Platonische Nachbarschaft

Seit ein paar Wochen habe ich eine neue Nachbarin. Sie fiel mir, als ich meine neugierigen Augen in ihre noch leere Wohnung inspizierend wandern ließ, bereits durch ihr Äußeres sofort angenehm auf. Ein Frauentypus präsentierte sich mir, der schon immer verführererisch auf mich wirkte: balletinisch schlank, kurzhaarig, wache, geradezu blitzende Augen, die eine von Humor beseelte Intelligenz zu belegen schienen. Nie hat mich ein solcher erster Eindruck getrogen. Nahezu ausnahmslos wurde aus solchen ersten Bekanntschaften tiefere, häufig entstanden daraus Freundschaften. Zur Liebe oder dem, wie man derlei Aktivitäten im Französischen bezeichnet, zum Machen kam es allerdings höchst selten, dazu fehlte es in der Regel beiderseits an Flexibilität im Geschlechtermiteinader. Unsere jeweilgen Lieben blieben von dem gesegnet, den man volkstümlich dafür verantwortlich macht: dem Erfinder des Höhlengleichnisses.

Eine erste Trübung erfuhr die neue Nachbarschaft dadurch, daß sie die Haustür treppunten abschloß. Einem Fußkranken wie mir fällt es nicht leicht, der Hermesbotin die Stufen hinunter entgegenzufliegen, um die Pforte zu öffnen, auf daß sie mir meine tägliche Botschaften aller erdenklichen Liebesbeweise der weltweiten Kunst- und Kulturinformationsindustrie reiche. Ich bat meine neue nachbarschaftliche Errungenschaft mittels Anschlag an ihre Wohnungstür um Mäßigung in Sachen Verschluß. Als Antwort ereilte mich ein elektrischer Brief an ein Postfach, in das ich seit meiner Zwangsstillegung im hohen Norden nur noch selten hineinschaue und das meines Wissens nur meinen französischen Freunden bekannt war; sie hatte den Ariadne-Faden gefunden und aufgenommen. Der Inhalt war verfaßt in einem gelösten und zugleich präzisen Duktus, den ich von den vom Internetdeutsch verwirrten U-Vierzigern nicht mehr gewohnt bin, der mich also überrascht hat. Darin wurde mir beschieden, man habe sich lediglich an Anweisungen unserer Vermieterin Madama Lucette gehalten. Also hatte ich einsichtig zu sein. Ich antwortete meiner Nachbarin und schloß mit der friedvollen Anmerkung, offensichtlich gäbe es kaum etwas, das uns unterscheide, wenigstens was unsere Meinungen beträfe.

Und heute früh nun die niederschmetternde Retoure: Sie kenne wenigstens einen Punkt, in dem wir so gar nicht einer Meinung seien. «Der Moment, in dem Sie mir sagten: ‹Sie haben ja doch ein vernünftiges Auto›, ich aber gar nicht mit dem meinen vorgefahren war, hat das nachbarschaftliche Verhältnis doch sehr getrübt.» Nun denke ich ernsthaft darüber nach, meine jahrzehntelang gepflegten formalästhetischen Vorstellungen von der Schönheit dieser Welt einer Prüfung zu unterziehen.
 
Fr, 30.11.2012 |  link | (3515) | 10 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Ökobiodynamische Qualitätshinnahmen

Vor ein paar Wochen erzählte ich hier, daß ich es wieder getan habe, mir zum wiederholten Mal diesen kleinen Zyklon zuzulegen. Selbst für einen kleinen Mann wie mich können sich auch bei einer über Jahrzehnte erprobten, prämodernen Technik Probleme auftürmen, gegen die die Bankgeschäfte der Weltgroßfinanz sich ausnehmen wie der Stand des ersehnten Nasses für den Urlauber, der zum ersten Mal am Nordseestrand ankommt und nichts sieht als feuchten Sand und der seufzend stöhnt: Is' aba wenich Wasser hier.

Meine niegelnagelneue Cicionetta, die ich mir fast zum Preis einer gebrauchten Maschine im Juli zugelegt habe, schien, wie so zunehmend häufig in den letzten Jahren bei Neuprodukten ab Werk, schadhaft zu sein. Sie lief wie ein Montagsauto, eine dieser Zitronen, wie man diese Mißratlinge früher nannte und die heutzutage gang und gäbe sind. Sie kreischte auf wie seinerzeit meine desilluminierte Ente kurz vor Lyon-Nord. Ich sah mich genötigt, auf Empfehlung meiner persönlichen Krisenberaterin Frau Braggelmann das gar nicht so gute Stück zurückzusenden, und bereitete mich bereits auf Abwehrmaßnahmen seitens des Lieferanten vor, wähnte die alte Protestkraft in mir zurückkehren, war kurz davor, aus meiner langen Liste der Streiterfahrungen den geeigneten Rechtsanwalt herauszusuchen. Doch dann geschah ein seltsames Wunder. Da mir die Kaffeesorte, auf die ich als Mensch mit sozialem Restgewissen vor einiger Zeit umgestiegen war, die des fairen Handels, einfach nicht die gewohnten Geschmackserlebnisse bringen wollte, was unter anderem auch damit zusammenhängen dürfte, daß sie nicht in der Lage war, wenigstens eine passable Crema zu produzieren und das Auge eben nicht mittrinken ließ, beschloß ich, mein schlechtes Gewissen in die hinterste Ecke meines Gehirns zu verschieben und klammheimlich wieder auf das altbewährte Pulver eines italienischen Herstellers zurückzugreifen, auf das ich nach langem Suchen gekommen war und es jahrzehntelang genossen hatte. Und was macht das Maschinchen mit seiner Technik der achtziger Jahre? Es läuft, ohne einen irritierenden Mucks rund wie meine in Kürze dreißig Jahre junge Ente, von der mein landlordischer Vermieter und Porsche-Pilot immer wieder mal zum besten gibt, er sei erstaunt darüber, wie klaglos der für die Sonne gebaute fahrbare Schaukelstuhl selbst bei norddeutsch feuchtfiesesten Temperaturen anspringe und überhaupt laufe wie gerade aus dem Ei des Südens gehüpft.

Ich führe die Selbstheilung der Cicionetta, die mich zudem vor einigem Reklamationsärger bewahrt hat, allerdings nicht unbedingt allein auf die Qualität des ihr in Auftrag gegebenen Kaffees zurück. Es dürfte am Mahlgrad gelegen haben. Bereits beim ersten Kauf war mir dessen Grobheit aufgefallen. Ich bin so frei, dabei an die guten alten Stricksocken und -pullover zu denken, die von den Grünen in ihren schier endlos lang andauernden Gründungsparteisitzungen bis hinein in die Parlamente damals noch mehr massenmenschartig fabriziert wurden. Es hat den Anschein, daß unsere Rapunzel-Ökobios beharrlich im hölzernen Denkbottich der Achtziger sitzenzubleiben gedenken. In der Zeit, in der ich mich bereits hochmodern mit der Piccolomaschine in einen guten Kaffee-geschmack hineinzentrifugalisierte, standen überall diese alluminischen Geräte in den Küchen herum, die den Druck von unten her mittels kochendem Wasser erzeugten und suggerierten, man habe einen Espresso vor sich. Das ist aber keiner, sondern schlicht Plembe. Ich benötige zum Behufe des Genusses Crema, und zwar eine, die sich in der Tasse hält bis zur Restneige. Die läßt sich aber nicht erzeugen bei einem Mahlgrad, der an grob gestoßene Schafsköttel erinnert.

Mir scheint überhaupt, man wolle in den deutschbiodynamischen Hofläden partout auf dem bewahrenden Conservare beharren und sich auf die Erfahrungen der gewohnten Langsamesser aus dem Süden Europas nicht einlassen. Für die spielt nämlich die Ökoideologie bei weitem nicht die Rolle, die man sich offensichtlich einbildet, je weiter nördlich man lebt. Wer beispielsweise den Geschmacksunterschied zwischen einem Käse kennt, der südlich-konventionell im althergebrachten Sinn erzeugt wurde, und einem nach strengstem Gläubigkeitprinzip der Gesundheitsbewahrer hergestellten, der wird deren protestantische Verkaufstempel nicht mehr betreten und wieder bei denen einkaufen, die produzieren wie anno dunnemals.

Ich täte mich jetzt leicht, zu schreiben, man solle einfach wie früher nach Italien oder Frankreich fahren, um dort einzukaufen, bei denen, die trotz des Rummels um Öko und Bio darauf pfeifen und wie gewohnt feinen Geschmack produzieren. Es wäre schließlich kein Problem heutzutage, da jeder in das Flugzeug des Billigheimers steigt, um in Firenze oder Milano shoppenhoppen zu gehen. Doch das ist gar nicht notwendig. Es reicht häufig aus, einen Landausflug zu machen. Hier in der Gegend zum Beispiel produzieren Liebhaber des guten alten Geschmacks ohne jede Zusatzstoffe, wie sie mittlerweile hinlänglich bekannt sind, eine geräucherte Leberwurst, die ich nie und nimmer tauschen würde gegen die vielleicht höchst gesunde, aber dafür um so geschmacklosere aus dem Hofladen. Interessanterweise entsteht die in der Hinterhofküche eines Hühnerhofs. Dort kaufe ich auch die Eier für meinen Kartoffelsalat. Sie kosten fast halbsoviel wie die von der Bioökohenne gelegten und schmecken weitaus gehaltvoller. Das trifft auch auf die Wurst und das Fleisch des Dorfmetzlers des hiesigen Nachbarorts zu, ein paar Ansiedlungen weiter gibt es noch so einen. Auch er setzt keine Chemie jener Industrie zu, die behauptet, Nahrungsmittel herzustellen, und er kauft sein Vieh bei Bauern der Region. Die Sau oder das Rind dürfen zwar nicht zwischen Bauer und Bäuerin auf der Besucherritze schlafen, schmecken aber trotzdem sauguat, wie der gemeine Bayer spricht. Der Geschmack des Milchkalbs, den ein «konventioneller» Landwirt einst für uns zog, geht mir nicht aus den dafür zuständigen Nerven der Erinnerung. Und auch mein von mir im nächstgelegenen Städtchen bevorzugt gekauftes, blitzsauber hergestelltes Ciabatta schlägt nicht nur geschmacklich das im Hofladen erstandene um Längen.

