Wiedergängerische Wege im Déja-vu

Doch sie verweigerte ihm den Rückzug in sein Innenleben. Ob er sich denn überhaupt nicht an sie erinnere, hakte sie nach, noch etwas forscher als zuvor. Sie sei sich jedenfalls sicher, daß er es gewesen sei, der damals auf Schloß Gottdorf, das zwar nahe Schleswig läge, sie es aber eher, vermutlich aus elterlich verordneter Gewohnheit, Rendsburg zuordne, soviel über sich kreuzende Wege oder Leid auch in der Malerei geredet habe und mit dem sie ins Gespräch gekommen sei. Aber vielleicht hätten die mutmachenden Körne, der noch im gemeinsam aufgesuchten Café angebotene Wein sei angeblich ungenießbar gewesen, ihm seinerzeit bereits den Vorausblick vernebelt. Ihre Direktheit erheiterte ihn und schuf eine Verringerung der Distanz zu ihr. Er entschuldigte sich mit dem Hinweis auf Ereignisse, die ihn in eine Amnesie geschickt hatten, die sich nur langsam auflöste. Doch ihre Gelöstheit half tatsächlich ein wenig bei der Lichtung des Nebels um seine Vergangenheit. Er erinnerte sich an an mehrfache Einladungen jenes Freundes und Kollegen, der ihn mit dem späteren Maler der Kreuzwege bekannt gemacht hatte. Der war für die Kultur mitverantwortlich geworden, die alljährlich in den Räumen der an sich in Schleswig-Holstein nicht eben übermäßig häufigen Renaissancearchitektur stattfand. Einmal war er tatsächlich einer gefolgt. Sie könnte mit zu dem Ereignis geführt haben, das nun als Teil dessen neben ihm saß und etwas behauptete, das klang, als ob man bereits einmal miteinander im Bett oder zumindest nebeneinander in dem eines Krankenhauses gelegen habe.

Mit einem Mal kam eine Erinnerung an eine seltsame Begebenheit in ihm auf. Etwa zehn Jahre lag es zurück, daß er sich auf einer Liege befand, wie man sie aus dem Behandlungszimmer eines Allgemeinarztes kennt. Der behandelnde Arzt war jedoch kein solcher, sondern dieser sogenannte Doktor Kutscher war eine Art spirituell operierender Kunstpsychiater. Er hatte eine seiner seit Ende der achtziger Jahren berüchtigten Séances en chambre noire abgehalten. Rund dreißig Menschen des Kulturapparates Deutschland und die Welt hielten im zum Ereignisort umgebauten ehemaligen Stall des ribbentropschen, direkt am Rhein gelegenen Anwesens neben dem zur Kunstkate an- und ausgewachsenen Haus aus der Gründerzeit an einem runden Tisch einander an den Händen und riefen die Geister, die sie beschworen hatten. Nachdem sie ihnen erschienen waren, erfuhr ein jeder der Beteiligten eine individuelle Therapie (wie beim Herzchen mit dem Kursor auf die Ziffer).1

Mir war damals, als ob ich mit lauter Rimbauds händchenhaltend in einer Runde gesessen und ständig die Beschwörungsformel Je est un autre gemurmelt hätte. Und tatsächlich sollte ich ein paar Jahre später ein anderer geworden sein.

Ein Luminogramm, ein Portrait meiner selbst, auf ewig vereint mit meinem Lieblingsgeist oder auch eingebildet im Geist mit mir verwandten Robert Filliou, kreativ gezaubert von Vollrad Kutscher und gestern ausgegraben von meiner Kunstarchäologin Frau Braggelmann, der es immer wieder gelingt, Seltsamkeiten bei und an mir zu entdecken. Auf daß man sich ein Bild machen möge von mir komisch spirituell Veranlagtem, der mit seinem Glauben an die Wirklichkeit jedes Geheimnis (v)erschrecke, meinte sie, gehöre es ins Schaufenster meines schmierzetteligen Logbuchs gestellt. © Vollrad Kutscher. Photographie © Jean Stubenzweig


Langsam kam Erinnerung in ihm auf, verlängerte ihm den Rückblick in die Vergangenheit. Doch noch immer war er amnestiert. Er brachte keinen konkreten und weiterführenden Gedanken an die neben ihm sitzende Frau zuwege. Was sie denn nach Marseille führe, versuchte er sich wegfragend noch ein wenig weitere Nachdenkluft zu verschaffen. Eine lange Geschichte sei das, weitaus länger als die Raterei nach Ursächlichkeiten von einstigen Begegnungen im Irgendwo des Universums.

Die erzähle ich beim nächsten Mal. Wenn die Muse so gnädig sein sollte, mich noch einmal zu küssen, auf daß mir Wieder- oder auch Widergängerisches entlockt würde.
 
Mo, 30.07.2012 |  link | (2520) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Fortgesetzte, sich überkreuzende Wege im Déja-vu

Er war sich nicht darüber im klaren, worauf die Frau abzielte. Er wandt sich ihr näher zu, rückte gar seinen Stuhl ein wenig nach rechts, um ihr Gesicht genauer in Augenschein nehmen zu können. Sie erschien ihm sympathisch, die Vermutung, sie könnte sich über einen vermeintlichen Grad der Bekanntschaft die seine erschleichen wollen, wurde augenblicklich auf Distanz verwiesen. Aber er konnte sich nicht an sie erinnern. Doch er ging darauf zunächst nicht ein. Es mochte schließlich sein, daß er mit seiner euphorischen Übersiedlung in den Süden bereits die komplette Vergangenheit verdrängt hatte. Doch eine Blöße wollte er sich nicht geben, die darauf hindeuten könnte, er sei ignorant. So bemühte er sich um gedankliche Annäherung, indem er sie nach dem Gemälde fragte, wo sie es denn gesehen habe. Er könne sich nicht daran erinnern, sie je als Gast begrüßt zu haben, denn es ziere seine wohnunglichen Wände. Im Original sei es ihr auch nicht bekannt, erwiderte sie. An einer Wand habe sie es dennoch gesehen, und zwar als Lichtbild. während eines Vortrags über zeitgenössische Malerei. Sie habe es wie gestern im Gedächtnis, da es sie vor allem deshalb beeindruckt habe, mit welch schlichten materiellen Mitteln ein Maler eine solche Ausdruckstärke herzustellen in der Lage sei.

Er kam ins Grübeln, heftig suchte er in seinem nicht nur im Süden, sondern auch wegen seines ein paar Jahre zuvor erlittenen Gedächtnisverlustes reduzierter gewordenen Erinnerungsvermögen nach einem Anhaltspunkt. Der Künstler war kaum bekannt, auch heute nicht. Sein Werdegang war bestimmt wie der so vieler seinesgleichen, die sich keine Zeit nahmen oder nehmen wollten oder auch wegen ihrer Zurückhaltung nicht konnten, sich auf dem Marktplatz der Kunst anzupreisen. Dabei war es sicherlich ein besonders Erschwernis, aus der DDR zu kommen und nicht figurativ zu malen wie etwa ein Bernhard Heisig oder ein Werner Tübke. Ins Land des sozialistischen Realismus war der Maler aus Israel eingewandert, wo der Kommunismus, den er im Kibbuz lebte, abzubauen drohte. Kennengelernt hatte er ihn durch einen Freund und Kollegen, der den unter freieren Geistern als stille Größe bekannte Künstler aus seiner Ost-Berliner Zeit als Kulturreferent des Amtes für innerdeutsche Beziehungen erlebt hatte, kurz nach seiner Übersiedlung in den Westen, der letztendlich doch ein wenig mehr Freiheit zu bieten schien. Seine Freiheit äußerte sich darin, in einem ärmlichen Kellerloch mit den zu großen Teilen mitgenommenen schlichten Materialien zunächst die Sujets weiterzuführen, die den einstigen Theatermaler in Anklam, Dessau und Meiningen in Atemnot hielten: die Tristesse, die dieser Staat ausstrahlte. Als er durchatmen konnte und er sich, wie zur Zeit in der späten Ostzone, einen kleinen Freundes- und Liebhaberkreis um seine Gemälde versammelt hatte, geriet er in eine quasi biblische Strömung. Es waren Kreuzwege, die der Jude fortan zu malen bereit war. Scheinbar religiöse Fragen entzweiten sie denn auch. Er hatte eine Petition unterschrieben, die für die Aufführung am Frankfurter Schauspiel des Theaterstücks Der Müll, die Stadt und der Tod von Rainer Werner Fassbinder plädierte, da er wie auch seine jüdischstämmige Gefährtin der Meinung war, Wirklichkeiten sollten bisweilen tatsächlich figurativ abgebildet werden dürfen. Der Künstler wehrte sich trotz seines an sich stillen Temperaments vehement dagegen. Der einst für seinen Freigeist Bekannte hatte sich Mitte der achtziger Jahre heiligen Sujets zugewandt und Kreuzwege gemalt. Einstige Querwege schienen nicht mehr begeh- und malbar. Zwar entstand kein Religionskrieg zwischen ihnen beiden, aber eine Freundschaft zerbrach an Glaubensfragen, weil sie politisch geworden waren. Dennoch zeigte er die Gemälde gerne.

