trotzdem geschafft, Kartoffeln anzubauen und irgendwelche Beerensträucher zu pflanzen. Deshalb ist sogar einer vom Midi rauf zu dem und hat photographiert, das hat Yvette ihm erzählt beim Apéritif, er hat ja keine Zeit für Zeitung. Darauf haben sie dann doch einen genommen, er und der Boche, obwohl der Insektizide strikt ablehnt. Dabei braucht er das Zeugs sowieso nicht, die Viecher erfrieren doch da oben, wo man auch im Hochsommer abends heizen muß. Und klar doch, beim zweiten hat er dann schon abgewunken. Irgendwas von zuviel Pastis, nein auch keinen kleinen Roten, und auch noch tagsüber, stammelte er dann in einer Sprache, die ziemlich nach Paris klang. Das kam noch erschwerend hinzu. Seinen Trekker kaufen wollen, keine Grundnahrungsmittel vertragen und ihn, im Gegensatz zu all den anderen hier in der Gegend, auch noch nicht richtig verstehen.

Dabei wollte er das gute, rund dreißig Jahre alte Stück sowieso nicht verkaufen. Nein, das ist kein Schnäppchen für Freizeitbauern, wie der sich wohl gedacht hat. Erst kürzlich hatte er für teures Geld sich einen Aufbau montieren lassen. Dieses doofe, einen wegen seiner Dreher- und Blinkerei nur konfus machende gelbe Licht befand sich allerdings noch in der Auftragsphase — nachdem die Gendarmerie ihn zum wiederholten Mal angehalten und das Fehlen desselben moniert hatte. Eigentlich wäre es ihm ja egal gewesen, hätte er es ignoriert wie nahezu alles andere an diesen Neuerungsbefehlen aus Paris. Aber in letzter Zeit hatten die Uniformierten, vor allem die jungen, aus der Stadt hierherbefohlenen, alle möglichen Gelegenheiten wahrgenommen, einen anzuhalten, aufs nicht vorhandene Blinklicht zu deuten und sofort dämlich zu fragen, immer öfter in diesem unerträglich schnöseligen Patois lyonnais, ob man «etwas getrunken habe». Fragen sind das. Natürlich muß der Mensch was trinken, wenn er von früh bis spät am Ackern ist. Aber vor ein paar Wochen hatten sie den alten Vert aus La Panouse doch tatsächlich vom Traktor runter aus dem Verkehr gezogen. Dabei hatte der dieses Blinklicht obendrauf, allerdings nicht eingeschaltet auf dem Weg von der Bar nachhause zum Mittagessen und offensichtlich auch ein bißchen zuviel geladen. Der Richter meinte, durchschnittlich fünf bis neun Flaschen am Tag, so genau war das nicht zu ermitteln, sei vielleicht dann doch ein bißchen viel für den Straßenverkehr. Auf dem Feld lassen sie ihn noch fahren, um «den Boden zu bestellen», wie der Herr Vorsitzende das etwas geschwollen ausdrückte. Aber ans Steuer seines Autos dürfe er sich vier Wochen nicht setzen. Dabei hat Vert doch gar kein Auto. Er fährt alles mit dem Traktor, auch zum Einkaufen nach Mende. Gut, das dauert ein Weilchen. Aber deshalb muß man auch was trinken unterwegs. Sonst fällt man ja wegen Austrocknung runter von dem Ding.

Ewig lang gab's für Midi libre kein anderes Thema. Die Fußgänger hatten sich sozusagen zusammengerottet und dagegen protestiert. Nicht gegen Vert. Der kam ja nicht so oft nach Mende und schon gar nicht im Konvoi. Dem hätte das auf Dauer ja auch zu lange gedauert. Sondern wegen dieser Völkerwanderung durch ihre kleine Stadt. Als ob's ausgerechnet da unten, die hundert Kilometer weiter unten am Wasser, ein besseres Leben gäbe. Nun ja, dann ging es schließlich doch relativ rasch. Aber zu irgendwas muß so eine Präfektur ja gut sein, vor allem, wenn die auch noch ihren Sitz in der Stadt hat. So haben sie denn genau zwischen Insektizidenhandel und Fleischerei quasi eine Furt für Einheimische eingerichet. Jetzt stauen sich die Autos zwar manchmal fast hinauf bis nach Le Puy, daß man darüber nachdenken kann, gleich dorthin zu fahren, um einzukaufen. Aber sie werden das schon hinkriegen, daß die Ampel nicht immer sofort für die alte Richier vom Gifthandel auf Grün schaltet, wenn sie drüben im ihr ebenfalls gehörenden Blumenladen neben der Schlachterei ihres Gatten Kundschaft sichtet. Denn seit es immer mehr Touristen ins Städtchen weht, vermutlich wegen der vielen stehenden Autos, kommt das immer häufiger vor.
 
Di, 21.07.2009 |  link | (4563) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Stille Wasser

Immer wieder erstaunt es aufs neue, wie streitbar oder geradezu -süchtig Menschen miteinander umzugehen vermögen, will man ihnen an das einzige, von dem sie gar nicht wissen, ob es ihnen tatsächlich gehört: ihr Ich. Dabei ist es nicht von Belang, ob dieses Ich ein anderer oder es gar nur ausgeliehen ist oder mehrere sind. Irgendwann weiß man es selber nicht mehr und beharrt auf sich und seinem Recht, einzig zu sein und deshalb recht zu haben.

Es ging darum, ob es der oder der andere war, der behauptet habe, der Kopf sei rund, auf daß das Denken die Richtung ändern könne. Da mag also einer denken, wie er mag, wohin auch immer er will, dann passiert es, daß die Gedanken ob dieser Wirrnis um ein geflügeltes Wort in Selbstzweifel zerfallen und sich dann verweigern und deshalb stehen- oder liegenbleiben. Dann ist erstmal zu sitzen angeraten, wie es am besten geht an diesem Ort, ein paar Meter nur vom Diskussionslärm und großstadttrötenden Hafentrubel weg und deshalb von ihm noch immer beschallt, aber dennoch bereits ein stilles Abseits im Zentrum des Krachs. Doch es gibt ohnehin unzählige Varianten der Stille oder: Warum es beim Stillsein laut sein kann, aber beim Lautsein nicht still.

Hier erfährt das Ich eine andere Wertung. Man erhält seinen Pastis nach einem Gleichheitsgrundsatz, der anderswo laute Rufe nach der Gerechtigkeit der zu bewahrenden Form oder Norm hervorriefe: Den Anis nicht mit begleitender Karaffe serviert, sondern immer bereits mit Wasser gemischt, immer konstant die gleiche Menge einschließlich Oberflächenspannung, immer das unvermeidliche leichte Überschwappen aus dem Glas, die Pfütze gehört ebenso dazu wie die immergleiche stoisch-heitere Miene der Bedienung, die heute jedoch besorgt sofort Platz nimmt am scheinbar geschützteren Tisch um die Ecke, wohin die ansonsten zwei Sträßchen weiter Richtung Oper hin flott segelnde Bordsteinschwalbe sich gerade noch gerettet hat. Flugunfähig. Nicht ein Flügel oder gar beide gebrochen. Das Herz. Tief im Inneren, in der Lebensmitte schwerstverletzt, da ein um sie werbender Herr ihr nicht ausreichend warme Auftriebslust versprach und sie ihn deshalb höflich bat, sich von einer Kollegin umflattern zu lassen und er ihr deshalb nachrief, sie wisse ja nicht einmal, wer der Vater ihrer Kinder sei, sie aber doch nicht ein einziges habe, sich jedoch so sehr nach einem sehne und sie dann aber auch mit Sicherheit wisse, wer ihr diese Liebe gemacht habe. Schweres Schluchzen. Zugleich sanftes Entgegenkommen der Schulter der anderen, ebenso jungen Frau, die hier jetzt nichts überschwappen läßt, sondern nichts ist als ein flacher Strand, an dem das Wasser in Ruhe auf- oder auslaufen darf, der hier Form und Norm besonders, also maßlos gleichgültig ist, die keine Zeit hat im Augenblick für die Entgegennahme von Bestellungen, weshalb die anderen Gäste sie auch erst gar nicht weiter behelligen und nach drinnen gehen, um sich den bekannten immergleichen Geschmack persönlich bei dem Mann abzuholen, der ihn an diesem Ort seit drei Jahrzehnten bei kargem Lohn und dennoch oder deshalb still und in Würde zusammenmischt. Und auch bei der Rückkehr der sorgenvolle Blick, aber nicht auf die bedienungsunfähige Bedienung, sondern auf die niedergestürzte Schwalbe, die hier zur mikrokosmischen Volière der seltenen Vögel gehört wie sie selbst. Sie wissen, wenn dieselbe oder eine andere maladie nicht nur d'amour Wunden bei ihnen schlüge, in diesem Hospiz würden ihre erlösenden Tränen aufgefangen und bis zum Versiegen wieder in den Kreislauf geschickt. Sei es an der Schulter der einen oder der eines anderen.