Aber selbst in der Stadt muß man darauf nicht verzichten. Frau Braggelmann berichtete mir gestern von einer Tat, die Grund sein könnte für eine Freundschaftsauflösung. Bei einem Feinkosthändler im hamburgischen Schlafstadtsatelliten Ahrensburg erstand sie das, was ich nur aus Frankreich kenne und auch im Demeterladen noch nie bekommen habe: Pfirsiche, süß und saftig, natürlich aus Frankreich, daß es ihr, wie sie berichetete, an den Armen hinunterlief und mir im Mund zusammen. Sie versprach, mich beim nächsten Mal mitzunehmen. Denn man könne obendrein mit diesem Händler stundenlang immer nur über das Eine sprechen: Essen und Trinken. Hervorragenden und gar nichtmal preislich überhöhten Wein habe er obendrein im Angebot. Und all das ohne Bioöko-Vignetten. Das ist nämlich machbar.

Aber was macht diese Herde Mensch? Sie ist weitaus blöder als das Vieh, das sie geringschätzend als dumm bezeichnet. Massenhaft greift sie, weil sie nunmal marketinggesteuert ist, also Führung braucht, offensichtlich fast nur noch nach einem dieser vielen sieben Siegeln, die für Leib, Seele ergo Gutmenschgewissen Gesünderes versprechen. Guter Geschmack ist gestrichen. In letzter Zeit mußte ich festellen, daß nahezu alles biologisch-dynamisch erzeugte Gemüse und Obst, letzteres vermehrt von Großproduzenten dieser Art aus spanischen Öko-Batterien eingeflogen, genausogut stelle ich es mir aus Ägypten oder China oder Chile herangekarrt vor, jedwedes Glücksgefühl vermissen läßt, das sich bei mir einstellt, wenn ich die Früchte genieße, die an all den Bäumen gereift sind, die um mich herumstehen. Es ist dieselbe Herde Mensch, alle diese Landbewohner, die auch ihre alten Gärten grünbetonieren, die Äpfel und Birnen der übriggebliebenen Bäume allenfalls zum Fremdvermosten abliefern, aber oftmals am Boden verfaulen lassen. Und dann im Supermarkt das einkaufen, das biodynamische Gesundheit verheißt.

Allenthalben höre und lese ich, der Mensch an sich würde, nicht nur aufgrund fehlender Geldmittel, in naher Zukunft zur Selbstversorgung gezwungen sein. Ich halte das, mit Verlaub, für auch ein bißchen soziomodisches Papperlapapp. Nun baut man überall Stadtgärten. Dagegen ist wahrlich nichts einzuwenden. Aber so neu, wie man tut, ist das nun wirklich nicht. Als ein Freund und ich in den frühen Achtzigern im Rahmen unserer gemeinsamen Arbeit unter anderem in diese Richtung hin plädierten, wurden wir als Spinner abgetan. Und das waren bereits zu dieser Zeit keine unbedingt allerneuesten Ideen oder abseitige Visionen, von denen ein ehemaliger bundesdeutscher Kanzler, jener, der das Soziale aus der Demokratie tilgte, meinte, wenn man die habe, dann solle man bestenfalls einen Arzt aufsuchen. Als ich ein halbes Jahr vor Tschernobyl in die neue Münchner Wohnung zog, habe ich, der ich beruflich nicht eben wenig eingespannt und ständig unterwegs war und auch noch Zeit für lange Kneipenabende hatte, auf meinem Balkon Gemüse und Kräuter gezogen, sogar Kartoffeln gab's. Sicher, es war eine große Loggia, eine mit viel Sonne hoch oben und jeden Dritte-Welt-Laden heimatschützenden und illustrierenden Regenbögen zudem. Aber auch in der kleinsten Hütte ist es möglich, zumindest ein paar Kräuter und durchaus auch Tomaten zu ziehen. Auf daß man wieder zu dem Geschmack zurückkehre, den uns jene Nahrungsmittelindustrie zerstört hat, die längst dicke Aktienpakete des Bioökomarktes im Besitz hat, wenn sie ihn nicht ohnehin mittlerweile dominiert.

Sonne, Wasser und Gemüse auf kleinem Raum.

 
Mo, 10.09.2012 |  link | (2284) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Das Bißchen, das ich esse, kann ich mir auch selber zubereiten

Sollte sich jemand darüber wundern, daß hier ausnahmsweise nicht die eherne Sponti-Regel befolgt wird, das Bißchen, das ich lese, kann ich mir auch selber schreiben, dem sei mitgeteilt: Ich lese, tatsächlich, etwas, das andere verfaßt haben. Einmal mehr versuche ich mich seines Umfanges und der Gewichtigkeit wegen gezwungenermaßen niederknieend in anderer Leute verzetteltem Traum. Und in Pausen bereite ich unverdrossen Kartoffelsalat zu, mit Gurken und Tomaten und Kräutern et cetera aus «eigenem Anbau». Meine Vermieterin Madame Lucette hat mir einmal mehr ihren Garten der Lüste geöffnet, so etwas wie meine unberührbaren Brustduftdrüsen. Lediglich der die Salatsauce rustikal veredelnde Knoblauch ist ein Marsaillais. Weitere Ingredienzien sind in Frau Braggelmanns Hühnerhof selbstgelegte Eier, und zum Nachtisch gibt's vom neben meinem hölzernen Ruheraum stehenden Baum der Erkenntis selbstgepflückte Zwetschgen, gegen die auch die von Frau Demeter persönlich gebärten nicht den Duft einer Geschmackschance haben. Dazu trinke ich gestern von Madame Lucettes Gatten freiwillig herausgerücktes Badoit, in Glasflaschen, das hierzulande, wenn überhaupt, zu Preisen verkauft wird, als handele es sich um einen Premier Cru aus dem Médoc. In Frankreich gehört es zu den preiswerteren Gazeuses.

Als wär's ein Stück von mir, im Exil, möchte ich meinen.



 
So, 09.09.2012 |  link | (1539) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Am Rand des fünfzehnminütigen Berühmtseins

Notizen zum Thema hatte ich mir vorgestern bereits gemacht, da geriet ich gestern hier hinein. Just zu dieser Zeit hatte es einen anderen beschäftigt. Aber das wäre schließlich nicht neu. Und obendrein schildert es einen, wenn auch wesentlichen, Teilbereich der Gedanken, die mir seit einiger Zeit durch den Kopf flirren wie die lauen Sommerabende, die es nahe der Ostseeküste laut Frau Braggelmann im April manchmal geben soll.

Ein Herr durchkreuzt in letzter Zeit immer wieder sekundär mein Leben. Ein, auch zweimal habe ich bereits über ihn erzählt. Er ist Tag und Nacht unterwegs, um diejenigen aufzuspüren, die die Events erst zu Events machen, denn ohne sie wären das vermutlich eher schlichte Veranstaltungen, denen nichts weiter abzugewinnen wäre. Eigentlich ist er Sportberichterstatter. Aber da die Ertüchtigungen ohnehin etwas mit den Leibern zu tun haben, wird er losgeschickt, um sich dazwischen zu zwängen, um für sein buntes Blatt zu berichten. Vielen dieser Leser und, vielleicht besser, Betrachter dürfte es am liebsten sein, wenn, wie seinerzeit bei Zadek im Hamburger Schauspiel, da war das allerdings noch eine Sensation, die Matthes die Brüste über die Balustrade hängt. Doch seit einiger Zeit existieren nicht einmal mehr Vorhänge. Meistens ist er gehalten, ein Gespräch mit den Beteiligten zu führen, das häufig in der Frage gipfelt, ob sie romantisch seien. Ich bin nicht sicher, ob er sich über die Tragweite solcher Fragen inhaltlich gewiß ist. Studiert hat er einmal, sogar ein populäres Sachbuch verfaßt. Aber was heißt das schon, heutzutage schreibt doch jeder, und sei es ein elektrisches Tagebuch. Dabei spielt es bei dieser elemantaren Frage weiter keine Rolle, ob es sich dabei um einen Boxweltmeister oder um einen der bildenden Künste handelt, deren Meinung zur Romantik er jeweils einholt. Die Romantik ist längst darin aufgegangen, indem eine italienische Chansonette einen Monsieur le Président, eine Laufstegartistin einen Hollywoodavantgardisten ehelicht und am Ende gar Adoptivkinderchen dabei zur Welt kommen. Das macht sie so schön bunt, die Welt. Und alle Welt will daran teilhaben. Andy Warholas fünfzehnminütiges Berühmtsein ist zwar längst Alltag geworden. Aber schließlich kann nicht jeder zumindest Deutschlands Superstar werden. Zuschauer braucht es schließlich auch. Und dafür gibt es diese gelben Blätter, auch wenn sie sich bunt nennen.

Wie groß dieser Markt ist, trotz einschlägigen Fernsehens, nicht nur der Privaten, auch das zwangsfinanzierte, für Bildung zuständige öffentlich-rechtliche ist massiv daran beteiligt, vermag ich nicht beurteilen. Doch ich fühle angesichts der öffentlich-rechtlichen Bemühungen sowie der Einschaltquoten seine Überdimensionalität. Das Über tilge ich wieder, es dürfte sich eher um die Dimension an sich handeln, und sei sie noch so eindimensional, wie dieser eine Marcuse das einmal angemerkt hat. Aber aus heutiger Sicht könnte es durchaus sein, daß auch der andere sich hinzugesellte bei diesen Veranstaltungen. Es ist schließlich nicht so, daß nur die eher etwas Einfältigen ihre Festivitäten hätten, zu denen die Berichterstatter anzureisen haben. Auch das Feuilleton hat seine Versammlungen, und nicht nur zur, zu den muß es mittlerweile heißen, denn in Deutschland finden seit des endgültigen Siegs des Schmieröls über den Sozialismus schließlich zwei Buchmessen statt.

Auch ich wollte einmal berühmt werden. Dazu, das war mir rasch klar, war ein bestimmtes Äußeres erforderlich, an dem meine Apartheit sich erkenntlich zeigen sollte. Das hier Gemeinte hat nicht so sehr mit historischer, aber immer noch nicht bewältigter südafrikanischer Abgrenzung zu tun, zumal die sich mit weichem d schreibt, als mehr mit dem gesonderten Einzelnen, wie man es beispielsweise aus dem Buchhandel kennt, wenn ein einzelnes Exemplar bestellt wird, aber durchaus ist bisweilen eine Dame gemeint, die durch ihre Erscheinung auf sich aufmerksam macht. Mit Kleidung also meinte ich es bewerkstelligen zu können. Da mein Vater mir noch zu Lebzeiten einen Teil meiner anstehenden Erbschaft zukommen ließ, investierte ich als junger Mensch in feines Tuch. Darunter befand sich ein Jäckchen, das mir etwas Tänzerisches gab. Und tatsächlich, kaum war ich hineingeschlüpft, bewegte ich mich anders als sonst. So kam es dazu, daß mich eines Tages, endlich, jemand nach meiner beruflichen Tätigkeit fragte und hinzufügte, sie müsse etwas mit Musik zu tun haben. Ich hatte, wenn ich mich recht erinnere, gerade mein neunzehntes Lebensjahr abgeschlossen, und die Frage heftete sich an mich wie edelstes Balsam an meine Haut. Tänzer sei ich, gab ich ihm zur Antwort, bevor ich von dannen schwebte. Kleider machen Leute. Und mache man sich dabei noch so nackicht wie einst der Märchenkaiser oder auch der Münchner Couturier sich lächerlich, der gleichwohl genauso immer sein Publikum um sich zu scharen wußte, auch wenn sein Abgang nicht so glanzvoll war wie seine sonstige bayerisch-königlich anmutende Erscheinung. Sehr viel später erst sollte ich solchen Vorstellungen wieder begegnen, als unser Jüngster fünfzehnjährig vor seiner Karriere als Rockmusiker beschlossen hatte, als schwedisches Unterwäschemodell zu reüssieren. Auch er ist längst von dieser Rolle gefallen und wirkt als Tischler, aber immerhin kreativer als irgendwas mit Medien. Und Musik macht er obendrein noch. Ich mag es gerne, wenn er seine Balladen singt. Sie sind so wohlklingend in ihrer angenehmen Leisheit.