Gil Schlesinger, Acrylfarbe auf Packpapier, um 1973, ca. 90 x 100 cm; hier leicht beschnitten. © jst

Das änderte nichts daran, sich an einer Abzweigung zu befinden, von der er nicht wußte, wohin er gedanklich gehen sollte, um dem Weg auf die Spur zu kommen, die diese Frau neben ihm zu ihm geführt haben soll. Er sah sich also gezwungen, sie zu fragen, wo sie dieses Gemälde an einer Wand habe leuchten sehen.

Mitte der achtziger Jahre sei es gewesen, antwortete sie bestimmt, genauer 1988, ziemlich genau vor vierzehn Jahren. Einen Vortrag in einem kleinen Museum Norddeutschlands, wo sie herkäme, habe er gehalten über zeitgenössische Kunst, Aufhänger sei die vergangene Documenta gewesen. Währenddessen habe er auch dieses Bild an die Wand geworfen. Es sei ihr nachdrücklich in Erinnerung geblieben, da sie ihn darauf angesprochen und er ihr bereitwillig und alles andere als in dürren Worten Auskunft erteilt habe.

Wie seit dem Ereignis, das er Umfall nannte, das sich mit Sirren, nicht Sirenen angekündigt hatte, war er einmal mehr gezwungen, heftig in seinem Vergangenheitsfundus zu wühlen. Er hatte so manchen Vortrag gehalten, auch in Norddeutschland, was daran gelegen haben mag, diesen Landstrichen seit je Sympathie entgegengebracht zu haben, in kleinen Häusern der Kunst zudem, da er dort mehr Aufmerksamkeit vorfand als in den heiligen Hallen der Großkultur, in denen in der Regel dem gesellschaftlichen Ereignischarakter der Vorzug eingeräumt wurde. Überdies wurden die oftmals auch nicht schlechter honoriert als etwa Ausstellungseröffnungen in renommierteren Museen, da häufig ein interessierter Kreis dahinter stand, dem ab und an eine örtliche Sparkasse oder gar eine Bauernbank Veranstaltungszuschüsse zukommen ließ, während bekanntere Häuser fast ausnahmlos nicht in der Lage waren, ihre Etatgrenzen zu überschreiten. Während er das gedanklich abschritt, kam etwas Licht in seine schattenhaften Erinnerung. Das niedliche Städtchen Schleswig tauchte schemenhaft auf. Dorthin hatte ihn die lieber dem Überschaubaren dienliche Direktorin einer kleinen Kunstschaubude in der Nähe Cuxhavens hin vermittelt. Ob es der Ort dieser Veranstaltung gewesen sein könnte, fragte er sie.

Mit derselben Entschiedenheit wie zuvor schon verneinte sie. Schleswig kenne sie nicht einmal. In Rendsburg sei es gewesen. Und weitaus gesprächiger sei es zugegangen damals, jedenfalls weitaus gesprächiger als jetzt gerade. Die Frau wurde ihm unheimlich in ihrer Bestimmtheit. Er war sich sicher, noch nie in Rendsburg gewesen zu sein. Er wußte nicht einmal, wo Rendsburg liegen und ob es dort eine Stätte gab, an die es ihn gezogen haben könnte. Er spürte zusehends das Verlangen, sich in sein Inneres zurückzuziehen.


Das tue ich jetzt auch. Es ist Zeit fürs Mittagsschläfchen. Morgen erzähl' ich die Einschlafgeschichte weiter.
 
Di, 24.07.2012 |  link | (2289) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Südlich erleuchtetes, tieflinksrheinisches Déja-vu

Seit er sich aufs längerfristige, vermutlich ewige Dasein an la Mer Méditerranée, an la Grande Bleue, aus dem die Schaumgeborene entstiegen war, eingerichtet hatte, stand er gerne früh auf, der eigentliche Langschläfer. Meist wurde er geweckt durch den Balayeur, der noch vor sechs Uhr mit seinem treckergleichen Gerät um das am Cours Belsunce gelegene Centre Bourse herumkurvte, um den nach der letzten abendlichen Straßenfegerei neu entstandenen und irgendwie einfach zum Stadtbild gehörenden, ihn auch nicht, wie in anderen Städten, weiter irritierenden Müll wegzusaugen. Der zu ihm in die zehnte Etage hinaufdringende Lärm störte ihn nicht sonderlich, es war ein sonores Brummen und kein ihn jedesmal aufschreckendes Knallen wie das der Fußbälle gegen das Gatter des Lieferantentors des Einkaufszentrums, die die Kinder bis morgens um drei und manchmal auch um vier dagegendroschen; in diesem Alter schert man sich noch nicht um Schlafbedürfnisse anderer, schon gar nicht während der Sommerferien. Es war eher wie das Grummeln eines in einem entfernten Raum oder im Nachbarappartement stehenden Weckers. Es war eben die Stadt, in der man den Vierundzwanzigstundenkrach erfunden hatte, weil man kurz vor Afrika nunmal keine Mittags- und Abendruhezeit kennt wie im größten Dorf der Welt, der weißblauen Metropole, aus der er seit bald dreißig Jahren fliehen wollte und er es nun endlich geschafft hatte. Hier wurde aus der einstigen Nachteule eine Lerche, ein zu früheren Zeiten ungeahnt früher Vogel, der um den noch geschlossenen, auf ein gigantisches Griechenklo, gegen das Wirtschaftswachstum kommt im Land keine noch so große Ansammlung archäologischer Scherben an, betongesetzten Kaufrauschbunker herumgehen mußte, um sich gemächlichen Schrittes in Richtung des fünf gemütliche Gehminuten entfernten alten Hafens sich aufzumachen. In der Regel nahm er den Weg entlang des Cours Belsunce, ließ den nicht sonderlich beschaulichen Busbahnhof auf der Rue Bir-Hakeim rechts liegen und ging bis hin zur einstigen Prachtstraße Canebière, bog dann nach rechts ab, begrüßte allmorgendlich das noch nicht von kleinen Kindern und deren Müttern friedlich belagerte Karusell, nickte dem ebenfalls noch ruhenden vertrauten Office de Tourisme zu, deshalb, da eine dort tätige Dame zum Entschluß der Umsiedlung beigetragen hat, holte sich bei der Bäckerin an der Ecke Rue Beauvais und Rue Bailli de Suffren ein Schoko-ladenhörnchen, ein paar Schritte weiter das Gäßchen hinunter an seiner Einmündung zum Quai des Belges eine Tageszeitung und nahm in der rasch zu seinem Frühmorgenbüro gewordenen Bar seine doppelten Café, um zunächst einmal nichts anderes zu tun als den Mädchen in die Taschen zu schauen. Nach den lustvollen Blicken über Zeitung und Cafétasse hinweg würde er einen Rundgang schlurfen, ein schwäbischer Autor nannte das widerrechtlich schlurgeln, das bedächtige Vor-sich-hin-Trotten, zu den Fischen am Rand des Hafens hinüberschauen, die Fischerfrauen freundlich grüßen, von denen er sich vorgenommen hatte, sie bald persönlich anzusprechen, auf daß sie sich beim nächsten Mal seiner erinnerten wie eines Alteingesessenen, ein paar Schritte über den sich belebenden Quai Rive Neuve zu gehen, um in der Bar Marengo dann von den großen Tassen auf die kleineren umzusteigen und den Journalisten der Marseillaise beim noch hektikfreien Morgen-geplaudere und den übriggebliebenen Bordsteinschwalben aus der ebenfalls nahegelegenen Gasse Rue Glandèves bei ihren müden Nach- und Nachtberichten zuzuhören. Wenn die Mittagshitze sich ankündigte, würde er ins für längere Zeit, jedenfalls so lange, bis eine Wohnung gefunden wäre, angemietete klimatisierte Hotel zurückschlurgeln, ein wenig das tun, wofür er auch im Süden bezahlt wurde, ein paar Telephonate tätigen, Aufsätze lesen, sie redigieren, dann ein bißchen schlafen und gegen späten Nachmittag denselben Rundgang noch einmal machen.

