Fluchtgedanken

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse. Der Reise zwölfter Teil.

Was wollte der Prinzgemahl? Meine Flucht auf die Insel verhindern? Das Töchterlein nicht alleine zu den Angeln und den Sachsen verschicken? Wie das die Japaner mit ihren Töchtern machen: immer eine männliche Begleitung mitgeben auf die einwöchige Reise durch die Welt, auf daß da bloß kein andersgeschlechtliches, am Ende gar fremdländisches Wesen auf die Idee komme und so. Ich als Anstandswauwau für den belgischen Halbadelsnachwuchs? Oder doch ein Versuch, uns zueinanderzuführen, da ein des Vaters Meinung nach Unwürdiger, also unakademischer, am Ende gar ein Kühlschrankmonteur aus seiner Fabrik, nicht Hand an sie legen dürfe, an die Tochter. Würde er sein Gewächs besser kennen, wüßte er, daß das, selbst wenn er wollte, niemandem gelänge. Nie und nimmer würde das protestantisch oder sonstwie Bewehrte sich bestäuben lassen. Aber einer wie ich täte das ohnehin längst nicht mehr wollen, in diesem Fall den Bienerich geben. An ihr vorbeifliegen tät' ich, ihrer absoluten Duft-, um nicht zu sagen Geruchlosigkeit wegen. Ich als Käseliebhaber halte es da mit Napoleon. Er schrieb in einem Brief an Josephine, sie möge sich nicht waschen, er komme (in zwei Wochen) heim. Nein, ich wollte nicht «bis zum Amtsantritt von Albert I. und dessen Elisabeth mit meiner dem hiesigen Haus entstammenden Gattin ein protestantisches Belgien regieren». Ich wollte ganz alleine, quasi als letzter Römer vor den germanischen Angeln und Sachsen, über den Kanal rüberschwimmen zur Insel und prüfen, wie die hübschen Keltinnen sich an die Besatzer schmiegten. Lieber würde ich tonnenschwere Steine schleppen und eigenhändig Stonehenge aufbauen, als mich mit einem Teil von Les Flamandes durch die belgische Bigotteriegeschichte quälen.

Aber ich war einfach zu gut erzogen, um die mir entgegengebrachte Gastfreundschaft zu mißbrauchen und mich heimlich aus dem Kasteel zu stehlen. So hörte ich mir am nächsten Tag die Regieanweisungen des Hausherrn an. Der hatte, wie nicht anders zu erwarten, bereits seinen Stab in Bewegung gesetzt. Der Doktor sei geordert, um zu impfen, denn bereits zu dieser Zeit gab es Viren oder Bazillen und ähnliches Kleingetier, das nicht nur die Medien beherrschte, sondern auch Mauern errichtete wie die in Israel oder in Spanien (oder, ums nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, damals in Deutschland). Kein Ire, Schotte oder Waliser ließ einen rein, der nicht dagegen geimpft war, vor allem kein Engländer, seines Zeichens selbsternannter Insel-Hausmeister. Um was genau es sich dabei handelte, daran erinnere ich mich nicht mehr, die Maul- und Klauenseuche oder Creutzfeld-Jacob kamen jedenfalls später beziehungsweise gingen den entgegengesetzten Weg; sozusagen als Rache für die früheren Eroberungskriege, friedlich, wie sie nunmal über alle Zeiten veranlagt waren. Den Herrn Doktor aus seinem Häuschen am Parkrand antraben zu lassen wegen dieses einen Stichs, das tat mir dann doch vorab zu weh, weshalb ich sanft, aber bestimmt forderte, ihn aufsuchen zu dürfen. Nicht ganz ohne Skepsis, aber dann doch wurde diese Anbiederung an die unteren Stände der Feldscher oder Bader akzeptiert und sofort das Telephon benutzt. Geklärt, morgen am frühen Nachmittag — der Befehlende hatte eben auch meine Schlafgewohnheiten ausgeforscht — würde er mich empfangen, keinen genauen Termin, einfach hingehen, der Arzt sei unterwiesen, mich zu empfangen und zu versorgen.

