Anhalters goldener Käfig

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen.Der Reise vierter Teil.
Wehe ihm, dem Unbesonnenen, der falsch und als Verräter,
Den flämischen Löwen streicheln kommt und treulos ihn schlägt.
Nicht eine Handbewegung, die er aus dem Auge verliert:
Und merkt er, daß er getroffen ist, stellt sich seine Mähne und er brüllt.
Sie werden ihn nicht zähmen …
Es war ein Fanal. Das sollte ich zwar erst um einiges später erfahren, aber ich ziehe es nach vorne, da es einiges erklären hilft. Die hier vorgenommene Inszenierung war so eine Art Karneval, der ja sogar mittlerweile im protestantischen Teil Belgiens — vergleichbar etwa mit dem Territorium der nordelbischen Kirche — seltsame Urständ feiert, zumindest auf den Bühnen der Dorftennen. Doch wie hinter jedem noch so platten Büttenwitz oder vielleicht doch der Landschaft eher gemäßen Äußerung, etwa in Mijn vlakke land, «mit seinen Kathedralen als höchsten Bergen … Mit einem Himmel so tief, daß ein Kanal sich darin verirrt … Mit einem Himmel so grau, daß man ihm nicht böse sein kann … mein flaches Land», hinter jedem lustigen oder traurigen Anphilosophieren also meist mehr als ein Gran Wahrheit steckt, zumindest aber Wirklichkeit, war das auch hier der Fall: ein vielleicht etwas witzungeübter und eben deshalb fröhlich mit Tschingderassapäng aufgefleischter Knochen aus dem Gerippe einer, zumindest für diesen Teil, traurigen Familiengeschichte, hier eben den Patriotismus gleich mit einbringend.

Sie, die junge Frau aus altem flämischen Adel hatte in den fünfziger Jahren einen jungen Mann auf einem Wochenmarkt kennengelernt. Er verkaufte Kühlschränke. Offensichtlich machte der wenig marktschreierische Haushaltsgeräteverkäufer Eindruck auf die Adlige. Nicht alleine seine eloquente Art war's wohl, die das Fräulein aus sehr gutem Hause beeindruckte, vielmehr die Tatsache, daß die verkauften Kühlschränke allesamt nicht nur von ihm selbst entwickelt, sondern auch noch von ihm persönlich angefertigt worden waren. Einer, der nicht nur der schönen Worte mächtig war, sondern darüber hinaus auch noch anpacken konnte, das hat sie ihm derart um den Hals geworfen, ihn sich in ihr Herz eingraben lassen, daß sie für ihre Familie unrettbar verloren war. Die war nämlich über diese Verbindung alles andere als glücklich. Ein Ingenieur wäre vielleicht gerade noch akzeptabel gewesen. Aber ein Händler, auch noch einer, der auf Wochenmärkten feilbot, was man ja nun wahrlich nicht benötigte, da man schließlich tiefe Keller hatte, in denen man kühlte, mit Eis, das geliefert wurde wie seit Jahrhunderten, und seien es auch nur zwei, und alles andere immer frisch angelandet wurde ... Wirklich nicht. Alles mögliche unternahm man, dem Töchterlein diese Herzschmerz-Flausen auszutreiben. Es nutzte alles nichts. Das Fräulein Tochter zog mit dem jungem Mann über die Dörfer. Nachts bauten sie Kühlschränke, tagsüber verkaufte man sie. Was ihr nach jahrelangem üblen Gezerre mit der Familie blieb, war das, was diese schließlich als Pflichtteil des Familienerbes herausrückte, ein Schlößchen, ein Kasteel, wie's im Land heißt, eine der vielen Latifundien aus dem Besitz der blaublütigen Sippschaft.