Ausgeruht und fast so guter Dinge wie am frühen Morgen war er wieder an seinem Ausguck mit Blick auf die gazellenhafte, jedoch mittlerweile bedächtiger gewordene Rasanz um die Bushaltestelle angelangt. Um seinem sich hier in dieser Stadt ständig aufkommenden Willen der Arbeitsver-drängungsmaßnahmen zu widerstehen, hatte er sich seinen kleinen trag- und klappbaren Computer mitgenommen, um wenigstens den Versuch zu unternehmen, noch ein wenig zu Tuendes zu erledigen. Er hatte dennoch an einem Tisch Platz genommen, an dem ihm nichts von dem angenehmen Gewusel an diesem Bereich dieses Nœud routier, dieser immerzu rasenden Verkehrsknotenschleife Quai des Belges verborgen blieb. Der kleine weiße Rechner erregte zwar geringes, eher naserümpfendes wie über seine, im Land inconvenante, unschicklich oder ungehörig große Voiture, aber schließlich doch Aufsehen. Der den Pastis servierende Kellner bat, einige Fragen dazu stellen zu dürfen. Die Bitte kam ihm nicht ungelegen, war das doch eine günstige Gelegenheit, nicht arbeiten zu müssen. Er bejahte, klappte wie beiläufig den kleinen angebissenen Apfel auf und schaltete ihn ein. Den Garçon de café interessierte die Qualität der Bildwiedergabe, denn er denke seit einiger Zeit darüber nach, sich trotz des hohen Preises eventuell auch einen solchen Rechner zuzulegen, denn man höre schließlich Wunderdinge. Er suchte kurz in seinem Bildarchiv nach einer geeigneten Vorlage, die auch feine Farbabstufungen demonstrierte. Es war seiner beruflichen Tätigkeit gemäß, ein zeitgenössisches Gemälde zu zeigen. Beide plauderten noch ein Weilchen, bis der Serveur sich für die Auskunft bedankte und zugleich dafür entschuldigte, sich nun wieder um seine Gäste kümmern zu müssen. Kaum daß der Kellner abgedreht hatte, wandt vom Nachbartisch her sich höflich und dezent eine Frau an ihn, entschuldigte sich in bemühtem Französisch, dem die deutsche Ursprache zu entnehmen war, für die Ungebühr, einfach so in sein Innenleben hinein-gelugt zu haben, und merkte beiläufig an, dies getan haben zu müssen, da sie dieses Gemälde nun tatsächlich schon einmal gesehen und es seinerzeit bestaunt, wenn nicht gar bewundert habe in seiner protestantisch wirkenden, geradezu demütigen Aussage. Aber auch ihm selbst sei sie, stiekum ins Deutsche überwechselnd, bereits einmal begegnet.

Gil Schlesinger 1979, Acrylfarbe auf ungrundiertem Sackleinen,102 x 106 cm. Photographie © Jean Stubenzweig

Da ich befürchte, dies könnte eine längere Geschichte werden, deren Ausmaß ich noch nicht kenne und das ich schlichtweg ignoriere, ich bin doch nicht beim Rundfunk oder bei der Zeitung, die, wie bei mir üblich, gewaltiger als zur Hochtide am wienerischen Nordstrand, über die Deiche treten und die Lesegeduld überstrapazieren wird, setze ich sie morgen fort. Mir ist so nach Niedrigwasser und zudem befohlen worden, aus dem Haus zu gehen, auch wenn's nach wie vor weh täte im Gestell, ich hätte nämlich schlicht zu wenig Helle, vergleichbar mit den letzten Worten des Herrn Geheimrath und frei nach Friedell und Polgar, mit mehr Licht sei zu wenig Milch im Kaffee gemeint; dabei vermiest mir dieser Eutersaft, aber nur wenn er in den Kaffee gerät, jeglichen Genuß desselben. Nun ja, eben habe ich einen um die Ecke blinselnden Sonnenstrahl gesehen. Es zwingt mich schließlich niemand und nirgendwo hin, kein Canossa, und auch kein Spaziergang ist erforderlich, das Entenherz pumpt ja wieder, um mir Obst und auch Pastis und Wein zu liefern. Da setz ich mich eben auf eins der nicht nur für Schaukelstuhlgealterte, sondern auch für jüngere den Schatten Schätzende geignete Bankerl, auf das vor der Résidence d'été mit dem Sommer-Tucholsky oder auf das vorm Teich, in dem die Karpfen des Weihnachtsschlachtens harren.
 
Mo, 23.07.2012 |  link | (2435) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Die Kleinen im Großen

Brief aus Talmont, aus einem seit langem vergangenen Jahrtausend.

Mon cher Jean,
so oft warst Du nun bei den francofolies in La Rochelle, bist jedesmal auf Umwegen rund 2.000 Kilometer hin und dann nochmal 3.000 zurückgefahren — und weißt noch immer nicht, was es mit den Régions, mit den Départements, mit den französischen Kraftfahrzeugkennzeichen (ein schrecklich deutsches Wort!) auf sich hat. Das geziemt sich nicht für jemanden, dessen Blut zur Hälfte französisch fließt, vielleicht von von einem, der bald schon seinen Rotwein im Atlantique auf Trinktemperatur hinunterkühlen lassen möchte (das läßt Du am besten keinen anderen Franzosen wissen — aber Du trinkst ja auch Wein mit Wasser vermischt ...). Andererseits wissen viele unserer Landsleute nicht, wo dieser jährlich gefeierte 14. Juli und seine Gelage etwas mit einer anderen Art von Aufstand oder gar dem Tanz der Demoiselles durch Avignon zu tun hatten, was wiederum nichts mit Sur le pont .... Nun denn:

Obwohl es schon seit 1765 eine Einteilung Frankreichs in Départements gab, verdanken wir nicht nur Deine Lieblingsbeschäftigung, die, wie Du sie nennst, Ärmerenspeisung, sondern auch die im wesentlichen noch heute gültigen Regierungsbezirke der Révolution.

Photographie: La Bataille socialiste

Vor der Bildung der Verfassung im Jahr 1789 hatte man die Vorstellung, Bezirke zu schaffen, in denen der Staat in allen Institutionen lokal vertreten sein sollte und dessen Größe so zu bestimmen, daß die jeweilige örtliche Hauptstadt (d. i. Chef-lieu) von allen Punkten aus zu Pferd binnen vierundzwanzig Stunden zu erreichen war. Benannt wurden die Départements nach vorhandenen örtlichen Gegebenheiten; oft war es ein Fluß, ein Berg oder ein Tal. Nach diesen Namen wurden sie alphabetisch geordnet und numeriert, zum Beispiel: 1=Ain im Südosten, 2=Aisne im Norden und so weiter — es gab damals 83 Départements. Die vergebenen Nummern galten für alle administrativen Bereiche, und man findet sie noch heute in der Gleichheit der Postleitzahlen und Autonummern.*

1964 wurde Paris ein selbständiges Département. Die Gegend um die Haupstadt, die Île de France, wurde in fünf neue Départements (91 bis 95) unterteilt. Corsica wurde sozusagen halbiert (20 a und 20 b). Die überseeischen Départements erhielten dreistellige Nummern, so Guadeloupe: 971, Martinique: 972, Guyane française: 973 und Réunion: 974. Doch um nicht allzu sehr in die Ferne zu schweifen beziehungsweise in der Nähe des nächst- und naheliegenden partir en week end im Mutterland zu bleiben: Alsace (Bas-Rhin und Haut-Rhin) trägt die Nummer 67, da das ‹R› von Rhin in der alphabetischen Anordnung an der 67 Stelle steht. Die Nachbarschaft, wo mit Metz oder Nancy Deine Vergangenheit auch ein Stück Heimat hat, hört auf die Nummer 54. Ein paar Kilometer weiter weg befindet sich der Lozère westlich der Ardèche im Massif central, für diesen heißt das: 48. Und dem Gelände, in dem Du Dich am liebsten herumtreibst, die Charante Maritime mit der Hauptstadt La Rochelle (etwa zwischen Nantes und nordöstlich von Bordeaux — das die 33 trägt — gelegen), wurde die 17 zugeteilt.

