Denken und mahnen

Der OberMotzer erwachte allmählich aus seinem seligen Traum der zurückliegenden Nacht, in dem er Achternbusch sein durfte, dem es ein leichtes ist, beim Gehen den Boden zu berühren. Es existieren mich schon höchst beschwerende, arg irritierende Formulierungen. «Diese Forderungen haben aus dem Wettbewerb für ein historisches Denkmal einen Wettbewerb für experimentelle Kunst gemacht, mit der Kunstszene als Adressat. Ein an das Volk als Adressat gerichtetes Denkmal wendet sich aber an die Allgemeinheit und die Nachkommen.» Entnommen habe ich das dem Tagesspiegel.

Das läßt mich schlußfolgern, es könnte mit der Kunst und der ihr eigentlich zugewandt sein sollenden Erziehung etwas faul sein im Staate Deutschland; faul vielleicht im Sinne einer Anleitung für das Volk in ein rückwärts, in vergangene Jahrhunderte hineinreichendes Kunstverständnis. Weshalb sollten Denk- oder Mahnmale geistig nicht aufgebrochen werden, das meines Erachtens immer mitschwingende Gestrige nicht herausgebrochen werden? Es könnte neue Perspektiven auf das Geschehene eröffnen.

Es folgte im Austausch ein Hinweis auf das alte Paradox der Kunst. Die Denkmalkultur sei es in diesem Zusammenhang seit je, weil das, was zu bedenken wäre, zumeist moralischen und ästhetischen Ansprüchen geopfert werde. Denn wie solle, so mein Gesprächspartner weiter, die Schönheit mit dem Schrecken kompatibel werden? Die Form adle und/oder entschärfe den Gegenstand, so daß die Kunst letztlich — so sehr Künstler das bestreiten mögen — an das Grauen nicht herankommte. Auf Maurizio Cattelan, aber auch Otto Dix oder George Grosz und zahllose andere wurde dabei hingewiesen.

Dem hielt ich entgegen: Meines Erachtens habe Kunst auch nicht Schönheit an sich abzubilden. Nehme ich zudem den vielzitierten Paul Klee, in etwa: Sie bilde nicht die Wirklichkeit ab, sie mache sichtbar. Daß der Wettbewerb via Ausschreibung der, nenne ich's mal so, radikaleren Kunst zugewandt ist, wirft der Autor ohnehin dem Wettbewerb vor.

Dennoch: Die Gerzens haben es beim Harburger Mahnmal vorgemacht mit dem Denk mal, das im tiefen Gedenken verschwinden könnte, genauso auch Jochen Gerz' Saarbrücker Beispiel der 2146 Steine.

Im übrigen oder nebenbei: Gerz ist im Berliner Wettbewerb für das Denkmal für die ermordeten Juden Europas Peter Eisenman unterlegen.
 
Do, 24.01.2013 |  link | (2692) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Eine Geschichte in Bildern