Das Laute. Ich frage mich immer wieder, weshalb diese Leutchens es fortwährend so schrill brauchen, weshalb sie keines dieser Events auzulassen gedenken, wann auch immer ein paar dieser Berühmtheiten angehäuft werden. Weil sie wenigstens ein bißchen Teilhabe haben wollen am Prominentendasein? Sind es, was ich seit langem vermute, weder bin ich Historiker noch Psychologe, die Sehnsüchte nach höfischem Leben? Denn was sich auf diesen Bühnen samt Film- und Fernsehkanälen oder anderen Tuben abspielt, ist doch nichts anderes als eine Nachstellung der Versammlung sogenannter oberen Zehntausend, die sich früher an Fürsten- bis Königshäusern zuknicksten. Immerzu ist die Rede vom abgeschafften Adel und daß das gut so sein, und dann rennen sie alle los, wenn wieder solch ein Auftritt stattfindet und sogar bunte Berichterstatter losgeschickt werden, die eigentlich auf die Paralympics der Unterbelichteten gehören. Ist die Welt ohne diese seltsam anmutenden Hierarchien denn tatsächlich so trist?

Von den aufgeblasenen Hochzeiten will ich erst gar nicht schreiben, zumal die, vor allem in den Kommentaren, durchaus zu meinem Vergnügen abgehandelt sind. Auch ich habe einmal geheiratet, es ging nicht anders, allerdings seinerzeit bereits etwas schlichter. Ich mußte gewußt haben, daß eine Scheidung nicht lange auf sich warten ließ. Allerdings zeichnete sich bereits zu dieser Zeit, es ging auf das Ende der Sechziger zu, eine Entwicklung ab, die das Sterben aller Eheschließungen andeutete. Und tatsächlich scheint es heutzutage mehr Trennungen als Trauungen zu geben, sicher doch, bei dieser Überalterung. Demnach wäre das alles Trompe-l'œil der Gesellschaft, meinetwegen selbstbetrügerische Augentäuscherei: innendrin im Bau, in Herz und Seele tiefste, drögste Kleinbürgerei, auf die Fassade gemalt höfischer Glitter.

Obwohl es längst nicht mehr notwendig wäre, gehen viele nach wie vor den Bund fürs Leben ein, auch dann, wenn sich das verflixte siebte Jahr bereits abzeichnet. Das schwedische Unter-wäschemodell hat's letztes Jahr getan, völlig ohne Zwang. Aber es war immerhin was los, beinahe so schön, wie ich in den Sechzigern als Folge einer Begegnung eine Hochzeit unter Gitanes erleben durfte. Sein Bruder hat immerhin einen Stall voll Kindern mit geehelicht, da bringe ich noch Verständnis dafür auf. Aber es steht vermutlich noch die Schwester an. Nicht, daß ich den beiden ein rauschendes Fest nicht gönne, ich würde sogar die alten Teufelsgeiger hinzubitten. Aber muß deshalb gleich geheiratet werden, und das auch noch wie bei Fürstens zuhause? Um einmal für ein Weilchen auszusehen und berauscht zu sein wie eine Berühmtheit.
 
Do, 30.08.2012 |  link | (2017) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Gastronomische Dialektik

Weil's eine Thematik für sich ist und mit Fußball eher am Rande zu tun hat, kommt's wiederholt hierher.


Garçon !
Débarrasser la table du cœur, faire table rase, ich habe fertig.



S'il vous plaît.


Der besternten Gastronomie arbeiten zwar viele Menschen aus allen erdenklichen. bervorzugt afrikanischen Ländern zu, aber die kommen überwiegend aus Regionen, in denen das Französische Amtssprache ist. Überhaupt fühlt man sich in diesem Gewerbe häufig der Tradition sehr nahe, an gute alte Zeiten zu erinnern, die sich oftmals im klassischen Chanel-Costume, also Tailleur, bestehend aus Rock und gern bestickter Jacke, des Empfangs ausdrückt, der gerne von der Madame des Maître de cuisine ausgefüllt wird. Dort kann es durchaus Erstaunen auslösen, wenn man das führende Personal fragt, ob es schon einmal davon gehört habe, daß beispielsweise Algerien nicht mehr zu Frankreich gehört. Das sind diese Menschen, die, sollten sie es überhaupt tun, tun können, denn ohne sie geht es nunmal nicht, im Urlaub das Heimatland nicht verlassen. Das wiederum ist allerdings auch kein Problem, denn schließlich ist eine Reise zu karibischen Inseln und solchen im indischen Ozean per Inlandsflug zu bewältigen.

Ich hab's ohnehin nicht so sehr mit diesen Cuisine étoile. Die bourgeoise reicht mir völlig. Sie ist allerdings auch nicht mit dem zu vergleichen, was man in Deutschland oder Österreich unter bürgerlicher Küche versteht; wobei ich auch die nicht unbedingt verachte. Die Achtung vor gutem Essen ist überall im Land so ausgeprägt, so sehr Bestandteil des Lebensgefühls, daß selten schlechtes Bauchgefühl aufkommt wie etwa im rechtsrheinischen Landgasthof, wo sich die als vom Chef persönlich gerührte Sauce hollandaise oftmals als schlichte, aber mit vielen Zusatzstoffen zur Längerhaltbarkeit aufgepeppte Masse herausstellt. So etwas ist mir in Frankreich noch nie passiert. Das würde einer Köchin dieser aus der Revolution stammenden Volksküchen nicht nur gegen die Ehre gehen, sie käme gar nicht auf die Idee, daß es solche Produkte überhaupt geben könnte.

Dorthin gehe ich also sehr gerne, wenn möglich, also in Begleitung von Einheimischen, da ich mich alleine nicht hineingetraue oder auch, weil sie ohne Ortskennisse meistens nicht zu finden sind, die Restaurationsstationen der Ärmerenspeisung, in Montendre, in der Charente-Maritime unweit der Stadt Cognac gelegen, wo der Wein bis hinauf nach La Rochelle (siehe auch das Ende des Generationheims) ausschließlich für Pineau des Charantes angebaut wird, diesem nicht ungefährlichen Gesöff, dessentwegen der Bruder des Cafébesitzers in der rue Nicolas zweimal jährlich aus Paris anreiste, um sich damit jedesmal aufs neue fürchterlich zu besaufen, weil er immer vergaß, daß dieses köstliche Stöffchen nicht eben wenig Alkhol enthält, oder bei Florence mit deren himmlischen Tierchen in Saint-Léon-sur-Vézèrc in der Dordogne oder anderswo. Höchst selten befinden sie sich im Zentrum wie in Grandrieu im Lozère, wo Madame für die Handwerker kocht, während der Kultivierer des Landes, der Fermier, zu der seinen nachhause zu trekkern hat, denn gegessen wird schließlich bei Muttern. Wobei dieses Städtchen genannte Dorf ohnehin über keine erwähnenwerte Ausdehnungen verfügt, vergleichbar wäre die dortige Bauernwirtschaft mit der ordentlichen Kneipe in Reillane in der Haut Provence, wo ebenfalls gegessen wird, was auf den Tisch kommt.

Zwar hat auch an diesen Stätten der nach wie vor bis zu zweistündigen Erholung der Euro die Preise ordentlich aufgeblasen, aber für zwanzig von ihnen erhält man immer noch ein sehr gutes Mahl, inclusive Wein, nicht gerade ein Grand Cru, aber immer ein angenehmer, schmackhafter Verschnitt. In Frankreich gibt man sich ohnehin nicht dieser deutschen Hysterie des Weines hin. Allenfalls zu einer grande Fête, wenn auch nicht nur zur nationale. Mehr als ein, zwei kleine Ballons braucht es in der Regel auch nicht zum Essen. Wasser gibt es ohnehin und überall kostenlos, jedenfalls außerhalb der überwiegend touristisch frequentierten Orte, während man beim rechtsrheinischen Nachbarn grundsätzlich scheel angeguckt wird, bittet man um Wasser aus dem städtischen Brunnen oder schlicht aus dem Hahn. Das hat allerdings auch damit zu tun, daß Eau gazeuse, mit Kohlensäure versetztes Wasser im Land nicht zu den bevorzugten Durstlöschern gehört. Dafür muß man dann nicht eben wenig bezahlen. Auch fühle ich mich an blanken Holztischen wohler als an weißgedeckten mit zudem oft unbenutzbaren, weil versteiften, nach dem Prinzip japanischer Faltkunst Origami hochgezirkelten Servietten, die obendrein meist noch mit Kerzen und bunten Blümchen zudekoriert sind, hinter denen man seine Gesprächspartner, die nunmal zum angenehmen Speisen gehören, nicht einmal mehr zu ahnen, geschweige denn zu hören vermag. Das gibt's durchaus auch großstädtisch. Banquier in Paris wäre zu nennen, wo man zwar nicht mehr so sensationell wie vor gut zwanzig Jahren zu essen bekommt, aber immer noch für deutsche Verhältnisse überdurchschnittlich gut und vor allen Dingen zu einem Preis, hinter dem so mancher Bratklopser zu rätseln beginnt.

