Halbwertzeit des Wissens Das Öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen bringt mich dort, wo es sich der Masse zugewandt demokratisch-aufklärerisch geriert, immer wieder mal in verzweifelnde Verblüffung und andersrum. So räumte vergangene Woche die Experten-TV-Sendung neues unter Zuhilfenahme einer buchbewerbenden Autorenkrücke unter anderem mit dem «Mythos» auf, Viren und sonstige Monster würden Apfel-Systeme nicht angreifen. Durchaus täten sie das, aber wie! Das ist mal wieder so eine halbe Wahrheit wie die bei dem mehrfach und vorgestern erst wieder erwähnten Beuysschen Diktum, jeder Mensch sei ein Künstler. Das erinnert mich an die Äußerung von Anne Maier, die dem Wissen sogenannter Experten eine «eingeschränkte Halbwertzeit» vorwitzelte. Damals planten Direktorium und andere hauptamtliche Mitarbeiter des doch eigentlich recht renommierten Münchner Kunstvereins eine Ausstellung, die unter anderem das Informel sowie die Situationistische Internationale zum Thema hatte. Da käme man wohl kaum, so das damalige Vorstandsmitglied Maier, um einen Künstler herum, den deutschen «spiritus rector» dieser Bewegung(en). Doch man kannte ihn nicht in dieser altehrwürdigen Institution, dem ältesten deutschen Kunstverein, also ausgerechnet in der deutschen Stadt, in der das am meisten Wirbel verursacht hatte, nicht zuletzt durch die Mitwirkung des Galeristen Otto van de Loo. Es ging um Hans Platschek, der Titel eines seiner vielen Bücher lautet Über die Dummheit in der Malerei. Diese öffentlich-rechtliche Macintosh-Entmythologisierung (man möchte meinen, Rudolf Bultmann habe mitgewirkt) also fand in der Form statt, indem man darauf verwies, auch der Apfel sei angreifbar. Vermutlich assoziierte man die Vertreibung aus dem Paradies. Diesen zweifelsohne feinen Geräten, die, lange bevor sie von ein paar Menschlein als Massenabgrenzungsstimulans entdeckt wurden, einfach nichts als gut und einfachst zu bedienen waren, muß doch endlich irgendwie der Garaus gemacht werden im deutschen Fernsehen. Und so wird nicht weiter darüber nachgedacht. Das Prüfen von Fakten ist ohnehin nicht Sache einer Redaktion. Und der jugendlich-frischen Moderatorin zwischen zwei eingeschränkt witzigen Internetkomödianten Aufgabe ist das schließlich auch nicht; sie dürfte ohnehin in besagtem Flachwasser der «eingeschränkten Halbwertzeit» dümpeln. Daß sich diese hackenden und virenverteilenden Kämpfer der Computerwelt mittlerweile auch den Systemen der nach wie vor eindrucksvoll gestalteten Geräten angenommen haben, dürfte im Zusammenhang einer Steigerung des Marktanteils stehen und der wiederum damit, daß sie seit 2006 von anderen Prozessoren «angetrieben» werden. Daß diese Information unterbleibt, hat die Büddenwarderin, die's ohnehin nicht so mit diesen ganzen technischen Weisheiten hat und sich deshalb auch weitgehend aus Sicherungsmaßnahmen raushält, schier gegen mich aufgebracht. Mein Hinweis, sie schreibe ihre Lockungen mit Apfelpfannkuchen schließlich an ein Methusalem für das allgemeine technische Neuheitenverständnis und auch noch mit einem System, das noch Jahrhunderte auf die Sintflut der Hacker warten würde, ausgenommen vielleicht staatsschützende, für das alles sich also keiner der manischen Netzpenetratoren interessiere, glättete sich die Gischt ihres Wutblutes dann wieder ein wenig. Was blieb, war die Frage, weshalb einem die öffentlich-rechtlichen Aufklärer das nicht mitteilten, denn man zahle immerhin ganz ordentlich reichlich Gebühren für dieses Informationsrecht. Einmal