«Nicht von ungefähr», schreibt Veit Loers vom Kunstraum Innsbruck, «erleben wir seit den späteren sechziger und früheren siebziger Jahren in der bildenden Kunst ein paralleles Phänomen: die konzeptionelle Story-Art, bei der gefundene und erfundene Fotoserien eine Geschichte erzählen und Texte die Bilder semantisch aufladen. Künstler in diesem Genre waren Victor Burgin, Duane Michals und Hans-Peter Feldmann, um nur einige zu nennen.» Bei dem «parallelen» Phänomen handelt es sich um die Chronik einer Affäre, Mai 1969 — Dezember 1970, die jetzt als Katalogbuch erschienen ist. Genau genommen ließe es sich, um ein weniger im Aktuelleren oder auch Bekannteren zu bleiben, als nachlaufender Vorläufer der durchaus bewegenden Lebens-geschichte(n) etwa von Christian Boltanski bezeichnen. Etwas weiter ausgeholt ist es auch auszumachen in der nicht unbedingt künst-lerischen, sondern eher dem Beleben eines historischen Bewußtseins der Allgemeinheit dienenden Aufforderung von Wolfgang Ruppert aus den Anfängen der achtziger Jahre, die er Erinnerungsarbeit nannte und die zu einer Demokratischen Identität führen sollte. Mittels zahlreichen Photographien in der für diese Zeit typische «Farblosigkeit» als gegenüberstellendes Synonym für die heutige Schreierei der Farben, diese überdimensionierte Buntheit, eine dominierende farbliche Blässe, geradezu eine Eintönigkeit, durchaus als Symbol der Epoche zu sehen, die als die der Achtundsechziger in die Annalen einging, ist es vermutlich konkreter nachzuvollziehen als in der aktuellen Nachfärberei der immer schneller laufenden Bilder. Mehrere Dokumente in Form von teils hand- und maschinengeschriebenen Briefen, Gaststubenrechnungen, Landschaftsaufnahmen, tagebuchähnlichen Einträgen und immer wieder die für diese Zeit typisch hochtoupierte Margret in allen erdenklichen Posen, all das führt zu einer Lebensgeschichte, die hier durchaus zur Kunst geworden ist, in einer Ästhetik, die sich in zunehmendem Maß autobiographisch äußert. Es handelt sich um ein Phänomen, das hier noch in den Anfängen steckt, das mir allerdings vor längerer Zeit in Lateinamerika begegnete, in Ansätzen beispielsweise durch Lygia Clark. Susanne Pfeffer als weitere Autorin hat im Buch notiert:

«Der Versuch der emotionslosen Beschreibung einer Liebesbeziehung ist gescheitert. Das Protokoll ist zu einem verschachtelten Beziehungsgeflecht geworden. Am Ende der Lektüre verschwindet alle Distanz, alles Erlebte scheint nah. Margret ist längst kein beschriebenes Objekt mehr — die nüchterne Distanzlosigkeit hat den außenstehenden Leser erreicht.»


Klappentext:
«Ein Kölner Geschäftsmann führt akribisch Buch über die Affäre mit seiner Mitarbeiterin Margret. Als Leser ist man ‹Günters› Voyeurismus schutzlos ausgeliefert. Mit Hunderten von Photos vor und nach dem Sex, in Kurparks und in neuen, von ihm gekauften Kleidern, nichts bleibt verborgen. Manchmal denkt man, dass er alles für eine Veröffentlichung inszeniert hat. ‹10 Uhr vormittags M. zu Hause abgeholt. angeblich nach Bad Neuenahr zur Mutter gefahren. In Wirklichkeit nach oben. M. gekocht. Rinderschmorbraten, Kartoffel, Salat. Mittag um 1 Uhr gegessen und bis 1 Uhr 45 Fernsehn gesehen, alsdann ins Bett›, notiert er am 29.11.1970. Spießiges und Obszönes reihen sich nahtlos aneinander. Erwähnung findet das ‹Rotbarschfillet mit Feldsalat und schönen Kartoffeln› sowie ‹Rückenlage und die Spezialstellung›, anderntags wird ‹Einweihungsfeier begangen trotz Tage›».

Margret: Chronik einer Affäre
 
Fr, 12.10.2012 |  link | (2102) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Romantische Totenköpfe der Moderne

Heute hatte ich Besuch von meinem Nachbarn, zum ersten Mal war er bei mir im dachspitzigen Nebenkathedrälchen, er ist erst kürzlich zugezogen. Bei mir zu Gast war er, um sich zu verabschieden. Er ist bereits wieder ausgezogen. Das Landleben hat ihn zu sehr belastet. Wahrscheinlich war ihm meine ständige Depressionsmusik (© Frau Braggelmann) aus Radio Classique, das ich seit einiger Zeit immer eingeschaltet habe, weil mir France musique neuerdings zu oft deutsche Schlager aus den Zwanzigern und Dreißigern spielt, zu wanddurchdringend. Das Alter vermag die Hörigkeit oftmals nicht zu mildern. Ich schätzte ihn nicht unbedingt zu den Kunstsinnigen gehörig ein, wie das eben so ist mit den Vorurteilen, von denen ich mich trotz aller Benühungen nicht lösen kann, obwohl ich mehrfach eines besseren belehrt wurde. Was die einen mit Medien machen, macht er mit Immobilien: irgendwas. Das reichte.