Da hat es keinerlei Bedeutung mehr, ob es nun Picabia gewesen ist, der sich eben immer alles zusammenklauen würde und es deshalb Lichtenberg vor ihm in seine Sudelbücher hineinnotiert hat, was nun wirklich nicht zutrifft, man weiß es schließlich besser, auch wenn der Zweifel an einem zu nagen beginnt, wer denn nun tatsächlich oder als erster dem Denken eine immerwährend flotte Orientierungslosigkeit unterstellt hat, die ganze ein paar Minuten zuvor noch heftig geführte Diskussion bis hin zum Streit, da jeder es nunmal besser wußte als der andere, alles dahin. Alles ist hinfällig, belanglos, wenn Menschen von Traurigkeit ausgestopft und ihnen die Haare dabei strohig geworden sind, wie es Léo Ferré wußte, der die Menschen der Stadt kannte, weil er sie liebte. Beide.
«O Marseille on dirait que la mer a pleuré
Tes mots qui dans la rue se prenaient par la taille
Et qui n’ont plus la même ardeur à se percher
Aux lèvres de tes gens que la tristesse empaille.»
Léo Ferré, Marseille (1972 ebendort; La violence et l’ennui)
 
Di, 16.06.2009 |  link | (5425) | 23 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Schwarzfußfranzosianer

Nach Algerien hatte kürzlich Hanno Erdwein gefragt. Ich muß dabei immer wieder und zunächst an die pieds-noirs denken. Deren Herkunft und Bedeutung dürfte außerhalb Frankreichs weitgehend unbekannt sein; anzunehmenderweise wissen es auch viele, allen voran jüngere Franzosen nicht.

Besançon ist hier mehrfach erwähnt. Die Stadt am Rand des französischen Jura lag auf der mir nicht nur wegen des allerbesten Comté angenehmsten und deshalb häufig befahrenen Strecke von München über das Grenzdörfchen Lauterbourg nach Marseille und wieder zurück. Isar-Athen ist schon lange nicht mehr, jedenfalls für mich. Aber auch von Hamburg beziehungsweise dem Holsteinischen aus am besten via Belgien, Luxembourg, Wissembourg und Strasbourg fahrend übernächtigt man sich gut im alten Universitätstädtchen am Doubs. Man muß nicht, aber es kann einem recht wohl sein dort, wenn man den Arbeitspfaden der Touristen ausweicht. Zudem hat ein Freund ein paar Kilometer in die Hügel des Franche-Comté hinein sein Häuschen stehen. Na ja, es ist schon ein richtiges Haus. Und auch nicht mehr ganz so jung ist die ehemalige Industriellenkate aus dem 19. Jahrhundert. Und, nicht zu vergessen: von dort zum immer hilfsbereiten Dorfschmied sind es nur ein paar Schritte.

Zum ersten Mal bewußt beziehungsweise neben den deutschen und schweizerischen Shopperhopsern sowie dem Wanderstrom zur Citadelle erlebt hatte ich Besançon in Le Diga-Diga-Doo. Dort bin ich den einheimischen Schwarzfüßlern — und damit einem Stück eigener Vergangenheit — begegnet. Sie sind teilweise französischer als alle Franzosen zusammen, etwa so wie auf Martinique, wo der Einheimische mir sagte: Will man (wie) in Frankreich leben, dann muß man hierherziehen, denn wir leben die Tradition, haben noch Familien, essen noch gut. Und so weiter. Unter denen im Diga-Diga-Doo waren einige, von denen ich nie und nimmer angenommen hätte, sie könnten etwas anderes sein als Elitehochschulabsolventen und damit Kinder von mehralsbesserverdienenden Eltern. Sie sprachen nahezu alle ein (fast schon wieder übertrieben) gutes Französisch, sie benahmen sich (ausgesucht?) extrem höflich, also weitaus höflicher, als es der gemeine Franzose ohnehin tut, sie waren auch tagsüber gekleidet, als ob sie gleich ins Konzert und anschließend zum souper, dem einer Veranstaltung folgenden Abendessen, gehen wollten. Und einen Engländer hatten sie in ihrer Mitte — der war der kurioseste von allen. Er sprach ein Französisch wie auf dem Hoftheater des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts. Er hatte es in Canada gelernt, wo ein Neuzeit-Franzose nicht so recht verstanden wie gleichermaßen belächelt wird; ähnlich den Portugiesen in Brasilien. Teilweise wird in Quebec nämlich gesprochen wie zu Zeiten, als die französische Landnahme geschah. Und tatsächlich war's ein Arbeiterkind aus Manchester, das es via Montréal als Französisch-Dozent an die Université de Franche-Comté verschlagen hatte. Armer Leute Kinder waren auch all die anderen. Nur eben nicht aus England.

In mir hatten sie wohl einen Reisenden gesehen, der sich auch mal für was anderes Französisches interessiert als das deutsche Hochglanz-Savoir-Vivre. Als ausgewiesener Franzose wäre ich nicht so freundlich aufgenommen worden in diesen Kreis — und schon gar nicht von Fadila. Denn mit den Franzosen haben sie's gar nicht so, diese Vorzeige-Franzosen. Vermutlich waren sie es, die ausgerechnet Le Pen als anderes Übel gewählt hatten seinerzeit, bevor der griechischstämmige Ungar sich aufmachte, endlich ordentlich französische Seiten aufzuziehen im Land ...

Also: Der Begriff kommt von Schwarzfuß, vermutlich, weil die Kolonialisten dunkle Stiefel und Stiefeletten trugen; aber das ist nur eine von vielen Erklärungen, die allesamt nicht belegt sind, auch nicht die vom Traubentreten. Sie setzten sich zusammen aus Spaniern, Marokkanern, Franzosen, Oran, Algier, weiter nach Tunesien hin, Italienern, Korsen, Sarden, Deutschen, die, anstatt nach Amerika zu gelangen, im nordafrikanischen Wilden Westen landeten, Elsässern, die nicht Deutsche werden wollten irgendwann, Kommunarden von den Aufständen in Lyon — die Seidenweber — und sehr vielen Weinbauern aus Südfrankreich, zur Zeit des Zusammenbruchs des Weinbaus wegen der Rebstockkrankheit — inzwischen sind alle Stöcke auf US-amerikanische Wurzeln aufgepropft! 1830 bis 1847 wurde eben Algerien auch als Folge einer innenpolitischen Krise in Frankreich erobert. England und Frankreich teilten sich anschließend die Einflußbereiche in Afrika auf.

Fadila fragte mich damals verwundert, woher ich das denn alles wisse. Ich erzählte von einer Handgranate, eine mütterlich-algerische der Front de Libération Nationale (FNL) oder eine der OAS, Organisation de l’Armée Secrète, der väterlich «eigenen» Algerienfranzosen. Sie hatte in Algier einem Pied-noir-Mädchen im Kindergarten die Hand abgerissen. Über lange Zeit hielt ich Kontakt zu ihnen, war auch, vor einigen Jahren zuletzt in Valanciennes, mit bei ihren Zusammenkünften. Deshalb war ich informiert über die Pieds-noirs. Solche, die sich nicht nur in ihr Heimatland zu assimilieren versuchen, sondern auch darum kämpfen. Die Jungen. Sie machten ihren Alten Feuer untern Hintern. Wie die Zigeuner, die man möglicherweise deshalb so nicht mehr nennen darf ... Als sie nämlich zurückkamen aus Nordafrika, wollte diese Sorte Franzosen, die sich dann gerne und häufig auch noch mit Einheimischen vermischt hatten, niemand haben in Frankreich. Abschaum mögen wir nicht im Land. Fast so schlimm wie die Beur.

Andererseits müsse ich dabei oft daran denken – ob die Deutschen wüßten, wen sie alle umgebracht haben und wieviele, daß sie, beispielsweise, Franzosen in deutscher Uniform an die Front geschickt hätten? Die dann zuhause als Vaterlandsverräter ebenso geschaßt wurden wie die Pieds-noirs. Aber das wüßten eben wahrscheinlich auch viele Franzosen nicht. Oder wollten es nicht mehr wissen. — Nun denn. Und es sei außerdem ähnlich wie mit diesem Türken in meiner ehemaligen Nachbarschaft. Einer, der von ganz unten und mit harter Chauffeursarbeit in einem großen Mercedes zu einem leidlichen Mittelstandsverdienst gekommen war, mit dem er die fetten Ratenzahlungen für seine noble Voiture leisten konnte. Sehr gepflegt. Wie seine Karosse. Wie aus dem Ei gepellt. Wie aus dem Ei gepellt angepaßt. Wie der Italiener, der schweizerischer Staatsbürger wurde und dann, als aufstrebender Jungpolitiker, keine Italiener und sonstiges Gesockse mehr hineinlassen wollte in die Schweiz. Das schweizerische Boot sei voll. Ich glaube, meinte ich seinerzeit noch gegenüber Fadila, der oder mein Nachbarschaftstürke, die würden sich am liebsten die Haut bleichen — wie diese Frauen in Afrika.

In Afrika?! rief meine Gesprächspartnerin aus. Alle Städte der Grande Nation seien voll mit diesen Läden, in denen man sich die Mittelchen kaufen könne, um wenigstens die Haut zu erhellen, wenn schon nicht den Geist. Zum Zerstören der Haut! Und den Restgeist vermutlich ebenso. Auch würden es immer mehr! Nach ihrem kurzen Ausbruch meinte sie dann jedoch, wir sollten vielleicht doch besser zurückkehren zu den Sephardim, über die wir zuvor gesprochen hatten. Das sei etwas, das sie noch nicht kenne.


Die Photographie stammt von Casside unter CC.
 