Dort lebte man dann. Privat. Die in der Folge entstandene Kühlschrankfabrik mit circa zweihundert Arbeitern, die die beiden in jahrelanger mühsamer Arbeit aufgebaut hatten, befand sich etwa vierzig Kilometer entfernt, am Rand des altehrwürdigen Gent. Dorthin fuhr er jeden Tag sehr früh, jedoch grundsätzlich erst dann, nachdem er alle Familienmitglieder ausgiebig begrüßt hatte, mit seinem von mir damals seiner Eleganz wegen bewunderten königsdunkelblauen Volvo 164. Abends spät kam er wieder zurück, aber immer so, daß er mit der Familie gemeinsam speisen konnte, zumindest jedoch, daß er sich von allen seinen vielen Kindern wenigstens noch verabschieden konnte bis zum nächsten Morgenküßchen. Flott war er immer unterwegs. Es sei angenehmer, etwas rascher voranzukommen, sagte er mir im Lauf eines der vielen Gespräche im Blauen Salon, in dem diese nach dem Essen grundsätzlich stattfanden. Er muß von der Richtigkeit seiner These überzeugt gewesen sein, dieser immer ruhige, auch gelassen, jedenfalls nie die Contenance verlierende und deshalb sehr viel mehr als seine (mittlerweile?) etwas bäuerlich scheinende Frau altadlig wirkende außergewöhnlich gutaussehende, gut einsneunzig hohe elegante Mann. Viele Menschen führen nicht sonderlich gekonnt mit ihren Automobilen, weshalb es besser sei, vor ihnen weg zu fahren anstatt hinter ihnen. Zwar habe er in der Regel den Tempomat – damals in Belgien in Stadtnähe noch nicht mit Verbot belegt, das er sicher nie übertreten hätte, und wenn doch, dann nur ein klein wenig – eingeschaltet, aber wenn er in diese Situation käme, setze er die Konstanz mittels Gaspedal eben außer kraft. Ansonsten rollte diese vitale Sanftmut immer sehr gelöst über den Kies, seinen tagwerklichen Kühlschränken entgegen.

Ein junger Akademiker, das mußte damals Auslöser dieser Initiationsriten gewesen sein, der paßte wohl ins Familiengefüge; ein geisteswissenschaftlicher, na ja, aber es würde die mittlerweile doch recht ausgeprägt ingenieurstechnische Ausrichtung etwas ausgleichen. Der Vater war nämlich einer, wie man sich einen für Jungs vorstellt, auch wenn es einige Mädchen gab in dieser Familie mit acht Kindern, drei davon adoptiert und leicht belgisch-kongonial pigmentiert, man habe schließlich auch Verantwortung gegenüber der Geschichte und nicht zuletzt den Menschen. Fast der gesamte Hofstaat dieses Mikrokosmos nahm mich also in Empfang, mich Anwärter. Nie ist mir klargeworden, was die junge Frau den Eltern vor- oder eingeflüstert haben mag. War das Wohlanständigkeit? Da ich nie einen Versuch unternommen hatte, sie zu «begreifen». Einer, der nicht gierig immer nur an das Eine dachte? Vielleicht hatte sie ja Mutters tief im 19. Jahrhundert wurzelnde edle Gesinnung verinnerlicht. Möglicherweise überstieg es ihre geistige Flexibilität: denn einer, der eine solche Einladung annimmt, kann anderes nicht im Sinn haben als eine dauerhafte Beziehung, die in eine glückliche, nicht zuletzt kinderreiche Familie mündet. Hatte sie nicht zugehört, als ich ihr im friedlichen Voralpenland von meinem sich gerade anbahnenden eher wildernden Leben erzählt hatte, aus dem hervorging, daß ich nach einer, wie man das damals so nannte, gescheiterten Ehe erhobenen Hauptes schwor, nie, aber auch wirklich nie wieder zu heiraten? Also keinerlei Interesse vorhanden war, ich nichts anderes wollte, als mal zu nachzuschauen, ob das alles stimmte, was sie mir von ihrem Zuhause erzählt hatte, und zwar in einer derartig ruhigen und bescheidenen Art, daß einer wie ich sich das schlicht nicht vorstellen konnte: dieses riesige Haus, ja, Haus nannte sie dieses fußballplatzgroße und mindestens genauso hohe, umtürmte Gemäuer aus dem 19. Jahrhundert, diesem neben dem Städtchen gelegenen Park mit angrenzenden Stallungen, mit Reiterei und Tennisplatz, einem Gelände, in dem der vierzehn- oder fünfzehnjährige Bruder mit seinem von Papa angeschafften Rennkäfer krachende Runden drehen durfte.