Er sah bei mir an der Wand die recht große Photoarbeit von Stefan Hunstein, die ich vor etwa zwölf Jahren gekauft habe. Spontan rief der von mir gehende Mitbewohner von nebenan aus: Das gefiele ihm aber gut, aber sowas von gut.

© Stefan Hunstein, schlechte Photographie, trotzdem © Jean Stubenzweig

Ich war leicht verblüfft. Häufig höre ich dazu negative Meinungen. Der kunstsammelnde Arzt, der das in jeder Hinsicht nicht ganz unschwergewichtige Bild seinerzeit mit dem befreundeten Galeristen in den fünften Stock meiner Münchner Wohnung geschleppt hat, weil es nicht in den Fahrstuhl paßte, meinte damals, das wäre nichts für ihn, ständig den doppelköpfigen Tod über dem Kopf hängen zu haben. Er hätte Angst, der Tod könne ihn erschlagen.

Es handelt sich um ein romantisches Sujet. Tagelang bin ich um die Jahrtausendwende auf dem kölnischen Kunstmarkt an ihm hin- und hergeschlichen. Normalerweise hätte ich es sofort mitgenommen, so gut gefiel es mir. Aber es kostete viel Geld. Am vierten oder fünften Tag hatte es mich endgültig in seinen Fängen. Lieber lange nur Nudeln mit irgendwas als auf diese mich ergreifende Arbeit verzichten. Die definitive Kunsthematik Tod hatte mich schließlich gefangen. Den Totenkopf von Malewitsch hatte ich darin erblickt, eine Verbindung von der Romantik zur Moderne hergestellt.

An einem Kunstmarktabend spielte wie alle Jahre wieder eine Kapelle zum Tanz auf, mit anschließender, manch einer vielleicht dann doch nicht so romantisch endenden Paarung in einem Hotelbett. Aber zunächst gab es (kostenlos) Gutes zu essen und durchaus gut trink- oder auch schüttbaren roten Wein aus der Bourgogne. Mit einem überaus geschätzten Kollegen vom bioökodynamischen Minderheitensender Arte, auch er ausgeprägten linksrheinischen Denkens und Fühlens, sprach ich lange und ausgiebig über das Judentum. Einer Frau wegen, die er vor einiger Zeit während seiner vielen Kunstreisen um die halbe Welt kennengelernt hatte, befand er sich im tiefsten Stadium des Konvertitendenkens. Zuvor hatte der Katholik es mal mit den Gnostikern versucht. Ich versuchte ihn von seinen trivialromantischen Vorstellungen abzubringen, die ein Religionswechsel mit sich bringen könnte. Auf die Kritik gegen den Glauben verwies ich, die denkerisch bereits während der Epoche der Romantik aufgekommen sei. Nach der fünften Flasche gab ich auf und wandte mich dem Leben zu. Auf der Tanzfläche versuchten einige Galeristen mit ihren Mitarbeiterinnen, der Begriff Praktikantin war zu dieser Zeit noch nicht so quasi in aller Munde, Rock'n'Roll zu tanzen. Auch der wirklich nicht schlechte Wein konnte dabei nicht weiterhelfen. Ich sah trotz reichlich genommenem Ethanol nur eingegipste Hüften. Da ging ich eben an den Tresen.