Mo, 01.06.2009 |  link | (8350) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Hafenromantisches (Marseille)

Am neuen Hafen von Marseille ist es wie anderswo auch, wie in der Schwesterstadt Hamburg beispielsweise. Die sogenannte Hafenromantik ist dahin. Die Containerschiffe halten nur noch kurz an, im Eiltempo werden die riesigen Blechbüchsen aus- und wieder eingeladen, und weiter geht's auf große Fahrt ins chinesische Paradies. Für Seemannsherzschmerz ist keine Zeit mehr. Den gibt es hier wie dort nur noch im Lied. Doch im Gegensatz zur Metropole an der Elbe lebt Marseille im Hafenbereich. Na ja, in dem des Alten Hafens. Für den neuen steigt man besser in den Bus, der über la Joliette, wo das Hafengebiet beginnt, nach l'Estaque fährt. Vor allem ist der Tourismus wesentlich leiser, man spürt ihn kaum, er wird untergerührt ins alltägliche Leben, er ist ein Fischbröckchen in einer riesigen Bouillabaise. Die schmeckt noch nach Fisch und hat nicht den Geschmack von frittierter Pappe wie die Fisch genannten Fladen an Kartoffelsalat aus der Friteuse an den Landungsbrücken (die gerade überschwemmt werden, aber nicht vom Wasser, sondern von Hafengeburtstagsfeiernden). In Hamburg richtet sich in der Hafengegend alles auf die Massen aus, die rasch durchs Hafenbecken fahren oder rennen oder schippern, um sich anzugucken, was sie sich an Immobilie mit Sicherheit nicht werden leisten können; aber es ist ja wohl schon immer so gewesen, daß man wissen will, wie der Hofstaat lebt. Eine ganze Armada ist für diese Phototaschen- und Plastiktütenträger bereitgestellt. In Marseille fährt diese wunderschöne alte Personenfähre für früher drei Francs, heute in Ecu die Hälfte, vom Quai du Port hinüber zum Quai de Rive Neuve oder von dort aus zur gegenüberliegenden Mairie, dem barocken Rathaus aus dem siebzehnten Jahrhundert. In Hamburg quert eine zwischen den alten Landungsbrücken und einem Musicalzelt am Rand des Containerhafens. Von den Landungsbrücken aus kann oder konnte man zumindest für sündhaft teures Geld mit einer Art Elbsurfbrett für mehrere hundert Personen den Fluß rauf- und wieder runterfliegen. Vom Quai des Belges aus schaukelt man gemütlich in Richtung Cassis und hält bei der Rückfahrt gegen achtzehn Uhr die Nase in den Fahrtwind und überhaupt in die Abendsonne, die bald über l'Estaque stehen wird. Die Hamburger Reeperbahn dümpelt nur noch für die verruchtsheitssehnsüchtigen «Pappnasen», wie ein befreundeter Fischhändler selig aus Husum die Massen aus Wanne-Eickel oder Castop-Rauxel, wie die französische Übersetzung wohl lautet, oder sonstwoher (zum Beispiel aus Bad Oldesloe, Ratzeburg oder Trittau) mir gegenüber mal bezeichnete.

Doch für den Hafen von Marseille sieht die Zukunft düster aus. So düster, wie die Landschafts- und Städteplaner der bis vor kurzem noch neuen (Geld-)Zeit sie für Investoren rosig malen. Es hat den Anschein, als ob aus dem letzten großstädtischen Refugium Europas für dauerseßhaft Heimatlose vom euroglobalen Brüssel und über die Achse Paris und Préfecture Bouches-du-Rhône zu einem dem US-amerikanischen Denkmalsverständnis gleichkommenden romantizistischen, also erinnerungsverklärenden- und somit klitternden Ort des Kitsches umfunktioniert werden soll. Die Pariser brauchen ja auch nur noch drei Stunden mit dem TGV. Sie sind also längst da. Auch die künstlich hineingedrückte Medienindustrie oder wie auch immer man es nennen möchte. Auf jeden Fall Weltstadt. Aber eben nicht gewachsen wie seit zweitausendsechshundert Jahren. Sondern so artifiziell wie drittklassiges Kino oder Werbefernsehen. Wer interessiert sich denn schon für Geschichte mit all ihren Widrigkeiten, wenn man das Design auch ohne Innenleben vorführen kann. Das von Marseille ist ohnehin ein Rudiment. Fortschritt ist alles. An den Immobilienpreisen im ersten, zweiten und sechsten Arrondissement ist es längst mehr als deutlich spürbar; andere feine Winkel waren ohnehin immer unerreichbar da oben. Aber im Schleifen von Städten und geradezu grotesken Errichten von sogenannter Moderne ist Frankreich allemale Weltmeister.

Im Januar 1943 begannen deutsche Truppen nach der sogenannten Évacuation von fast 27.000 Einwohnern in ein Gefangenenlager bei Fréjus unter Befehl des Generalfeldmarschalls von Rundstedt mit der Sprengung des Hafenviertels. Das kam den Stadtplanern von Marseille allerdings recht, denn die hatten hier bereits in den dreißiger Jahren einen planerischen Kahlschlag vorgesehen, wie man ihn aus der französischen «Sanierungs»-Tradition kennt, etwa aus Paris, das der Architekt und Städteplaner Georges-Eugène Haussmann kontrarevolutionär sanierte. Man kann seine Taten auch überall in Marseille sehen, beispielsweise im bürgerlichen 6. Arrondissement oder im Hinterhof der rue de la République, die das Panier nördlich begrenzt. Unglücklicherweise erinnern die hinter den Reißbrett-Häusern, die man nach Beseitigung der Altimmobilien später rechts und links des barocken Rathauses gesetzt hatte, befindlichen bieder-schrecklichen Werkbund-Verunstaltungen an deutsche Gebäude der dreißiger Jahre. Aber nicht vergessen werden sollte dabei: Ein paar hundert Jahre zuvor hatten es die Marseillais allerdings selbst vorgemacht, wie man sogenannte Kriminelle wegsaniert — beispielsweise den ausgeuferten Hafenstrich ...

Und, ach ja, Fos, wie am Freitag erwähnt, diese, im Wortsinn, ausufernde französische Gigantomanie der sechziger Jahre. Winzig, geradezu grotesk klebt das alte Fos-sur-Mer mit seiner romanischen Kirche und den noch älteren Befestigungsanlagen mittendrin, obendrauf. Eingeschnürt von Schwerindustrie mit Stahl, Aluminium und Petrochemie, vom Erdölhafen und Leitungen nach Norden. Es ist im Nachhinein vermutlich gar nicht mehr zu ermessen, was da alles kaputtgemacht wurde. Nun wird eben neu kaputtgemacht.

Ich nehme direkt die Abfahrt — und tauche hinein in die kleine Welt unseres Heileheilesegens, unserer Insel der Glückseligkeit. Eigentlich gibt es ja eine sehr viel schönere Zufahrt. Seit 2001 kann man von Vitrolles her über das Massif la Nerthe ins nachkriegerisch eingemeindete Städtchen fahren. Ach, was denke ich da für einen Unsinn! Das konnte man früher auch schon. Aber längst haben sie's zur Rennstrecke ausgebaut. Wahrscheinlich, daß ein paar Ortskundige zügiger zum Flughafen Marignane gelangen oder nach Vitrolles. Vielleicht Le Pen, um schneller zu seinem ihn nach wie vor anbetenden Stimmvieh zu kommen. Die Außerirdischen nehmen ohnehin die Autoroute, weil sie Angst haben, sich zu verfahren. Das ist aber auch gut so. Denn in l'Estaque selbst weist glücklicherweise kaum etwas darauf hin, daß man hinter den Hügeln recht gut durchrauschen kann (Sinnbild). Die größeren Lieferwagen bleiben ohnehin weg von diesem Weg, da er trotzalledem noch immer zu viele Kurven aufweist. Richtig — sollen sie auf der Autobahn bleiben. Wir wollen in Ruhe unseren kleinstädtischen Bilderbuchsozialismus, unsere französische Kinowelt leben.
 
So, 10.05.2009 |  link | (6712) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Liebesgeschichte(n)

Hirnkino für Hanno Erdwein und Gattin. Und selbstverständlich auch für die, die's ebenfalls mögen.

Schon hinter Vitrolles spürt man es. Dann, nach dem Kreuz, wo die Autobahn von Westen, etwa von Martigues her einmündet, sieht man es — la mer. Es ist nicht zu beschreiben. Ein pulsierendes, immer höher schlagendes Herz ist nicht zu zeigen. Selbst eine Kamera des höchsten technischen Niveaus vermag lediglich die ansteigende mechanische Pumpfrequenz abzufilmen — die chemische Reaktion dieses Glücksgefühls bekommt sie nicht aufs Bild. Weit geht der Blick hinunter auf die Rade de Marseille; auch am Mittelmeer kann's blasen, und manchmal, eigentlich unvorstellbar so kurz vor Afrika, gibt's sogar richtig Schnee. Aber bei guter, also spätfrühlingshafter Sicht reicht er bis hin zu den Îles de Frioul, zum Zeugungsort meiner armenisch-nordafrikanischen Calypso mit Blut aus Sand, der Île Ratonneau, deren Grenze zur Nachbarin Île Pomègues diese wunderschöne offene, bei aller Geborgenheit das Gefühl grenzenloser Freiheit bietende Badewanne ist, und zum alten Knast des Grafen, der ja tatsächlich existierte, was die wenigsten wissen — la taule de histoire. La vie est un roman!

