... und ihre Folgen Drei Jahre später durfte ich's nun sehen. Die Mainzer fingen damit an, von dem die meisten meinen, damit habe es angefangen (obwohl der Sommer der Liebe woanders und viel früher wurzelt): Der (Polizei-)Staatsbesuch von 1967, quasi eine sehr frühe Übung für den Heiligen Damm vierzig Jahre später (hier samt entourage présidentielle). Der Besetzer eines Pfauenthrons und Geburtshelfer der iranischen Kulturrevolution besuchte den geschätzten Vorsitzenden Heinrich in dessen Brühler Einfamilienhäuschen und gab damit seinerzeit den Hauptstatisten der Generalprobe für spätere Wasserwerferspiele, da geistig verwirrte Jungakademiker in spe etwas robust die Abschaffung auch des ausländischen Adels forderten. Roman Brodmann als Berichterstatter hätte für seine Kommentare zu dieser geradezu abstrusen Machtdemonstration durchaus einen Kabarett-Preis nach älteren oder anderen Humorkriterien als den heute allgemein bevorzugten verdient gehabt. Anschließend gaben Klaus Harprecht und Waldemar Besson einen Rückblick auf Ein Jahr der Revolutionen. Es war für einen wie mich, der zwar lieber Steine übers Wasser hüpfen ließ und läßt als sie in Kaufhausschaufenster zu schmeißen, aber dennoch faustschwingend mitgegangen ist sowie für das BRD-weite Fortkommen der Nichtmotorisierten einen gut sichtbaren roten Punkt an der Frontscheibe seines Autos kleben hatte (ich trieb 1969 Studien in Heidelberg), faszinierend, ungemein spannend, diese Bilder aus Bonn, Chicago, Paris, Prag, Rothenburg ob der Tauber et cetera allesamt noch einmal zu sehen, sie auf die eigene frühere Wahrnehmung hin zu prüfen, ob und wenn ja welche Perspektivenverschiebungen stattgefunden haben. Rückblick war das auf und Reflexion über die Zeit Zwischen Nierentisch und Bettvorleger, eine Dokumentation von Peter Schneider, in der es beispielsweise heißt: «Über unsere Mütter als KZ-Aufseherinnen, Mitwisserinnen oder auch nur Mitläuferinnen wußten wir noch weniger als über die Verstrickungen unserer Väter.» Oder in der Folge deutlicher: «Sie versuchten, sich mit Knigge und Benimmkursen vom Herrenrassedünkel zu verabschieden. Doch geholfen hat es wenig, denn während sie uns Anstand predigten, schwiegen sie wieder angesichts des Massakers an vietnamesischen Zivilisten in My Lai.» Das ruft Bilder ab, nach denen man nachdenklich in sich sinken möchte und sich abschließend durchaus wundern darf, daß Galileis Behauptung von der sich drehenden Erde immer noch gilt. Aber solche Sinniererei erfordert lange Weile. Dafür kucken wir nicht TeVau. So hatten die Mainzer einiges draufgepackt auch für die nativen Nutzer. Für deren «totale und gleichzeitige Verfügbarkeit von allem» hatten die wissenden 3satler schließlich auch noch andere Unterhaltung draufgepackt — Film, Musik, Musik und Film —, auf daß es ihnen nicht zu fade werde, den Jungen oder noch nicht ganz so Alten oder den ewig Gestrigen, die allesamt ihre Information gerne gleichzeitig über die flotteren Bewegungsmedien beziehen, Hauptsache nicht so trocken wie auf totem Holz (daß das Verarbeiten mehrerer Funktionen, neudeutsch Multitasking, zur gleichen Zeit hirnphysiologisch gar nicht möglich ist, das kommt ihnen erst überhaupt nicht in den Hippocampus; der steigert gleichwohl zum Nachweis seiner Existenz bereits die Geschwindigkeitsfrequenz der Kurzmitteilungsfinger). Vierundzwanzig Stunden jüngere Historie wurden recht lebhaft aus der ansonsten eher betulichen Pfalz gesendet, und auch noch frei von knoppschem Geschichtsverständnis. Aber ach. Wen interessiert das denn (noch)? Wir kennen das doch alles, sind längst gefestigt in unserer Meinung, daß es eine Frauenquote nicht braucht, weil Arbeit sich allemale lohnt, wenn man nur genug Individuum und selbständig ist. Emanzipation ist doch nun wirklich ein alter Hut, der allenfalls noch bei gestrigen königlichen Hochzeiten getragen wird. Denn sie ist mittlerweile schließlich grenzenlos, die Freiheit. Man sieht's doch überall alleine an den vielen fröhlichen Kindern, denen keinerlei Fußfesseln mehr angelegt werden und die deshalb durch nichts mehr zu bremsen sind. À propos Freiheit. Hintergründe zu Easy Rider gab arte vor ein paar Tagen (wird am 11. Mai für Frühaufsteher um fünf Uhr wiederholt!). Nur zu gut erinnere ich mich noch daran, als ich 1969 völlig fertig aus dem Kino kam, weil da so ein junger Patriot aus einem Kleinlastwagen heraus erst Dennis Hopper von seiner Harley schoß und anschließend auch noch den hilfesuchend davorasenden Peter Fonda liquidierte. Gut gelaunt bestätigte letzterer, der im Gegensatz zu mir seit den Dreharbeiten zu Peppermint Frieden (Schmuddelkinder-Problem) nicht älter geworden zu sein scheint, dem Erstgenannten mittlerweile selig, daß sich an dieser US-amerikanischen Geisteshaltung samt Handlungsbereitschaft nicht ein Jota geändert habe. Das scheint sich dieser Tage bestätigt zu haben. Allerdings, meinten