In guter Erinnerung, wenn auch bei weitem nicht so preiswert, ist mir auch die Berliner Weinstube am Savignyplatz, die es in der Form allerdings leider nicht mehr gibt, da Yves Risachèr sich bereits vor einiger Zeit zurückgezogen hat. Er hatte es wie ich nicht so mit der Heimat Elsaß, er nannte sich lieber einen Pariser, aber der von ihm selbst ausgesuchte und dort persönlich einmal jährlich abgeholte Riesling schmeckte weitaus schwungvoller als in den dortigen Touristenbudicken, etwa in diesem unsäglichen Barr, aus dem allüberall Weinrentner quellen. Seinen Nachfolger kenne ich nicht. Er führt den Namen seines Vorgängers im Aushängeschild. Aber die Karte sieht nicht überladen aus, und auch der mir einst gereichte Moulis von Barbarin, der sich noch immer wohlig in meinen Geschmacksnerven räkelt, scheint sich noch im Lager zu befinden. Es gehörte zu den von mir an sich nicht sonderlich gemochten Ritualen, dort einzukehren, in der Gewißheit, samt gutem Wein essen zu können wie in einem dieser erwähnten französischen Landgasthöfe oder auch innerstädtischen wie dem in Nancy, ganz in der Nähe der Place Stanislas, wo man sich von den vielen Kellnern behandelt fühlt wie dirigiert von Madame aus der Kolonialzeit, die jedoch gekennzeichnet sind von blanken Holztischen und von mittäglich drei angebotenen Menus mit vier bis sechs Gängen. Am Abend ist das Angebot erweitert wie bei den Stationen der Wiederaufpäppelung für die Handwerker auch.
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Von einer Einkehrung der besonderen Art auch in deutschen Landen, die sich mal mit «frisch auf den Tisch» brüsteten, mag ich berichten. Allerdings bin ich auch dort, wie bei meinen Teilhaben an der französischen Ärmerenspeisung, hineingeraten, ohne die eigene passable Spürnase für Witterungen der gastronomischen Seltsamkeiten ingang setzen zu müssen. Ernährungstechnische Orts- beziehungsweise Regionkenntnisse von Einheimischen sind mir ohnehin nach wie vor allemale mehr wert als jeder noch so jubelige internette Hinweis, der überdies allzuoft von fast schon komischen Geschmacksverirrungen bestimmt ist. Ein Freund, allerdings einer, der von der Macht des Essen beseelt ist und der mir lange Zeit so etwas wie ein kulinarischer Blindenhund war, führte mich in seiner heimatlichen Pfalz in ein dörfliches Wirtshaus im Großraum Speyer. Spargel sollte ich beim dortigen Bauern zunächst lediglich betrachten und beschnuppern. Dann meinte er, auf einen Schoppen, das heißt dort ein riesiges Glas, fast so groß wie die bayerische Halbe, meistens von der erfrischenden Rieslingrebe, könne man ja wohl reingehen in die Stube. Um meine Abneigung gegen Interieur aus Resopalien und sonstigen derben Gestaltungsvorstellungen wissend, warnte er mich vor. Es würde mir garantiert nicht gefallen. Also Augen zu und hinein. Um nicht allzu unhöflich zu sein, öffnete ich ein Auge dann doch leicht, gab der vermutlich vom frühmorgendlichen Spargelstechen und überhaupt auch ein bißchen anders ziemlich eingedreckten, allerdings zwanglos freundlichen Wirtin zurückhaltend artig das Händchen und hörte den beiden zu. Sprechen konnte ich nicht, nicht nur, weil ich den wie aus dem achtzehnten Jahrhundert klingenden Dialekt, vergleichbar mit dem in abgelegenen Gebieten teilweise heute noch gesprochenen Français canadien — bei der Gelegenheit fällt mir das erwähnte Sprachproblem ein, wie im Land von jemandem gesagt wird, der gebrochen französisch spricht: parler français comme une vache espagnole — der Ersteinwanderer, nicht verstand, den die Frau des Hauses und mein Blindenhund bellten, sondern weil mir die außerordentliche Häßlichkeit des Raumes den Atem nahm, der mit der ersten Anschauung des Banquier vergleichbar ist, vervollständigt vom Blick in die fast genauso wie die Hausfrau verdreckte Küche.

Nie würde ich dort essen wollen, waren meine abschließend zusammenfassenden Gedanken, als mein Begleiter, der, wie unser Jüngster, der auch mit mittlerweile Mitte zwanzig noch alle zwanzig Minuten etwas Warmes in den Bauch braucht, sich nach dem Tagesangebot für den Mittagstisch erkundigte. Wortlos stand die Köchin auf, ging in ihr Revier und kam eine halbe Stunde später zurück mit drei Schüsseln, inhaltlich bestehend aus, wie anders, Spargel, Kartoffeln und Sauce. Daß das Gemüse gut schmecken würde, war mir klar, schließlich kaufte der befreundete Gourmet und Gourmand gleichermaßen den Asparagus nur dort ein. Aber bereits die Erdapfeln, auch die aus eigenem Anbau, verschafften mir ein außerordentliches, ein geradezu himmlisches Erlebnis des Geschmacks. Aber die Sauce hollandaise, die war nicht anders zu bezeichnen als mit einem lang anhaltenden Coitus, dessen interruptus erst dann erfolgte, als auch das allerletzte Restchen vom Teller geleckt war. Ja, mein Blindenhund ging ungeniert mit den Fingern in die Saucière, und als ich das freudige Lächeln der an den Ausschank lehnenden Frau Wirtin sah, vergaß auch ich all das, mit dem man mich im Elternhaus nahe der Todestrafe gelehrt hatte für den Fall von solchem comportement sans-gêne, das im deutschsprachigen Internet auch unter falscher Etikette kursiert. Wann auch immer ich zur entsprechenden (Jahres-)Zeit mich zu Besuch beim Freund befand, ich hatte Verlangen nach dieser eigentlich unmöglichen Umgebung. Auf jeden Fall hat es mich gelehrt, Äußerlichkeiten hin und wieder einfach zu ignorieren.

Das Negativbeispiel aus der Perspektive der sogenannten Verbraucher, die über die Macht der das Angebot regelnden Nachfrage verfügen, ist das eines Gasthauses im Südholsteinischen. Ein aus der Nachbarschaft Zugezogener hatte ein nahezu verrottetes Haus am Ortsrand gekauft, es über die Dauer eines Jahres mit leidenschaftlicher Inbrunst wieder aufgerichet, es gediegen handwerklich ausgestattet, um dort am Bach endlich einmal wirklich gute Küche anzubieten. Sogar einen hervorragenden, also gewiß nicht eben billigen Koch hatte er engagiert. In den Anfängen war es durchaus eine Lust, dort hinzugehen, auch mit dem Maître de plaisir über das zu plaudern, was an Besonderheiten oder auch einstigen, von Oma nicht mehr gelehrten, weil das vom Altenheim aus nicht mehr so funktioniert, Alltäglichkeiten in der Küche geschieht; ich gehöre durchaus zu denen, die beim Essen stundenlang über nichts anderes sprechen wollen als über das Essen. Es lief nicht, das Gasthaus. Selbst die Wildsülze, deren Säue der Wirt sogar persönlich erlegt hatte, auch die handgefangenen Fische fanden keine Gnade vor den Gaumen der Einheimischen, der Koch hatte längst reißaus genommen. Es war ihnen nicht einmal zu überkandidelt, es war ihnen schlicht alles zu teuer, da setzten sie sich lieber in den eigenhändig zubetonierten und grüngestrichenen Garten — Kneipensterben ist nicht nur eine Folge des Fernsehens und des sonstigen nachfolgenden Medienangebots — und ließen sich, um nicht selber kochen zu müssen, vom ortsansässig gewordenen «Inder» mit internationaler Küche versorgen. Über die Tatsache, daß sie dafür häufig mehr hinblättern mußten als auf den Tresen des bei weitem nicht so schmuddeligen und lieblosen Wirtes, machten sie sich keine weiteren Gedanken. Der hat sein gastliches Haus mittlerweile nur noch an Wochenden geöffnet und bietet, vor allem für die die kurvige Strecken der Umgebung liebenden Motorradfahrer aus Hamburg bis Kiel, gigantisch gefüllte Teller mit Currywurst und Fritten aus der Großpackung; früher schnitzte die sein Koch selber. Im Sommer gibt's als Nachtisch Eiscrème vom Billigheimer, allenfalls ein wenig aufgehübscht mit Früchten, aber nicht einmal vom Erdbeerbauern aus dem Ort, sondern aus der Dose.

Der Bach


an der Gaststätte hörte auf zu plätschern, zog sich zurück, und die Bäume starben ab, da auch die Einheimischen nicht fremdartig restauriert werden wollten. Was der Bauer nicht kennt, das frißt er nicht.
 
Do, 21.06.2012 |  link | (1968) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Ein gastronomisches Erlebnis

mag solch ein Pomp and Circumstances für manche durchaus sein, dieses höher, am höchsten. Daß es dabei überwiegend um die höchsten Gewinne der jener Wirte geht, die keine dieser Schmarotzer mehr zuzulassen gewillt sind, die sich stundenlang an einem ärmlichen Glas Bier oder an einer Tasse Kaffee festklammern, scheint immer weniger Menschen zu berühren. Das Volk wünscht zusehends Zirkusartistik der gehobenen Art. Selbst in der Masse wollen sich diese geistigen Lieschens und Fritzchens ihre Sonderheit belegt wissen. «Normale» Volksversammlungen ließen sich in den geschichtlichen Blickpunkt rücken, etwa Dorffeste wie Kirmes oder ursprünglich Kermesse, während der das fröhliche Gemeinwohl im Vordergrund stand, bei dem nebenbei auch mit Stahlkugeln auf zuvor ausgetrunkene Flaschen geworfen werden durfte. Doch solche dürftigen Festivitäten haben offenbar endgültig ausgedient. Es möge das besondere Spectaculum sein, wie etwa in speziellen, nur durch Reservierung besetzbaren Zelten auf der Wiesn. Es muß der vielzitierte Sozialneid sein, der mir aus meinem überhitzten Gehirn auf die Tastatur tropft.