Zur Linken zeigt sich weit unten die sich über dreißig Kilometer ans Meer schmiegende Métropole du sud mit ihren Ausuferungen, nur unterbrochen — wenn der Begriff der Unterbrechung hier allerdings fast Blasphemie ist — von unzähligen Buchten, insgesamt vierundzwanzig Kilometer Calanques, die unvergleichlichen Buchten mit blauem, grünem, türkisem, manchmal, von den leuchtenden Felsen her fast weißem Wasser, je nach Tiefe. In den Höhlen übersommert so mancher Naturfreund. Und man verhaftet ihn nicht. Gegenüber dem etwa dreißig Kilometer entfernten Cassis ragen die höchsten Meeresklippen Europas auf. Nicht so überragend ist dabei, daß ein — mittlerweile auch keine englischen — Fußbälle mehr fangender Kahlkopf da oben wohnt. Neben altem Adel. Selbstverständlich. Neues Geld zu altem. Die 1864 geweihte Notre-Dame de la Garde begrüßt mich. Sie versucht es immer wieder, obwohl sie genau weiß, daß ich eher ein Techtelmechtel mit dem romanischen Saint Victor habe. Die Stille steht mit sechs- bis neunhundertjähriger Ruhe auf fünfzehn Jahrhunderte altem Grund inmitten des siebten Arrondissements. Die im Vergleich dazu backfischige Basilika-Dame oberhalb von Vauban oder Endoume oder Saint Victor oder wo auch immer — man sieht sie von überall — ist nicht weit davon entfernt, doch sie überragt eben alles und macht sich ein bißchen wichtig. Dementsprechend huldigt ihr auch der — im Vergleich zu anderen großen alten Stätten gleichwohl harmlose — Tourismus, der sich in die geheimnisumwobene Verbrecherstadt des deutschen Sechziger-Jahre-Kinos getraut. Die gigantische Hafenanlage macht sich ebenfalls bemerkbar. Unsinn. In dieser Stadt macht sich bis auf ein paar jüngere BMW-Cabrio-Beurs und eben Notre-Dame de la Garde niemand wichtig.

Der neue Hafen hat wichtigeres zu tun, als ausgerechnet auf mich winzigen, inzwischen ebenfalls antiken Heimkehrer zu achten. Er schiebt sie hinaus, die Fähren nach Afrika, nach Korsika, die Schiffe in alle Welt. Immerhin ist er zusammen mit dem einst gallisch-römischen, nur noch in kümmerlichen Resten ans 12. Jahrhundert erinnernde und heute völlig verdreckten Fos-sur-Mer der nach Rotterdam und Antwerpen drittgrößte Europas; vielleicht aber stimmt das nicht mehr und der schwesternstädtische hat ihn längst überrankingt als Kraftmeier des über die Meere schwimmenden Konsums. Ohnehin hat der Hafen, der alte, heute nur noch als historisches, dem Tourismus dienendes Schmuckstück herumliegende, für Marseille bei weitem nicht mehr die Bedeutung, mit der er diese Stadt über zweieinhalb Jahrtausende geprägt hat, nachdem Protis an Land gegangen war, um sich mit der schönen Ligurerin Gyptis zu vereinen. Protis war Phäake, und die Phäaken, dieses Seefahrervolk von der Insel Scheria, hatten nicht nur einen gastfreundlichen König namens Alkinoos, der den schiffbrüchigen Odysseus aufnahm, um ihn dann in sein Ithaka zu geleiten. Er hatte auch eine schöne Tochter. Nausikaa war es, die den gestrandeten Odysseus fand und ins Haus ihres Vaters führte. Immer diese Mädels. Wie in Marseille. Es wurde von der Liebe gegründet. Aber diese sehr viel eher mit Griechenland als mit Frankreich verwandte Schönheit ist ja sowieso längst selbst Mythos. Und die Mythologie (über-)lebt eben nur in ihres ürsprünglichen Wortes Bedeutung — in der Erzählung, in der Überlieferung. Hier eben als Liebesgeschichte.


Die anläßlich des 2.500. Geburtstages von Marseille abgebildeten Gyptis und Protis entstammen dem Aufsatz Who were the «Celts» des Institute for Advanced Technology in the Humanities der University of Virginia aus der Reihe Ethnic and Cultural Identity, worin die Autoren «the mysterious Ligurians» zur Sprache bringen. Ach ja, unsere US-amerikanischen Freunde: God moves in mysterious ways.
 
Fr, 08.05.2009 |  link | (8782) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Die Schöne und der Trampelpfad

Eben fliegt es vorbei, Cavaillon, mein anderer Ausgucksort zum Heiligen Dichter- oder Radfahrerberg Mont Ventoux. Es wäre ja auch ein sehr schönes Stückchen Erde, die Haute-Provence. Doch es liegt so weit östlich. Sofern man Italien als Osten bezeichnen kann. Und so hoch. Schön ist es zweifelsohne, beispielsweise dieses wirklich nette Reillanne unweit von Manosque, dem hübschen Heimatstädtchen von Jean Giono. Da könnte ich auch leben. Unsinn. Das Meer würde mir dann doch fehlen. Und die Stadt. Die richtige. Ach — ich denke doch südlicher. Als nächste Denkstation wird Salon-de-Provence auftauchen. Gerade mal zwanzig Kilometerchen. Unaufhörlich nähern wir uns dem Glück auf Erden. Kurz danach werde ich den Étang de Berre riechen. Das sind dann schon Meeresdüfte. Ein winziger Schlenker nach links noch, und dann ignorieren wir Aix-en-Provence.

Die Schöne, die im Sommer lediglich aus einer Einkaufsmeile und einem Trampelpfad pour faire du shopping de brocante zu bestehen scheint — Cours Mirabeau und die rue Espariat. Zweimal habe ich stundenlang an der vermutlich wieder mal einzigen Bar weit und breit gesessen, die auch Einheimische anlaufen. Klar — Bar-Tabac. Die Besucher der Stadt bringen sich ihre Zigaretten in Dosen von zuhause mit — es ist ja alles so teuer geworden im einstigen Land des billigen Lullingers —, außerdem trauen sie sich auch nicht rein in diese eigenartigen Einheimigkeiten, also kein Fremd-Trafic. So sind es immer die besten Plätze. Ich suche sie grundsätzlich auf. Das ist bei weitem spannender als Kino. Dort, vor der Bar Espariat, eingekreist von ein paar sehr fröhlichen Spaniern, kann man sie dann sehen, wie sie sich hinaufschieben und gelangweilt wieder hinunterrollen, die Mittel- bis Nordeuropäer, denen der Provence-Prospekt die Stadt verordnet hat. Oben gehen sie ein bißchen alte Architektur gucken und kaufen ein paar miserable Cézanne-Reproduktionen für unvorstellbares Geld im angeschlossenen, nach dem Maler benannten sogenannten Museum. Zwischendrin gibt's dann hier noch ein wenig Tand und dort ein bißchen Touristenmüll. Die Auslage der Buchhandlung KiLi besteht ausnahmslos aus Bilderbüchern. Dann können sie zuhause nachschauen, wo sie überall waren und was sie alles nicht gesehen haben. Oder was sie hätten sehen können, es sie jedoch nie wirklich interessiert hat und sie's schon deshalb nicht gesehen hätten, auch wenn sie mittendrin gelegen wären. Denn Rest kriegen sie dann auch noch gekullert — bis zur Place de la Libération oder auch Place de Gaulle. Dort gibt's dann endlich Eiscafé. Mit Crème de plastique. Oder zwei oder drei. Denn wenn man allzu lange an einem sitzt, kann einen schon der messerscharfe Blick des Kellners treffen. Wenn es ein sommerliches trou perdu unter den historischen Innenstädten gibt, dann ist es Aix-en-Provence. Im Winter ist es angenehmer, weil die Alteingesessenen sich mal aus dem Haus getrauen, in diesem Vorort von Marseille. Das ist despektierlich, ich weiß. Aber mir wird einfach nicht klar, weshalb alle Welt dieses Kaff so zauberhaft findet. Sicher ist es hübsch. Aber alte Architektur gibt es in diesem Land mehr als Touristen. Glücklicherweise. Sogar im Schwabinger Universitätsviertel ist im allerhöchsten Hochsommer mehr los. Und trotz der mittäglichen Hitze sieht man in Marseille ein Leben vor dem Tode. Aber Aix ist voller Leichen. Unglaublich tote Touristengesichter. Selbstverständlich werde ich es tunlichst unterlassen, derart Lästerliches von mir zu geben, wenn ich dann doch immer wieder hinfahre.

Und schon habe ich den leichten Linksruck im Rücken. Kerzengerade geht's jetzt hinunter. Ein Stückchen noch, und hinter Rognac werde ich rechts ins Becken hineinschauen. Es hellt sich auf. Ich werde es sehen, das Wasser des Étang de Berre, das einmal richtiges Meer war. Nun, es schwimmen dort ja immer noch ordentlich Anteile davon herum in diesem Muschelteich. Klar, die Mischung aus Süß- und Salzwasser muß stimmen.