die beiden ehemaligen Hippieheroen, hätte sich das Äußere sowie der Status der Piloten ein wenig gewandelt. Es ginge wieder patriotischer zu, und mehr Dentisten, Schönheitschirurgen und Rechtsanwälte (kein gutes Vorbild?) bildeten heutzutage Rudelgemeinschaften auf ihren Harleys. Man kennt das auch im nahen Osten, gezeigt in einer anderen Reportage über die Besserverdienenden von Kairo. Aber schließlich kommt das Gute ohnehin meistens aus dem Westen. Dazu gehört, im Gegensatz zu den früheren, eher individualistsch und unideolgisch geprägten freigeistigen Reitern, mittlerweile auch der Dienst an Gott, auch MoGo genannt, mit anschließendem Konvoi. Sicher ist sicher. Ein Gebet kann nie schaden, solange man noch nicht weiß, was mit seinem Körper geschehen wird.* * Seebestattung, gerne. Darüber bin ich mit mir seit langem einig, daß ich mich den Fischen zurückgebe, in die ich mein Leben lang mit Lust meine Zähne geschlagen habe. Wäre ich ein gläubiger Mensch, äße ich damit auch noch reiner als einer, der während er Meterbratwurst in sich hineinmümmelt, gebetsmühlenhaft vor sich hinmurmelt: Denk ich mir, es wär a Fisch. Auf die Suche gerate ich bei dem Gedanken allerdings nach der Sure im Koran, die belegt, daß das unislamisch sei. Auch Muslime fuhren und fahren doch nicht eben selten zur See. Ob mich jemand aufklären kann? Fundstücke (aus meinem Festplattenaufzeichnungsgerät)
Eine Revolte ... Ich erinnere mich. Von wegen. Jetzt fällt's mir wieder ein — ich wollte das damals sehen. Wollte. Aber auf StudiVZ mußten zum wiederholten Mal die Bilder von der vorletzten Party angeschaut werden, das Vokabeltraining für den anstehenden Gummispringseilaufenthalt in Neuseeland wollte repetiert, ein kindergeburtstägliches Gesellschaftsspiel erneut in Augenschein und zwischendrin noch ein Blick auf lustige T-Shirts genommen werden. Ich nahm zwischendrin mal einen kurzen Blick auf prügelnde Polizisten oder Soldaten in Berlin, Bonn, Chicago, Paris, Warschau und Panzer in Prag und Bomben in Vietnam, das war die action, die bei mir momentan Priorität hatte. Aber der Begriff Familienunterhaltung erfährt bisweilen unterschiedliche Auslegungen. Kurz vorm Platzen meiner zum Denken führenden und ohnehin leicht verengten Halsschlagader zog ich mich zurück in die von einem Zweitfernseher beheizte Kemenade. Der Tag, der Abend, die Nacht sollte diesem voluminösen Erinnerungsmenü auf 3sat gehören. Doch es wurde nichts daraus. Zum Zweck des Mensch-ärgere-dich-nicht wurde der Raum meines Abseits' evakuiert. Tagelang hatte 3sat den Thementag Traum von '68 angekündigt. Ich war irgendwie auf anderes heiß als auf Backfischträume.
Ein (klein) wenig Abbitte Gestern habe ich getan, was ich ansonsten vermeide: Ich habe mir eine Talgshow, wie der aus Franken stammende Hans Pfitzinger selig diese Quasselrunden genannt hat, angesehen und angehört. Gegebener Anlaß war meine kürzlich erfolgte Abwertung von Ina Müller. Es mußte doch einen Grund dafür gegeben haben, daß ich mich vor weit mehr als zehn Jahren auf Sylt so vernarrt hatte in die damalige Bienenkönigin, daß ich der beiden Mädels CD sogar kaufte und anhörte; nicht nur Hafencafé lausche ich heute noch hin und wieder veträumt, und wenn sie insulanerisch singt, möchte ich geradewegs übers Watt den Hindenburgdamm entlang auf ein Krabbensüppchen ins List der Neunziger rauschen. So sehr kann sich, meinte ich, ein Mensch schließlich dann doch nicht zu seinem Nachteil verändern. Einen Beleg dafür erhoffte ich mir über diese Sendung. Dem war so. Sie hat mich tatsächlich ein wenig entschädigt für meinen erzwungenen Abfall vom Glauben an sie, für all das Geschreische, das sie über mich geschickt hat in letzter Zeit. Das werde ich mir auch weiterhin nicht antun. Aber ich bin mit ihr als Person immerhin wieder so lieb wie einst im Frühling meiner fröhlichen Triebe. Allerdings frage ich mich nach wie vor, weshalb von ihrem gestern vermittelten Charme, ihrer Ruhe, Klar- und Klugheit in diesen volkstümlichen, arg lauten Nächten mit ihr als Hauptakteuse, die mich bereits mit ihren Ankündigungen vertrieben haben und auf die nun auch noch eine Wünsch Dir Deinen NDR-Nacht mit Ina draufgesetzt wird, so wenig zu hören ist. Die Antwort könnte in der Skizze eines ihrer «Fans» zu finden sein, dessen Bewertungskriterien sie darstellte. Seit sie diesen Kurzhaarschnitt trage, habe er ihr geschrieben, seien ihre Sendungen ganz schlimm geworden. Diese Niveaulierung deckt sich dann wiederum mit meinen Beobachtungen der letzten Zeit. Dabei scheint deutlich zu werden: Der Schädling an der Gesellschaft bin letzten Endes ich, der ich offensichtlich nicht mehr in der Lage oder wegen meines unheilbaren Altersstarrsinns nicht bereit bin, Veränderungen im allgemeinen Qualitätsbewußtsein wahrzunehmen und zu akzeptieren. Na gut, dann bleibe ich eben zurück im Altenheim meiner stillen Erinnerung.