Mit einem Mal stand neben mir Stefan Hunstein, der bereits vor zwölf Jahren nicht ganz so unbekannte Kammerspieler. Ich wollte mich vorstellen, doch mittendrin in meiner Höflichkeitsrede unterbrach er mich, er wisse, wer ich sei, ich hätte mich letztendlich für die Kunst entschieden, sein Bild gekauft und so. Nein, er wollte nicht von mir wissen, weshalb, warum und wieso und so, und das, obwohl er ein durchaus direkter Mensch war (und ist?), wie sich herausstellen sollte. Er ließ meiner bourgognegeschwängerten Zunge freien Lauf. Dabei stellte sich bei ihm eine gewisse Verwunderung darüber heraus, daß ich sein Werk eindeutig als sozusagen spätromantisch einordnete. Der erste sei ich, der dies quasi analytisch interpretiere, aber es sei genau richtig. Unter diesen Gesichtspunkten sei diese Arbeit enstanden. Er sei tatsächlich ein Romantiker, der sie zwar kritisch, aber gleichsam in die Zukunft ausgerichtet betrachte, wenn auch nicht unbedingt im Sinne von ex oriente lux, schließlich sei die Moderne noch nicht zuende gedacht. Nun seien wir schon zu zweit. Das könne der Beginn sein zu einer fröhlich-aufrührerischen Gemeinschaft, die triviali-sierende Vor- oder fehlgeleitete Urteile zurechtzurücken versuche.


Man möge mir die miserable Qualität der Photographie vergeben. Ich kann's nicht besser. Dieses permanent Hineinleuchten verdirbt mir jede klare Ab- und Ansicht. Nehme man's romantisch.
 
Fr, 21.09.2012 |  link | (1572) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Wiedersehen

© Regine von Chossy

Bei Frau Braggelmann war ich zu Besuch. Das ist diejenige, die meine kleine Kunstsammlung wiederbelebt hat, indem sie sie nach und nach entführt und auf ihre Weise öffentlich gemacht hat. Bei sich zuhause, in einer wahrlich wilden Petersburger Hängung. Jeder verfügbare Winkel ist zugehängt, bis in den Hausflur hinunter. Sogar ihren Vermietern, ein seit Jahrzehnten im Ruhestand befindliches Ehepaar, von dem nicht unbedingt auf Anhieb anzunehmen wäre, es würde das goutieren, gefällt das. Und ihren sonstigen Besuchern auch. Eine wegen Frau Braggelmanns neuem Spielzeug, dem EiPäd, angereiste Bekannte zeigte sogar Kaufabsichten, ein kleiner Uecker hatte es ihr angetan. Unverdrossen stöbert meine Kunstverwalterin bei mir herum, um jedesmal doch noch fündig zu werden in meinem Fundus, von dem ich jedesmal aufs neue annehme, er sei erschöpft. So habe ich, wonach mancher Großsammler sich sehnt, ein Museum. Kein Sponsoring via PPP oder ähnlichem. Vollmäzenatentum.

Und nun beginne ich zu entdecken, was seit ungefähr vierzig Jahren sich bei mir angesammelt hat. Die kleine, etwa postkartengroße Zeichnung von Regine von Chossy, passabel photographiert von einem Apfel, dürfte mich vor circa fünfundzwanzig Jahren, es mögen dreißig sein, erreicht haben. Mit einem Mal rückt sie in mein Blickfeld, geht mir nicht mehr aus dem Kopf, beschäftigt mich. Sie gefällt mir wie damals, ich sehe zudem eine fast verblüffende Kontinuität. Angenehme Erinnerungen gesellen sich hinzu. Und nach so langer Zeit der Vernachlässigung mache ich mir erst jetzt Gedanken darüber.

Die werde ich in den nächsten Tagen aufschreiben. Und vielleicht auch weitere Gemälde und Zeichnungen aus meinem Museum vorstellen, das mittlerweile auch die Aufmerksamkeit anderer erregt. Und ich hatte sie lange Zeit in meinem Fundus begraben.
 