Mir fallen beispielsweise die Weißen Feste in Paris ein. Damit meine ich weniger eine Nachbildung der legendären Faschingsveranstaltungen in München als vielmehr ein auch bekleidungstechnisch uniformer Ausweis der Besserverdienenden oder solcher, die's gerne wären, also diejenigen, die samt ihrem UMP-Oberkaspar gerade eine ordentliche Abfuhr erteilt bekommen haben im Land, dessen Jeunesse sich seit Jahren, Jahrzehnten immer wieder auf der Place de la Concorde, der Terrasse des Palais de Chaillot oder dem Innenhof des einst höfischen Louvre und zum zwanzigsten Jahrestag entlang der Champs-Élysées zusammensetzt, der einst von großbürgerlicher Eleganz geprägten und vermutlich mittlerweile größten und damit ärgsten Tourismusmeile Europas, oder zuletzt auf der Place des Voges. Sie hat die Grenzen des Bois de Boulogne überschritten und ist, vermutlich im schwarzen BMW-Cabriolet, mittlerweile bis Berlin und gar nach Osnabrück gelangt. Dort machen sie sich holzbänkisch veredelt breit, um auf ihren besonderen Geschmack nicht nur in Speis und Trank hinzuweisen, weiter östlich von Versailles vermutlich bei Currywurst. Ich nehme an, daß diese ungewöhnlich spontanen Verabredungen zu diesem flashigen Mob, unter dem ich Ewiggestriger, den Volkslexikalisten zustimmend, immer noch die «aufgewiegelte Volksmenge, eine Masse aus Personen des einfachen Volkes bzw. eine sich zusammenrottende Menschenmenge mit überwiegend niedrigem Bildungs- und Sozialniveau (abwertend auch gemeines Volk, Pöbel, Plebs, Gesindel, Pulk, Schar genannt)» verstehe, ausschließlich per EiPhone und/oder gleichmarkigem Pad et cetera zulässig sind, da der ausgesuchte Geschmack, mit dem diese Massenindividualität einhergeht, ausgewiesen sein möchte. In den Achtzigern habe ich ihn sogar im Zentrum Dortmunds von Paris aus heranlüfteln sehen, diesen Kraftodel der Erben. Die nachgewachsenen Schranzen hier der dortigen Hochofenbarone haben sich auf schier unglaubliche Weise multipliziert. Es existiert mittlerweile offenbar eine unerschöpfliche Masse, die zu vereinigen sich gedenkt. Zwar ist jeder zugelassen, doch das seit der europäischen, in Deutschland radikaler als anderswo umgesetzten Bildungsoffensive titels Bachelor zunehmend abnehmende Völkische möchte, sobald man sich mittendrin in der Noblesse oblige befindet, das konsequenterweise auch in meiner Bestsellerliste ganz weit oben steht, fast bis an das Phänomen anderer Verblendungen hinreichend, dann doch irgendwie auch wieder unter sich bleiben, ohne Pöbel, Plebs, Gesindel, Pulk, gemeines Volk und Schar. In einer solchen ist selbst der kleinste Zwitscherer ein Star.

Aber wirklich gemein möchte niemand mehr sein. Umgangssprachlich ist das Gemein-Sein längst zum Synonym für die kleine Böswilligkeit geraten, zur Anschuldigung aus wohl auch der verbalen Perspektive des Unterstands, hervorgegangen aus niederer Bildung. Niederwild durften zur Hochzeit des Adels nur diejenigen jagen, die sich an der untersten Stufe der blaublütigen Gemeinschaft befanden. Das Hochwild gehörte den Oberen des Standes. Das sind diejenigen, die auf den grünen Hügel, den Olymp des Gesamtkunstwerks eilen, unter ihnen einige wenige nicht so blauen Blutes, die dafür den Schal des Feuilletons am Wehen halten. Die beschreiben als chronistische Bewahrer Weg und Fortgang der Hochkultur.

«Kunst, Kultur und Schönheit eine Abfuhr erteilen!» eröffnet (Dank an die Kopfschüttlerin) der Tagespiegel sein Torte, Tip, Tingeltangel. Es sei «laut Prinzipal Holger Klotzbach, 61, das erklärte Anfangskonzept der Bar jeder Vernunft» gewesen. Ein letztes Aufbäumen der Blattkritik noch: «Aber — und jetzt grinst er — so ganz habe das dann doch nicht geklappt.» Und dann verschwindet jeder Einwand hinter nostalgischer, also verklärender Erinnerung. Man mag wohl keine (Anzeigen-)Kunden vergraulen. Es darf jedoch auch angenommen werden, daß die Redaktion diesem theatralischen Gemisch insgesamt unvoreingenommen gegenübersteht. Auch die wird schließlich immer jünger und erteilt sach- und fachgemäß nicht mehr dem eine Abfuhr, was sich einst abhob von denen da oben auf ihrem Hochsitz. Schließlich sitzt man selber obenauf.

Kultur ist nach meinem Oberlehrer Brockhaus zwar unverändert die Gesamtheit der Lebensäußerungen eines Volkes. Aber das deutsche will nunmal keinen Porsche fahrenden und auch noch gerne gut essenden Sozialisten, es will überhaupt keinen Sozialismus in der Demokratie, wie sich das bei diesen Nachbarn, die genau wie die anderen Südländer dahinfaulen, abzuzeichnen scheint. Solche Leute können nicht mit Geld umgehen, das ist sattsam bekannt. Die bibelnäheren Hugenotten, letztlich neuzeitliche Schöpfer der alles erlösenden Märkte, werden schon wissen, warum sie von dort abgehauen sind. Man will's und soll's nunmal einfach besser haben als die Alten vor den Achtundsechzigern. Die hatten schon ihre Toskana mit ihrem Wein, Spaghetti und überhaupt diesem Armenfraß. Sollen die doch zurückkehren an ihren Wirthaustisch, in den erlebnislosen Biergarten, zu ihrem Hier können Familien Kaffee kochen. Das neue, das junge Volk aber will ein mehrgängiges Menu, auf jeden Fall Champagner und Hummer, wie diese Franzosen, nur eben anders: perlenschäumenden Rebenwein von der englischen Insel und Kamtschatkakrabben. Daß Stalin die eingesetzt hat, um das arme Volk zu ernähren, macht die Angelegenheit nur pikanter. Das unterseeische Geschlibber und ihre Froschschenkel sollen die Franzmänner und deren Weiber selber schlucken. Das ist nämlich Tierquälerei.

Nun gut, nur einfach so zu essen beim Zusammensitzen, das ist ein schon langweilig. Zuhause läuft schließlich während des Abendmahls auch die (global-)europäische Alltagsästhetik der Fußballheroen mit, deren besten sich mit Tütensuppen und Kartoffelchips wohl ernähren. Ein wenig Abwechslung möchte also schon sein, sei es der Kitzel durch einen hochfliegenden Artisten ohne Trapez oder mittels ein paar im Labor gezüchteten weißen Mäuse, die man formvollendet sexy Tango tanzen gelehrt hat, bei artgerechter Haltung selbstverständlich. Die Argentinier haben es ja auch aus der Armseligkeit dieser Zeit geschafft. Die tanzen den sogar mittlerweile selber.

Ach, mir schwinden die Wortkräfte. Ich bin wohl auch zu alt für derartige geistige Ertüchtigungen. Es scheint vorteilhafter, zurückzukehren an meinen Platz im zirkusfreien Altenheim:


 
Di, 19.06.2012 |  link | (2201) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Auf'd Leich

Sie müssen mal wieder herhalten, lieber Enzoo. Zum einen als Abdecker, zumindest als Verdränger in den Hintergrund dieser vorgestrigen Banalität Mutter Kraft — allein der Teufel weiß, warum ich mich ausgerechnet dazu habe hinreißen lassen und nicht etwa vom Fußball, der mich zwar eigentlich genausowenig interessiert wie Nordrhein-Westfalen, aber wenigstens begeisternd sein kann —, und zum anderen als Hochtreiber meiner Einschaltquoten, denn wenn Sie zu erzählen angehoben haben, gehen meine Klickzahlen himmelwärts wie an der Börse, nachdem sie erfahren hat, daß der paradiesische Apfelvertreiber sich «meinen», seit Jahrzehnten geschätzten Fernsehloewen einverleiben will. Außerdem begleiten Sie oft so angenehm meine Parallelwelt, hier der Musik, als sängen Sie wie meine Lieblingschansonette Enzo Enzo: ganz leicht nur, als ob's die Schwebe wäre, leise, aber eben doch hinterlistigst vertrackt.

Auf 'd Leich also geht man auch in Bayern unweit Österreichs, einige Leichen habe ich versoffen dort im Lauf von rund dreißig Jahren Leichenbeschau im Umland von Isar-Athen. Meist ging's ganz lustig zu dabei, besser: danach. Schweinsbraten gab's meistens, mit Knödeln, nicht nur auf dem Land, auch im größten Dorf der Welt; in dessen Randbereich benutzte man die runden Beilagen hingegen meist als Waffe, Diesen Braten konnte man mal überall essen, sogar relativ zentral gelegen in der Kanalstraße nahe dem Isartor in der weiß-blauen Metropole gab's mal einen wirklich nicht nur guten, sondern mit rund sieben Mark auch noch preiswerten. Nicht nur deshalb bin ich dort des öfteren eingekehrt, bei einer Halben oder zwei, auch weil es dort so eine gemütliche Bedienung gab, die etwas anderes Mütterliches hatte als das, was man heutztage darunter versteht. Neudeutsch heißt so etwas Lunch Location, dahin tät' ich nimmer gehen. Aber meine letzten Toten dort liegen ohnehin schon etwas länger (zurück).

Ich habe auch für meinen Rest innerlich nahe am Wasser oder zunächst am Sand gebaut, will also auch als letzten Gang den ins Meer nehmen, am liebsten am Stück, wie weiland Werner Koch ins schwäbische Meer. Die vielen Fische, die ich genossen habe, mochte ich schließlich auch im ganzen und nicht etwa als Stäbchen oder gar — Frau Braggelmann erzählt immer wieder quälerische Kindheitsgeschichten davon, als zerstückelte Variationen in Senfsauce. Die Fischlein mögen ruhig am mir herumknabbern. Es dürfte mein letzter Kitzel sein, den ich erfahre oder, wer weiß das schon vorher schon so genau, genieße, weil's lauter junge Frauen aus dem Meereshimmel sind. Mir ist ohnehin unverständlich, weshalb die meisten Menschen sich eingegraben wissen wollen, obwohl sie doch höchstprozentig aus Wasser bestehen und zu dem auch immerzu hinwollen in ihren Wohnwagen oder mit diesen fliegenden Sardinenbüchsen, um zu Backfisch-Mutanten zu mutieren. Möglicherweise fühlen sie sich in ihrem Glauben gestärkt, auch in dem des Endes, in der Erde würde man ihnen ihre Altmodigkeit nicht mehr ansehen, wollen verbergen, daß sie selbst einmal Meerbewohner waren und nur deshalb erst in seichtes Wasser in Strandnähe und letztendlich mühevoll auf ihren Flossen an Land gegangen sind, um sich vor den Raubfischen zu retten. Daß sie jetzt dort von Haien gefressen werden, ist ihnen wohl peinlich.