Die (Kin)Seherin vom Nockherberg Seltsames geht in mir vor. Mindestens zwei Jahrzehnte lang wollte ich Bayern den Rücken kehren, München wieder verlassen. Es war immer schwieriger geworden, da aus einem sich beruflich in Bewegung gekommenen KüMo nunmal nicht so ohne weiteres auszusteigen ist, ohne dabei ziemlich naß zu werden. Aber nach fast dreißig Jahren war es mir dann doch gelungen. Zehn Jahre ist es mittlereile her, daß ich auf große Fahrt in den tieferen Süden aufgebrochen bin und es mich auch im höheren Norden angelandet hat. Und mittlerweile beobachte ich mich dabei, immer öfter in die bayerische Ferne zu sehen, ohne daß ich unbedingt nach einer Alpha-Funktion suchte. Doch weiterhin umschiffe ich diesen weißblauen Staat großräumig. Auch Berlin hat mich nach meinem Abgang wegen Überdruß erst wiedergesehen, als die Mauer durchlässig wurde. Der Wall gen Bayern steht, aber die Festung in meinem Kopf wird altersbröckelig wie Isar I. Nun ja, ich hatte schließlich auch schöne Zeiten dort, wohin ich mich unter Schwierigkeiten aufgemacht hatte. München, das ich zunächst überhaupt nicht anvisiert hatte, sondern das liebliche Murnauer Moos mit seinem Blauen Reiter, ich von dort aber vertrieben worden war ins italienische Isar-Athen, das letztlich immer der Grund war, ständig wegrennen zu wollen, es hatte auch seine angenehmen Seiten. An sie herangeführt im größten Dorf der Welt wurde ich seit Mitte der siebziger Jahre unter anderem durch eine heranwachsende junge Kabarettszenerie. Und die kam aus Niederbayern. Einem Passauer Bauernbursch' war ich begegnet, der sich am Rand meines in seiner Nutzung dörflich anmutenden Planrechtecks Adalbert-, Amalien-, Schelling- und Türkenstraße in der Maxvorstadt als primus inter pares einer um 1977 gegründeten semiprofessionellen Formation namens Machtschattengewächse erwiesen und sich mit denen dann in einem weiter draußen gelegenen, recht robusten Hinterhoftheater niedergelassen hatte. Er erzählte mir von seiner Heimat und von Mitstreitern, die sich ebenfalls aufgemacht hatten, satirisch gegen Macht und Dumpfheit nicht nur des örtlichen Klerus' aufzubegehren. Neugierig fuhr ich dorthin und erfuhr im Scharfrichterhaus, welche Lebenslust der wortreiche Kampf gegen die Pfaffen und deren politische Vasallen hervorbrachte, daraus ging auch schonmal ein Christus hervor. Intensiv und ausführlich leuchtete ich das dortige Geschehen wie beispielsweise den politischen Aschermittwoch in der Nie-Gelungen-Halle oder der Schlacht der kernig-kräftig ausgerüsteten Kapfinger-Soldateska gegen die kommunistisch geführte und mit Spielzeugpistolen schießende PKK (Passauer Kleine Zeitung) aus, und über lange Zeit hin war das eines der Themen, die mir oberhalb des Weiswurstäquators geradezu aus der Schreibmaschine gerissen wurden. Das dürfte seine Ursache darin haben, daß den Bremer, Hamburger und Hannoveraner Redakteuren (-innen gehörten zu dieser Zeit noch dem Raritätenkabinett an) alles nach Bayern Klingende gleichbedeutend mit Ohnsorg-Theater war, also norddeutsche Volksbelustigung für Urlauber am Alpenrand. Zur Ehrenrettung einzelner muß hinzugefügt werden, daß ihnen der Begriff Volkstheater tatsächlich bisweilen widersprüchlich erschien und sie auch darüber informiert waren, daß es sich bei der Partnachklamm um kein niederbayrisches Outdoorparadies mit angeschlossener Trachtenbühne handelt. Nun ist das in seinen Anfängen durchaus beachtliche norddeutsche Fernsehtheater für ziemlich breite Zuschauer, auch Neues aus Büttenwarder genannt, mittlerweile zu dem mutiert, was man in Oberbayern nicht nur den japanischen Preißn als echte oder vielleicht besser verständlich als authentische Volksunterhaltung offeriert. Das sowie das nach wie vor Exotik assoziierende Bairische dürfte mit Ursache dafür gewesen sein, daß unser Mittlerer vergangenes Jahr das sich alljährlich wiederholende Derbleck'n bei Starkbier für sich entdeckt hat. Sogar Mutti hat er infiziert. Nein, nicht die kinderlose uckermärkische mit Regierungssitz Berlin, die seit einiger Zeit gerne so genannt wird, obwohl sie alles andere als mütterlich auf mich wirkt, die obendrein die bairische Seele nicht und somit auch nicht die Sprache versteht. Von der eigenen ist die Rede, die (Rand-)Kieler Sprotte. Und die erinnerte mich, vermutlich, um mir Gutes zu tun mit der Erinnerung an die alte Heimat, gestern daran — heute abend um sieben im Bayerischen! Brav habe ich dem Folge geleistet. Und dann stand sie da, die Mutti. Nein, nicht die mecklenburgische, sondern die bayerische. Als brave, leicht überholte Bavaria stand sie, bereits in dieser Positionierung unterschied sie sich von ihren allesamt männlichen Vorrednern, neben, nicht hinter dem den Körper verbergenden Podest. Und was tat sie? Sie schimpfte ein bißchen. Anfänglich dachte ich noch, die von mir ansonsten sehr geschätze Kinseherin wird sich vermutlich erstmal warmreden, um dann verbal das Worthölzchen auf den Köpfchen tanzen zu lassen. Doch es kam eher zu weiteren — Frau Braggelmann rief das nach einer Weile empört in mein Telephon — Streicheleinheiten. Und sie setzte ihre Suada fort mit der Forderung nach Bruno Jonas, das sei noch ein richtiger Niederbayer; daß auch er ein Passauer Scharfrichter war, hatte ich als Kabarettchronist ihr mal erzählt. Tatsächlich habe ich mich dann ausgeklinkt. Meine