Anbetungswürdiges Geplagt sind diejenigen, die mit mir unterwegs sind, allen voran jene, die alle zwanzig Minuten was Warmes in den Bauch brauchen, und sei es eine verhärmte Bratwurst. Kaum gerät irgendein Kirchlein in irgendeinem trou perdu ins Blickfeld, wird die Voiture auch schon langsamer, um dann möglichst direkt vor dem Gebäude vollends abgebremst zu werden [...]. Seltsam, klagt die Büddenwarderin, kaum ein paar Meterchen Einkaufssträßlein kriegt man ihn entlang, immer aufs fußlahme Gebein verweisend, aber kein noch so riesiger gotischer Auswurf großkirchlichen Machtgehabes, der nicht stundenlang begutachtet sein möchte. Die ganzen romanischen Gebetsstättenvorläufer nicht nur nicht berücksichtigt, sondern bei denen bekommt die Kondition gleich Höhenflüge. Angesichts derer könnte man gar glauben, er würde an irgendwas in dieser Richtung glauben. Genau. Die zur Touristenperversität verkommene Notre-Dame mit ihren nichts als die Devotionalie anbetenden Schlangenmassen lassen wir links liegen und gehen ein paar Schritte hinüber zum 5., zu Saint Séverin. Das entzückende Architekturgeschöpf mit seinem stillen Garten samt Gebeinhaus ist zwar auch gotisch, aber man spürt, daß hier zuvor in der Romanik gepriesen wurde, daß dort noch weit vor dieser Zeit Séverin le Solitaire eingesiedelt war, dessen Zeitgenossen ein Christentum nach Frankreich brachten, das mit einem Billigheimerjahrmarkt wie dem von gegenüber wahrlich nicht gerechnet haben kann. Stille inmitten des Brodems der Metropole. Still erzählende Geschichte. Anschließend gehen wir die paar Schritte durchs Juden- und Schwulenguckviertel Marais. Aber hindurch! Außenherum würden die müden Knochen dann doch nicht mehr mitmachen, und außerdem stehen da zu viele Bouquinistes herum. Müder Griff ins Archiv, so tun, als ob es mich noch gäbe. Um nicht in Vergessenheit zu geraten. Als die Welt in Paris wieder in Ordnung gebracht war. Von Monsieur Haussmann (ungeprüftes Material!), dem Erfinder sanfter gesamtfranzösischer Sanierungspraxis.
Ermüdungserscheinungen habe ich, arge. Ich werde mich wohl besser mal für ein paar Tage auf mein Lager am Wasser begeben. Bei eventueller Wiederbelebung melde ich mich wieder.
Haut bas fragile «Kurz, das Leben, das hätte ich gern einfangen wollen», so sprach Jean-Luc Godard im Oktober 1965 in den Cahiers du Cinema über seinen Film Pierrot le Fou, «aber das Leben wehrt sich heftiger als (ein) Fisch, es gleitet uns durch die Finger ...» — Daß es hin und wieder dennoch möglich ist, den Fisch Leben einzufangen, daß dieses Wunder im Kino immer wieder einmal geschieht, hat Godard selbst oft bewiesen. Ein anderer, der dem Anfangsversprechen der Nouvelle Vague die Treue gehalten hat, ist Jacques Rivette — in Vorsicht: Zerbrechlich! aus dem Jahr 1994 scheint es, als werde eine Verheißung eingelöst.»Es ist selten, daß ich mich über eine Filmbesprechung so richtig freuen kann. Das ist hier der Fall. Sicher nicht nur, weil darin ein Film mit höchstem Lob ausgestattet wird, der zu meinen gemochtetsten gehört, sondern darüber hinaus auch deshalb: «die wunderbare Sängerin Enzo Enzo tritt mehrfach mit ihrer Band auf» (ich bin seit Aphrodites Geburt also in diese Pariserin mit eigentlich slawischem, allerdings französisch verdünnisiertem Blut abgrundtief oder überirdisch verliebt). Es hat, so schlicht wie momentan eben möglich formuliert, einfach Stil, wie Götz Kohlmann diesen Film beschreibt, ihn analog des Titels analysiert, kommentiert und dabei unprätentiös seine Kenntnisse des (nicht nur) französischen Kinos und die eigene Beobachtungsgabe vermittelt. «Gleich Seifenblasen, die durch sommerliche Straßen fliegen, strömt, tanzt dieser knapp dreistündige Film an seinem Betrachter vorbei. Er ist von einer solchen Harmonie, daß man in der Betrachtung immer ruhiger und ruhiger wird. Es gibt nur wenige Filme, die uns zu verwandeln vermögen wie eine gelebte Erfahrung, es gibt nur wenige, die uns die Welt danach mit ihren klareren Augen sehen lassen, denn meist kommen wir doch mit unserem eigenen trüben Blick wieder aus dem Kino heraus. Nach Vorsicht: Zerbrechlich! scheint es in der Innen- und Außenwelt heller und freier geworden zu sein.»Die gesamte Besprechung läßt sich hier Schöner denken. Die mangelnde Kreativkraft hat dieses Textchen aus dem Archiv heraus formuliert. Mehr geht nicht zur Zeit.