Unten, im Ebro-Delta, klemmen sie diesen Tierchen das Süßwasser ab. Gegenüber früheren Zeiten kommen nur noch etwa fünfzig Prozent davon an. Und damit die Sedimente, die in den Stauseen der Pyräneen hängenbleiben. Sie sind die Nahrung der wohlschmeckenden Tierchen, die in den Töpfen und den Paella-Pfannen der einheimischen Küchenmagiere landen. Das Salz des Meeres allein ist macht die Mytilus edulis, die feine mejillón nicht satt. Sie braucht, wie ich, Süßes. Und weil das wenige süße Wasser nicht weit genug absinkt, wächst sie im unteren Bereich der Pfähle nicht mehr. Also nicht, weil die sich vor den Touristen ekelt, die sie so mögen. Sondern weil die es sind, die entlang des salzigen Mittelmeeres das Süßwasser doch eher schätzen. Hunderte von Kilometern in den Süden wird es gepumpt. So bauen die kastilischen Spanier einen Stausee nach dem anderen oder vergrößern die bereits vorhandenen. Trotzdem kommt kaum noch Wasser der katalanischen Spanier in ihrem Ebro-Delta an. Wir schmerbäuchigen Pappnasen kriegen es, auf daß wir unten in Almeria das Salzwasser von unseren Körpern und unsere Fäkalien wegzuspülen vermögen. Und oben trocknet alles aus. Auch die Dörfer. Weil die jungen Menschen wegziehen. Acht Milliarden Euro soll die Europäische Union dafür aus der Börse ziehen. Man muß sich das mal vorstellen! Acht Milliarden für die Zerstörung der unvergleichlichen Pyräneen-Landschaft, in die — mit Hilfe europäischer Euro — ein behutsamer, landschaftserhaltender Tourismus aufgebaut wurde. Der dann absäuft in den neugeschaffenen und erweiterten Wasserspeichern für die politische Ödnis Madrids. Wie die alten Dörfer. Acht Milliarden, um den Katalanen der Pyräneen das Wasser abzugraben und es dem skandinavischen, beneluxischen oder castop-rauxelianischen Suchtpotential einer melanomfördenden, versandhausartigen, zudem nach Ungewaschenheit aussehenden Hautfarbe zuzuführen, jenen Pigmentierungen, die die Afrikanerinnen sich mit ätzenden Chemikalien wegzuschmirgeln versuchen. Und das, obwohl Frankreich sich längst bereiterklärt hat, den Spaniern eine — umwelttechnisch problemlose, sagt man, sagen die Energie-Konzerne — Wasserspende aus der Rhône zu geben. Vierhundertfünfzigtausend Katalanen haben am 10. März 2002 in Barcelona den madrilenischen Wasserspekulanten diesen Wahnsinn demonstrativ deutlich zu machen versucht. Hier sollte Brüssel doch nun wirklich mal den Geldhahn geschlossen halten. Ausnahmsweise mal kein Geld rausrücken und das Wasser im Dorf lassen.

Hier wachsen sie noch. Ich sehe sie. Na ja — ich sehe das Wasser, wenn ich vor dem leicht traumzuckenden Näschen meiner ruhenden Calypso vorbeischaue. Der Tag hat rechtzeitig das Licht angemacht. Und jetzt rieche ich sie. Die Ente läßt den Geruch durch ihre Lüftungsschlitze zu uns hinein. Das Fenster darf ich ja nicht öffnen. Denn bei diesen Klappluken kommt sofort derartig viel Frühmaimorgenluft herein, daß mein warmes Weiches zu meiner Rechten auf den Schlag der Unterkühlungstod trifft. Das hätte ich nicht so gerne. Doch dieser Anflug von aphrodisierenden Düften aus dem Muschelteich hat sie wohl bereits Morpheus entrissen.
 
Mi, 06.05.2009 |  link | (3222) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Hugenottenmetropole (La Rochelle)

Bretagne. Normandie. Massif Central. Auvergne. Dordogne, Cyranos Gascogne! Auch am Atlantik ist schon mal länger Station zu machen — Fahrt über Troyes, Auxerre, Orleans, Tours, Angers, Nantes. Immer die unglaubliche Loire entlang. Adolphe Desbarolles, Maler und Reiseschriftsteller des mittleren neunzehnten Jahrhunderts, hat sicherlich recht, wenn er schreibt:
Die Ufer des Rheins sind ohne jeden Zweifel schön. Aber ohne die romanischen, gotischen oder mittelalterlichen Städte fehlt ihnen eben etwas. Die Ufer der Loire und der Seine tragen ihre Fluten auf majestätische und authentische Weise zum Meer, während ihr sich Rivale dort wirr im Sand verirrt oder verliert, wo er nützlich und seine Schiffe zur Mündung tragen könnte. Darin ist er ein treues Emblem des deutschen Volkes — das seine Stimme erhebt und donnert und sich majestätisch gibt, aber am Ende seiner langen Sätze und Perioden nie zu einem konkreten Gedanken kommt.*
Nun denn. Na ja. Authentisch ja, aber majestätisch doch eher weniger. Denn authentisch ist ja wohl ein eher unpoetischer Begriff für einen solchen langen Minnesang, der seinen Lebenssaft bei Saint Nazaire in den Atlantik ergießt. Authentisch ist die Loire vielleicht, wenn man die Rennstrecke N 25 nimmt. Aber auf der linken Seite entlangrollend läßt sich die sanfte Wasserwalze immer mit den Augen besingen (wenn auch zwischendrin aus dem Gesang kurz ein Aufjaulen wird: bei der Zwangsumfahrung des Atomkraftwerkes, das sich aus der Loire seine Kühlung holt). Fast bis nach Nantes kann man die kleinen Straßen fahren. Ab Saumur sah man auf ihnen früher fast nur noch englische und irische Autokennzeichen auf Rover und Jaguar; sie sind etwas weniger geworden, das Geld ist nicht mehr so flüssig wie der Fluß. Doch auf die historisch fundierte Liebe der Briten zu diesem Landstrich muß man ja nun wirklich nicht eingehen. Es reicht ja, daß sie in den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts in dieser Gegend von einer geharnischten Jungfrau mal fürchterlich verprügelt wurden. Warum also sollten sie nach so langer Zeit nicht wieder mal ein bißchen was von dieser unendlichen Rebenlandschaft haben? Zumal sie seit dem achtzehnten Jahrhundert keinen eigenen Wein mehr auf ihrer Insel haben beziehungsweise gerade mittels menschlicher Erderwärmungshilfe mühsam wieder damit anfangen müssen. Und halb Frankreich gehört ihnen eben auch nicht mehr. In Nantes sieht man dann sowieso wieder richtig viele Franzosen. Wo man hinschaut. Überall ist alles durch und durch französisch. Maritimfranzösisch. Überall kribbelt es. Das nahe Meer bemächtigt sich der Grundstimmung. Sie wird zum Gefühl. Dieses Herumsitzen. Nichts anderes möchte man mehr tun. Jedenfalls im Sommer. Aber schließlich tut man es dann doch. Doch bei sehr viel tiefem und ruhigem Atem. Je nachdem, wohin man möchte. Bei Bouaye bereits flirrt das Licht so seltsam. Wüßte man es nicht, es wäre eine Ahnung — la mer. Dann auf den Michelin die N 758 entlangschlurfen, und nach etwa sechzig Kilometern hat man es endlich erreicht, eines dieser vielen Denkmale französischer technophiler Gigantomanie — Brücken, die in den letzten fünfzehn, fünfundzwanzig Jahren gebaut wurden. Von Fromentine aus gelangt man zur Île de Noirmoutier — péage natürlich, man muß bezahlen. Auf der rechten Rheinseite denkt man ja immer wieder mal ebenfalls heftig über solche Straßen- oder Brückengebühren nach.

Rund hundertfünfzig Kilometer weiter südlich der Brücke zur Île de Noirmoutier habe ich mal stundenlang verzweifelt versucht, den Hafen wiederzufinden, von dem aus die Schiffe zur Île de Ré fahren. Ich wollte dorthin. Aber wen auch immer ich in der uralten Protestantenstadt La Rochelle gefragt hatte — niemand wußte mir den Weg dorthin zu nennen. Oftmals war die Reaktion sogar ein Kopfschütteln, das besagte, ich müsse nicht ganz dicht sein. Ich war jedoch mindestens zehnmal mit der Fähre zur Insel und wieder zurück gefahren. Doch ich hatte wohl nicht bedacht, daß es eine Weile her war. Also suchte ich mir einen an Jahren etwas fortgeschritteneren Menschen. Und vielleicht auch noch jemanden, der über ein paar Ortskenntnisse verfügen mußte. Der Taxifahrer lachte beinahe lauthals und meinte, ich sei wohl lange nicht hier gewesen. Er hatte recht. Gut zwanzig Jahre war es zu diesem Zeitpunkt her. In der Zwischenzeit hatten sie die bis zu diesem Zeitpunkt längste Brücke überhaupt gebaut. Knapp vier Kilometer schlängelt sie sich hinüber vom Pont Viaduc bis nach La Pallice.