Beurteilung kreiste um Begriffe wie hintergründig oder tiefsinnig und daß man das vermutlich so nennen würde, käme die Kritikfrage auf. Und so kam's dann auch. Später hatte ich nochmal hineingeschaut ins Bayerische, wo sie dann in der Runde saßen, allesamt Frauen, an die ebensowenig ausgeteilt worden war wie an die Männer. Man war sich sanft lächelnd einig: hintergründig und tiefsinnig, das sei eine neue Qualität, irgendwo schmunzelte oder zischelte dann noch etwas zwischen strahlenden Zähnen in sanftmutigem Munde hervor, das nach weiblicher Dramaturgie hätte klingen können. Na gut, ich bin ein Mann, und schließlich ist das kein politisches Kabarett, wie die gute Frau Braggelmann es bevorzugt, beispielsweise kein Dieter Hildebrandt oder kein Werner Schneyder, auch kein Urban Priol, und schon gar nicht ein Georg Schramm, ebenso keiner dieser eher stillen, aber um so hintergründigeren oder tiefsinnigeren, Eindringlichkeit vermittelnden wie Hagen Rether. Das ist eben Derbleck'n, Wirtshaushumor, bei dem zeigt man allenfalls die Zähne, aber man beißt nicht zu. Dennoch möge nicht in Vergessenheit geraten: Vorredner der Kinseherin haben das getan. Der eine oder andere hat sich damit auch abserviert, weil der eine oder die andere sich dann doch ein bißchen zu sehr beleidigt gefühlt hatten. «Liebe Salvator-Freunde,
Noblesse oblige Vor zwei Tagen bezeichnete mich jemand als Adelsexperte. Nun gut, ich hatte mich unglücklicherweise «enttarnt», indem ich ihm davon erzählt hatte, daß ich eine Zeitlang in einem blaublütig durchseelten Haus Wein gesoffen habe und dessen Produzenten auch noch sympathisch fand. Da muß man dann eben mit ätzender Ironie leben, vor allem, wenn sie von jemandem verspritzt wird, der sich wissenschaftlich mit dieser Degeneration beschäftigt. Nur gut, daß ich nicht darüber berichtet habe, wieviel wohler noch es mir erging bei diesen Florentinern in ihrem Palazzo, nicht nur, weil die noch um einiges besser kochten als die rheingauische Gräfin. Ach, was soll's, Adlige sind auch nur Menschen. Das dachte ich jedenfalls bis gestern abend. Da plazierte sich eine Frau mittenrein in mein Gedankengut, von der ich zuvor noch nie gehört und auch nicht gelesen hätte, wäre ihr Name nicht just während dieser brieflichen Frozzelei gefallen. Normalerweise schaue ich mir so etwas nicht an, aber während des Switchings blieb ich an einer Talgshow (das ist fränkisch und heißt Fernsehunterhaltung) hängen, weil ein Reizname fiel. Da saß dann ein weibliches Wesen, das auf den ersten Blick auf mich wirkte wie eine Anja-Tanja, die sich aus Mümmelmannsberg hinaus hinauf an den Rand dieser besseren Gesellschaft gearbeitet hat — nein, das wäre eine schiefe Metapher, das Hasenbergl käme dem näher, stammt der Name der Dame doch aus Bayern, der von der Anna von Bayern. Sie hat ihresgleichen heftig oder auch vehement verteidigt, da ihm das offenbar selber nicht mehr gelingen will, jedenfalls vor keiner rigorosen Prüfungskommission mehr. Sich die Frage zu stellen, warum auch sie an dieser Runde teilnehmen mußte, ob es an der intensiven Freundschaft zum Delinquenten oder an dem Buch gelegen haben mag, das sie über ihn geschrieben hat, ist vermutlich ebenso müßig wie die Frage nach dem Wahren, Guten und Schönen innerhalb eines dokumentarischen Filmchens innerhalb der Sendereihe Deutsche Dynastien. Da gilt offensichtlich auch nur das dauerhaft oder auf ewig gültige winckelmannsche Edle Einfalt, stille Größe, vielleicht auch: innen zwar hohl, aber es glänzt so schön. Auf jeden Fall wurde ich an den Satz erinnert, den dieser wirkliche Adelsexperte mir noch zukommen ließ und den ich leicht abwandele: «Außerdem bietet diese Form der filmischen (im Original schriftlichen) Erinnerung dem einzelnen auch die Möglichkeit der nachträglichen Sinngebung des gelebten Lebens und somit die Einbindung in den kollektiven Prozeß bürgerlicher Identitätsbildung.» Wenn ich dem Bürgerlichen noch ein kleines Spießchen hinzufüge, dann verdeutlicht das möglicherweise die Lage einer Nation. Ach was, die Lagen vieler Nationen! Wir wären doch allesamt so gerne auch von blauem Blut, allen voran die Franzosen, die möglicherweise etwas zu voreilig dem Adel den Kopf abgeschnitten haben. In Deutschland wurde der edle und erhabene Geist zwar hundertwanzig Jahre später geköpft, nein, das macht man dort nicht, man schafft auf andere Weise ab, aber auf jeden Fall steckt er dennoch tief in uns, in unserem Blut eben. Man muß doch nur mal in unsere Wohnungen schauen. Überall prangen die Seh(n)süchte, selbst unter eine für Germanen viel zu tiefe Decke paßt immer noch irgendwie ein Kronleuchter, zu dem aufzublicken wäre. Teil dieser knapp einem Prozent der jeweiligen Bevölkerung wollen wir sein. Gestern fiel im Rahmen der allgemeinen Erregung irgendwo der Vorschlag, am besten gleich allen einen Doktorgrad mit auf den Lebensweg zu geben. Ergänzend hinzufügen möchte ich: Alle in den Adelsstand erheben. Dann wär' vielleicht endlich Ruh'. Oder auch nicht, müßten sich nach einer solchen Massenveredlung doch die Echtblütigen was einfallen lassen. Einfach einen Titel zurückgeben? Wenigstens ein «von» aus dem Namen tilgen, wie die gestern abend ebenfalls anwesende, neben dieser Anna-Tanja sitzende Freifrau das getan hat. Die hätte ich übrigens am liebsten geknutscht, so wunderbar spöttisch hat die gekuckt.