Der guten alten Tante Joleschs Leiche, Sie haben's wohl antizipierend geahnt, ist tatsächlich im Verborgenen geblieben. Bei Karton vier von (immer noch, niemand will mehr Bücher haben) vierzig bis sechzig (?) hat mich die Lust an der Archäologie verlassen. Aber einen Martin Buber habe ich mitgenommen aus diesem großen Ausgrabungsloch: Die Erzählungen der Chassidim, in einer meinem Geburtsjahr etwas näheren, womöglich zugeneigteren Fassung, in der von 1949 (auch ich hatte mal ein Hobby, das Sammeln von Erstausgaben, die ich normalerweise etwas lieblicher behandele, in dem ich sie kühl und trocken lagere, in diesem Fall habe ich also zufällig eine Leiche gerettet, die ich jetzt lesend wiederbeleben werde). Da stehen auch komische Sachen drinnen, in etwa die nacherzählten Urmythen des immer wieder aufgegriffenen ewigen Gültigen aus dem Schtetl. Aber auch Besinnliches, wie dieses da:
Ein Spielmann spielte Rabbi Chanoch vor. Der sagte: Auch Melodien, die altern, verlieren den Geschmack. Diese hat uns vormals, als sie bei Rabbi Dunam gespielt wurde, das Herz erhoben. Jetzt ist ihr Geschmack verlorengegangen. So ist es in Wahrheit. Man muß sich auf das Alter sehr rüsten und bereiten. Wir beten: Wirf uns nicht hinweg zur Zeit des Alters! Denn dann geht der Geschmack verloren. Aber zuweilen ist gerade dies das Gute. Denn sehe ich, daß ich nach allem, was ich getan habe, gar nichts bin, so muß ich eben von neuem zu arbeiten beginnen.
Das Altern
Den Teufel werde ich tun. Ich gehe lieber baden.

Nach Amazonien gehe ich grundsätzlich nicht, eher an den Amanzonas, um mich von gefräßigen Raubfischen fressen zu lassen, die sind mir allemale lieber als diese alle Welt fressenden Haie. Ich kann diesen Buchhandelstöter nicht ausstehen, wie die ganzen anderen Internetten auch nicht, die mir meinen gemütlichen Einzelhandel kaputtmachen. Aber ich als relativer Methusalem vorm demnächstigen Ableben trage die Berechtigung dazu schließlich in mir. Ich bin schließlich nicht mehr von diesem Leben.

Nicht einmal mehr richtig internetten, das zum Schluß, aber nicht zuletzt, kann ich, da ich über einen derart altertümlichen, bereits verfaulenden PowerPC-Apfel aus dem Jahr 2006 verfüge,


der von der Weichwarenindustrie nicht mehr bedient, vervollständigt wird. Kein Support mehr für Leichen wie mich, hieß es bei denen, weil ich mal ein Filmchen aus der Tube kucken wollte und zuvor entzuckeln mußte. Wer jetzt nicht piratisch zuckt, der wird nimmermehr frischgemacht. Nicht nur essen und trinken auf 'd Leich' oder eine letzte Zigarette kann tödlich sein. Wer derart abgehängt ist vom Versatzstück der Verwertungs-Resterampe aus der philosophischen Welt, von diesem Alles fließt der nach immer scheinbar Neuem drängenden elektronischen Welt, der hat eben keine Daseinsberechtigung. Auch der Holeczek-Aphorismus ist ja sowas von tot. Alle Lichter gehen aus, mittlerweile auch die der einstmals glühenden Lampen. Als Ersatz für die gibt's nur Funzeln, die obendrein noch hochgiftig sind, weshalb sie sie wohl alle haben wollen, aber vermutlich in erster Linie wegen des Neuesten vom Neuen, dem hochaktuellen Lieblingswort, an das man sie endlich gewöhnt hat: sparen. Energie sparen. Auch wenn's doppelt soviel oder mehr noch kostet. Die will ich auch nicht, für den Rest nehme ich ich Reste aus meiner Eichhörnchen-Beschaffungsmaßnahme; solch ein Dachboden lagert nicht nur antike Bleiwüsten. Dann gehe ich eben probeliegen, an der Badewanne, und sei es mit Kerzen, die die Höhlen der Calanques zwischen Marseille und Cassis ausleuchten. Aber zunächst mal auf mein sanftrotes, besser bourgognefarbenes Sofa aus spanischer Eiche, das nicht als Riocha-Barrique berauscht ersaufen wollte. Ein bißchen kurz, aber fürs Rentier-Nickerchen geht's.
 
Di, 15.05.2012 |  link | (2698) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Hauptsache Labskaus

Da es sich um einen anderen Sektor der Überlebensmittelkunde handelt, sei der Antwort auf Enzoos Burenwurst bzw. dessen Weltreisegelüste eine gesonderte Seite meiner Kladde gewidmet. Sie mag eine Art Orientierungshilfe, wenngleich eine sehr viel schlichtere sein als der Reiseführer der einzigartigen harten Maria.

Den Magen umgedreht hat's Ihnen anscheinend bereits mit Labskaus. Ich mag den recht gerne, wobei es allerdings darauf ankommt, wie er zubereitet wird. Mir wurde schon welcher serviert, der mit meinem Geschmacksempfinden nicht so recht harmonieren wollte. Der mir wohlschmeckenste wurde mir auf einer Fähre gereicht. Das scheinbar undefinierbare Gemisch mundete mir derart, daß ich vor lauter Begeisterung der Wyker Dampfschiffsreederei ein Dankesschreiben schickte, mit dem Antwortergebnis des Rezepts durch den Captain persönlich, der nach eigenem Bekunden früher mal als Smutje zur See gefahren war. Das eines anderen ehemaligen Schiffskochs hingegen mochte ich nicht sonderlich. Es mag daran gelegen haben, daß der bereits zu lange an Land war und obendrein seine eigene Wirtshausküche bekochte. Vermutlich hat er sich dem vermeintlichen Geschmack seiner Logisgäste angepaßt und viel zu frische Grundzutaten verwendet. Auf der tosenden See gab's nach Wochen nunmal auch keine frisch geschlachtete unheilige Kuh mehr, uraltes Pökelfleisch, allenfalls ersatzweise Corned Beef ist wohl nach wie vor der maßgebliche Geschmacksträger für labs kausis in der lettischen oder labas káuszas in der litauischen Sprache, was gute Schüssel bedeutet, also sind Beigaben wie Spiegel- oder Bratei, wie man nahe dem mit dem westlicher gelegenen Ostfriesland sprachlich verwandten Mare Balticum dazu sagt, vernachlässigbar, etwa wie die Salatgarnitur beim Zigeunerschnitzel, das häufig von ähnlicher Konsistenz ist. — Nach des Captains Rezept habe ich's selber nie versucht. Lieber bin ich wieder und wieder an die Nordsee gefahren und habe mich übersetzen lassen auf eine der Inseln der Glückseligkeit, die mich einkreisendes Wasser ausmacht. Als dann irgendwann erfahrener Fährschiffpassant versuchte ich ohnehin meist, unter behutsamen Annäherungsversuchen wie bei Bordratten und kleinen Kindern, die jeweilige Brücke zu entern und den Kapitän auszuhorchen. Die Lehre der dazu erforderlichen, wegen drohenden Dampferverweises bis hin zum Überbordgehen nicht ganz ungefährlichen Taktiken verdanke ich einem Freund.

Das wäre überhaupt meine erste Empfehlung. Am besten versuchen Sie zunächst die sozialen Netze auf ihre adjektive Richtigkeit hin zu prüfen und im besten Fall einen Freund und damit das Glück zu finden wie einst ich, wenn dies auch auf analoge Weise geschah.1 Mitte der Achtziger hielt ich mich für längere Zeit in Nordfriesland auf, da mich ein aus München dorthin umgesiedelter Freund gebeten hatte, einen kritischen Blick auf sein neuestes Buch zu werfen. Es war nicht wirklich Arbeit, also war ausreichend Zeit für Ausflüge. So kam ich auf Nordstrand mit einem Mann ins Gespräch, Betreiber eines, ich nehme das Ausrufezeichen vorweg, Imbißwagens, der, wie sich im Verlauf der längeren Plauderei herausstellte, im Zentrum der Weltstadt (seinerzeit der älteste Puff der Region, eine Restranderscheing, also eine Überbleibsel des dortigen, einst größten nordeuropäischen Viehmarktes) Husum zudem Eigner einer, doppelte Ausrufzeichenvor-wegnahme, Imbißbude war.2

Die Sympathie zu diesem Fischkopp ging soweit, daß ich nach dieser Begegnung täglich nach Nordstrand hinausfuhr, um mit ihm mein Dauerschwätzchen fortzusetzen, das diese neu gewonnene Freundschaft festigte (und lange Zeit, bis zu seinem Ende, anhielt). Sogar die via Autoradio übertragene Sensationsfolge des seinerzeit kommenden Wimbledon-Siegers geriet bei unseren Gesprächen über Fisch und die Welt ins Hintertreffen. Letztere bedeutete ihm in außerordentlichem Ausmaß das Münchner Oktoberfest, zu dem er sich alljährlich mit dem Motorrad aufmachte, und zu dem er sich von mir als Ortsansässigem intime Kenntnisse erhöffte. Daß ich ihm allenfalls etwas vom Steckerl-, also banalen Süßwasserfisch erzählen konnte, focht die sich vertiefende Freundschaft nicht an. Als ich eines späten Nachmittags nach neuerlichen Stunden der Gewässerkunde sowie nach bereits pfundweise vertilgtem Fisch aller Art auch noch einen geräucherten Aal mitnehmen wollte, um meinen Gastgebern auch mal was Gutes zu tun, und mit dem Finger auf einen bestimmten zeigte, winkte er ab und sagte mir: Nein, den kriegst du nicht, der ist für die Pappnasen. Das waren zu dieser Zeit und in seiner Sprachbildnerei die Touristen. Ich war somit als Einheimischer deklariert und sozusagen gelandadelt. Er bedeutete mir, am nächsten Tag kämen frische Fische aus der Räucherei. Daran hätte mein Magen dann Freude. Das macht Freunde. Dieser eine hat mich noch in so manche Besonderheit seiner nordfriesischen Heimat eingewiesen, zum Beispiel, wo man im Städtchen den feinsten Pharisäer oder den besten Tee bekäme. Das hat jeweils mit Alkohol zu tun. Im ersten Fall mit dem im Kaffee, im zweiten damit, wer mit den geringsten Tropfen den Köm in der Teetasse am wenigsten verdirbt.