Bis (hoffentlich) bald in der Vendée mit der 85.

Martine

* Die französischen Kraftfahrzeugkennzeichen sind mittlerweile auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Inzwischen haben sich auch die, hat sich ohnehin alles geändert. Ich fahre kaum noch an den Atlantik, sondern plätschere wie alle an der Badewanne Meditérannée, und die alte Langsamkeit ist sogar in Frankreich dahin. Alles will metropol werden, sogar (die) Marseille(aise)
 
Mi, 14.12.2011 |  link | (2096) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Der Global-Pariser
Mo, 11.07.2011 |  link | (2838) |  |  | abgelegt: Linksrheinisches



 

Leicht löchriger Schirm

Mit großem Dank für die von mir wegen sich einstellender Assoziationen leicht taillierte Photographie von iFancheZ. Die alte Leichtfüßigkeit geht dahn. — Merci beaucoup pour l’magnefique image !

Auf der Suche nach einem (zu verlinkenden) Artikel über Cahiers du Sud geriet ich an einen in der Seite parapluie. Grundsätzlich würde ich nichts gegen ihn einzuwenden haben, wären da nicht diese Sätze, die mir ein wenig das lokalpatriotische Blut hat hochköcheln lassen. Aber auch scheinbare Präzision ist es, die mich immer wieder mal aus dem gelassenen Tritt bringt.

«Le Panier: herumstreunende Hunde, offene Mülltonnen, es riecht durchdringend nach Meer und Urin, Schreie von Möwen und spielenden Kindern; fragt man am Alten Hafen nach dem Weg durch dieses Viertel, bekommt man den Rat, sich dort als Frau auch tagsüber nicht ohne männliche Begleitung zu bewegen.»

War die Autorin Krüger mit Joseph Roth unterwegs, dem Angsthasen? Hat sie sich bei ihm den Rat geholt, aus den genannten Gründen dort nicht hinzugehen? Oder woher hat sie das? Denn das Marseille, von dem er, im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen, dem flanierenden Kurt Tucholsky, schrieb, stank tatsächlich und war gewalttätig. Wenn er die Atmosphäre in seinen Weißen Städten des Südens schilderte, das ist bis heute spürbar bei vielen Besuchern dieser nordafrikanischen Exklave, die ihr angelesenes pessimistisches (Vor-)Urteil bestätigt wissen wollen, daß einem die Stadt nicht ganz geheuer zu sein hat. Eine entsprechende Geisteshaltung bewahrt diesen tragischen Odem dauerhaft.

«[...] hier riecht es wie zu Hause vor Ostern: nach Staub und gelüfteten Matratzen; nach Lack für die Türen, nach feuchter Wäsche und Stärke; nach angebrannten Speisen; nach geschlachtetem Schwein; nach gesäubertem Hühnersteig; nach Schmiergelpapier; nach einer gelben Pasta für Messing; nach einem Mittel gegen Ungeziefer; nach Naftalin; nach Bohnerwachs; nach Eingemachtem.»

Ich stelle Vermutungen an: War die Autorin Krüger ohnehin allein zur Ausstellung in der Vieille Charité, ist nicht von unten her durchs Quartier gestiegen, sondern von «oben», von der (be-)schön(t)en Seite her eingetreten ins ehemalige Armenkrankenhaus, das von den gebildeten Ständen vor einigen Jahren zur Pilger-Immobilie hochgeheiligt wurde, hat nur vorgegeben, im Panier gewesen zu sein? Aus Angst, irgendeiner könnte ihr dort an die hübsch geblümte Bluse wollen. Denn sie erwähnt außer dieser Kult(ur)stätte kein weitere Besonderheit des Viertels. Hat sie bereits während des Studiums im dreißig Kilometer entfernten Aix-en-Provence der richtigen Stadt lediglich hin und wieder mal ein zentrales Besüchlein abgestattet und ist ansonsten über die Gegend um den Alten Hafen nicht weiter hinausgekommen? Aber selbst dort scheint ihr entgangen zu sein, daß nach dem verdienstvollen Jean Ballard eine Straße benannt ist (an der ich, vom Vieux Port kommend, rechtsseitig gerne meinen Pastis nehme und von der aus es nur ein paar Schritte zu den putains sind direkt neben dem Opernhaus). Und nebenbei frage ich: Was hat Les Cahiers du Sud überhaupt mit dem Panier zu tun, wo es zwar ebenfalls Pastis, aber öffentlich weitaus weniger dieser wohl vor allem vom gebildeten Reisenden gefürchteten Schwälblein des Bordsteins gibt? Ist sie doch eher Benjamin, Roth und anderen lesend nachgeschlichen bei deren Blick in «blinde Fenster»? Stutzig macht dann allerdings der nicht als Zitat ausgewiesene «Rat, sich dort als Frau auch tagsüber nicht ohne männliche Begleitung zu bewegen». Weil mit einem Mann an der Seite der Gestank erträglicher wird?

Sicher glänzt und glittert es dort nicht derart, wie es diejenigen bevorzugen, die die Elle an die Perspektive der Burg legen. Tatsächlich gibt es nicht ganz so schmuckvolle Ecken in den hinteren Höfen, gleichwohl die sich bereits am Rand des Viertels befinden, dort, wo Monsieur Haussmann architektonisch walten durfte. Doch den Panier als Abfall-Viertel zu bezeichen, das ist dann vielleicht doch eine leicht mißratende Wortwahl, möglicherweise auch eine erhobene Nase, die den Geruch eigenen Nicht-Wissens nicht wahrnehmen mag, die lieber hineingesteckt wird in ungeprüfte Absonderungen derjenigen, die es ebenfalls anderswo abgeschrieben haben. Da wundert es mich nicht weiter, daß ich immer wieder, auch Jahrzehnte nach Ab- und Auslauf der vielen schlechten meinungsbildenden Filme, gefragt werde, ob ich keine Ängste hätte in dieser Stadt (die ohnehin wie kaum eine andere Frankreichs europäisch aufgebügelt wurde und wird). Das nährt dieses uralte, offenbar nicht auszumerzende Cliché. Autorinnen wie sie tragen dazu bei, daß nicht nur der trotz oder wegen seiner seltsam anmutenden Vorstellung von Schönheit etwas zu kurz gekommene Mensch sich dort immerzu fürchtet, ja, sich nachgerade ängstigen will. Und sie fördert mit solchen Äußerungen obendrein, daß dieser wunderbaren Metropole der Bastardisierung die alten Ecken und Kanten abgeschlagen werden, die sie so liebenswert machen, marschiert letztendlich mit dem Konsumentenheer, das von Paris aus die Stadt weltmenschlich veredelt, wie weiland die Römer alles in ihr ästhetisches Lot gebracht haben.

Ich kenne keine Einheimischen — und ich kenne einige! —, die solchen Äußerungen auch nur annähernd folgen könnten. Im Gegenteil, die meisten fühlen sich wohl im Panier. Sogar nachts. Und sie sitzen auch noch herum, mitten auf den Plätzen und Plätzchen. Und wenn's schlecht riecht, dann allenfalls wegen der fürchterlichen Global-Pizza, die sich die dort (noch!) lebenden, nicht eben zu den Wohlhabenden gehörenden im Supermarché kaufen, weil sie meinen, sich verkriechen zu müssen oder sich das — gleichwohl immer noch preisgünstige — Essen der umliegenden Restaurants nicht leisten können. Im Panier leben noch Menschen. Und nicht nur Araber, überhaupt Afrikaner (die allerdings auch solche sein sollen, wie ich's vom Hörensagen kenne)! Im sogenannten neuen Marseille wird es die allerdings bald nicht mehr geben, wenn sich das so weiterentwickelt — nur noch Marseillais, die so gerne Pariser sein möchten.