Pünktlich zur vierzehnten Stunde hielt ich ihm meinen Oberarm hin, diesem, wie sich herausstellen sollte, angenehmen und humorvollen Zeitgenossen. Diese Insulaner seien, wie nahezu immer, leicht paranoid, hätten allerdings verständlicherweise leichte Ängste vor den Europäern, vor allem vor den Belgiern, denn an deren Stränden hätten die Engländer beziehungsweise deren Mods sich ein paarmal nicht eben freundlich aufgeführt in den Sechzigern mit ihrem Krach und ihren Rollern, wenn ihnen Brighton zu eng geworden war. Diese Infektion sei bei weitem nicht so dramatisch anzusehen, wie die Briten das täten, aber sie hätten nunmal sämtliche Zugbrücken hochgezogen und mir geschähe auch weiter nichts, bis vielleicht auf die Tatsache, daß mein Körper sich gegen das injizierte Fremde wehre und mir deshalb ein bißchen taumelig werden könne wegen des ausbrechenden leichten Fiebers und so. Nun gut, dachte ich, dabei an die wunderbar mütterliche Jonkvrouw denkend, die mich sicherlich kräftigend retten würde, Hauptsache ich komme über den Kanal und werde eingelassen. Dann getraute ich mich noch, vorsichtig zu fragen, wie er denn hier an den Parkrand des Kasteels geraten sei, der Prinzgemahl und seine Gattin seien da ja nicht so auskunftsfreudig. Ich wisse lediglich, daß er aus Blankenberge komme, wie eine Freundin, die deshalb immer so traurig sei, wobei ich mir schlecht vorstellen könne, daß es einen traurigeren Ort gebe als dieses Anwesen hier. Da verfinsterte sich sein ansonsten eher fröhliches Gesicht, er gab mir nickend recht, bedeutete mir allerdings, der Rest falle unter die ärztliche Schweigepflicht, denn die gastgebende Familie unterliege einer seltenen und auch seltsamen, vermutlich psychopathologischen Störung, und außerdem sei er nur der Hausarzt. Da wollte ich nicht weiter insistieren und läutete vom ärztlichen Telephon aus die Jungadelige an, der Bitte wegen, mich abzuholen beziehungsweise mich vor Sankt Bernhard zu bewachen, denn ohne Hütung vor dem käme ich nie und nimmer lebend im Schloß an, und da hätte dieser Versuch, die damals schon notleidende pharmazeutische Industrie und Großbritannien gleich mit zu retten, überhaupt nichts gebracht; und schließlich habe ihr Vater das doch alles bezahlt.

Der bezahlte dann noch alles mögliche. Als ich von meinem dann doch recht tieffiebrigen Traum, diesmal nicht als Anne Boleyns Bruder George, sondern als ich persönlich, weshalb es auch einer der Angst gewesen sein mag, meinem Schicksal nie wieder entweichen zu können, irgendwann erwachte, weil Mutter Jonkvrouw mir mal wieder ein stärkendes Süppchen und meine Boyards brachte, die ich aber bitteschön und um des lieben Friedens willen am geöffneten Fenster konsumieren möge, da lag auf dem Tablett ein Umschlag. Er enthielt nicht nur ein Ticket für die Überfahrt nach Dover, sondern auch eines für die Bahnfahrt nach London. Er hatte eben Format, der Hausherr, indem er nicht nur bis Sevenoaks gedacht hatte, wohin die Tochter fahren würde, um dort Englisch zu lernen wie bei mir im Oberbayrischen Deutsch, sondern über seinen Horizont hinaus. Meinte er, mit einer solchen Wahlfreiheit fiele es mir leichter, in Siebeneichen aus dem Zug auszusteigen und mit der Tochter Hand in Hand im zu prüfenden Lebensverbund über die grünen Hügel dieses Landstrichs zu hüpfen, der mir ja zwischendrin und immerhin immer mal wieder einen Blick auf die Heimat ermöglichte? Und richtig, bei genauer Betrachtung des Präsents entdeckte ich die Hinterlist: es waren allesamt Rückfahrkarten. Bis zurück ins belgische Städtchen mit dem adligen Kasteel. Schlagartig beziehungsweise nach drei rasch und heftig inhalierten dicken maïs papier schnellte das Fieber im Kopf knapp unter die Zweiundvierzig-Grad-Marke. Ich war Gefangener des belgischen Adels geworden. Abseilen müßte mich von dessen Zinnen, nächtens fliehen von dieser Familien-Bastille. Dabei war ich doch dereinst ausgezogen, solche Gefängnisse im Handstreich zu erobern, die Herrscher auch über praxisnahe Vernunftehen zu besiegen.