So kann ich im Festnahrungsbereich neben Labskaus, insofern der als fest oder Fest bezeichnet werden darf, immer nur Fisch empfehlen. Morgens, mittags, abends, auch als Zwischenmahlzeit. Ein ostfriesischer Knurrhahn namens Werner hielt einmal fest: «Schollen schmecken, auch kalt, zum Frühstück wunderbar.» Als Imbiß morgens, mittags, abends empfehle ich Krabben. Dabei sollten Sie darauf achten beziehungsweise nur dorthin fahren, wo Sie diese auch erhalten. Denn immer häufiger kommt mir zu Ohren, daß an strändlichen Imbißbuden mit der Aufschrift Original Büsumer Krabben tatsächlich thailändische Zuchtgarnelen verkauft werden. Sie sollten also besser nicht als moderner Unruhreisender die Küste abschippern, sondern es dürfte sich als vorteilhaft erweisen, für längere Zeit an einem stillen Ort zu verweilen. Nur so dürfte es Ihnen wie mir gelingen, Freunde oder für den Anfang zumindest gute Bekannte zu finden, die Ihnen nach behutsamer Annäherung Zugang zu den Brücken gewähren, die auf Ihre Bitte hin den Pappnasen der unausrottbaren Mentalität Butterfahrt mal ordentlich den Magen umdrehen, indem der Captain den Kahn mal breitseits der Wellen steuert und ihn so richtig rollen läßt, auf daß diese Leute fortan die Fahrt nach Helgoland oder eine andere Insel oder vielleicht gar die gesamte Nord- und Ostseeküste meiden, Menschen kennenlernen, die Ihnen aquakulturellen Pangasius nicht als feinste Nordseescholle an original friesischen, tatsächlich aus Monsantien stammenden Bratkartoffeln servieren und ganz billigen Korn nicht als Köm kredenzen. — Sie können ja problemlos immer wieder und wieder hinfahren. Sollten Sie allerdings die Welt retten, also wilden Fisch aus der Hochsee vermeiden wollen, dann bleiben Sie, den apokalyptischen Medienberichten zufolge, besser in Wien, besuchen die Seemuse, gehen ein bißchen angeln und essen dazu Erdapfelsalat.

Ohnehin muß ich bei alldem eingestehen, nicht wirklich eine aktuelle Empfehlung aussprechen zu können, da auch ich nicht mehr allzu häufig an die Nord-- und trotz der Nähe an die Ostsee fahre, geschweige denn längere Zeit an einem Ort der Suche nach dem dortigen Menschen verweile. Meine alten Freundschaften an und auf der hohen See sind also allesamt ziemlich verwässert, die neueren leben nunmal an der Badewanne des Südens. So bleibt mir einzig der Tip: Sie fahren nach Marseille und nehmen bei Toinou etwas Leckeres, das auch aus dem Meer kommt, aber eben eher weniger aus der Nordsee: bildhafte fruit de mer.


1 Dieser Tage erklärte mir ein ausgewiesener, also zu recht so genannter Fachmann des Gehirns, alles, auch das Digitale, entstünde beziehungsweise würde analog verarbeitet; das mag für Sie als andersgelagerter Experte schmerzlich sein, aber ich war nach dieser fundierten Aussage mit der Welt wieder einigermaßen versöhnt.

2 Ich muß die Vergangenheit in doppeltem Sinn bemühen, da er sich ein paar Jahre später selber ins Jenseits beförderte. Über die Gründe mochte ich nie spekulieren, hat beipielsweise Ihr Landsmann Jean Amery Jahrzehnte wachsenden Bewußtseins gebraucht, sich tatsächlich ein Ende zu setzen: er hat beeindruckend den Unterschied zwischen Suizidär und Suizidant dargestellt.

 
Mi, 25.04.2012 |  link | (2873) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Hauptsache Currywurst

Ich mag keine Currywurst. Ich mag keine Currywurst mehr. Das verlangt Präzisierung. Alfons Schuhbeck darf mir dabei assistieren.

Der einstige Heroe der Rührung gegen die Tütensuppe erklärte dieser Tage ein paar unentwegten Verfechtern des immerguten Alten, weshalb man die Weißwurscht gar nimmer zutzeln könne, da sie eine völlig andere, sehr viel festere Konsistenz habe als in früheren Zeiten, zu denen sie das Zwölf-Uhr-Läuten nicht erleben durfte, im Magen verschwunden sein mußte, weil sie in besagten guten alten Zeiten gegen Mittags verdorben sein würde. Überhaupt erläuterte er unterhaltsam aufklärend vor kleinem Publikum mit vielen Zuschauern, die wiederbelebte und mittlerweile in bescheidenen Massen im Umlauf befindliche Küche von Omi sei an Tageszeiten beziehungsweise saisonal orientiert gewesen, und was an Maßnahmen über diese zeitlichen Richtlinien hinausgehe, habe der Erhaltung der Produkte gedient. Der Sauerbraten beispielsweise entstand nur deshalb, da das Fleisch haltbar gemacht werden mußte. Böfflamotte, aus dem französischen Boeuf à la Mode gemischt, ist ein weiteres Zeichen der Haltbarmachung oder Verweichlichung durch Salzlake. Salz und Essig waren also Omis — vielleicht wäre es zeitlich genauer, Uromi abzurufen oder auch zu renaissancieren, da deren Tochter Großmutters Enkel geschmacklich längst auf die unerläßliche Beigabe zum alltäglichen Kilo Rinder- oder Schweinebraten eingestimmt hat: die Sauce aus der Packung.

Diese Mittel, das Mindesthaltbarkeitsdatum vorwegzunehmen, sind also nicht mehr erforderlich. Das im Supermarkt und nicht beim Erzeuger oder wenigstens beim vertrauensvollen Schlachter gekaufte Fleisch sollte man ohnehin am besten gleich ins Klo kippen, auf daß wenigstens die lieben Haustierchen in der Kloake noch ein bißchen Freude am Leben haben. Man kann also durchaus auf Versalz- oder Essigung verzichten und dafür Wein hernehmen. Der irritiert zwar die an das von den wochenendlichen Besuchen bei Uromi altgewohnte Geschmacksnerven, kann ihnen jedoch im positiven Fall eine neue Orientierung geben. Als ich vor etwa zehn Jahren antrat, junge Menschen das Fürchten inform des neuen Schmeckens zu lehren, wollte anfänglich zwar nur einer den Kopf nicht mehr aus dem Topf nehmen, aber mittlerweile nehmen sie alle den Lebenssaft wenigstens zur Parfümierung des Fleisches, und auch den Kenntnisstand über Kräuter ud Gewürze haben sie über Pfeffer, Salz und Petersilie hinaus erweitert. Sogar Knoblauch empfinden sie nicht mehr als gar so artfremd, vor allem seit sie wissen, daß der nur dann stinkt, wenn man sich nur einmal monatlich wäscht, er seine Geruchsstoffe also transpiriert. Wäre dem nicht so, stänke der gesamte Süden Europas oder alles, was dazugerechnet wird. Aber diese Regionen der Feinwürze stinken den an Uromis Pfeffer, Salz und Petersilie Gewohnten und dem Altbewährten in ewiger Treue Verbundenen ohnehin.

Überkreativitäten können allerdings auch Nachteile erbringen, nicht nur für die Geschmacksnerven. Aber bleibe ich bei dem, um das es hier eigentlich geht: um die (Curry-)Wurst. Vor etwa drei Wochen orderte Frau Braggelmann für mich eine dieser Variationen dieses wurst case. Sie ist glühende Verehrerin bayerischer Bratwurst, für die sie weite Strecken bis an Münchens Fäkalienmarkt inkauf zu nehmen bereit ist, wenn sie sich auch seit längerer Zeit ebenso in der Mitte Lübecks lustvoll im Wurst-Himmel tummeln darf. Sie wollte mir wohl etwas Gutes tun, wußte sie doch, daß ich diese Wurstform früher am Wittenberg- oder am Savignyplatz des öfteren zu mir genommen, ja sie kurzzeitig gegenüber dem Bilka an der Kantstraße, Frau Uhse war noch lange nicht eingezogen, sogar mal verkauft hatte, bis ich sie nach drei Nächten bis früh morgens um vier nicht mehr sehen konnte, weil janz Balin sie mir abzuverlangen schien. Aber die, die Frau Braggelmann mir über einen sogenannten Pizzaservice hat kredenzen lassen, die hatte nicht nur das Zwölf-Uhr-Läuten bei weitem überschritten, sondern auch die Grenzen des guten Geschmacks. Ich muß daher annehmen, daß die globale Geschmacksindustrie sich mittlerweile auch der deutschen Volksküche angenommen hat. Die Wurst schmeckte nach einer überfahrenen heiligen Kuh, die sich in ein Versteck geschleppt hatte und deshalb wochenlang nicht bemerkt worden war, und die Sättigungsbeilagen schienen mir aus einem indischen Hinterhof der Textilteilevorfertigung geliefert worden zu sein.

Die Urversion der Currywurst kam für die einen in Berlin in Zeiten zur Welt, als am Stutte oder Stutti, wie der Stuttgarter Platz volksbildlich verkürzend genannt wurde, und der noch kein vorbildlich grüner, von weltläufigem Geschmack beherrschter, sondern ein in der Nachkriegszeit von biederen Puffs und Animierschuppen eingekreister mehr als schlichter Ort war, an dem Frau Heuwer ihr Produkt kreierte und dafür sogar Patent angemeldet hatte. Andere folgen Uwe Timm in dessen hamburgischen Version der Schreibung von Geschichte, nach der es zuerst hundert Kilometer von der Wasserkante entfernt um diese Wurst ging.

Doch nun ist alles völlig anders. Die Mehrheit hat sich der Historie angenommen. Nein, nicht Wikipedia bundesweit. Dort herrscht schließlich nach wie vor die Funktionärarchie. Auch nicht das bislang hoch bewertete Niedersachsen. Dessen einstiger Erster rüttelt in Moskau an den Gitterstäben, um nach innen an neue Mächte zu gelangen, sein ehemaliger heimlicher Versicherungsminister backt in einer bescheidener gewordenen Abzock-manufaktur immer kleinere Verträge. Und nach dem bundespräsidialen Abgang hat auch der politische Häuslebauer aus Großburgwedel so gut wie keine Aufgaben mehr im Bereich der Geschmacksbildung. Für das Feine ist ohnehin jetzt ein Freiheitskämpfer aus dem fernen deutschen Osten zuständig. Der Westen hat in Fragen ästhetischer Erziehung, mag sie noch so veraltet sein in der Sehnsucht nach dem Schönen, die Macht übernommen. Die SPD ist Currywurst. Ob sie sie auch ißt, ist dabei nur von marginalem Wert, zumal Studenten der Politikwissenschaften aus dem erzschwäbischen Tübingen diesen Plakativ-wettbewerb gewonnen haben, die, wie ich dem Handelsblatt entnehme, beide «zu 95 Prozent Vegetarier» sind und «nur einmal im Monat eine Currywurst» essen. Aber das Ergebnis zeige, so einer der beiden Geschmacksbildner, «wie wir uns Glücklichsein in Nordrhein-Westfalen vorstellen». Glück ist Currywurst, hat die Mehrheit entschieden. Und die dürfte, schenkt man den Prognosen Vertrauen, sich aus der neueren deutschen Sozialdemokratie zusammensetzen.