Erik Orsenna schrieb über seine (bretonische) Insel: «Die Einheimischen waren stolz auf die Entlegenheit ihrer Insel und machten sich über die falschen lustig, die, wie Noirmoutier, bei Ebbe durch eine Straße mit dem Festland verbunden waren, oder, noch schlimmer, durch die unendliche Vulgarität einer Brücke, selbst einer künftigen (arme Insel Ré).»**

Damals, etwa 1970, war die arme Insel Ré mal ausnahmsweise nicht von Engländern, dafür aber von Deutschen besetzt. Es handelte sich dabei zwar nicht um späte Ausläufer des zweiten Weltkrieges, doch in der Landnahme müssen die Deutschen wohl ihre Kriegserfahrungen zuhilfe genommen haben. Glücklicherweise verloren sich die Blechmassen im Inneren ein wenig, da die Insel doch recht groß ist. Doch dann, etwa 1991, habe ich verschwindend wenige deutsche Autokennzeichen gesehen. Die in dieser Gegend besonders kriegsgeübten Franzosen hatten ihre Insel zurückerobert. Ein paar Unentwegte, denen es dort immer noch gefiel, waren übriggeblieben. Sie scheuten auch die doch nicht ganz unerhebliche Brückenbenutzungsgebühr von hundertzwanzig Francs nicht (für die Jüngeren oder Vergeßlichen: damals etwa sechsunddreißig Mark oder heute achtzehn Euro). Man benötigt schließlich auf einer Insel ein Auto. Der Bus fuhr einen von der Grosse Horloge am Alten Hafen von La Rochelle für fünfunddreißig Francs bis ans Ende der dreißig Kilometer langen Insel, nach Ars-en-Ré oder nach Saint Clément. Für rund zwanzig Francs kam man bis nach Saint Martin-de-Ré mit der imposanten, von Sébastien de Vauban Ende des siebzehnten Jahrhunderts erbauten Festung. Nicht nur Mirabeau hatte hier sozusagen eine feste Burg, sondern auch Dreyfus durfte darin auf seine Deportation warten. Und die vielen deutschen Urlauber der sechziger bis in die siebziger Jahre hatten hier wohl Opas Vergangenheit besucht, der als Gefangener des ersten Weltkrieges in diesem Gefängnis schmachtete. Er bekam vermutlich eine andere Suppe als die schräg gegenüber im Zentrum des Hauptstädtchens angebotene. In dieser Fischsuppe des kleinen Hotel-Restaurants möchte ich am liebsten heute noch schwimmen. Und die Begleiterin von damals aktuell dessen fruits de mer untersuchen ...

Besonders gerne waren die Engländer die Insel und die dahinterliegende Stadt angeschwommen. Sie nahmen 1154 La Rochelle in Schutzhaft. Die Hafenstädter hatten diese frühmafiotischen Methoden in Kauf genommen, um den Wohlstand nicht zu gefährden. Siebzig Jahre später ruderten die Engländer wegen des Drucks des siebten Ludwigs von Frankreich wieder auf ihre eigene, größere Insel zurück. Um zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts wiederzukommen. Es ist spürbar. Das Protestantische, das als das Hugenottische allerdings auch in Frankreich mal ein Schwergewicht war, jedoch (hauptsächlich) niedergemetzelt in der berühmten Pariser Bartholomäusnacht zum 24. August 1572, angezettelt von der Italienerin Katharina de Medici, der Mutter des französischen Königs Karl dem Vierten und als an ordentliches Essen gewöhnte Florentinerin Begründerin von Paul Bocuse' nouvelle cuisine, die ihren konvertierten Sohn wieder unter die Fittiche des Katholizismus zurückholen wollte. Rund 200.000 Hugenotten flohen daraufhin in alle Himmelsrichtungen. Die meisten französischen Elemente in der deutschen Sprache entstammen den Folgen dieses Pogroms. Das Protestantische hat deutlich seine Spuren hinterlassen in den überall sichtbaren achthundert und mehr Jahren aller Arten von Bauwerken von La Rochelle.

Daß diese geballte Architekturgeschichte noch heute zu sehen ist, obwohl vor noch nicht allzu langer Zeit die Deutschen auch hier ihre Neuformierung der Welt probten, ist zwei kunstsinnigen Hauptabteilungsleitern der beiden sich gegenüberstehenden Armeen zu verdanken. Der Gründer und Besitzer des kleinen Gestapo-Museums hat es der Freundin und mir im Keller seines Hauses erzählt. Er hat es selbst eingerichtet, und er wollte es nicht versäumt haben zu zeigen, was auch hier am Atlantik des Größten Feldherrns aller Zeiten Geheime Staatspolizei trieb. Auch beim Erhalt der ohne diesen heutigen Massenandrang nachgerade märchenhaft schönen Stadt sollte Sprache beziehungsweise Verständnis einmal mehr eine wesentliche Rolle spielen. Der französische Kommandeur war nämlich ein Landsmann von mir. Als Elsässer etwas zurückliegender Generationen spricht man zwangsweise Deutsch. Und da die beiden nicht nur Deutsch sprachen, sondern sich auch noch über einen kulturerhaltenden Dialekt verständigten, hieß es: Kein deutscher Häuserverteidigungskampf gegen die Alliierten. Royan wird freigegeben für die Kriegssüchtigen. Royan darf erschossen werden (so sollte es dann auch aussehen ), La Rochelle dafür am Leben bleiben. Nur der U-Boot-Bunker wird gesprengt (davon lebt heute noch das deutsche Kino US-amerikanisch-retrospektivischer Prägung: Das Boot). Ach, wenn die beiden Generäle das gewußt hätten ...

So dürfen sich also Myriaden von Touristen durch die historische Einkaufsmeile der wohl bereits im zehnten Jahrhundert gegründeten Stadt drängeln. Es ist mittlerweile so eine Art französisches Rothenburg ob der Tauber geworden. Und die rattern dann unter anderem auch in Massen hinüber zum Fort Boyard. Diese Festungsinsel, auf der die vermutlich dämlichste Serie ewig lange dauergedreht wurde (wird?), die das französische Fernsehen wohl je produziert hat. Und die sich selbstverständlich hervorragend ins Nachbarland verkaufen ließ und läßt. Die privaten Unterhalter führten (führen?) sie lange Zeit wiederholt vor, und die lustigen Spieleranten setzen es fort, das Fort. Es ist in der Charakteristik aber auch so eine Art Vorläufer von Big Brother. Womit nicht das Buch von Orwell gemeint ist. In dieser Fernsehunterhaltung in historischer Kulisse spielen Teilnehmer ein bißchen Überlebenstraining nach Punkten. So etwas ähnliches wie mittelalterliches Handwerken bei fließend Warm- und Kaltwasser sowie Kanalisation.

Das Ende habe ich hier vorweggenommen.


* Le Caractère allemand expliqué par la physiologie, Librairie Internationale, Boulevard Montmartre (A. Lacroix, Verboeckhoven & Ce, Éditeurs à Bruxelles, à Leipzig et à Livourne), Paris 1866

** Inselsommer

Die Photographie stammt von Frédéric Larré unter CC.

 
Do, 26.03.2009 |  link | (13178) | 11 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Generationenheim

Allüberall ziehen sie zusammen. In ein Haus. Sie wollen den Schluß nicht alleine verbringen. Schon gar nicht in einem Altenheim. Am Ende gar eins mit Pflege. Ich erinnere mich. Bald zwanzig Jahre ist das her.

Viel hätte nicht gefehlt, und ich würde heute an diesem dringenden Bedürfnis vieler Menschen, sich möglichst zugleich an einem Ort einzufinden, vollends verzweifelt sein. Oder längst wieder die Flucht ergriffen haben. Unter großer Schuldenlast. Wie es offenbar mit dem Pariser der Fall war, der im beschaulichen, von Reiseführern später gern als Bohème-Quartier angepriesenen Saint Nicolas sozusagen seine ewige Ruhe finden wollte. Gegenüber den beiden Türmen aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert, die die Einfahrt des Alten Hafens bewachen. Dieses Hafens, in dem nicht nur ein bißchen Modder, sondern auch viel Gezeiten zu sehen sind. Alle sechs Stunden einige Atlantik-Meter. Alle sechs Stunden ein völlig neues Bild vom immerselben auf die Seite gekippten Kutter. Alle sechs Stunden Atlantikwasser, das in den Kanal hineindrückt. Dort, wo das zu Recht sagenumwobene, 1984 gegründete Chansonfest Francofolies begründet wurde, beehrt nicht nur von Léo Ferré. Der Pariser hat das Café und das dazugehörende Haus wieder verkauft.

Genau gegenüber stand und steht das Haus mit der Bäckerei. Es war offeriert worden. Es gab bereits drei Bekannte, die mit mir meine Vorstellung von einem Hort der Gemeinsamkeit in unterschiedlichen Altersgruppen verwirklichen wollten. Zu fünft oder zu sechst wollten wir es kaufen. Angefangen bei der Zweiundzwanzig- bis zum gut Fünfzigjährigen. Ein paar Jüngere, vielleicht Einheimische, sollten noch als Mieter hinzukommen. Es hat sich zerschlagen. Der eine konnte dann doch nicht so, wie er wollte. Und die andere wollte nicht, wie sie gekonnt hätte. Die anfängliche Euphorie war bald umgekippt. Vermutlich haben sie dann doch ein bißchen die Fremde gefürchtet. Oder vielleicht lag's ja auch daran, daß man sie ausgelacht hatte im Bekanntenkreis wegen dieser hirnrissigen Idee der Gemeinsamkeit von Generationen unter einem Dach.