Literarische «Führungskräftekommunikation ...»?


Ürsprünglich war das mal für die vor nunmehr seit über zwei Jahren eingestellte Seite gedacht. Aber nun bin ich wieder über das Thema gestolpert. Und so habe ich es mir in aller Ungerechtigkeit des Wütenden über die Ecke Cahiers du Sud geradegebogen, da ich ständig diesen geradezu frenetischen Jubel lesen muß über die (typisch französische) Modernisierung «meiner» Stadt, vor allem immer wieder verfaßt von denen, die zum Günstigtarif für ein Wochenende dorthin fliegen und die prompt die «kulturellen» Trampelpfade entlangschleichen, ohne auch nur einmal hinter die historischen Fassaden zu schauen.


Ein kleine Auswahl zu La Marseillaise (nicht nur für Klickverweigerer): La Déesse. Cul.Unterschiedliche AnsichtenBelsunce tristesseIzzos PolarsHoch obenGefangen im Tour PomèguesBoubouHafenromantischesLiebesgeschichte(n)L'ÈstaqueAngekommenWie im KinoStrahlende SchönheitRestefisch und Rustikales

 
Mo, 05.07.2010 |  link | (1895) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Französisch föderal

Mit Jack Lang geschah in den achtziger Jahren in Frankreich Wundersames. Vor allem während der Zeit von François Mitterand als Président de la République begann er als Kulturminister das Land zu entzerren oder auch zu dezentralisieren. Das war mehr als ungewöhnlich, führten doch bis dahin grundsätzlich alle Wege nach Paris. Mit ihm kam sogar die zeitgenössische bildende Kunst, eine bei der eher dem Theater oder der Literatur zugeneigten Bevölkerung nicht übermäßig geliebte Disziplin, in die Provinz. Auch dürfte er Einfluß an der entsprechenden Besetzung neuer Häuser gehabt haben wie dem Musée de Grenoble hoch oben in den Bergen, auch Alpen genannt, das Mitte der Neunziger nach langer Planungszeit endlich erweitert worden war und umziehen durfte; in mehr als angenehmer Erinnerung habe ich die Zeit unter Serge Lemoine (der später das Pariser Musée d'Orsay übernahm). Es geschah einiges, das vor der Zeit des agilen, im jüdisch (und somit bastardisch) wurzelnden Lorrain aus Nancy undenkbar schien.

So durften, was früher unter Strafe verboten war, beispielsweise an Schulen tief unten im Südwesten wieder Okzitanisch gesprochen und sogar unterrichtet werden; das langue d'oc (daher der Name der Région) sollte über lange Zeit hin ausgerottet, zumindest aber unterdrückt werden. Die Sprache der Könige (bis hin zu Mitterand) war eben langue d'oic. Jack Lang erinnerte daran, daß das Land, bevor Gott zum französischen Katholizismus konvertierte, schließlich zum einen von Barbaren aus dem Norden gegründet wurde, die im Süden auch heute noch so bezeichnet werden, nicht nur weil sie so stottern oder auch stammeln, also unverständlich barbasieren, was dem prahlerischen oder lautstarken, Johann Fürchtegott Gellert zugeschriebenen Bramabarsieren nahezukommen scheint, das dann sogar schon wieder piefkesche Züge aufweist, vergleichweise für den sich dem südsüdostlichen Nachbarn eher verbundenen Bayern, der den japanischen Preiß nicht versteht; und zum anderen, daß, bevor dieser unstete Germane ins Land kam und seine Krieger um sich versammelte, um daraus später die Grande Nation entstehen zu lassen, die verschiedenen Stämme so schlimm unterschiedlich waren und noch unverständlicher sprachen als Asterix und Obelix. Bekanntermaßen schafften es nicht einmal die Römer, diesen ganzen von lauter Miraculixen verhexten Götzenanbeter ordentliches Latein beizubringen.

Vieles hat Jack Lang in Bewegung, in die Provinz gebracht. Bis hinein in, nach deutscher Gradmessung, winzige Städtchen von einigen hundert Einwohnern am südlichen Rand der Servennen flossen Gelder gar für zeitgenössische Kunst. Alle erdenklichen Ecken und Winkel auch des Südens profitierten somit von diesem allumfassenden kulturellen Interesse dieses von mir überaus geschätzten Mannes, der sich dennoch dem Norden verbunden scheint; im Département Pas-de-Calais hat er seinen Wahlkreis, dort, wo Andersprechende definitif mißverstanden werden. So muß ich vermuten, daß auch die Wiederbelebung oder überhaupt die Belebung seiner Heimat Lorraine auf seinen nach wie vor währenden Einfluß zurückzuführen ist. Denn wer käme sonst auf die Idee, ein derartiges Museumskathedrälchen, eine Filiale des Centre Pompidou kurz vor der Grenze zu Deutschland zu errichten? Ohne jeden Zweifel ist es ein Genuß, nicht nur für mich, der ich diese (eben landestypische) Oppulenz auch im Kleinen schätze, die bei mir jedenfalls diese große, ja fröhliche Architekturassoziation auslöst. Sicher, es gibt in der Stadt selbst seit langem Faux Mouvement, gegründet Anfang der achtziger Jahre von jungen Begeisterten, die keinerlei Markt, sondern Kunst bewegte und die nach und nach ihre Räume erweitern konnten, so daß es immer wieder lohnte, auch mal ohne andere Absichten anzureisen. Aber selbst deren zwar südlich gelassenenes, aber auch geradezu katalanisch anmutendes, also sehr bestimmtes Agieren dürfte kaum ausgereicht haben, Paris soviel Geld aus den Boubou-Rippen zu leiern, daß eine solche Architekturlust ausgerechnet kurz vor der zwar sympathischen, aber insgesamt doch etwas weniger aufregend ausgestatteten Stadt der Brüder und Schwestern aus dem Norden postiert würde.

Nun, es dürfte ein vom Fremdenverkehr bestimmter und damit wesentlicher Aspekt hineingespielt haben in dieses schöne Stück Architekturtheater. Auch im parisischen Stammhaus fahren am liebsten oder überwiegend Touristen die Rolltreppen hinauf, um die Internationale der Kunst nachzuträllern. Franzosen, auch Pariser singen eher landestypische, theatratralische Lieder, sie haben's nicht unbedingt so mit der Westkunst, gleich gar nicht mit der zeitgenössischen im Kanon der sich zwar grenzenlos gebenden, aber letztendlich doch der okzidental verhafteten Welt; das Bißchen an Civilisation, das man benötigt, hat schließlich die ureigene Geschichte der Postrevolution geschaffen. Da mag man die Städte landauf, landab noch so (unerkannt) aufhübschen mit den paar wenigen einheimischen Künstlern weltweiten Renommées (was nichts an deren nicht-zentralistischer Bedeutung ändert). Die wahrlich gut besuchten Museen vor allem der größeren Kommunen füllen sich mit denjenigen, die dieses Land der Kultur unwissentlich auch mit bildender Kunst von heute verbinden. Sie haben keine Kenntnis darüber, daß innerfranzösische Kunstinteressen allenfalls dann in die Breite gehen, wenn es dabei etwas zu essen gibt. Ähnlich dem vielzitierten Abspann wird Troubadix zunächst einmal schweigend zur Reifung nach oben (ab)gehängt. Wenn dann irgendwo noch Buchstaben drinnen vorkommen, dann kann man sich immer noch irgendwann damit beschäftigen.
Martine Dallennes: Hommage à J. Roubaud, 1990; 150 x 250 cm

Ich weiß schon, weshalb ich konvertiert bin.
 
Mo, 31.05.2010 |  link | (3135) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Strahlende Schönheit

Sie ist einfach schön. Es ist mir eine Wonne, sie anzuschauen. Ich schaue sie ja allzu gerne immer und immer wieder an, La Marseillaise. Aber diese eine hat etwas besonders. Ein ganzes Weilchen habe ich sie nicht gesehen. Beim letzten Mal war sie nicht da. Das hatte mich ein wenig enttäuscht, ist sie doch mit ein Grund, den Ort aufzusuchen. Aber nun — ja, wie üblich, erst einen großen Café und dann die kleinen hinterher. Selbstverständlich ein Gazeuse dazu. Später wird ein Pastis oder auch zwei alles abrunden.