Ich mochte die SPD mal, mehr noch als Currywurst. Ich habe sogar für sie gekämpft, ohne je Mitglied gewesen zu sein. Wahlkämpfer war ich mal, damals, nicht so berühmt wie Günter Kraß, aber mindestens genauso engagiert. Und geschrieben habe ich auch für sie, auch für Nordrhein-Westfalen, wennauch anders als er, von München aus. Dort hatte ich in den siebziger und achtziger Jahren noch ein akzeptables Gefühl, wenn ich mit den Sozis zusammensaß, als sie noch noch ein bißchen solche waren, wenn ich mich auch nie so recht mit deren doch etwas beengtem Verständnis von Kultur anfreunden konnte, das ich oftmals mit ein paar Griechen und Türken und Hinterhofgesang skzzierte. Aber es gab genügend Anders-, Darüberhinausdenkende, die mich dabeibleiben ließen. Als diese SPD mehrheitlich begann, sich auf ein Trittbrett namens Agenda zu schwingen und somit unterwegs waren in die sogenannte Mitte, nicht mehr zu unterscheiden von der CDU, da bin ich von der Fahne gegangen. Verabschiedet habe ich mich von ihr, wie auch nach einer weit über fünfundzwanzigjährigen Mitgliedschaft von der Gewerkschaft. Zwischenzeitlich dachte ich darüber nach, ihr meine Dienste wieder anzubieten, da ich meinte, sie könnte jede Hilfe gebrauchen, um wieder zu einer zwar der Masse nahestehenden, aber auch minderheitliches Denken zulassenenden Partei zu werden. Ähnlich der Parti socialiste, die zu meiner großen Freude gestern ein bißchen gewonnen, zumindest den ersten Schritt auf dem Weg zur Rückeroberung nicht unbedingt der Bastille, aber immerhin des Élysée getan hat. Nun ich bin froh, den deutschen Sozialdemokraten ferngeblieben zu sein, mich anders orientiert zu haben. Denn jetzt weiß ich endgültig, wer dieses Volk ist. Es ißt nicht nur, es ist Currywurst. Das dürfte für den Rest der Republik ebenso gelten. Es ist Signum postmodernen Daseins im Allzuschlichten. Und so schmeckt sie auch. Wie Essen in Teilevorfertigung durch die globalisierte Lebensmittelindustrie. Jeden Geschmack, wenn sie den je hatte, hat sie verloren. Es weiß nicht einmal mehr, daß auch eine Currywurst schlecht sein kann, nicht nur, weil sie über die guten alten Zeiten des Kurz-vor-Zwölf-Läutens hinaus ist. Hauptsache, es steht Currywurst auf der Packung.
 
Mo, 23.04.2012 |  link | (5184) | 13 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Geschmacksbildung aus dem fernen Blick

Einer der beliebtesten Sportarten der Völker, und mir scheint, auch hier wollten die Deutschen den vordersten Platz anstreben, ist das Erstrangigsein. Und wer nicht als erster mit stolzgeschwellter oder vom Erfolgsdruck geblähter Brust das Siegesband durchtrennen darf, der schafft wenigstens Rangfolgen. Das mag irgendein sogenannter Contest sein, in dem Sangeskünstler auf höchstem musikalischen Niveau den Begriff der Avantgarde in völlig neuem Bedeutungsglanz erstrahlen lassen, auch die Beliebt-heitslisten der immerselben Politiker oder Welt- oder Geldmarktführer samt ihren angeschlossenen auf- und abwogenden Börsenplätzen befinden sich in Hochkonjunktur. Mittlerweile hat auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen mit seinem in der Breite ausgetragenen oder auch dem allgemeinen Bedürfnis nach vereinfachter Benotung angepaßten Bildungsauftrag das Angebot der Hitparaden erweitert. Die Ranglisten reichen von den schönsten Hochadeligen, deren durch Säkularisation steuerlich dem Volk zugewiesenen Burgen und Schlösser, Gärten und Vorgärten, Seen und Teichen, bis hin zu den größten Schenkelklopfern und sonstigen unter Humor firmierenden Darbietungen. Nicht vergessen werden darf die Abteilung der besten Bock- oder Currywürste sowie die hervorragendsten Köche, die allesamt von allen bewertete Gourmetküchen betreiben. Präsentiert werden diese in spannungserzeugender Reihenfolge in ehern-ungeschriebener Gesetzgebung von unten nach oben, wer auch immer sie angeordnet haben mag. Begleitet werden diese Rankings von ungemein prominenten Prominenten, deren jeweils fachliche Kompetenz schon alleine dadurch erwiesen sein dürfte, daß sie wie jeder Normalsterbliche am allgemeinen Leben teilnehmen und im Bioladen einkaufen. Von denen werden dann allgemeinbildende Weisheiten ausgesprochen, zum Beispiel die eines bekannten Fernsehkochs, der zuständig ist für die Anhebung des Niveaus oder auch der Verbesserung des allgemeinen Geschmacks auf einen der oberen Plätze des olympischen Treppchens, also dessen Verfeinerung wenigstens beim Zuschauen der Zubereitung. Er verstehe das Getöse um den Kaffee nicht, meinte er, als er mir während der nächtlichen Suche nach einem mich in den Schlaf plappernden Sender zugeschaltet wurde. Schließlich sei Kaffee in etwa gleich Kaffee.

Bleibe ich bei diesem gemacksbildenden Beispiel, das mich sofort schlaflos machte, da es zu meinen Themen des Überlebens gehört. Kaffee, meinte der mir trotz aller bisweilen wirren oder auch dahergeplapperten Inkompetenz keineswegs unsympathische junge Mann aus der Hansestadt. Dessen zugestandenermaßen nicht übermäßig lauter Kommentar kam zur Rede von diesem kalten Kaffee, der in erhitzter Form der Norddeutschen, so die Zwischenmoderation dieser Ranglistensendung, «liebstes Getränk» sei. Das birgt insofern wenig Überraschung, als seine und mittlerweile auch meine Landsleute schließlich fast nie etwas anderes taten als, neben Pfeffer in Säcken, damit zu handeln. Doch mir wollte es in den Anfängen meiner Zeit im sogenannten Tor zur Welt nur äußerst schwer gelingen, einen meinem nicht zuletzt von jahrzehntelangen Reisen geprägten Gusto und damit meinen Bedürfnissen entsprechenden Kaffee zu erhalten. Jedenfalls nicht in öffentlichen Bedürfnisanstalten dieser Art. Anfang der neunziger Jahre irrte ich noch orientierungslos durch die Kaffee- und Hansemetropole, wo in den verbliebenen Resten der Speicherstadt immer noch einige Tonnen dieser Bohnen gelagert wurden. Bis ich auf der Suche nach meinem Suchtmittel eines Tages ins Schanzenviertel abgetrieben wurde, wo ein ehemaliger Lehrer aus Süditalien im Randbereich eines Küchengerätehändlers eine Espressobar eröffnet hatte, um den (Sehn-)Süchten Gleichgeschmacklicher abzuhelfen. Bis dahin gab es so gut wie keinen Ort an diesem Unort des Kaffeegenusses. Sogar für meinen Binnenhaushalt mußte ich mir meine beste Bohne von weither liefern lassen. Mittlerweile bekomme ich ihn nahezu allüberall, das Chancenviertel gehört gar zu den Hauptquartieren derer, denen es erfolgreich gelungen ist, den «guten alten Filterkaffee» zu vertreiben, dessen Verlust der junge Küchenmeister beklagt, der offenbar von eher muckefuckgeprägten Brustduftdrüsen gesäugt wurde. Beklagen darf man allenfalls die Hitlisten der besten Latte-Macchiato-Klientel-Plätze im Chancenviertel Kreuzberg, nicht aber die Tatsache, daß nach allzu langer Zeit endlich einem kläglichen Mißstand abgeholfen wurde.

Also: Ich beklage weniger den Verlust dieser Plörre, die mir aufgrund seiner Herkunft, vor allem aber Röstweise nichts als Sodbrennen bescherte. Ich beklage, daß einer wie dieser in der Rangliste ganz oben geführte Geschmackskreateure, einer, der die Vielfalt preist, eine solch arge Schlichtheit rekurriert. Da brechen sich Lebensgewohnheiten Bahn, die sich altenheimwohlig erinnernden Zuschauern von Burgen und Schlössern, Gärten und Vorgärten, Seen und Teichen zuzuordnen sind. Aber Omas Kaffee hat wie alles Alte Hochkonjunktur des Populären. War früher Lachs und Hering Armeleuteessen, gehört es heute zur gehobenen Küche. Das mag seine Berechtigung haben, aber darf der durch Reisen mit dem Finger auf der Landkarte via Internet und Fernsehen geleitetete Mensch derart in die Irre geführt werden? Das war kaum die Idee gewesen, als beispielsweise Slow Food das Tor der Verkündung zur Besinnung auf das Althergebrachte öffnete. Es ging Anfang der Achtziger um nichts anderes als um die Sicherung von Lebensqualität durch Essen und Trinken. Anstatt wie bei allem anderen froh zu sein über die Öffnung von Angeboten, werden mit den Mitteln der digitalen Neuzeit Sehnsüchte nach den sechziger und fünfziger Jahren hochgeheizt wie mit den Restholzfunden in den verbliebenen Beständen des Waldes dieser Zeit. Das können oder dürfen offensichtlich nur diejenigen, die diese Zeit des Darbens oder der Vielfaltarmut nicht erlebt haben. Es mag auch daran liegen, daß diesem ganzen offiziösen filigranen Küchenoptimismus nur deshalb so gehuldigt wird, weil die Allgemeinplätze sich zusehends deutlich nach unten nivellieren. Nicht einmal Spiegeleier mit Bratkartoffeln kriegen sie hin, sie kaufen auch das Banalste, am einfachsten Herzustellende nach dem Prinzip des Längerfrischen und angereichert mit synthetischen Aromen aus den Laboratorien des Lebensmittelmolochs Industrie.

Jetzt fehlt mir zum nächtlichen Wachwerden eigentlich nur noch die Fernsehhitparade «mein liebster Billigheimer». Aber wahrscheinlich gibt's diesen Aufreger längst, moderiert von einem, der sich einst als Mâitre der Nouvelle Cuisine einen großen Namen machte und nun auf Almosen aus der Werbung angewiesen ist. Ich sollte nicht nur so tun, als ob ich gemütlich im Schaukelstuhl tanzte, sondern endlich tatsächlich gelassener werden.

Diesem Schaum vorm Maul folgt vermutlich dennoch etwas nach. Macchiato heißt schließlich Kaffee mit einem Schuß Milch und nicht umgekehrt. Aber selbst der Gedanke an ein Tröpfchen erzeugt bei mir Geschmacksverwirrung.
 
So, 15.04.2012 |  link | (2980) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 





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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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