Di, 18.09.2012 |  link | (2687) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Ententätische Herzinsuffizienz

Zur Verfügung gestellt von der Europäischen Zentralbank.

Ich hätte sie zwar noch selber in meiner Schublade der bewährten Währungen, andere haben dafür einen Trésor, wie der Schatz zuhause, wo schließlich gegessen wird und sonst nirgends, genannt wird, als der genannt zu werden ich unter Androhung von Liebesentzug, also strengstens untersage, wie die hundertsechzig Schekel, die mir mein Vater Mitte der Sechziger mit der Anmerkung zusteckte: «Man weiß ja nie.» Das war nicht eben wenig. Heutzutage reicht's fürs Taxi, um vom Flughaufen wegzukommen. Da aber so zart und feingliedrig wie die EZB mein Geldvervielfältiger nunmal nicht in der Lage ist, zu agieren, leihe ich es mir eben, wie die europäischen Großpleitiers, von der Zentrale. Hinzu kommt, daß meine einst für, wenn ich mich recht erinnere, knapp dreitausend Mark erstandene, Jahre später für immerhin nochmals sechshundert Euro aufgepeppte Photo-shoppinghopping-Weichware am großen EiMäck G5 sich seit kurzem weigert, solche Transaktionen auszuführen: «Konnte den Vorgang nicht ausführen, weil ein Programmierfehler auftrat.» Ob's an der einen oder anderen Technik liegt, kann ich nicht beurteilen, die Technologie wird's kaum sein, es sei denn, die Geisterhand des toten Magiers zaubert Störungen hinein, ich bin schließlich kein Experte wie Herr Jedermann aus Salzburg und sonstwo. So greife ich einfach auf das Altbewährte zuzück, wie beispielsweise auf meine nicht durchelektronisierte entitätische Ente, die Seiende, im hier besonderen Fall auf den ollen, langsamen, aber beschwerdefrei laufenden G4-Apfel. Manchmal überkommt mich ohnehin das Verlangen, den 1991 für tausend Mark im Sonderangebot gekauften Klassiker aus dem Dachboden archäologisieren zu wollen, an dem ich das Digitalisieren meiner Gedanken einigermaßen in die Griffel bekommen habe, aus der Zeit, als Steve Jobs noch kein modischer Gott der massenhaften Individualisten und noch Ideenleiter einer noch etwas kleineren Klitsche war, die noch nicht die taiwanesisch-chinesischen Massen ausbeutete, auf daß das westliche Volk aus Prinzip das schick-kreativliche Adebai ausleben konnte.