mehr vermochte ich lediglich auf die vermutlich «eingeschränkte Halbwertzeit» des jungdynamischen Journalismus verweisen. Das hat einen Beitrag aus der Erinnerung hochgespült, der ähnliche Irritationen durch Experten aufwies. Design-Genetik? «Der auf jahrzehntelanger, stetiger Produktinnovation basierende Erfolg der Apple Inc. hat in jüngster Zeit einige betagtere deutsche ‹Markenexperten› dazu verleitet, die Gründe dafür den FAZ- bis Absatzwirtschaft-Lesern mit selbstgebasteltem und dann von ahnungslosen Journalisten unredigiertem Markentheorie-Bombast verklickern zu wollen — worüber Apple-Kenner natürlich schallend gelacht haben.» Der hier lacht, die anderen auslacht, ist Bernd Kreutz auf seiner Seite Reklamehimmel. Und man kann durchaus mitlachen, na ja, zumindest ein wenig schmunzeln darüber, wie der erfahrene Werbefachmann in gewohnt drastischen Worten meint, das Tal der Unwissenden fluten zu müssen (auf daß es sie hinwegschwemme aus der Öffentlichkeitsherstellung?). Vermutlich hätten «diese Pseudotheoretiker», schreibt er in Richtung derer, die leichtfertig vom genetischen Code der Marke Apple «schwafeln», noch nichts von der Ulmer Hochschule für Gestaltung gehört, «auf deren Maximen schon der Erfolg der Firma Braun beruhte und deren reine Lehre heute Apple in die Praxis umsetzt». So weit, so gut und auch amusant — für unsereins, die wir ebenfalls seit etwa tausend Jahren mit Macintosh-Gerätschaften den Volksbildungsacker pflügen. Und wahrlich käme uns nichts anderes ins Haus, wie unsereins ja auch mit Braun geweckt, gefönt, Haare geschnitten, musiziert, rasiert und epiliert wird. Darauf wurde hier mit Braun-O-Manie ja bereits hingewiesen. Mit einer solchen Design-Bewertung ist bei uns also durchaus offene Türen einrennen. Aber bei Bernd Kreutz liest sich das so, als ob Steve Jobs Dieter Rams als Chefdesigner installiert hätte. Das wäre jedenfalls dann noch nicht bis zu uns durchgedrungen. Bekannt ist oder sollte sein, daß es letztlich eine Art idealistischer Ableger der Ulmer Schule war oder der Tradition des Bauhauses entsprungen ist: die Hochschule für Gestaltung in Schwäbisch Gmünd. Dort nämlich hatte Hartmut Esslinger studiert, und der hat frog design gegründet, Gestalter der mittlerweile legendären Rechner von Macintosh in den achtziger Jahren. Das sieht man ihnen erfreulicherweise auch heute noch an. Hartmut Esslinger von Federal Republic Of Germany-Design also hat entscheidenden Anteil daran. 2006 hat er alle Anteile an frog design verkauft. Sollte deshalb den Referenzen von frog design auch nicht zu entnehmen sein, daß die Verbindung zu Apple noch heute existiert? Bestünde sie nach wie vor, wäre das sicherlich einschlägig vermerkt; eine solche Krone setzt man sich doch auf. Es ist allerdings eine Tatsache, daß, wie Daniel Turner in der Technology Review schreibt, «Apple-Mitarbeiter sich in Gesprächen regelmäßig dafür entschuldigen, daß sie eigentlich nichts sagen können. Neue Geräte werden in einer kleinen Gruppe ausgeheckt, wer über Produktideen plaudert, wird gnadenlos gefeuert oder — wie im Falle von Fanblogs — verklagt. Nicht ohne Grund witzeln Apple-Mitarbeiter, bei ihnen gelte der Mafia-Schweigekodex Omerta.» Aber vermutlich ist Bernd Kreutz mit seinen Verbindungen weitaus besser informiert als unsereins opn Dörp in Kurz-vor-hinter-Sibirien und weiß ganz genau, daß Steve Jobs den Design-Ötzi Hans Gugelot im Hinterzimmer im Glaskasten aufgebahrt hat, wohlbehütet und -bewacht von Braun-Rams.