Allerdings ist die sonstige Schönheit meines Südens auch nicht mehr das, was sie einmal war. Die Stadt wird immer schnieker. Überall meint man ein bißchen Paris zu sehen. Nein, es gibt unschöne Ecken, da beginnt sie ihrer hamburgischen Schwester zu ähneln. Unten, nahe la Joliette am neuen Hafen, wo's hinausgeht nach Korsika und Afrika und in den Rest des Globus, plant und baut die Internationale der Architekten nicht nur ihren Ruf der wertschöpfenden Weltmacht aus. Ich habe das ja mal angerissen.

Vor allem aber: Es ist kalt. Mag man auch bei knapp über zehn Grad den Grill an den Elbstrand zerren, doch dort gibt's die gute warme Stube für den Rückzug auf den Grog. Am mer Méditerranée mit den teilweise arg mistral- oder inselwinddurchlässigen Gemäuern sind das arktische Temperaturen. Und vermutlich wird man ohnehin in Bälde die Canebière loipen. So lange ist es noch nicht her, daß man bei Olympique kurz davor war, eine winterliche Langlaufabteilung zu gründen.

Photographie: amelaye CC

Nun gut, es ist November. Der und der Dezember sind die fiesesten Monate überhaupt. Ende Januar geht es meistens wieder. Trotzdem, irgendwie scheint sich da doch etwas gewandelt zu haben.

Früher gaben die noch älteren als ich der Atombombe die Schuld. Heute heißt die Klimakrise. Oder so ähnlich. Nein, solche Begriffe kommen in einem französischen Dictionnaire nicht vor. Weder Klima noch Krise. Und unter Wandel versteht man eher den politischen hin zu mehr internationaler Wirtschaftskraft, deren Hauptabschußrampe nunmal die Atomkraft ist. Aber mit einer Bombe hat die wirklich nichts zu tun. Schließlich ist alles friedlich am wehrhaften Rande Europas, wo man sich mal Gallier nannte. Die verprügeln heute allerdings niemanden mehr. Und wenn so ein Ding hochgeht, meine Güte, ist das lange her, da drüben im Osten, dann gehen am Rhein die Abwehrjalousien hoch. Nie und nimmer geht da was rüber in den Westen. Frankreich, Europas strahlende Vormacht, hat nunmal beste Kernkrafttechnik. Der gemeine Franzose glaubt fest daran, überhaupt an alles technisch Neue und Machbare, wie an den katholischen lieben Gott. Der wird's schon richten. Das ist der Vorteil eines zentralistisch regierten Landes mit seiner heimlichen Liebe auch zur Aristokratie. Irgendwann muß ja auch mal Schluß sein mit diesem Revolutionsgetue. So braucht man nicht einmal Politiker, um der Bevölkerung etwas zu verordnen. Es reicht, das ist so üblich im Land, eine Elitehochschule, aus der absolute Experten hervorgehen, die der Bevölkerung mitteilen, die Kernkraft des Landes sei absolut sicher. Das überzeugt auch die Führungspolitiker, die so tun dürfen, als ob sie das Sagen hätten und nicht diese vierzig oder fünfzig Eliten, die seit den Fünfzigern herausgewachsen sind aus den Ingenieur- und anderen edlen Wissenschaften, denen niemand zu widersprechen wagt, weil sich keiner auskennt in der Materie. Auch nicht der strahlende Nicolas Sarkozy, der seinen sonnenköniglichen Vorgängern da in nichts nachsteht. Dafür hat man schließlich Experten. Weshalb man denen genehmigen durfte, tiefe Löcher zu graben in der Lorraine, da oben, etwa dreihundert Quadratkilometer rund um das Dörfchen Bure. Manch einem gefällt das nicht, so langsam wacht auch der Westen auf, aber, nun ja, Lothringen, das ist, im Vergleich zur sonstigen Schönheit der Landschaften, vielleicht auch nicht so tragisch. Etwa drei- bis vierhundert und mehr Meter hinein wird's gehen in die Tonschicht, wo dann etwa ab 2030 das bißchen Abfall hineingekippt werden soll, den diese lustig bemalten Meiler wie der inmitten der Rhône, der die Loire wärmende und die vielen anderswo produziert haben. Was sind schon 200.000 Jahre, die es dauert, bis das alles nicht mehr so heftig strahlt?

Die Schönheit der Bedienung tut es unvermindert. Seit zehn Jahren schon. Sie nimmt nicht ab, diese Strahlung, man möchte gar nicht wegschauen und sie nur noch anlächeln. Draußen stehen, das sehe ich zum ersten Mal im Land, nun ja, Marseille gehört ohnehin irgendwie nicht zu Frankreich, drei, vier, es können auch fünf Leutchen sein, gruppiert um ein Schild, auf dem geschrieben steht, Kernkraft sei gefährlich. Die Passanten interessiert das eher weniger. Mademoiselle schüttelt leicht den Kopf, vorsichtig, auf daß der Café nicht aus dem Behältnis gerate. Doch die Routine hat das im Griff, sogar ein leichtes Handwischen vor dem schönen Gesicht ist da noch drin. Sie tut das nicht wegen des Desinteresses der Vorüberhastenden, in dieser Jahreszeit geht man etwas rascher voran in der Stadt, sondern wegen dieses spleenigen Gehabes dieser Apokalyptiker. In Frankreich passiert schon nichts. Sie hat mit ihren Eltern im heimatlichen Ardèche, gar nicht so weit weg von Cruas-Meysse, quasi der nächsten, etwas südlicher gelegenen Energietankstelle nach Tricastin, im Herbst 1986 massenhaft die leckeren Pfifferlinge, Stachelpilze, Maisschwämme und die legendären Steinpilze aus den Wäldern geholt. Und sie waren nicht alleine unterwegs. Vielleicht ein paar weniger als sonst, aber als Sechsjährige hat sie sich darüber nicht unbedingt Gedanken gemacht. Und nach wie vor ißt sie sie sehr, sehr gerne. Möglicherweise strahlt sie deshalb so. Wie die schöne Ségolène Royal, für die sie ein bißchen Wahlkampf gemacht hat 2008, obwohl sie sich ansonsten für Politik nicht sonderlich interessiert. Die kennt über hundert Pilzsorten alleine dort, wo sie auch ein bißchen Heimat hat, in Lothringen.

Die Lorraine. Auf Heimatbesuch war ich dort vor einiger Zeit, der Vergangenheit auf der Spur. Da gab es in Metz diese sonderbare Neuheit Altglascontainer. Einer hatte offensichtlich begriffen, wozu das gut sein sollte. Vermutlich hatte er lange darauf gewartet. Die Überbleibsel von drei Jahrzehnten wochenendlicher Festivitäten waren aus der Scheune in den durch nach vorn geklappte Sitze recht großen Kofferraum seines Kleinwagens zwischengelagert und anschließend in diese sichere Neuerung entleert worden. Im kernkrafttechnisch mittlerweile ja ebenfalls wieder weniger gefährdeten Deutschland nennt man das entsorgen. Man schmeißt etwas in tiefe Löcher, und weg ist es, man hat sich aller Sorgen entledigt. Wer französische Kermesse-Aktivitäten kennt, der weiß, daß da ordentlich was zusammenkommt an Flaschen. Eine Stunde dürfte es gedauert haben, bis das Zwischenlager Kofferraum befreit war. Während der ganzen Zeit lief der Motor. So macht man das im Land. Man geht vor dem Essen auf einen Apéritif, in den Dörfern kann das durchaus auch mal eine gute Stunde dauern, und solange blubbert das Maschinchen voller Energie eben für sich hin.

Aber genug von diesen Negativismen. Kundera hatte hervorgelugt aus dem Regal, weil er etwas zur Schönheit sagen wollte, derentwegen ich schließlich gekommen war vor gut zehn Jahren. Bevor die Schönheit endgültig aus der Welt verschwindet, schrieb er zwei Jahre vor diesem, ach nein, das wollte ich ja nicht mehr, wird sie noch eine Zeitlang aus Irrtum existieren. Die Schönheit als Irrtum, das sei die letzte Phase in der Geschichte der Schönheit. Darum ging es mir ja. Die letzte Phase noch ein bißchen genießen. Ein bißchen schön ist sie immer noch, die Stadt, jedenfalls dort, wo sie mir schon immer gefallen hat, in den Mauselöchern, wo die mehr als zweieinhalb Jahrtausende vergraben sind. Aber eben in der letzten Phase befindet sie sich, die Stadt. Die Kanonen sind nicht mehr gen Festland gerichtet. Das Festland hat sie erschossen.