Den Gefangenenchor aus Verdis Nabucco singe ich beim nächsten Mal, aber hier zur Einstimmung schonmal der Text:

«Zieht, Gedanken, auf goldenen Flügel, / Zieht, Gedanken, ihr dürft nicht verweilen! / Laßt euch nieder auf sonnigen Hügeln, / Dort, wo Zions Türme blicken ins Tal! / Um die Ufer des Jordan zu grüßen, / Zu den teuren Gestaden zu eilen, / Zur verlorenen Heimat, der süßen, / Zieht Gedanken, lindert der Knechtschaft Qual! / Warum hängst du so stumm an der Weide, / Goldene Harfe der göttlichen Seher? / Spende Trost, süßen Trost uns im Leide / und erzähle von glorreicher Zeit. / Singe, Harfe, in Tönen der Klage / Von dem Schicksal geschlag'ner Hebräer. / Als Verkünd'rin des Ew'gen uns sage: / Bald wird Juda vom Joch des Tyrannen befreit.»

Die Photographie des Kasteels ist dem ArcheoNet Erf-goed.be unter CC entliehen.

Keine der hier verlinkten Abbildungen steht in einem Bezug zur Geschichte, zumindest nicht der hier erzählten.



Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse, Fluchtgedanken, Gnadenmahl oder Reiche Stunden. Der Reise vierzehnte Folge.
 
Mi, 29.04.2009 |  link | (3264) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel


apostasia   (29.04.09, 14:37)   (link)  
Zum Ende hin
scheint es in der festen Burg des belgischen Adels dann doch nicht mehr so harmonisch zugegangen zu sein. Da kommen ja mehr als Impfnadelstiche auf.


jean stubenzweig   (30.04.09, 00:18)   (link)  
Die alllürenfreie Allürenhaftigkeit
des Oberspielleiters dieses Theaters ging mir dann schon auf die Nerven. Immer nur lächeln, immer bestimmt, Anweisungen für jeden, ob es dem nun paßte oder nicht, Widerworte durfte es nicht geben. Die vom Hausarzt attestierte «psychopathologischen Störung» ging vermutlich alleine von ihm aus. Ein mißgebildeter Mensch, von allem nur ein bißchen wissend, keine wirklichen (Er-)Kenntnisse; später sollte ich sowas Klappentextgebildeter nennen. Ein schrecklicher Emporkömmling, vermutlich tief drinnen mit einem mehr als schwach ausgeprägten Selbstwertgefühl ausgestattet. Das sind ohnehin die Schlimmsten. Aber damals erfaßte ich das wohl noch nicht so recht. Gut fünfunddreißig Jahre später sehe ich das präziser.


nnier   (30.04.09, 09:57)   (link)  
Mancher dirigiert eben still lächelnd durch das diskrete Verschieben von Umschlägen. Zu Beginn der Gefangenschaft klang es ja noch so, als wäre der Preis angemessen gewesen - nun bin ich mal gespannt, unter welchen Umständen die Flucht gelingt. (Sie wissen ja, das Publikum verlangt ein Happy End.)