Und gebärt ein Mäuslein ... Aus dem Archiv (Anfang 2008) geholt, aufgebügelt und neu überdacht, da von diesem Herrn an den erinnert. Fast eine Wiederholung. Fast gehört's ja hier hin. Aber dort ist nunmal reine Rückschau. Wir seien zwar keine Blogger, hieß es zu diesem Zeitpunkt an einem anderen Ort, sondern gehörten der aussterbenden Rasse der Feuilletonisten an, die sich, wie sich das für solche weiterblätternden Flaneure auf den Boulevards der Unwesentlichkeiten geziemt, in völliger technischer Umnachtung sich lediglich der entsprechenden Weichware bedienten. So ist's. Unsereins hat's eben nicht so mit diesen 1plusminus0-Techniken, die für die Gestaltung einer Seite benötigt werden. Und da wir auch keine Wände einfärben oder Wasserhähne enttropfen und auch Enten zum Fachoperateur bringen, weil der ihre Eingeweide eher wieder zum Entkreischen bringen kann, benutzen wir auch hier die Fähigkeiten anderer. So wurden das Laubacher Feuilleton und Kurzschrift auch nicht in Heimarbeit selber gedruckt. Und gekocht haben wir bereits, als Fernsehen und Internet noch nicht angetreten waren, dem Volk das Essen beizubringen. Betriebsanleitungen lesen wir auch nicht. Das soll jedoch nicht heißen, daß wir das Internet ignorieren. Im Gegenteil! Wir sind glücklich, daß es diese technische Errungenschaft gibt. Sonst könnten wir ja unser ewiggestriges Archiv nicht vorantreiben. Vor allem mögen wir die Weblogs. Aus diesen elektronischen Tage- oder manchmal Wochenbüchern erhalten wir Informationen, die so manches Mal von den Gazetten der Intelligenz nicht geliefert werden, möglicherweise, weil sie sie nicht liefern können oder aber nicht wollen; über die Gründe mag man (hier und jetzt) gar nicht weiter nachdenken. Über so manches Hochinteressantes und Wissenswertes hinaus bieten viele Blogs Texte von einem Unterhaltungswert, wie er eigentlich im einen oder anderen Blatt zu vermuten wäre, bei der doch nicht unerheblichen jeweiligen Gebühr, die dafür monatlich zu überweisen ist. Dennoch behaupten viele der klugen Köpfe, die immer da oder dort dahinterstecken, sie seien die wahren Denker und diese ganzen elektronischen Entäußerungen nichts als Geschwafel, dem keine oder gar gefährliche, weil anarchische oder schlimmstenfalls anarchistische Bedeutung beizumessen sei, die sich auch noch hinter der Anonymität verstecke. Seit Wochen kämpfen deshalb wohl die Gutenbergs auf handgehäkeltem Bütten gegen das Armädchen elektronischer Meinungs(ver)fechter. Und so manches Mal hat es dabei einen dieser Lokführer der angedeuteten Modernisierung des Bleisatzes aus den Geleisen seiner Argumentation getragen. Der Verlust der Contenance mag auch darauf zurückzuführen sein, daß die Reiter hoch zu Roß ihres über die Jahre entstandenen Realitätsverlustes nicht mit der Masse der Spieße gerechnet hatten, die ihnen entgegengehalten wurden. Momentan ist die Lage in Waterloo entspannt, aber die Geschichte hat es ja notiert: All den Napoleons wird das Exil nicht erspart bleiben. Wer weiß, vielleicht finden sie ja ein Inselchen im weltweiten Netz. Der eine oder andere Ritter Gutenbergs soll ja bereits mit dem Federkiel fuchtelnd in der Tube gesichtet worden sein. Selbstverständlich haben sie recht, die Bewahrer der Wahrheit im Guten und Schönen: Es tummelt sich unsäglich viel Kroppzeug auf dieser Spielwiese Internet. Damit meinen wir allerdings weniger diese viel und gern zitierten sogenannten Tanja-Anjas oder Katzenfreunde. Übel auf stoßen unsereins die Stammtischphilosophen aller Färbungen, deren Denkhorizont so weit reicht wie