Anhalters Bahnhof Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge. Der Reise zweiter Teil. Zwar war auch in die Schweiz Anfang der siebziger Jahre schon das eine oder andere Nachrichtenfitzli vom Autostop durchgedrungen. Aber das klang doch arg revoluzzerisch, am Ende gar kommunistisch. Dem wäre man selbstverständlich abhold. Doch so genau wußte man es nicht. Also erinnerte man sich seiner Bildung und bemühte diesen Herrn, der einmal festgehalten hatte, man solle in diesem Fall besser darüber schweigen. So mündeten meine Anfragen — ich hatte begonnen, die Anhalter-Praxis zu verinnerlichen — auf dem Flugplatz Zürich-Kloten zu einem Teil in erschrecktes Staunen und zum anderen in brüskierte Abwendung. Ich ging in das Flughafengebäude hinein, in eine der landesüblich gepflegten Toiletten, um mein Äußeres zu prüfen. Eine Vermutzungsgefahr durch mich war nicht zu erwarten, wie ich erfreut feststellte. Auch die Gesichtsfarbe hatte wieder diese Tönung angenommen, die man erlangt, wenn man relativ häufig versucht, den Berg und damit sich zu besiegen. Auch das Fahrzeug, das mich recht zügig vor die Tore der Welt- und Geldstadt brachte, hatte die Sauberkeit, die eines Schweizer Burgers würdig war. Er hatte mir, wenn er zwischenzeitlich mal nicht so sehr mit dem Hin- und Herreißen des Lenkrades beschäftigt war und uns ausnahmsweise nicht am Limit bewegte, von seiner Familie erzählt und daß sie quasi den Rütlischwur mitformuliert habe. Tell war sein Name nicht, das hätte ich mir gemerkt, gehört es doch zu dem, das man versucht hatte mir beizubringen, zumal ich ja für einen Teil meiner Lehrzeit im Land untergebracht war. Irgendwas von Tschudi oder Zwingli hatte er gemurmelt beim gemütlicheren Lenkraddrehen. Calvin war sein Name mit Sicherheit nicht, nicht nur aus meiner klanglichen Erinnerung. Ein klein wenig französisch sah er zwar aus, aber das streng Reformierte dürfte nicht so sein Stil gewesen sein. So startete ich einen erneuten Versuch, ebenerdig von der Startbahn wegzukommen. Fliegen wollte ich ja nicht. Das hätten Ehre und Portemonnaie nicht zugelassen. Außerdem lief es ja alles andere als langsam bis jetzt. Allerdings war es schon spät. Und es stand auch zu befürchten, daß vom Zürcher Flughafen aus niemand mehr nach Paris fahren würde am Abend, nicht einmal nach Basel, was ja in etwa meine Richtung gewesen wäre. Aber wie schweizerisch auch immer ich es ausdrückte, ich machte keinen Eindruck. Und nun? Zu Fuß zur Autobahn? Das wäre ungeschickt, denn nördlich von Kloten gerät man zwar nach Eglisau oder gar nach Schaffhausen. Doch da wollte ich nun nicht unbedingt hin. Auch dann nicht, wenn mich jemand mitgenommen hätte. Also dann doch ein Stückchen mit der Bahn? Das wäre ein früher Griff in die Geldbörse. Gut, ich hätte die Zürcher Verwandtschaft anrufen können. Die täte sich sicherlich sehr gefreut haben, mich wiederzusehen. Aber zu diesem Zeitpunkt beruhte das nicht unbedingt auf Gegenseitigkeit. Sicher, da hätte es ein gemütliches Plätzchen am Kamin und das eine oder andere Leckerli gegeben. Doch ich wollte ja per Anhalter ins Paradies. Allerdings standen die Chancen schlecht um diese Uhrzeit. Also mit dem Bus zum Hauptbahnhof und von dort aus auf den Schienen weiter? Kaum angekommen, entdeckte ich ein Gruppe junger Menschen, die nicht unbedingt den Eindruck machten, heute noch weiterfahren zu wollen. Ich gesellte mich hinzu und kam ins Gespräch. Etwas intensiver geriet das mit einem Engländer, ein paar Jahre jünger als ich, aber als Spontanreisender wohl um einiges erfahrener. Aus Italien war er angereist. Ein Schuhverkäufer hatte ihn hier abgesetzt. Er sei nicht dazu zu bewegen gewesen, ihn an der Autobahn hinauszulassen. Er sah keine Möglichkeit, heute noch wegzukommen. Es sei denn, mit der Bahn. Die Basler sähen ihr Schweizertum nicht so verkniffen. Und deshalb wohl würde man am dortigen Bahnhof auch nicht so abserviert, wie uns das im hiesigen spätestens gegen Mitternacht geschehen würde. Eine Fahrkarte kaufen bis nach Saint-Louis, dann könne man getrost die Nacht im Geschlossenen verbringen, denn zur Grenze nach Frankreich führen erst wieder am Morgen Züge. Mit Ticket würde sie einen nicht rausschmeißen. Es sei nicht ganz billig, aber immer noch günstiger oder angenehmer, als die Nacht in Polizeigewahrsam zu verbringen. Also doch die Tante über drei Ecken anrufen? Aber die versprach eher weniger Abenteuer. Und das ersehnte ich. Einmal im Leben. Wenigstens. Aber ob das gemütliche Bähnli nach Basel das bieten könnte? Meine Güte, ist das ein dröger Trip. Die Müdigkeit ist's. Mal sehen, was die Nacht bringt. Oder der Tag. Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse, Fluchtgedanken, Gnadenmahl oder Reiche Stunden. Der Reise vierzehnte Folge.
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