Heute, gute fünfunddreißig Jahre später, ist mir klar, daß ihr ein anderes als dieses jungfräuliche Denken gar nicht möglich war. Sie war in einer Art Kloster aufgewachsen, mit der Mütter als Äbtissin und dem Vater als Abt. Die wollten ihrem ältesten Mädchen vermutlich ein Minimum an Ausbildung zur höheren Tochter angedeihen lassen und schickten sie deshalb hinaus in die Welt der Sprachen. Wie Japans Töchter Klavier und Gesang lernen, lernen die des alten belgischen Adels eben Deutsch, Englisch, Französisch und vermutlich dann auch noch Italienisch und Spanisch. Aber vor ihrem ersten Ausflug in Goethes voralpenländische Dependance war die junge Frau noch nie aus ihrer familiaren Gemarkung herausgekommen. Die Schule, sicher. Aber direkt anschließend ging's kerzengerade nach Hause. Mit dem Automobil, abgeholt von Mutter. Sonstiger Kontakt zur Außenwelt fand nicht statt. Besuch wurde nicht empfangen im Kasteel. Wer auch nur einen Fuß hineinsetzte in den Park, wurde sofort von der wilde Hundemeute aufgespürt und dorthin zurückgejagt, wo er hergekommen war. Alles wurde geliefert. Und wenn etwas nicht geliefert werden konnte, brachte der Vater es mit. Es gab nichts, was er nicht bereits mitgebracht hätte. Und wenn die geradezu unglaublich liebevolle Glucke oder eines ihrer Behütlinge auch nur die Spur einer Wunschäußerung von sich gaben, bekamen sie es in der Regel am Abend präsentiert. Nie zuvor und auch später nie wieder habe ich je ein so perfekt ausgestattetes Haus erlebt. In diesem komplett unterkellerten, auch unten drin nie unter drei Meter Höhe messenden Haus befand sich die Kinderwelt. Mindestens hundert Quadratmeter dürfte alleine die Spielzeugeisenbahn gehabt haben. Überall stand und lag alles Erdenkliche an Fahrzeugen für die Kleinen herum, nicht nur Rollschuhe, auch Tore standen da, Rollhockey wurde gespielt. Wenn das Wetter das Toben draußen nicht zuließ. Was ja, wie wir von Jacques Brel wissen, des öfteren vorkommt im flachen Land. Eine wilde Meute jagte dort den ganzen Tag herum. Oben war nichts zu hören, so massiv und schalldicht war das Haus gebaut. In der etwa fünfzig, wenn nicht mehr Quadratmeter großen Küche hätte die Belegschaft der Kühlschrankfabrik problemlos bekocht werden können. Noch nie hatte ich eine solche Einrichtung gesehen. Der Gasherd achtflammig. Vierfache Bain-Marie. Alle möglichen Back- und Grillöfen. Soviel Kupfergeschirr, daß Italien ausverkauft gewesen sein mußte. Feinstes Geschirr in Mengen, die ausgereicht hätten, den belgischen Hofstaat zu bewirten. Es gab schlicht nichts, das es nicht gab. Aber auch keine Außenwelt.

Doch aus eben dieser war ich gekommen.

Was mit mir passierte, das muß ich der Länge wegen wohl das nächste Mal erzählen.

Das oben abgebildete Kasteel ist nicht identisch mit dem Ort, an dem ich (sehr gerne) zu Gast war. Es soll lediglich Ähnlichkeiten vermitteln, und die sind ausgeprägt vorhanden beim Rood Kasteel in Linden, ebenfalls in Belgien.



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So, 22.02.2009 |  link | (3797) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel



 

Grabungsvolle Hymnen

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof. Der Reise dritter Teil.

Saint-Louis sollte später eine regelmäßige Anlaufstation werden für mich. Wenn ich zur Basler Kunstschau fuhr, übernachtete ich immer drüben in Mariannes Bettchen. Aber welche Position das Städtchen in meiner damaligen Reisepassage einnahm, das will die Erinnerung einfach nicht mehr hergeben. Woran das liegt, ist möglicherweise mit Sirren, nicht Sirenen erklärbar. Vielleicht war es aber auch zu ereignislos, so daß es den Erinnerungsplatz für wesentlicheres zur Verfügung stellt. Auf jeden Fall ist da ein Loch, das sich erst in Belfort gelinde wieder aufzufüllen beginnt. Die Ursache mag darin liegen, daß dort für mich eigentlich Frankreich erst beginnt. «Die Verkehrsschilder sehen nicht mehr aus wie nach dem täglichen Samstagnachmittagsbad. Oder sie fehlen überhaupt.» Ab hier beginnt man so langsam Zeit zu haben. Wenn auch in südlicher Richtung. Nördlich von Lyon, spricht der gemeine Südländer, leben keine Menschen.