vert   (30.04.09, 10:01)   (link)  
genau!


jean stubenzweig   (30.04.09, 12:49)   (link)  
Wenn's nach Tucholsky
ginge, den köstlichen Immeralleswisser:

«Und darum wird beim happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt»


dann verschwände das happy end ja hinter den ollen Soffiten (wo's ziemlich durcheinandrig ausschaut) dieses Theaters des 19. Jahrhunderts.

Es wird eines geben; aber ein glückliches Ende ist ja wohl eine Frage der Perspektive ...

Ich hatte ja vor, ein schönes Theater-Soffitten-Bild zu liefern. Aber unser Kulturbewahrer Bild-Suchmaschine USA, unser Bruder im Geiste und neuer Geisteshüter, kennt das nicht Kein Wunder, daß der US-amerikanische Operntenor nicht der Einladung nach Bayreuth folgen wollte, weil dort geschossen würde.

Vert: Sie schlafen offensichtlich nur so lange, wie andere kleine Päuschen machen? So alt sind Sie doch noch nicht, daß es für die senile Bettflucht ausreicht.



damenwahl   (30.04.09, 22:05)   (link)  
Das hoert sich nach einem veritablen Haustyrannen an, in der Tat. Geradzu perfide die Strategie, Verantwortung und Verpflichtungen in Geschenke und Grosszuegigkeit zu verpacken, die man kaum noch ablehnen kann und fuer die man schlimmstenfalls auch noch zur Dankbarkeit verpflichtet ist.
Ich finde es uebrigens grossartig, wie Sie den Leser langsam bei den sich entwickelnden Vorbehalten mitnehmen, in den ersten Kapiteln hat man von dieser Kritik noch nicht so viel gespuert. Immer wieder eine Freude!


jean stubenzweig   (30.04.09, 23:56)   (link)  
Modus Vivendi?
Auszug aus einer eMail von gestern an mich, von jemandem, der meinte, er würde «mich nicht desavouieren wollen», deshalb nicht als Kommentar. Aber warum denn nicht?

Wobei es auch ein wenig den Anschein hat, daß hier nicht nur jemand zu fliehen beabsichtigt, sondern darüber hinaus ein Protagonist ein wenig literarische Flucht aus dem erzählerischen Konzept betreibt. Nur daß es im Gegensatz zu Queneau kein charmanter Jüngling ist, der als Ikarus aus dem Manuskript in die Pariser Unterwelt zu fliehen gedenkt, sondern ein spätgeborener Höfling in eine Darstellung, die sich mit dem Autor psychologisierend zu einer andersempfundenen Realität entwickelt.

«In Der Flug des Ikarus heißt es [...]», so Niklas Bender, «daß ‹ein Romancier doch so verlogen ist›.» Zur Erinnerung: «In Raymond Queneaus Der Flug des Ikarus entflieht derselbe der Manuskriptmappe. Ich fliehe in sie.»


jean stubenzweig   (01.05.09, 00:09)   (link)  
Mit bestimmten Menschen,
liebe Damenwahl, reise ich eben durchaus gerne gemeinsam. Und wenn ich jemanden mitnehme, hat das damit zu tun, daß er etwas genauer hinschaut. Mir fällt dazu ein Ereignis ein:

Als eine Druckerei mal ein Buch mit verschobenem Register (Seitenanordnung beim Binden) und Schnittspuren auslieferte, verweigerte ich die Annahme des Produkts. Ein Telephonat ergab die Äußerung des obersten Chefs: Ich solle mich nicht so haben, das würden doch höchstens zwei Prozent der Leser sehen. Worauf ich ihm antwortete: Für genau diese zwei Prozent machten wir Bücher.















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