Charon, alter Schwerenöter. Nach der vollständigen Solarisation wurde die Revolutionskate nun auch fernsehisch revolutioniert. Seit einigen Tagen ist auch mein TeVau digitalisert. Ich wollte das nicht, von ein bißchen Französisch vielleicht abgesehen. Aber offensichtlich sind die ursprünglichen Fernsehverweigerer Madame Lucette samt Gatten nach der Betriebsübergabe an den äußerst vitalen Sohn nicht mehr so reisefreudig wie früher und wollen deshalb wenigstens hin und wieder mal nachschauen, was es so gibt an linksrheinischen Nouvellen des Tages. Über die Schrecklichkeiten dieses TV-Angebots lasse ich mich möglicherweise später mal aus, aber zunächst stelle ich die Partizipation fest: Nun kann auch ich in die Welt von TV5Monde schauen, einmal nur für Europa, also Belgien, Frankreich und die Schweiz, aber über einen weiteren Kanal auch mondial, und als einen außerordentlich überraschenden Randgewinn möchte ich Telesur bezeichnen. Da gibt's Sachen zu sehen, die auch in der Wiederholung fernab liegen vom US-amerikanischen TV-Kolonalisationsideal. Eine wunderschöne Frau kroch zu mir ins Boot, kam über mich. Nein, nicht so direkt auf mich drauf, eher kroch sie in mich hinein. Archäologin, Tochter eines Juden aus Prag und einer vermutlich andersgläubigen peruanischen Mutter von möglicherweise inkaischem Blut, stand in der Wüste nördlich von Lima und erzählte. Anfänglich bekam ich gar nicht so recht mit, wovon sie sprach, einfach nur anschauen wollte ich sie, diese Vollendung der Schönheit, wie sie meines Erachtens nur eines zuwege bringt: die Durchrassung. Nein, das darf man nicht mehr schreiben, nenne ich's also Multikulti, das ist obendrein historisch Jahrhunderte älter, nicht nur als das Gestöhne von dessen Tod. Nun, ich kam, zu mir, zur Besinnung und hörte der etwa sechzig-, möglicherweise fünfundsechzig- oder auch siebzigjährigen Ruth Shady auch zu. Über das Alter und die Schönheit referierte sie. Nein, nicht über sich. Solche Eitelkeiten dürften ihr fremd sein, dazu kam sie zu intelligent und gebildet (nicht im heutigen notenverteilenden pisianischen, also euroglobalen Verständnis, sondern eher im klassischen humanitären Sinn) bei mir an. Um die älteste Kultur Amerikas ging es, um das fünftausend Jahre alte Caral in Peru, die sie gerade am ausgraben ist. Ich war hingerissen, nicht nur von ihr. Auch die Vorstellung riß mich, was in diesen Kleingeistern an Europäern vorgegangen sein mußte, als sie sich aufmachten, die Welt zu kolonalisieren und im Namen eines Gottes zu missionieren, der nach den den heutigen Forschungen seiner Kreationisten etwa zu dieser Zeit innerhalb rund einer Woche die Erde geschaffen hat. Auf daß sie am Sonntag alle aufs Rad steigen. Das die Sumerer erfunden haben — bei denen Schriftzeichen gefunden wurden, die eine Ähnlichkeit zu den um einiges älteren von Caral aufweisen. Überhaupt mache ich mir seit einiger Zeit zusehends mehr Gedanken über das Alter. Nicht unbedingt über das meine. Darüber denke ich nicht nach; vermutlich macht mich das zeitlos, oder ich bin längst tot. Eher über das derjenigen, die es immer wieder, gerne in Blogs, von einem leicht gequälten Stöhnen begleitet erwähnen, dahingehend, daß sie hineingekommen seien in es. Mit Mitte vierzig, aber durchaus auch bereits mit Ende dreißig. Seit längerer Zeit lese ich das ständig. Anfänglich hielt ich das für mehr oder minder scherzhafte Äußerungen von Menschen, deren Kindheit zur Neige geht. Vermutlich verhält sich das im wesentlichen auch so, aber oft genug wird deutlich, wie ernst es vielen damit ist. Zunehmend mehr Menschen dieses Alters beklagen, am Ende der Leiter in Richtung des Styx angekommen zu sein. Das sind keineswegs nur Frauen und auch nicht nur solche vom Land, wo, trotz vielfältiger Möglichkeiten Zustände zu herrschen scheinen wie im moralisch überversorgten 19. und auch noch 20. Jahrhundert. Mädchen ab etwa siebenundzwanzig starren dort nach wie vor angstvoll auf das sich schließende Tor mit dreißig. Das bleibt anscheinend haften, auch dann, wenn sie längst der anheimelnden Kleinstadt entflohen und in den Randzentren der Metropolen angekommen sind. Es sind häufig keine mit jahrzehntelanger Erfahrung an der Arbeitsfront, sondern solche, die voraussichtlich noch etwa zwei bis drei Jahrzehnte haben bis zur Rente; wenn deren Berechtigung und es sie überhaupt noch geben oder sie bis dahin nicht längst auf achtzig frische Lenze angehoben sein wird. Den Herren, deren Rippen ja Modell gestanden haben sollen, geht es jedoch nicht viel anders. Die strampeln sich, im besten Wortsinn, mächtig einen ab, um nicht nachdenken zu müssen, schon gar nicht über ihr Leid, mit vierzig oder fünf Jahren mehr, also in Kürze den Fährmann anrufen zu müssen, auf daß er sie über den Fluß setze. Nun mag ich qua Bestimmung etwas anders geprägt sein mit meiner bei meiner Geburt vierzigjährigen