ihr Sprachvermögen. Sie sind es vermutlich auch, die es mit dem (geistigen) Eigentum so halten wie mit ihrem Verständnis von Demokratie. Irgendwo haben sie mal was gehört oder beim Lesen (mal wieder) was nicht richtig verstanden — wir sind das Volk, und dem gehört nunmal alles im demokratischen Internet. Mit Begriffen wie Urheberrecht können sie nicht umgehen, weil es ihnen an Abstraktionsvermögen mangelt. Und von Joseph Beuys haben sie auch noch nichts gehört, der ja gesagt haben soll, jeder Mensch sei ein Künstler. (Was er so eben nie gesagt hat, wie Aubertin innerhalb der Diskussion «Finger weg von Bildern aus Datenbanken» in der Blogbar einem verrückten Wissenschaftler namens Madscientist endlich mal ins Gesangbuch schrieb: «Beuys sagte in einer kritisch-ironischen Anmerkung zu einem seiner Studenten in der Düsseldorfer Kunstakademie: Jeder sei ein Künstler, nur ER sei keiner. Ein halber Satz also, aber damit eine ganz andere ‹Wahrheit›. Doch genommen wird sie gerne, vor allem von denen, die’s gerne etwas bequemer haben.»*) Nähmen sie also nur die halbe bequeme Wahrheit und zückten ihre Telephone, ob von einem finnischen oder sonstigen, etwa US-amerikanischen oder deutschen Hersteller, der in letzter Zeit ihren Arbeitsplatz vernichtet hat, um damit die Realität abbildend kreativ, also wenigstens (kunst-)handwerklich tätig zu werden, täten sie sich weniger schwer mit der Gesetzgebung. Aber da es ihnen sogar an diesen Minimalvoraussetzungen fehlt, nehmen sie sich's, wie's ihnen gerade entgegenleuchtet. So kreist denn der Volksberg — und gebärt ein Mäuslein. * Dem sogenannten Beuys-Zitat widersprechen nicht einmal die gedruckten Organe der deutschsprachigen Druck-Intelligenija. Nun gut, es geht in erster Linie darum, einem die Wiener oder Frankfurter vom Teller zu nehmen, der sich nach Behauptungen einiger ausgezutzelter Bild-Ausleiher auf indirekte Weise davon ernähre, indem er seine Einkünfte weniger mit dem Knipsen von Schweinen in Därmen erziele als vielmehr mit dem Abkochen von solchen armen Würstchen, die er vor Gericht gezerrt habe. Auch möchte man damit diesen Nahrungsmittel-Kreativen aus den vorderen Rängen der Suchmaschinen herauskicken. Wir halten es allerdings eher mit Bör, der in der Blogbar-Diskussion den Sozialphilosophen John Ruskin ziziert: «Es ist unklug, zu viel zu bezahlen, aber es ist noch schlechter, zu wenig zu bezahlen. Wenn Sie zu viel bezahlen, verlieren Sie etwas Geld, das ist alles. Wenn Sie dagegen zu wenig bezahlen, verlieren Sie manchmal alles, da der gekaufte Gegenstand die ihm zugedachte Aufgabe nicht erfüllen kann. Das Gesetz der Wirtschaft verbietet es, für wenig Geld viel Wert zu erhalten. Nehmen Sie das niedrigste Angebot an, müssen Sie für das Risiko, das Sie eingehen, etwas hinzurechnen. Und wenn Sie das tun, dann haben Sie auch genug Geld, um für etwas Besseres zu bezahlen.» «In der zunehmenden Industrialisierung», schreibt Bör in dieser lesenswerten Auseinandersetzung um «fremde Bilder», «sah er (Ruskin) die Gefahr einer Verkrüppelung sowohl menschlicher Tugenden als auch künstlerischer Schaffenskraft.»