Und danach schauen, ob noch alles dicht ist und noch nicht gänzlich erfroren in der neuen Kälte, das wollte ich auch. Aber nun wird wieder gegrillt im vielleicht nicht so schönen, dafür aber verhältnismäßig gemütlich warmen barbarischen Norden. Vielleicht ist das das Alter.
 
So, 08.11.2009 |  link | (3275) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Wie im Kino

Das hier immer wieder mal ein bißchen allzu gerne erwähnte Marseille entstand vor gut zweitausendsechshundert Jahren. Bei mir machte es sich etwas später bemerkbar, und zwar, als die Bilder bereits laufen konnten. Hoch oben im Nordwesten, etwa auf dem Breitengrad von Venedig, genauer: in einer zwar nicht touristen-, aber doch reklamefreien und deshalb bevorzugt als Kulisse für filmisch historisch ummantelte Degenfechtereien genutzten Zone des Périgord ging ich mit Freunden in ein Kino, das es dort wider Erwarten gab und in dem ich später noch andere Zaubereien sehen sollte. Der Film führte uns in ein ehemaliges Fischer- und somit Künstlerdörfchen, das allerdings, wie ich erst später erfahren sollte, längst Rockzipfel einer großen Stadt war. Und der begeisterte mich dann derart, daß ich nur noch dorthin wollte. Als ich angekommen war, war der Rest der Welt für mich unbewohnbar geworden.

Ich erinnere mich, daß ich oft die Zeitungen studiert habe, La Provence und La Marseilaise. Ich weiß noch, daß mir die kleine, ein bißchen kämpferischere, wohl eher links und sozial orientiertere Zeitung, der auch Jean-Claude Izzo redaktionell einmal vorstand, immer sympathischer war als dieses Allerwelts- und Massenblatt La Provence mit seinen Ausgaben für den gesamten Bouches-du-Rhône, Hérault und Vaucluse, also Avignon. Wenngleich La Marseillaise es ebenfalls versucht, bis in die Haute-Provence, in den Luberon hineinzureichen. Aber so richtig wahrgenommen wird sie dort nicht. Sie wird zwar auch im knuddeligen Geburtsstädtchen von Jean Giono angeboten, aber gekauft wird die Konkurrenz. Wie auch immer — ich war sicher, daß nur dort eine Wohnung von Menschen für Menschen angeboten werden könnte. Heute weiß ich natürlich, daß es illusorisch oder auch töricht war. Denn La Provence hat nunmal den Anzeigenmarkt fest im Griff. Nun denn, oft saß ich lange in den Cafés und las eifrig Immobilienanzeigen. Tatsächlich war immer wieder mal eine Wohnung in l’Estaque angeboten worden. Ich erinnere mich sogar an eine, die mittendrin lag, ein Haus weiter von dem, in dem sich unten das Rentner-Café befand. Ach, was erzähle ich da — Rentner-Café? Alle Altersgruppen waren da drinnen. Die meisten waren wohl nicht sonderlich betucht. Doch es war jeder willkommen. Auch Araber und ich. Auch mir wurde der Café in kleinen Gläsern serviert, wie oft, allerdings auf Wunsch, überall in Marseille. Den Fußboden vor dem Tresen zierten unzählige Kippen und Lotterielose aus dem Nachbarlädchen. Das war allerdings ein frankreichweiter Zustand, denn es existierte eine geradezu groteske Bestimmung, nach der auf der Theke keine Aschenbecher stehen dürfen. Es könnte ja was in die Gläser hineingeraten, so in diese Richtung; eine Logik, wie sie nur aus dem Bauch der Revolution kommen kann. So wurde eben alle Stunde zusammengefegt. Oft fuhr ich alleine wegen dieses Cafés die halbe Stunde mit dem Bus nach l’Estaque. Weit und breit kein Tourist, weil sich Touristen ohne Touristen unwohl fühlen. Und aufmerksame, zurückhaltende Reisende — nun, man erkennt sie zwar, aber man sieht ihnen auch ihre Behutsamkeit gegenüber den Menschen an, die ständig in dieser Umgebung leben. Außerdem ist vor l’Estaque das Meer befestigt und der kleine Strand weiter oben und außerhalb des Ortes versteckt. Da fahren am Wochende eigentlich nur diejenigen hin, die die Übervölkerung der Calanques oder die Massen an den Stränden nicht mögen, an den Plages du Prophète, Roucas Blanc, des Petits, du David, Prado oder wie sie sonst noch alle entlang der Promenade Georges Pompidou heißen. Und dieser Ausblick! Nach vorne hinaus ins Meer, auf dem ab und zu eine Fähre oder auch mal ein mittlerer Lastkahn zu sehen waren, die Kurs auf Afrika oder Sète nahmen, und in leicht nordwestlicher Richtung, zum Flughafen nach Marignane, diese dünenartigen Hügel, die Kalkfelsen. Eine beeindruckende Schönheit und Ruhe, weil alles die oberhalb liegende Autoroute entlangdonnerte. Allein diese köstliche, hier jedoch bereits, gegenüber dem Zentrum der Stadt, gemäßigtere Mischung aller möglichen Menschen, ein gemächliches Durcheinander — wie im Film von Guédiguian.

Die Bourgeois aus den besseren Arrondissements von Marseille, dem achten, also Perier oder die Corniche, mit seinen Villen und den Reichen hinaus aufs Meer bis bald nach Afrika blickend, oder der neubürgerliche, schnieker gewordenen Teil des altehrwürdigen siebten Arrondissements, also der behütete Part von Endoume, Saint Victor oder Roucas Blanc oder Vallon des Auffes mit seinem geradezu werbefilmreifen kleinen feinen Hafen inmitten der Wirklichkeit, sie alle blieben weg, weil sie ihren Kindern das nicht zumuten konnten — eine Gegend, in der sich aufgelassene Fabriken und das dazugehörende Gesindel befinden, hinter dem Städtchen, das seit 1946 als sechzehntes Arrondissement zu Marseille gehört. Im langsam gewachsenen sechsten um die Préfecture leben einige mit etwas tiefer geschwärzten Bankkonten, die ihren Kindern ein Leben vor dem Tod gönnen würden, die den Begriff Heterogenität nicht nur buchstabieren können. Aber weshalb sollten die nach l’Estaque? Hier existierte ja bereits die Erkenntnis, daß es unterschiedliche Menschen gibt. Vor allem bergan in Richtung Notre-Dame du Mont, um die Place Cézanne oder den Cours Julien wird's ja ausgesprochen gemischt. Jedoch auch immer jünger. Zumindest in den Terrassencafés. Außerdem, wenn man auf die im Sommer doch arg stickige Metro verzichtete, um die zwei Stationen zum Quai des Belges zu fahren, und müßig die Rue de Rome oder die Rue Paradis oder vielleicht sogar diese Budengasse Rue Saint-Ferréol, die mit ihrem Markennamenterror versteckt Sehnsüchte aufwedelt, nach Westen hinunter mehr oder minder lustwandelte, war man von der Place Castellane in zwanzig Minuten am Vieux Port, am Alten Hafen. Im — für Marseille allerdings eher ungewöhnlichen — Schnellgang hätte man's auch in der Hälfte erledigt. Wie auch immer — Marius und Jeannette würden zwar nicht freiwillig hierherziehen, aber auch nach einer Zwangsumsiedlung könnten sie hier in Frieden leben.

Gezogen bin ich dann an den Cours Belsunce.
 