Diese hochphilosophische Erkenntnis sollte allerdings erst später in mich fahren. Damals erlag ich mir dieses Wissen in eher trister Weise. Nein, nicht der Beginn einer Frankophobie, wie beim erfahrungsgeplagten Nnier, auch nicht dessen in allen möglichen Varianten erprobtes whack!. Aber ein Graben war's dennoch. In dem war ich gelandet. Ein anderes Nachtlager gab's nämlich nicht. Irgendwie hatten mein englischer Guide und ich das bezogen. Wie wir dorthin gekommen waren, gehört in den Bereich des Vergessenen. Fetzen liegen noch vor, wenn auch sehr viel kleiner als das Stück Pappe, das ich irgendwo gefunden hatte, um mich wenigstens ein klein wenig vor der unerbittlichen Feuchtigkeit und Kälte des noch nicht richtig begonnenen Jahres von unten zu schützen. Obendrüber blies die Erfahrung und das Ahnungsvolle.

Einen Nachmittag lang hatten wir bis hin zum wilden Winken versucht, von dem Ort wegzukommen, von dem ich nicht mehr weiß, wie wir hingekommen waren. Eines kristallisierte sich zu einem wutfunkelnden Gedanken heraus: Hier soll der Gleichheitsgedanke entstanden sein, der der Brüderlichkeit?! Darüber denkt man vermutlich nicht nach, wenn man, wie ich früher bereits über Jahre hinweg, im gemütlichen warmen und windgeschützten Automobil unterwegs ist. Einem im Graben Gelandeten hilft man heraus. Wenn er aus Blech besteht. Alles andere am Rand Stehende und Liegende, und dann auch noch aus frierender Haut und Knochen, ist nicht unbedingt Bestandteil einer Gesellschaft, die es sich in der nachrevolutionären Bourgeoisie bequem gemacht hat und vermutlich nach früher nicht erreichtem höfischen Leben strebt. Eine bitterkalte Nacht wurde es, aus der sich die persönliche Erkenntnis herausformte: Das ist nicht Anhalters Land. Deutlich unterstrichen wurde dieses Wissen von einer Erkältung, die sich in Anfängen bereits zeigte und die ein paar Tage dann im Fieber enden sollte. Glücklicherweise sollte das in einem ehemaligen hochherrschaftlichen Bett toben, bekämpft von altem Adel, unter den das Bürgertum sich gemischt und aus dem warme Menschlichkeit sich geformt hatte.

Aber das sollte sich eben nach dieser Tortur zeigen, die irgendwie und irgendwann in Paris im Gare du Nord endete. Ende. Genau. Verjagt von gemäßigt brüllenden Polizisten in Zivil: Sortie! Sortie! Abgang. Ausreise. Raus mit euch Pack, ihr mit euren Ruck- und Schlafsäcken, die ihr ohne Geld unser Land bereisen wollt. Wir wollen euch hier drinnen nicht. Hier geht der Bürger ein und aus, um einer ordentlichen Tätigkeit nachzugehen. Allenfalls noch der Fremde, der sein Reiseportefeuille im Land läßt und sich dann wieder trollt. Bei aller sonstigen Absence habe ich dieses Bild mit einer photographischen Genauigkeit im Kopf, die nur zu einer Zeit möglich war, als es die heutigen technischen Manipulationsmöglichkeiten noch nicht gab: diesen sich am frühen Morgen bereits heißer gebrüllt habenden Bediensteten des Bürgertums. Gut vorstellen könnte ich ihn mir auf einem zur Fête Nationale herausgeputzten Wagen, in von Madame akkurat gebügelter Gardeuniform, vernehmlich singend:

Aux armes, citoyens,
Formez vos bataillons,
Marchons, marchons!
Qu’un sang impur
Abreuve nos sillons!