Fünfzehnmal das Konterfei von Claude Debussy vorn und hinten, das war der Betrag, den der Dépanneur mir abverlangte, als der Deux Chevaux vor einigen Jahren wegen Herzmuskelschwäche mit lautem Kreischen ihre Funktion verweigerte. Es war, wie auch anders, Notfälle wie Wasserrohr- oder Zahndurchbrüche geschehen nunmal zu Wochenenden hin, an einem Freitagabend. Dunkel war's, lediglich die Batterie gab noch ausreichend Helle, um's bis nach Lyon-Nord zu schaffen. Dort, ich habe es schon einmal beschrieben in Enten(aus)flüge.
Der Tankwart rief den Dépanneur. Und ich trank einen nach dem anderen von diesen Sechs-Francs-Automaten-Espressi, die entsprechend schmecken: kaffee-ähnlich. August war's. Sämtliche Wohnmobile Nord-Europas sowie ein paar bis unters Dach mit Kleidungsstücken und Kindern gepolsterte Kleinwagen, deren Insassen wohl allesamt gerade dem gegenüber Frankreich sehr viel kosten-günstigeren spanischen Sonnenbränden entronnen waren, befanden sich auf dem Rastplatz Lyon-Nord — in dieser Richtung eben so eine Art Alien-Tor. Denn Menschen, so heißt es im Süden des Landes, könnten nördlich von Lyon ja wohl kaum leben.
Widerwillig, erschielte er doch das deutsche Kennzeichen, dann aber doch freundlicher werdend, denn er operierte schießlich an einem französischen Nationalheiligtum zumindest der über Fünfzigjährigen herum, neben Les Bleus, den Siegern aller Altersgruppen, man schrieb das Jahr 2000, und auch keine Verständigungsschwierigkeiten waren weiter zu monieren, dieser Nothelfer also fingerte unter dem funzeligen Licht einer Laterne am Rand der überbevölkerten Raststätten-gesellschaft wie ein Blinder ein paar Minuten in den Eingeweiden, um dann lapidar festzustellen: l'alternateur, der Dynamo, die Lichtmaschine. Die samt dem Rest des fahrbaren Gartenstuhls wollte er in der nächsten Werkstatt abladen. Die öffnete erst am darauffolgenden Montag ihren Einlaß wieder. Der Herr, Gott über lässiges Weiterfahren, mußte lange bekniet werden von mir, bis er sich bereit fand, in seiner artfremden Werkstatt die Operation vorzunehmen. An Tag danach klingelte im Hotel frühmorgens das Telephon, wo ich denn, bon Dieu de merde, bleibe, der Deux Chevaux pumpe wieder Energie. Er war zu seinem Copain gegenüber auf den Schrottplatz geschlurft, hatte sich eine dieser Erleuchtungsmaschinen geholt und diese bon gré mal gré, also nolens volens auch eingebaut, um endlich seine Ruhe vor mir zu haben, erstmal einen petit Rouge zu nehmen und sich anschließend zum Nickerchen hinzulegen.. Dreihundert Francs mußte ich ihm über den Tresen reichen, für alle von ihm erbrachte Leistungen. Über ihn gezogen hatte er mich damit wahrlich nicht, war das doch weniger, als mich die Übernachtung im dreisternigen Mercure kostete, zu dem er mich kutschiert und an dem er mich abgeladen hatte, nachdem mein seinerzeitig bevorzugtes Novotel belegt war wie alle anderen mietbaren Schlafstätten auch, es war schließlich Hauptreisezeit. Ich gab's ihm in Zwanzigern, die mir zuvor und aus unerfindlichen Gründen ein Geldautomat zu acht von diesen mich nicht eben enzückenden neueren Eiffel-Francs, den Zweihundertern geliefert hatte. Dreihundert Francs. das war leicht und rasch umgerechnet: durch drei minus zehn Prozent. Also ewa neunzig Mark kostete die Energiepumpe, die den Lebenssaft zum Entenherz liefert, einschließlich der Operationskosten.

Zweihundertachtzig Euro mußte ich hinlegen, nachdem der Autoschmied das wie ich herzinsuffiziente Tier mit dem Anhänger abgeholt und auch wieder gebracht hatte, weil eben auch die Batterie nicht mehr mitgemacht hatte, wie das ebenso ist, wenn das eine Organ das nächste in die Tiefe des Nonfunktionalen zu ziehen bereit ist. Das ist immer noch weitaus weniger als die Summe oder gar der Stundenlohn von rund hundert Euro und auch mehr, die beispielsweise mein Vermieter, der Gatte von Madame Lucette, hinblättern muß, wenn er seinen Porsche, der nur wenig jünger ist als meine Ente, auf den Hof fährt. Der Privilegierte muß eben ran, weil er der besseren Wünsche hat. Wobei Autoschmied Johann A. Berlenbach eingestand, sich etwa bei einer Riemenreparatur vom Zahn, als wär's ein nur fürs Private bohrender Dentist, des ebenfalls betagten achtzylindrischen Renners zunächst einmal um des Nachdenkens willen ins stille Kämmerlein einzuschließen, bevor er ihm in den Leib greife. Aber er tut das auch für zweiundvierzig Euro die Stunde. Beim Deux Chevaux reicht das für Aus- und Einbau einer Lichtmaschine. Man fährt also besser mit dem Altbewährten.