Blumenkohl und Pannekoeken Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete. Der Reise achter Teil. Nein, verhungert bin ich wahrlich nicht während meines Aufenthaltes in den belgischen Sumpfgebieten. Zum einen war Jonkvrouw Mutter, besser Mutter Jonkvrouw*, denn in der Rolle einer Glucke ging sie eher auf als in der einer Retterin eines Adelsgeschlechts, sie war geradezu Sinnbild eines treusorgenden Weibes. Fürs Frühstücksdirektieren eignete sich ohnehin eher der zwar bürgerliche, aber bereits in der Erscheinung blaublütig wirkende Gatte. Vermutlich lag es an seinem gesellschaftlichen Aufstieg, man kennt es: von ganz unten. Andererseits ihm mit einem solchen Anwurf Ungerechtigkeit widerfahren könnte, trieb er sich doch wahrhaftig nicht redenschwingend auf einschlägigen Veranstaltungen herum, sondern widmete sich allabendlich der Familie. Die Jonkvrouw schien mit Ende des familiaren Streit um die Hochzeit, die in dieser schlössigen Einsamkeit der Großimmobilie endete, sämtliche adelige Attitüde abgelegt zu haben. Wenn sie sie je innehatte. Sie wirkte auf mich immer wie ihre Dienstmagd; dort ist die Jonkvrouw umgangssprachlich mittlerweile unter anderem gelandet. Möglicherweise hat sie auch den Kindern die Distanz zum eigenen Geschlecht derer von anerzogen. Besonders deutlich wurde das ja an der Tochter, der Behüteten. Allerdings hatte die so gar nichts Arbeitssames. Vielleicht konnte sie ja stricken und häkeln, am Ende gar Spitzen klöppeln. Aber wann auch immer ich sie sah innerhalb des riesigen Gebäudes, dann saß sie in der Mutter Nähe und schaute ihr zu, wie sie arbeitete. Nahezu alles fand in der Küche statt. Zwanzig, dreißig oder noch mehr Zimmer, dennoch die Reduktion auf diesen einen Raum; und am Abend eben der blaue oder grüne Salon, wo man sich vermutlich aber auch nur hinbegab, um mir während des suchtfrönenden Verzehrens meiner Boyard Gesellschaft zu leisten. Und tatsächlich kam ständig eines der acht Kinder in die Küche gerannt und holte sich irgendwas zum futtern. In endloser, grenzenloser Güte stopfte sie ihre Brut; selbst ein Kuckuck hätte sie nicht aus der Ruhe gebracht. Irgendwann konnte ich das nicht mehr mit ansehen, daß sie immerzu am werkeln war und keiner auch nur eine Hand rührte. Ich schlug vor, einen kleinen Beitrag zu leisten, wenigstens einmal zu kochen. Dieser Vorschlag rief eine außerordentliche Überraschung hervor. Vermutlich war ihr das noch nie untergekommen. Daß ein Mann Hausfrauenarbeit verrichten wollte. Freiwillig. In den Siebzigern gehörte es noch nicht zum weltmännischen Ton des Mannes, sämtliches Kücheninventar in einem Arbeitsgang einzudrecken. Zu der Zeit konnte Sarah Wiener ja auch gerademal über den Tisch gucken. Aber, na ja, immerhin hatte deren Vater Oswald nach seiner Verbesserung Mitteleuropas und seiner Flucht nach Berlin erstmal ein Restaurant eröffnet. Und Isaac Feinstein war bereits kurz davor, das seine in Düsseldorf wieder zu schließen, nachdem er sozusagen die Kunst an den Nagel gehängt hatte. Ich hingegen verfügte über ein kulturwissenschaftliches Reservoir, das an anderer Stelle mit Romantischer Gastronomie etwas beschönigend betitelt worden sein könnte. Vielleicht war's aber auch nur die Küche, die's mir angetan hatte. Bei einer solchen Ausstattung mußte sich manch ein professioneller Koch wie im Himmel fühlen, dafür mußte zwei Jahrzehnte später die Macht des Essens viele Kilometer an Naturalienregelung bewältigen. Geradezu zwanghaft nahm ich gut ein Drittel des Kücheninstrumentariums einzeln in die Hand. Eine erstaunliche Leistung angesichts des schlichten Blumenkohlauflaufes, den ich produziert hatte. Nun gut, ich war mir des etwas überzogenen Geräteaufwandes wohl bewußt geworden, was mich zum Ende hin noch zu einer Crème brûlée antrieb. Die meiste Bewunderung der Hausherrin dürfte vermutlich die Tatsache hervorgerufen haben, daß ich jedes Teil fein säuberlich abgespült hatte, jeweils sofort