Aber heute bin ich heilfroh, daß es nicht dazu kam. Denn als ich nach vielen Jahren mal wieder dort war in der Metropole des Charente-Maritime, überkam mich doch ein gewaltiger Schrecken über diesen Nebenzweig der Umweltverschmutzung. Der neu gewählte Monsieur le Maire hatte die Stadt von diesem sommerlichen Ruck- und Schlafsackgesindel säubern lassen, dem die Stadt die Francofolies zu verdanken hat. Dann hatte er sein La Rochelle ob der Tauber. Und zum Chansonfest reisten sie in Edelkarossen an. Zwischendrin war die singende Narretei mal so gut wie pleite. Mit Geld scheint doch nicht alles machbar zu sein. Und dann diese hinzukommende Volksseuche Massentourismus, die diese wunderschöne Stadt zerstört. Sie dürfte sich allenfalls noch in den Ameisenburgen aus Beton solcher eigens dafür hochgezogenen Städte wie Martigues derart drastisch zeigen. Oder in dem abstoßend monokulturellen Gewusel solcher Strand-Trabanten wie Pérpigan- oder Narbonne-Plage. Doch da können sie sich wenigstens gegenseitig tottreten. Während sie in La Rochelle über Jahrhunderte Gewachsenes erledigen. Bis zur Markthalle aus der Gründerzeit besteht die Rue des Merciers nahezu ausnahmslos aus Touristenfallen in Form von Edelboutiquen für diejenigen, die glauben sollen, es wären welche. Und einmal mehr haben nur ein paar wenige etwas davon – Francs. Von mir aus Euro. Und die anderen werden immer mehr zurückgedrängt in die letzten Winkel. Aber auch Saint Nicolas ist keiner mehr. Ich bin wirklich froh, nicht in dieser Art Gemeinsamkeit gelandet zu sein. Das Kino hatte mich glücklicherweise in den Süden geführt.


Das war mal mit ein Grund, dorthin ziehen zu wollen. Hier, in der rue St Nicolas, haben wir unseren Wein getrunken, nicht unbedingt den für achtzig Centimes das Glas. Für zwanzig Francs gab es ein Fläschchen von der gegenüber liegenden Île de Ré. Und das Gesicht der alten Wirtin erhellte sich. Die ganz edlen Stöffchen verschwanden im Giftschrank für Touristen, als sie in den Ruhestand gingen. Aber vorher noch einige in uns.
 
Mi, 25.03.2009 |  link | (3854) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Grenzgedanken

Vom südpfälzischen Wörth weg führt eine kleine Straße, ein Schleichweg, wenn auch ein recht flott befahrener, nahezu ausnahmlos von Einheimischen auf dem Weg zur oder von der Arbeit und auch zum Einkauf. Er endet in Lauterburg. Ein paar Meter weiter heißt es Lauterbourg, das Kaff, weil es mit einem Mal französisch ist. Getrennt von der Grenze. An dieser stehen wir. Frankreich hat mal wieder zuviel Personal. Sie kontrollieren. Oft kommt es nicht vor hier. Meist sind es deutsche Uniformierte, die lächelnd-gelassen und extrem unauffällig in ihren Fahrzeugen an dem ehemaligen Grenz- und heutigen Blumenhäuschen sitzen und dann hinausspringen, wenn sie meinen, im Rückspiegel einen Illegalen aus Afrika erkannt zu haben.

Anderswo kommen Kontrollen öfter vor, etwa an der spanischen Grenze, von Perpignan aus an der Küste entlang, wenn ich mal wieder Walter Benjamin in Port Bou oder auch Portbou meine Aufwartung machen möchte, wohl, weil Afrika nur noch tausend Kilometer entfernt und damit bedrohlich nahe liegt und man den verbrüderten und längst auch verschwesterten deutschen Kollegen da oben im Norden die Arbeit erleichtern möchte. Oder sie mit Langeweile martern will (weiß man's)? Hier hat man mich das letzte Mal vor etwa achtzehn, neunzehn Jahren angehalten. Das war allerdings noch mit der höheren Klasse der Automobilisierung, als die Voiture wegen der extrem hohen französischen Luxussteuer noch etwa eine gute Million Francs kostete. Ein Bekannter hatte mir das später mal vorgerechnet, weil ich doch sehr erstaunt war darüber, ständig angehalten und kontrolliert zu werden. Er meinte, solche Autos führen eben außerhalb von Paris nur Waffenschieber oder Drogendealer. Man konnte damals noch durch das kleine stadttorähnliche Haus in den Ort hineinfahren. Oder kam zwangsläufig durch, wie man eben irgendwo herauskommt auf der immerwährenden Suche nach Pfaden abseits des Breitgetretenen. Heute ist es abgeschirmt. Seit wann, weiß ich nicht. Ich bin dann immer über den regulären Übergang gefahren, neben dem das Zollhäuschen stand, in dem sich heute ein Blumenladen befindet. Blumiges Schengen-Europa. Ich erinnere mich gut und angenehm daran — der ältere Uniformierte machte damals diese lässige, sehr knapp gehaltene typische Handbewegung französischer Zöllner oder auch Polizisten, die in der Regel einen sofortigen Halt zur Folge hat. Wenn man Franzose ist. Deutsche mögen so etwas überhaupt nicht. Sie müssen immer ganz locker zeigen, wie wenig Obrigkeit ihnen bedeutet. Ich weiß nicht, weshalb mir ausgerechnet jetzt Alain Finkielkraut dazu einfällt, der meinte, die Deutschen seien höchst problematisch, nicht weil sie Auschwitz verdrängten, sondern weil sie permanent daran dächten. Hannah Arendt hat er dann noch zitiert, die gesagt habe: Auschwitz sei nicht der Gipfel, sondern die Zerstörung der deutschen Tradition.*

Wegen dieses in mittlerweile nicht mehr ganz so jungen Historie wurzelnden Selbstwertgefühls achteten west- und dann auch gesamtdeutsche Regierungen lange Zeit peinlichst genau darauf, daß bundesrepublikanische Uniformträger aussehen wie etwas salopp gekleidete Nachwächter. Das hat sich geändert. Seit deutsche Soldaten friedensmissionarisch wieder marschieren, sehen sie, vor allem aber Polizisten anders aus. Nicht schmissig deutsch wie einst, als sie die Heimatfront in Ordnung hielten, aber doch recht schneidig. Man hat sich angepaßt an die deutsch-amerikanische Freundschaft, ist quasi in der Freunde Haut geschlüpft. In den Anfängen der neueren Maskerade war ich einst am Jungfernstieg nicht sicher, doch in New York oder in einem dieser vielen schlechten US-amerikanischen Filme gelandet zu sein. Jetzt schauen sie endlich wieder wie Gesetzeshüter aus, die Freunde und Helfer. Nun weiß man wieder, woran man ist. Aber irgendwie waren mir die Nachtwächter angenehmer. Nun denn, der immer geschniegelten französischen Uniform hatte die jüngere Geschichte ja auch nicht eine solche Fehlfalte ins Hemd gebügelt.

Allerdings führt die zivil gekleidete deutsche Bevölkerung, gerne die in ihrer gen Spanien bewegten mobilen Ferienwohnung, sich immer wieder mal so auf, als ob sie die Schnauze eines Kriegsfeldwebels auf Heimaturlaub aus Polen sei. Häufig werde ich dabei an Tucholsky erinnert, der wie immer treffsicher notierte: «Der französische Soldat ist ein verkleideter Zivilist, der deutsche Zivilist ein verkleideter Soldat.»** Zu Zeiten des real existierenden Sozialismus hat das viele Westdeutsche viel Zeit gekostet. Manchmal auch viel Geld. Strafzeiten und -gebühren für zu weit aufgerissene Klappen in der DDR. Die Berliner kannten das. Deshalb hielten sie sich an die Zeichensprache der Grenzer. Wie der Franzose. Der hält an, er kann's ohnehin nicht ändern, also hebt er sich seine Energie für den nächsten Streik auf. Er wird — in der Regel — freundlich begutachtet. Mit einem kurzen Blick ins Gesicht und in den Fond wird festgestellt, daß es sich um keinen Wirtschaftsimmigranten oder Fluchthelfer handelt. Und dann macht diese Hand die nicht minder typische leichte Vorwärtsbewegung. Und man reist unbehelligt mit sanfter Anfahrt ein. Der zivile Feldwebel wartet eben noch ein Weilchen.

Es kommt die knappe Handbewegung. Man hält an. Mein Anhalter wendet sich ab. Der Kollege auf der anderen Seite übernimmt. Aha. Es sitzt eine für das deutsche Kennzeichen doch wohl etwas zu fremdartig aussehende Person auf der Beifahrerseite. Diese Person klappt mit einem freundlichen, aber deutlichen Attention-Pardon das Entenfenster nach oben. Sie wird um die Pässe gebeten. Sie zeigt den ihren. Der Douanier blättert in ihm herum. Er schaut die Ausweisinhaberin an, spricht sie an, dabei auf mich deutend. Et Monsieur? Passeport? Pardon. Coffre. Entschuldigung, Kofferraum. Soll ich? Ob ich der Halter des Vehikels sei. Oui. Auf der anderen Seite schauen die Deutschunifomierten grimmig aus ihrem Wachgefährt. Der Ente wegen, die nach wie vor mit Drogen zu assoziieren ist? Auch wenn sie, zumindest in Deutschland, längst als zweitwagiges Wochendmobil für individualistische Sparkassenfilialleiter dient? Tarnfahrzeug eines Steuer-flüchtigen? Nach Frankreich? Weshalb sie also so greinend dreinschauen, ist mir nicht klar. Ich antworte mit einem Lächeln und fahre französisch gelassen an. Aber erst, nachdem die sanfte Handbewegung und das merci, bonne route dazu aufgefordert hat.