Fr, 11.09.2009 |  link | (4236) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Der alte Vert und le drôle Boche

Sozusagen Damenwahl

Ich fürchte, es gestehen zu müssen: So richtig alles Lüge ist das hier nicht wirklich. Den alten Vert gibt's (den jungen muß es früh zu den Barbaren über den Rhin gezogen haben; schlimm, meinte er mir gegenüber, das mit den sich öffnenden Grenzen). Vermutlich gibt's ihn noch, dieses massife Central-Gewächs. Eine Weile war ich ja schon nicht mehr dort. Es verläuft sich alles mit der Zeit. Einige Male bin ich ihm jedenfalls noch begegnet. Nicht mehr in seinem Gefährt, das ja auch mal neu und sehr begehrt war (und dem die Büddenwarderin auch nach dem vierten Nachfolger hinterherweint). Er hat's mir vorgemacht: auf dem Bänkchen sitzen, in die Ferne sehen, alles im Blick haben. Und von der Prämie für alte Schabracken, die nun wirklich keine Ähnlichkeit mit Frau Merkel hat, sondern eine urfranzösische aus der Mitte der neunziger Jahre und unlängst wiederholte ist, von dieser Roßtäuscherei hat er sich schon damals nun gleich gar nie nicht kirre machen lassen.

Alles Winken mit den Scheinen nutzte bei ihm nichts, möglicherweise wäre es gelungen mit den guten alten Lappen, die noch Format hatten, mit denen man Wände tapezieren konnte und die deshalb in kein Portemonnaie hineinpaßten. Aber dieses neumodische Kinderspielgeld brachte ihn nicht dazu, seine gute alte Voiture in diesen plastikartigen Stahl der Neuzeit umwandeln zu lassen. Und wozu hatte man den Dorfschmied drüben in Saint-Amans? Sicher, es dauerte ein Weilchen, bis man dort angekommen war wegen der Kurverei um die Berge. Aber es war längst nicht so unkommod wie im Stau nach Mende. Vor allem aber hatte die Stadt der Préfecture nichtmal einen solchen Meister wie seinen alten Schulfreund Bourdarier, der mannhaft diesem ganzen neumodischen Paris-Kram trotzte, den sich diese ENA-Pupser auch noch bei den Boches abgeguckt und hierher eingeschleppt hatten, den die Touffe nannten oder so ähnlich — er mußte dabei immer eher an die Natur denken oder aber vielleicht auch an die Frisur von Yvette aus der Bar in Grandrieu oder der ihrer Töle und nicht an ein Automobil. Und dann auch noch diesen ganzen Unsinn wie das gelbe Blinklicht auf dem Traktor oder später den neuen Nummernschildern. Früher hat man seine Nummer zugeteilt bekommen, und die hat man dann mit Kreide draufgemalt auf die Kiste. (Hat das denn niemand photographiert?! Gibt's denn nur noch Menschen, die das nicht [mehr] kennen?! Herr Prieditis?). Das war's dann auch. Der gute alte Copain hat ihnen was gehustet. Von wegen nicht mehr verkehrssicher. Geschraubt hat er und gedreht und geschweißt und genietet und geklebt und was sonst noch alles. Na ja, der wußte eben, wie seine Säue schmecken. Bei dem Gedanken daran ist er wohl auch noch raufgefahren nach Saint-Chély-d'Apcher zum Pompier-Compagnon Baudillac, der aus dem Bergerac hierhergezogen war, weil der Wein nicht mehr so lief, da die Pariser lieber diese kraftlose, den Boche-Gaumen hinterhergebaute Bordeaux-Plempe soffen, und der sich mit seiner Werkstatt an diesen Contrôlé technique-Verein verkauft hatte. Richtig rauspoliert hatte er die alte Kiste vorher auch noch, um ein Haar hätte er sie nicht wiedererkannt. Aber längst haben beide ihre Ruhe. Das Gerät in der trockenen Scheune, auch wartend auf einen dieser Boches, die irgendwann auftauchen und dafür jeden Preis bezahlen, ihn anschließend für eine Irrsinnssumme verhübschen und mit dem glückskuhigen Klapsmühlengesicht eines Altautomobilbesitzers in Deutschland sonntags spazierenfahren würden. Und er eben auf dem Bänkchen.

Ach ja, diesen pariserisch, wie der alte Vert meint, oder so ähnlich radebrechenden, schon irgendwie schrulligen, kauzigen Boche* da oben auf vierzehnhundert Metern, den gibt's selbstverständlich auch. Dessentwegen habe ich den alten Bauern ja kennengelernt. Eigentlich ja wegen seiner Hühner, genauer: wegen einem Huhn. Aus Paris kommend und über die Dörfer fahrend hatte ich dann doch zunächst ein Päuschen machen müssen. In Serverette trank ich einen Café, um mich anschließend an den Aufstieg zu machen. Der Boche hatte mich gewarnt. Das sei nicht so ohne weiteres zu bewerkstelligen, mit solch einem nicht unbedingt französisch-ländlich dimensionierten Fahrzeug hinaufzukommen zu ihm. Es sei vielleicht ein ziemlicher Umweg. Aber über Grandrieu sei er dann doch leichter zu erreichen. Da würde im Winter sogar einmal die Woche ein Schneepflug hinauffahren bis fast vor die Tür. Sicher, das geschähe nicht nur seinetwegen, schließlich gäbe es da noch den Nachbarn. Aber es sei durchaus angenehm, wenn er wieder zurückwollte, vom täglichen Skiausflug zum Kaffeetrinken ins Städtchen. Meine Souveränität untersagte mir den Umweg. Wer französische Parkhäuser bewältige, sprach sie mir gut zu, der schaffe jede noch so enge Gasse. Außerdem sei schließlich Sommer. Nun ja, ich hatte es zwar geschafft, aber dann doch nur bis zum Huhn des alten Vert beziehungsweise es. Es kam nicht so schnell weg wie seine Geschwister. Allesamt hatten sie auf der Straße gehockt. Straße ist vielleicht ein wenig übertrieben formuliert. So eine Art bruchsteinfelsige Hofdurchfahrt war es eher, besser noch, ein Weg durchs Wohnzimmer des Bauern. Aber mir war das Blut in Wallung geraten vom Anblick der hügelig anzuschauenden Berge mit ihren fast schwarz anzuschauenden Kuppen, ich war wie dieser rasende US-Radler auf Tour de Pharmacie, wenn auch auf vier statt auf zwei Rädern, weshalb ich bergauf immer schneller wurde, rallyartig mit dem Kick-Down-Pedal operierte, als ob ich mit einem Panzer eine Monte Carlo gewinnen wollte.

Na, und dann saß ich zunächst einmal bei dem alten Vert in der Stube. Seine aus dem Italienischen stammende Frau hatte das Huhn ausbluten lassen, es anschließend in den Keller gebracht und einen Krug Wein mit nach oben. Glücklicherweise verfügte man über Telephon. So rief ich beim Boche oben an, weil der nämlich seit kurzem auch eines hatte, weil seine alte Mutter sorgenzerfurcht in Bielefeld saß, weil er nämlich nur einmal jährlich dorthin kam, und sagte ihm, ein Huhn habe mich aufgehalten. Ich solle zusehen, meinte er, vor der Dunkelheit anzukommen, denn das Licht der nächsten Laterne drüben im zehn Kilometer entfernten La Panouse reiche nicht ganz bis an sein Haus. Das Feuer sei bereits geschürt, es werde ja recht frisch am Abend, ein Brennesselauflauf mit ein paar Schneckchen aus dem zeitungsgekrönten Gärtchen und dreijährigem Käse vom Nachbarn stünde auf dem Herd. Dann aber sei ohnehin baldige Bettruhe angesagt, denn morgen früh müsse er mit mir in den Genêt, der ihm getrocknet Zunderholz liefere und das ihm auszugehen drohe. Ich verstand diese offensichtlich botanische Äußerung zwar nicht, denn zu der Zeit gab's ja noch kein Bio, und schon gar nicht im tiefen Frankreich. Aber schließlich war morgen auch noch ein Tag.

Genau. Und die nächste Tage auch noch. Bis nächste Woche irgendwann. Die Büddenwarderin hat Urlaub, weshalb der Döschwoh auch so mit den Flügeln scharrt – Nordseekrabbenfischen ...

* Deshalb wird's auch ein Weilchen dauern, bis ich die Geschichte dieses einzigen mir bekannten echten Aussteigers, der französischer war, als der alte Vert sich das auch nur annähernd vorstellen konnte, etwas genauer schildere.

 
Fr, 24.07.2009 |  link | (5529) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 





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