Mutter und ihrem fast dreißig Jahre älteren Mann, mit dem sie obendrein noch nicht einmal verheiratet war. Zur Verdeutlichung: 1904 beziehungsweise 1875 kamen die beiden zur Welt. Diese zu dieser Zeit tatsächliche Sensation namens Gefahr für Mutter und Kind alias Stubenzweig mag ihren Niederschlag gefunden haben in der Erbmasse, habe ich doch mit vierzig erst so richtig losgelegt. Jedenfalls beruflich. Das andere hatte ich familienuntypisch bereits zuvor erledigt, stand also beziehungsweise zudem in einem anderen, weit offenstehenden «Zeitfenster». Sogar über die unmittelbare Verwandtschaft wurde mir unlängst belegt, wie problemlos das ist mit dem Kinderkriegen und dennoch vorher wie nachher beruflich im Saft zu stehen. Ein wenig mögen andere dabei auch beispielhaft mitgewirkt haben, denn auf einige meines Freundes- und Bekanntenkreises schien sich diese Erkenntnis bereits zuvor ausgewirkt zu haben. Ein nicht unerheblicher Teil der Damen bekam schon in den neunziger Jahren anfänglich des vierten Lebensjahrzehnts seine Kinder. Ich kenne es also sozusagen nicht anders. Und auch bei der fündundvierzigjährigen Inselfreundin, besamt vom Gatten und Erzeuger der mittlerweile über zwanzigjährigen gemeinsamen Tochter, schlupfte der originale Wikinger vor kurzem rascher hinaus, als ein Küken sich aus dem Ei zu hacken vermag. Aber möglicherweise macht man sich in Island andere Gedanken. Oder überhaupt keine. Ich sollte das vielleicht auch tun, mich einfach in meine Badewanne da unten legen und schlicht ein bißchen mit dem alten Fährmann über die all schönen Frauen plaudern, die er da immer so an Bord hat in seiner ollen Jolle namens Hölle.
Verhext Ohne mein Blütensternengärtchen komme ich offensichtlich einfach nicht aus. Seit langem flaniere darin, was zuweilen dazu führt, daß mir dabei Kraut vor den Mund wächst. Aber was ein richtiger Freund ist, der übt eben auch Kritik. Hin und wieder fehlen mir allerdings fast die Worte. Da wird, quasi als Kontrast- oder auch Begleitprogramm zum christlichen Advent ein Film über historisch Beleuchtsames gesendet, in dem dramaturgisch ein Bogen ge-, besser überspannt wird, der fast in der reißerischen Manier des Zweiten-Obergeschichtsschreibers vom Mittelalter in die Jetztzeit reicht und erst ganz zum Ende der «Dokumentation» hin auf die Ursachen verweist: Lebensmittelvergiftung. Davon mal abgesehen, daß mir bei den geschilderten Symptomen gleich zu Beginn klar war, um was es sich handelt. Die, na klar, überseeische Psychologin Linda Caporeal (ohnehin ein Klang wie ein nom d'emprunt, doch die deutschsprachige arte-Redaktion dichtet ihr auch noch eine Historikerin darauf, mit der Folge, daß diese und andere Fehler von den Abschreibmedien gnadenlos übernommen werden) hat ihre These bereits Mitte der Siebziger aufgestellt, und 1976 wurde sie im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlicht: Verhext worden zu sein, war nicht des Teufels und somit eine göttliche Strafe, sondern durch ungesundes Essen verursacht worden. (Also doch eine Teufelei? Aber damals gab's im heutigen Sinn ja noch keine Nahrungsmittelindustrie.) Nun ließe sich behaupten, neue Erkenntnisse seien hinzugekommen, die ein Filmchen dieses Häkelmusters rechtfertigten (daß es eine Wiederholung aus dem Jahr 2002 ist, darauf wird, wie mittlerweile überall üblich, erst gar nicht mehr hingewiesen, immer häufiger nicht einmal mehr im Abspann). Dem ist jedoch nicht so. Als ob es es ein so großes Geheimnis wäre, daß Albert Hofmann Lysergsäurediäthylamid entdeckt hat. Er hat in den Sechzigern mit dem Mutterkorn experimentiert. Daraus entstand dann, einmal geschluckt, unter Umständen das, was nicht nur in der mittelalterlichen Ü-30-Disco aufgrund halluzinogener Wirkung pflanzlicher Drogen zur Tanzwut führen konnte. Einmal einen Trip geworfen, wird der eine Langzeiterinnerung bleiben. Zu plastisch ist mir dieser Horrortrip in Erinnerung, in dem ich vor etwa vierzig Jahren durch die Gassen der romantischen Universitätsstadt schwebte, hinunter zum Fluß und wieder hinauf in Richtung Einwurfstation, kein Klingeln der Straßenbahn mehr hörend, nur noch sich ständig verschiebende Flächen wahrnehmend, in permanenter Farbveränderung, fliegenden, ja einstürzenden Bauten entfliehend während der Heimsuchung in meine Behausung, die über einer anderen Kneipe lag, die schmale Treppe dort hinauf nicht so recht findend, da sie andauernd eine andere Richtung nahm, sie wieder hinunterrennend, wiederum Musikboxen und Schnapsregalen ausweichend, die auf mich zugeflogen kamen. Stundenlang ging das so. Und es legte sich erst wieder, nachdem die Expertenrunde, von der ich mir das winzige Stückchen hatte in mein skeptisches Schnütchen schieben lassen und aus der sich glücklicherweise immer jemand in der Nähe befand, festgestellt hatte, es sei wohl besser, die Notbremse zu ziehen. Vor