Die Wege zwischen dem englischen Begleiter und mir trennten sich an der arg frischen Luft. Ich teilte ihm draußen mit, mich wieder hineinbegeben zu wollen. Seiner Entgegnung, meine Rückkehr dort hinein könne gegebenenfalls in la taule landen, in einem der berühmt-berüchtigten französischen Knäste, flapste ich irgendwas von end! finish! closing date! enough! oder so hin. Kerzengerade sollte mich mein Weg in Richtung Fahrkartenschalter führen. Der Bürgerbedienstete sah mich, wollte auch auf mich zueilen, doch die Masse derer, die's noch nicht nach draußen geschafft hatte, hielt ihn wohl davon ab, mich sofort am immer noch durchnäßten Kragen zu packen und in die blaue Minna zu schmeißen. Das Fremde hatte mich sozusagen gerettet.

Was das Ticket ins flandrische Sumpfgebiet gekostet hatte, daran erinnere ich mich nicht mehr. Es war mir egal. Die damals noch nicht grundsätzlich vorhandene Bargeldreserve gab es her. Hätte sie's nicht getan, ich weiß nicht, was ich alles getan hätte, um aus diesem Bahnhof wegzukommen, den ich später noch so oft und in gelöster Atmosphäre durchqueren sollte. Der nächste Weg war der zu einem Telephon. Sofort ward abgenommen in der freundlichen belgischen Fremde. Für den frühen Nachmittag kündigte ich meine Ankunft an. Über Lille und Kortrijk würde ich fahren und sei dann ja so gut wie angekommen. Nein, bedankte ich mich für das Angebot, mich in Brügge abholen zu lassen, denn ich klänge doch nicht so gesund, nein, denn ich hätte es bis ins lebensfeindliche Paris geschafft, dann würden meine Abenteuerenergien mich auch noch bis ins voraussichtlich angenehmere Städtchen bringen. Zumal es ja nur noch ein Viertelstündchen oder so wären von Brügge aus.

Wie lange die Reise dauerte, daran erinnere ich mich nicht. Ein ganzes Weilchen sicherlich. Der TGV durchbrach damals ja noch keine Geschwindigkeitsrekorde, und an sowas Edles wie an den Thalys ward Anfang der Siebziger wohl noch gar nicht gedacht. Beide hätten wohl auch meinen Etat überfordert. So gondelte ich also dahin, wie ich es auch heute wieder tue, da mir mein Leben die Rennerei nicht mehr abverlangt. Ob's vier oder fünf oder mehr Stunden waren, es ist nicht von Belang. Ich hatte meinen warmen Sitzplatz, niemand brüllte mich mehr an, gar um mich aufzuwecken, denn in tiefen Schlaf war ich schnell gefallen. Geweckt wurde ich erst wieder von den Douaniers, aber die waren friedlich. Lange Haare hatten sich offensichtlich im französisch-belgischen Grenzverkehr bereits als nicht unbedingt drogendealerisch zu erkennen gegeben, zumal es mir offenbar gelungen war, die Ondulation auf der Toilette wieder einigermaßen ins Unverdächtige hin umzuwandeln. Auch gelang es mir, dreimal umzusteigen, obwohl ich jedesmal aufs neue wieder in einen tiefen Erholungsschlaf gefallen war. Ich vermutete wohl zu recht, daß mir für ein Weilchen nichts mehr Übles geschehen konnte.

Doch dann, der Zug war im Bahnhof des Städtchens angekommen, ein enormer Auflauf. War ich in eine Demonstration geraten, war eine solche Menschenansammlung an einem solchen Örtchen überhaupt möglich? Es stellte sich heraus, daß ich der einzige Fahrgast war, der hier freiwillig den Zug verlassen hatte. Demnach galt das mir. Dann spielte auch noch eine etwas weiter zurückstehende Kapelle auf, den Uniformen nach möglicherweise die einer Feuerwehr. Und ein aus allen erdenklichen Altersgruppen gemischter Chor samt rhythmisch dazu jaulendem Getier sang und krächzte fröhlich in meine Richtung:

Wee hen, de onbezonnen’, die vals en vol verraad,
De Vlaamse Leeuw komt strelen en trouweloos hem slaat.
Geen enkle handbeweging die hij uit ’t oog verliest:
En voelt hij zich getroffen, hij stelt zijn maan en briest.
Zij zullen hem niet temmen …



Den Rest erzähl' ich lieber ein andermal.