*Alain Finkielkraut: Nachhilfeunterricht in Post-Romantik, Interview von Werner Bloch, Süddeutsche Zeitung Nr. 37 v. 14. Februar 2001, Feuilleton, p 19
** Kurt Tucholsky: Schnipsel, zitiert nach: Reclams Zitatenlexikon, Stuttgart 2002 (5. Aufl.), p 127

Die Photographie des niedlichen Grenzübergangs von Cerbère nach Portbou oder andersrum, wo man selten spanische, dafür des öfteren französische Kontrolleure antrifft, stammt von basheem
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Mi, 04.02.2009 |  link | (2840) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Casino de Vienne

Die Ostumgehung von Lyon gibt, hat man den Stau beinahe hinter sich gelassen, den Blick frei auf das, was dem geneigten Südurlauber in Erinnerung bleibt von dieser Stadt. Wenn er, zurück von seiner Braterei an den Stränden mit Würstel con Krauti, mal wieder unsereiner Schwärmerei vernimmt von dieser Pforte zum Süden, und diese empört zurückweist: Da soll's schön sein?! Da sieht's ja aus wie in der DDR. Oder so ähnlich. Gemeint sind damit in der Regel die Plattenbauten hinten auf den Hügeln, für die man allerdings nicht unbedingt an Lyon vorbeifahren muß, sind sie doch über ganz Frankreich verteilt. Hätte der Urlauber in spe nicht soviel Furcht vor diesem Verkehrsmoloch und führe hinein in ihn, wäre er nicht nur sehr viel schneller über die Schwelle zum Süden, weil's unterm Strich sehr viel flotter vorangeht, käme er auch näher ran an diese Metropole mit ihrer überall sichtbaren, gewachsenen Historie.

Und er käme, vorbehaltlich des ausgelassenen Zwischenstops, der ihn dann doch für eine Weile länger in der Stadt festhalten könnte, immer an der Rhône entlang, in diesem Bereich vielleicht nicht so attraktiv, da für Geschwindigkeit angelegt, in Vienne an. Nein, nicht in der österreichischen Hauptstadt, sondern dem Südzipfel von Lyon, der von leicht Unbedarften auch schonmal als Satellit oder Schlafstadt bezeichnet wird, was er nun wirklich nicht ist, sondern ebenfalls außerordentlich was an Geschichte aufzuweisen hat. Und auch eine solche schreibt:

Auch in Vienne ist an einem frühen Montagabend nichts los. Das ist ungünstig, wenn die Geschmackssignale ständig laut einen Pausenpastis ausrufen, vielleicht mit einer Kleinigkeit dazu, und seien es die üblichen Aperitiferdnüsse. Doch nahezu alles scheint geschlossen. Bis auf die kleine Bar vielleicht, wie jede trist herumstehende Kneipe im Land genannt wird, die von außen genauso aussieht, als wäre es Mittwoch- oder Samstagabend, sieht man diesem Gastronomietypus doch häufig nicht an, ob er betriebsbereit ist. Und sollte er es tatsächlich sein, heißt das für Fremde noch lange nicht, daß sie auch willkommen sind. Einfach ignorieren, diese französische Variante von Fremdenangst, bestellen, trinken, nochmals bestellen, und dann kann es geschehen, daß man ein leichtes Ziehen in den Mundwinkeln des Wirtes zu sehen bekommt, das unter Umständen als ein Lächeln gedeutet werden darf. Das im konkreten Fall zu prüfen, unterbricht man sogar die Diskussion über eine europäische Verfassung und weshalb manch einer im Land höchstenfalls ein Europa gegen eine Globalisierung wünscht. Da das Gespräch ohnehin in einen Streit auszubrechen droht, steigt man lieber aus und schaut nach, ob wenigstens die banale Bedürfnisbefriedigung geöffnet hat.

Es ist einmal mehr ein Treffer. Immer wieder bestätigt sich mein Instinkt. Ich habe ein untrügliches Gespür für mir genehme Gastronomie. Es ist schon geschehen, daß ich eine Stunde herumgegangen bin und überall herumgeschnüffelt habe. Und das war's dann auch in der Regel. Aber häufig weiß ich es auf Anhieb. Wie auch jetzt wieder — eine kleine Bar. Keine Musik. Fünf, sechs Menschen sitzen an den kleinen Tischen und sprechen ruhig miteinander. Der Tresen ist frei. Der Wirt macht, wie gehabt, nicht eben ein freundliches Gesicht. Aber das hat nichts zu sagen, sagt mir die französische Erfahrung. Außerdem sind mir mürrische Menschen lieber als aufgedreht heitere. Clown bin ich selber. Deshalb weiß ich, was hinter einem solchen Gegreine steckt. In spröder Erde steckt tief unten meistens der eigentliche Lebenssaft. Zunächst einmal bestelle ich zwei Café und ein Mineralwasser, gazeuse, s'il vous plaît, Monsieur; ich gehöre zu der Minderheit im Land, die im Wasser neben den Fischen auch noch das Prickeln mögen, und sei es noch so gesalzen, nicht nur im Preis (die Auswahl der kohlensäurehaltigen Wasser ist eher gering), weshalb ich auch auf das überall im Land kostenlos angebotene und in der Regel wohlschmeckende Leitungswasser verzichte. Sehr rasch stellt der Angesprochene das Gewünschte vor uns auf den Tresen und wünscht leicht lächelnd Genuß. Auf deutsch. Mit französischem Unterton zwar, aber immerhin. Verdutzt schauen die freundlich Bedienten sich an.

Er beeilt sich, die nonverbale Frage recht wortreich zu beantworten. Er habe ein paar Jahre in Deutschland gelebt. Aber zuhause, am Tor zum Süden fühle er sich doch wohler, und vielleicht ginge er ja auch bald noch ein bißchen weiter runter, hier sei nicht allzuviel los. Ich bin versucht, zu verstehen und zu entgegnen, dieses dunkle Loch hier gebe ja wohl kaum etwas vom Licht der weiter unten leuchtenden Provence wider, einige mich mit mir doch vorsichtshalber auf die höflichere Variante. «Militaire à Spire» kommt es dann noch zusätzlich und leicht gedrückt aus ihm heraus. Aha, Speyer, übersetze ich für mich und füge noch ein hübsch an. In logischer Konsequenz folgert er daraus, ich müsse die Stadt kennen. Das dürfte ihm aber auch nicht allzuoft passieren, zumal die französische Armee das pfälzische Kaff bereits vor einiger Zeit freigegeben hat und ein Speyrer sich wohl kaum hierher an den Rand der Rennstrecke nach Spanien verirren dürfte. Zwar möchte ich mich lieber mit meiner Begleitung weiterhin ein bißchen über die verzweifelten Versuche vieler Franzosen streiten, die US-Amerikanisierung draußen zu halten, und andeuten, man habe sie sich schließlich selber hereingeholt seit den fünfziger Jahren, als man den Supermarkt eingekauft hat im wilden Westen und damit auch noch verantwortlich ist für diese gesamteuropäische Tristesse in den Innenstädtchen und den Dörfern. Aber wir werden die gut dreihundert Kilometer bis Marseille noch ausreichend Gelegenheit haben, den Disput fortzuführen. Zumal er dasteht mit höflich fragenden aufgerissenen Augen und anfügt, er habe während seines militärischen Aufenthaltes viel Kontakt mit Deutschen gehabt, die er allerdings weniger aufgesucht habe, sondern die allesamt zu ihm gekommen seien, um ein wenig französische Lebensart kennenzulernen. Daraus schließe ich, er könne nur im Casino der Grande Armée tätig gewesen sein, und teile meine Erkenntnis mit.

Das reißt ihm die Augen noch weiter auf vor Freude und seine rechte Hand um ein Haar eine Flasche Champagner. Ich verhindere das mit heftigem Kopfschütteln und dem Verweis auf eine lange Strecke noch bis Marseille, aber gegen einen Pastis hätte ich nichts, wenn das nicht zu unhöflich sei, zumal ich ab jetzt Beifahrer sein dürfe. Ein bestätigendes Nicken zu meiner Rechten läßt ihn schnell auftischen, damit auch das ersehnte französische, zum Apéritif gereichte Knabbergebäck mit den unvermeidlichen Erdnüssen. Madame bekommt noch einen Café und ich, wie anders, einen Einundfünfziger. Und dann erzähle ich von meinem Freund in dem Städtchen, das heutzutage allenfalls in seiner einstmals bedeutenden Geschichte gemütlich vor sich hinschmurgelt. Dieser Freund hatte sich nach umfangreichen Studien der Kunst in seine Heimatstadt zurückgezogen und sich dort sein eigenes kleines römisches Reich errichtet, in dem an kaum etwas anderes gedacht wurde als an die Macht des Essens. Am liebsten den lieben langen Tag lang, und wenn's ihn kurz vor Mitternacht leicht anhungerte, dann selbstverständlich auch, was durchaus auch schonmal eine viele Kilometer lange Fahrt ergeben konnte, um kurz vor Toreschluß noch eine besondere Art des panierten Kalbsschnitzels zu erreichen. Auch wenn das Gasthaus so gut wie geschlossen war, man erwartete, man kannte ihn, wußte um ihn, wenn sein Gehirn einen alles andere als neutralen Goût ausgesandt hatte.*


* Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Die erzähle ich ein andermal. Am besten auch die, weshalb's dann doch nicht weiterging in Vienne.

Die Photographie von maerzbow verweist zwar auf ein tiefes Inneres im etwas nördlicher gelegenen Dijon, aber ob sich da drinnen was tut, weiß man auch nicht so genau. Wie überall im Land schaut's aus: Man geht schließlich nicht ständig erhobenen Hauptes durch die Gegend.

 
Do, 22.01.2009 |  link | (2899) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 







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