allem, nachdem sich jemand hinzugesellt hatte, der meinte, man solle dieses Zeugs grundsätzlich nie unausgeschlafen und um des lieben Himmels willen nicht unter Alkoholeinfluß einwerfen, das sei nicht ganz ungefährlich. Ein anderes Pillchen bremste dann auch die schier unaufhörliche Raserei. Es war keine Vollbremsung wie bei einer Intercity-Entgleisung, sondern eher ein Ausrollen über viele lange Kilometer hinweg. Und schließlich ergab sich sogar ein wunderschönes, sozusagen multiples (An-)Kommen, eine Art Nebentraum, alles andere als alp, indem mich die zauberhafte Freundin empfangen hatte, schier endlos. Ich brauche das gar nicht wiederzulesen. Es hat sich nicht nur eingebrannt in meine Erinnerung, ich könnte ohne weiteres Einzelheiten hinzufügen. Das war es eben, was mich nicht im positiven Sinn erregte, als das Filmchen in meinem Blütensternengärtchen anlief. So stelle ich mir Harry Potter für (Klein-)Kinder vor: ein bißchen Friedhof, Gestalt mit Fackel, Baum in Nebelschwaden, drei Galgen mit was dran baumelnd, und dann, Walpurgisnacht und so: Verhext. Das ist soweit ja alles gut und schön, das Thema kann man zeigen, zumal es sicher einige Leutchen gibt, die das immer noch nicht wissen, selbst wenn sie bereits im Schaukelstuhl (oder eben noch in der Wiege) wippen. Aber braucht denn es eine derart geheimnistuerische Dramaturgie, die obendrein den Kernpunkt der Aussage fast zum Filmende hin auswalzt, um dem Menschlein etwas Information zukommen zu lassen? Bei Guido Knopp oder in den anderen von der Spannung und nichts als Spannung gefütterten Sendern erwarte ich nicht anderes, weshalb ich da schließlich auch nicht reinschaue. Aber im sogenannten Bildungsfernsehen? Ich beharre auf meinem Recht als gebührenzahlende Minderheit. «Der aktuelle Euphemismus für Schwachsinn», lese ich im Froschfilm, «lautet ‹nicht hilfreich›.»
Waschmaschinenfernsehen
Afrikanisches Biermoosgebläse Eines hat mir die öffentlich-rechtliche Aufbereitung der Kickerei in Südafrika gebracht: Es gab für sogenannte Nischenkucker einen Rahmen, der den Inhalt bei weitem überwog. Nachdem ich mich gleich zu Beginn des Spektakels bald ausgeklinkt beziehungsweise zu arte hingerettet hatte, erlebte ich beinahe eine ganze Nacht lang eine außergewöhnliche Berichterstattung über die Zustände in Südafrika, zwanzig Jahre nach Ende der Apartheit. Und auch gestern sah ich mich gezwungen, über Wiederholungen nicht nur nicht zu schimpfen, sondern sie hoch zu preisen. Da geriet ich nämlich erneut in den Bann dieses Landes, in dem ich als Junge nicht mal eben so mit dem anderen von nebenan plaudern durfte, wie das einer aus der großen Familie der Biermösl-Blosn tat. Die hat nämlich 2007 eine nicht nur musikalisch intensive Reise in den Süden dieses Kontinents unternommen, die beeindruckend abgefilmt wurde. Nun gut, ich habe die musizerenden Weil-Brüder immer gemocht, von Anfang an, noch bevor sie begonnen hatten, mit Gerhart Polt gemeinsam zu wirken. Sie haben mir, der ich sehr bald nach meiner Ankunft im Land der Baiern wieder ausreisen wollte, da ich mich an Düsseldorfs Kö wähnte und beruflich zudem an den Rand eines Getriebes geriet, das ohne jede Übertreibung in Kir Royal geschildert wurde, Rossini nicht zu vergessen. Meinen Aufenthalt im Land haben mir ein paar wenige erträglich gemacht, die sich als Eingeborene nicht haben wegspülen lassen von dieser Sturmflut an Freizeitasylanten aus West-Nordwest. Alleine sie haben verhindert, daß mir nicht fortwährend schwarz vor Augen und Ohren wurde, alleine durch sie habe ich feststellen dürfen, daß es in diesem schwarzen Staat ebenso großartige Menschen gibt wie in einem noch immer nicht von Schwarzen beherrschten. Eindrucksvoll haben das die Weils vorgeführt. Nein, nicht nur vorgeführt im Sinne ihrer musikalischen Virtousität, einer Grandiosität, die mich einmal mehr verblüffte. Ihr Umgang mit den Einheimischen, deren unbefangene Nähe, die Gemeinsamkeiten waren von einer Fröhlichkeit, die ihresgleichen suchte. Aber eben auch die aus dem Biermoss gewohnt kritischen, weit über die Musik hinausgehenden Töne haben mir vor Augen und Ohren geführt, weshalb ich es im Land der Bayern dann doch fast dreißig Jahre ausgehalten habe. Eine aus dem Off lakonische weilsche Stimme hat das im besonderen Maß belegt: daß es erschreckend sei, wie die rassistische Apartheit durch die kapitalistische abgelöst worden und das bei den deutschstämmigen Weißen in Namibia noch nicht einmal angekommen sei. Doch ich will das diejenigen erzählen lassen, die diese Reise getan haben: Hans Weil hat nämlich Tagebuch geführt. Aber auch der Hinweis auf den Film möge nicht untergehen. Sollte sich jemand die Gelegenheit bieten, ihn anzuschauen, dem sei das dringendst angeraten, denn offensichtlich steht es auch außerhalb des Öffentlich-Rechtlichen noch auf dem Programm, das Plattln in Umtata.