Deshalb habe ich mir auch wieder eine dieser alten Geräte zur Kaffeezubereitung zugelegt, etwa zu dem Preis einer französischen Entenpumpe aus dem ersten Jahr des neuen Millenniums. Letzte Woche hat, vermutlich aus Solidarität mit der hiesigen, aus Mimi, der Ente und mir bestehenden Kleinfamilie, nämlich auch die letzte Picco aufgehört zu pumpen. Die immer um das Wohl anderer besorgte Frau Braggelmann war dieses Mal meine Dépanneuse. Zum einen hatte sie noch ein Uraltmodell da stehen, für den Fall eines besuchlichen Überfalls meinerseits und einen meiner mich überfallenden Anfälle von Kaffeepausen. Und zum anderen ging sie hurtig an in ihr neues Lieblingsspielzeug, so ein EiPäd, das alles mögliche kann, nur eben (noch?) keinen ordentlichen Espresso zubereiten, um bei ihrer anderen Lieblingsbeschäftigung iBai nach einem Ersatz zur Befriedigung meiner allgewaltigen Sucht nachzuforschen. Da stellte sich heraus, daß es diese vom neben Kaffee überwiegend nutzlos Nettes verkaufenden Großröster wegen Altertümlichkeit ausgemusterten Geräte wieder zu kaufen gibt, vom Althersteller oder einfach nur ewig alten und seriösen Lieferanten niegelnagelneu vorbeigebracht, und zwar zum Preis von anno dunnemals. Nur daß sie jetzt Ciclonetta heißt, dieser nette kleine Zyklon, der meine Droge und mich mit ihr in den Tag oder über den Tag hin schleudert.



Nein, so ein neupostmodischer Kram kommt mir nicht mehr ins Haus. Seit langem nicht mehr. Denn diese immerzu auf dem neuesten Stand Befindlichen liefern mittlerweile viel zu oft verfaulte Äpfel.
 
Do, 12.07.2012 |  link | (3576) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Stand und Ort der Illusionen



Der Photograph Martin Behr, der unabhängig von mir 2007 durch Venedig und seine Biennale bummelte, aber fast alles Bemerkenswerte quasi für mich mit ablichtete, befand sich zwar weit, weit vor der aktuellen oder auch akuten Urheberrechtsdebatte, also als Avantgardist des Schlachtfeldes vor der Meinungslinie: Er legt keinen Wert auf gewisse Rechte. Doch dabei sind wir unterschiedlicher Meinung. Ich beharre auf dem Standpunkt, daß das, was jemand geschaffen hat, auch weiterhin ihm gehören soll. Also aus meiner Landlordperspektive: ©

Übers Heiraten sprachen wir, Frau Braggelmann und ich. Wir saßen gemütlich plaudernd in ihrer bis unter die Decke, die demnächst wohl auch als Ausstellungsfläche ihrer und ihres ihr zuweilen beiwohnenden Herrn Leidenschaft dienen wird, zugekunsten Wohnung, keine Petersburger Hängung mehr, sondern eher eine der Unwillkür, ein wenig Antihaltung vielleicht die puristisch-religiöse Betriebsanleitung gegen das Regulierte, eine Art Un-Willkür, die nach Ralph Köhnen als des Willens Kür ausgelegt werden kann, ein (Gegen-)Katechismus, der die exacte Anordung bestimmter Behübschungen des alltäglichen Daseins wie etwa in diesen dem Bauhaus nachempfundenen Wohnkathedralen, des bläßlichen Abbilds einer nur noch dem Wohlfühl- oder neudeutsch Wellness zurechtgeklitterten Moderne vorgibt, in denen jedes Kunst-Stück genau und unverrückbar dem «richtigen» Ort unterworfen ist.