Die Photographie stammt von Henk van Kampen unter CC.



Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse, Fluchtgedanken, Gnadenmahl oder Reiche Stunden. Der Reise vierzehnte Folge.
 
Mi, 18.02.2009 |  link | (3303) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel



 

Walsers Vermächtnis

Schon zur Zeit, als Martin Walser seine Rede in der Frankfurter Paulskirche gehalten hatten und die ersten Stürme durch den deutschen Blätterwald getobt waren, überkamen mich leise Zweifel an der Berechtigung dieser teilweise derben Kritiken. Vor allem keimte in mir der Verdacht — die Erfahrung hatte es mich gelehrt —, es könnten einige Kommentatoren wieder nur die Waschzettel gelesen haben — wie sie das gerne machen bei ihren umfassenden Rezensionen; allzu oft habe ich es erlebt, daß Kritiker eine documenta oder einen Ernst Jünger verrissen hatten, die ihr Lebtag noch nie in Kassel oder von dem Kriegsfreiwilligen lediglich Auszüge aus dessen In Stahlgewittern bekannt waren. Seinerzeit von Jaap Grave um meine Meinung gebeten, da er für eine Tageszeitung seiner niederländischen Heimat ein Interview mit Walser führen sollte, verwies ich aus ebendiesen Gründen auf Zurückhaltung im Zusammenhang mit diesem Thema in den deutschen Medien. Ich sollte richtig liegen. Aus dem mir (auf Tonband) vorliegenden Gespräch geht zwar hervor, daß Walser sich seinerzeit zweifelsohne kritikfähig geäußert hatte, aber das meiste doch unüberdacht und häufig aus dem Zusammenhang gerissen zitiert, allzu oft schlicht abgeschrieben worden war. Letztendlich geschieht genau das auch im Zeit-Text von Tanja Dückers. Zwar ist ihr recht zu geben an dem Punkt, an dem sie auf den allzu leichtfertigen oder erinnerungsunfreudigen Umgang der Deutschen mit ihrer Nazi-Vergangenheit hinweist. Aber der Hinweis «Seit Martin Walser in seiner Paulskirchenrede für sich die Entbindung vom ‹Erinnerungsdienst› einforderte, herrscht eine Stimmung, die man mit dem kleinen Wort ‹genug› beschreiben könnte: ‹genug gebüßt›, ‹genug über den Holocaust geredet›» ist nicht minder leichtfertig. Unfreiwillig, aber letztendlich dann doch haut sie damit in dieselbe Kerbe. Bildungswillige jüngere Menschen, die sich in die Zeit und sonst gar nichts vertiefen, um ihre Wissenslücken zu füllen, geraten so in ein nicht ungefährliches Niedrigwasser, bei dem ihr Historienschiff leicht auflaufen könnte. Frau Dückers' gutgemeinter Hinweis könnte sich als desinformierende Sandbank erweisen, von der nur noch ein umfassend ausgestatteter Schlepper herunterhelfen kann. Sicher, ein älterer Mensch, zudem möglicherweise einer, der indirekt (oder gar direkt?) von dieser Vergangenheit malträtiert worden war — und der deshalb, wie das ZDF, und nicht nur dessen History wegen, auf einem Auge erblindet sein könnte —, weiß um die Hintergründe der Debatte um Martin Walsers Äußerungen zur Buchhandelsfriedenpreisverleihung vor bald zehn Jahren. Aber die — darüber bin ich gerade im Dickicht des Archivs gefallen — in Zusammenhang zu bringen mit einem vermutlich (mal wieder!) nicht oder nur in Auszügen gelesenen Buch über einen «liebenden» Mann, der zum Zuge nicht kommen durfte, weil der längst abgefahren war, das ist als Witzchen so flach, daß es, wie die Büddenwarderin zu sagen pflegt, unter jeder Tür in die Stube gelangen könnte.


Nochmal im Zusammenhang mit Martin Walsers Elegie. Es ging um einen Kommentar, der ungeschickterweise nun doch gelöscht wurde. Mehr dazu von Hans Pfitzinger im Kommentar.

Die dazugehörige Photographie stammt von maha-online unter CC.

 
Di, 17.02.2009 |  link | (3826) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 







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