Programmplatz eins Menschen gibt es, die behaupten, arte habe für viele lediglich eine Alibifunktion. Da mag durchaus was dran sein. Aber mit mir ist bei dieser grundsätzlichen, meines Erachtens ohnehin häufig vorgeschobenen Fernsehablehnung keine Statistik zu gestalten. Es gibt ohne Zweifel Hervorragendes zu sehen, wobei ich die Privaten vermeide, nicht nur wegen der Werbung, sondern auch des anderen nicht nur Restmülls wegen. Und ich gehöre zu den regelmäßigen Guckern des deutsch-französischen Kanals, sowohl im Süden als auch im Norden, seit es den Sender gibt. Zerwürfnisse bleiben da nicht aus. Was sich liebt, das brüllt sich sich auch schonmal an. Wenn ich mich an Großartigkeiten erinnere, in die ich auch schonmal zufällig gerate, hängt es meistens mit arte zusammen. Es mag am Programmplatz eins liegen. Einmal mehr war das der Fall. Dem Büro in mein Morgenschläfchen entwichen und danach unversehens ins Programm geraten, aber offensichtlich doch kurz nach Beginn, hielt ich ihn, vom Bild her wohl das zweite mal nun schon, für Nigel Kennedy, vermutlich wegen seiner steilen Haare. Dann wunderte ich mich jedoch über sein flammendes Plädoyer für das Theater. Ob er wohl aus Altersgründen die Violine beiseite gelegt und ans Regiepult und auch gleich noch in den Hörsaal getreten sein könnte, fragte ich mich, immer noch leicht verschlafen, und deshalb ein solches Engagement an den Tag legte, wie das nur jemand kann, dem sich gerade eine neue Welt aufgetan hatte. Sein seltsam tippeliger Gang hob die Verwechslung dann allerdings auf, denn den kannte ich, habe ich mich vor längerer Zeit doch schon einmal über ihn gewundert, vor langer Zeit bei Kaija Saariahoo, bei den Proben zur Salzburger Uraufführung ihrer Oper L'amour de loin, inszeniert von dem US-Amerikaner, dem vermutlich letzten Weltbürger alten Schlages, gleichwohl immer noch jünger an Jahren. Als er noch Kind war, verspürte seine kein Wort Französisch sprechende Mutter das Bedürfnis, überzusiedeln nach Paris, wo er dann offensichtlich alles in sich aufsog, was annähernd mit den Künsten zu tun hat. An ihrem Gang soll man sie erkennen. Der ist allerdings so unverwechselbar wie seine Kunst. Die war mir zwar nicht neu, aber seine Äußerungen, die in Ausschnitten erläuternden Oper- und Theaterszenen trugen doch erheblich zum tieferen Eintauchen bei. Ähnlich ging es mir seinerzeit bei der Dokumentation über Jessye Norman. Es dürfte nunmal kaum jemandem beschieden sein, zwei Jahre lang ein solches Musik-Theater-Phänomen begleiten zu dürfen wie hier Mark Kidel. Ich gehe davon aus, daß der, vielleicht nicht ganz so anhaltend wie die Begleitphase selbst, aber doch sicher einige Monate an Sichtung, Auswertung der Gespräche sowie des fremden Filmmaterials gesessen haben dürfte, vom Schnitt mal abgesehen. Eine solche Arbeit führt dann zu einer Dichte, die vermutlich Sellars in sich selbst erst einmal zusammensuchen müßte. Es sind die Gespräche mit Komponisten, Kritikern, Sängern und Schauspielern, in jeweilige Inszenierungen eingebundene bildende Künstler als Bühnenbildner, Intendanten und Freunde, die teilweise überwältigenden Nahaufnahmen, beispielsweise von der mich immer wieder faszinierenden Dawn Upshaw, die Lust auf immer mehr machen. Aber mit einem Mal ist der Film dann zuende, dessen Konzentration aufs wesentliche lediglich von wenigen Einsprengseln des Stargehopses, ach, nicht einmal gestört wird, da das als Bestandteil eines solchen Lebens nunmal ebenfalls kurz gezeigt werden muß. Dann kommt jene Trauer auf, wie sie vom petit mort bekannt ist, dem wunderschönen kleinen Tod, dem Liebeszenit, der nicht nur den Höhepunkt beschreibt, sondern auch die Trennung. Wer sollte das eher bieten als der Film im Fernsehen? Ins Kino dürften sich solch filigrane Dokumentationen wohl kaum verirren. Und für die DVD benötigt man nunmal auch so ein Gerät (im Computer möchte ich so etwas nicht anschauen) — wenn sie denn überhaupt auf den Markt gerät oder gar, was ja häufig genug geschieht und das Ganze noch etwas ärgerlicher macht, nach kurzer Zeit wieder von ihm verschwindet, weil sich's nicht rechnet.
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