nach Gebrauch. Das lerne man in einer vier Quadratmeter winzigen Küche mit bis zu hundertfünfzig mittäglichen Menues und präge sich ein, erklärte ich. Daß ich damals schon ein Töpfe-, Pfannen-, Messer und sonstwas -fetischist war, den man nie in die Nähe einschlägiger Ladengeschäfte wie später diese traumhafte Halle voller Spitzsiebe, Passiermühlen und Weinpumpen et cetera im Hamburger Chancenviertel lassen durfte, verschwieg ich dezent. Zur Belohnung bekamen wir beide am nächsten Tag was ordentliches zu essen. Papa hatte dem Töchterlein wieder ein Kuvert zugesteckt. Das hatte es nach meinem sprintigen Einstieg in den Mini — es kam gelassen hinterher, nachdem es zunächst Sankt Bernhard vor mir geschützt hatte — mir direkt auf den Schoß gelegt. Von Pfannkuchen war nach dem nicht allzu variantenreichen Gastmahl die Rede, über das sich bis auf die Kinder alle lobend ausließen. Aber nicht von diesen dünnen, der französischen, also wallonischen Cuisine entlehnten papierdünnen Flädchen, sondern von handfester flandrischer Kost. Pannekoeke hieß das Haus in Damme, in dem es, wenn ich mich recht erinnere, rund hundertfünfzig verschiedene Arten dieses Fladens gab, genauer: etwa soviele unterschiedliche Füllungen. Allesamt richtige Sattmacher. Derart satt machten diese drei oder vier oder nochmehr Fladen, von sehr deftig bis sehr süß, die junge Frau, daß an weitere kulturelle Bewegung nicht mehr zu denken war. So gab ich mich meinem Vorwärtstrieb einmal mehr am Volant des spritzigen Mini hin. Sie berührte das Tempo nicht mehr weiter, war sie doch mittlerweile daran gewöhnt und überdies kurz nach dem Einstieg in ein Verdauungsschläfchen übergegangen. Erst als der heimatliche Kies unter den Pneus knirschte, erwachte sie wieder, schaffte es gerade noch, den Heiligen Bernhardus vor meinen Lefzen in den Keller zu retten, um dann direkt neben Jonkvrouw Mutter auf das Höckerchen zu sinken und ihr Schläfchen fortzusetzen. Ihr Vater erzählte mir dann am Abend, was ich in Damme alles an Eulenspiegeleien hätte anschauen können (die mir Jahrzehnte später unweit der Ostsee begegnen sollten), wäre die Tochter von den vielen Pannekoeken nicht so erschöpft gewesen. Am Wochenende aber, sprach er in meinen papier maïs-Nebel hinein, führen wir über Land und schauten ein wenig Cultuur. Zuvor jedoch würde sein ältester Sohn mit mir eine Partie Tennis spielen. Das habe er ihm versprochen. Gleich morgen früh würde er den Platz hinterm Haus herrichten. Ich solle doch ein wenig Spaß haben während meines Aufenthaltes im Kasteel. Ich hatte wohl mal wieder etwas leichtfertig von meinen sportlichen Vorlieben geplaudert. Denn die Freude würde ich tatsächlich haben. Schließlich war die Liebe des Sohnes mir gegenüber etwa der von Sankt Bernhard gleichzusetzen. Und nun sollte er auch noch auf sein tägliches Rundstreckenrennen mit seinem Käfer um den Park verzichten, den seit der letzten Jahrhundertwende vermutlich nicht mehr benutzten Tennisplatz säubern und mit mir Altherrensport treiben. Aber davon erzähle ich das nächste Mal. * Immerfort falsch geschrieben als Jonkfrouw, so ist das, wenn man sich im Adel nicht auskennt, zumal ich nichtmal weiß, ob sie nicht doch einen Titel trug; aber hiermit ein für allemale korrigiert. Und das ist immer noch nicht mein Gast-Kasteel, sondern lediglich ein beispielhaftes. Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse, Fluchtgedanken, Gnadenmahl oder Reiche Stunden. Der Reise vierzehnte Folge.
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