Nein, nicht um unser beider Hochzeit war die Rede, auch nicht um schon wieder eine der vielen Kinderlein. derentwegen man sich einig der Meinung war, dieses unnütze Ritual wenigstens meinerseits zur Abschaffung vorbereitet zu haben. Es ginge auch nicht. Zum einen erreichte mich das gegen mich gerichtete Urteil aus den Anfangssiebzigern der Schuld wegen böswilligen Verlassens nie. Zum seinerzeit nach dem alten Scheidungsrecht noch erforderlichen Sühnetermin bereiste ich zum ersten Mal die alle fünf Jahre zur Kunstmetropole ausgerufene Weltstadt Kassel, im Grunde außerhalb dieses Events Rand-, besser Sperrgebiet des seinerzeits freiesten aller Deutschlands, wie es zu dieser Zeit noch genannt wurde; fortan sollte ich (fast) nur noch der Kunst wegen dorthin fahren. Ich weiß also bis heute nicht, ob ich frei bin. Und irgendwie meine ich immer wieder mal herauszuhören, Frau Braggelmann habe irgendwie die Schnauze voll. Und nicht nur ihretwegen, denn es kündige sich innerfamiliar schon wieder solch ein Zinnober an. Alles, nicht nur aller Deutschen Lieblingsbundespräsident, habe den Ruf nach Freiheit auf den Lippen, und dennoch stürze sich eine nach dem anderen von den Klippen hinunter.

Im Zuge dieser wiederholten Debatte der Einigkeit darüber, wie wenig sinnvoll dieses Ritual letztendlich sei, da man sich ohnehin bald wieder trenne, erzählte ich ein wenig. aus meinem Angelesenen, hier konkret Angehörten aus dem Volksempfänger. Zunächst war da die Geschichte von dem japanischen Eventler, der meinte, nicht nur die Bindung sei ein Grund zu feiern, auch die Entbindung, worauf er die Organisation solcher Trennungsfeierlichkeiten übernahm. Etwa tausend Euro kostet das, pro Veranstaltung. Frau Braggelmann meinte, für ihr letztes Trennungsritual habe sie noch das Dreifache bezahlt. Da wollte ich mit dem vielgepriesenen Positiven entgegnen, das der Mensch sich offenbar nunmal herbeisehne, mit einem Ereignis, das mich scheinbar band und doch frei sein ließ von dieser Art Kontrakt. In den Siebzigern hatte ich gemeinsam mit einer Freundin in einer Kneipe, wo anders könnte solch eine Kopulation auch stattfinden, die Idee für eine Riesenfeier; heutzutage hieße das wohl Party, die seinerzeit noch in der Küche stattfand. Wir planten unsere Hochzeit. Standesamtlich fand sie nicht statt, aber wir taten so. Einen ganzen Tag und auch die darauffolgende Nacht und auch noch ein Stück des nachfolgenden Tages ließen wir's krachen, rund hundertfünfzig Freunde und Bekannte feierten mit im Zentrum der im Inneren recht überschaubaren Stadt, bis die Müdigkeit einen nach der anderen aussortierte. Noch Jahre danach wurde ich nach meiner Gattin befragt. Von einer Scheidung mußte ich nicht berichten.

Dann kam mir das junge Paar aus dem Kohlenpott in Erinnerung, er ein Schlichter und wohl dementsprechend Verdienender, sie sowohl geistig als auch monetär ähnlich strukturiert. Sie waren dem Angebot einer in die USA übersiedelten, mit einem Einheimischen verheirateten Deutschen gefolgt, einem Paar, das alle Arten von Verehelichungen organisierte, sei es auf einer Harley, zwei Mustangs oder in einer Gondel. Fünftausend Dollar ohne Gebühren für den Standesbeamten oder das Sechsgängemenu im Fünfsternehotel und auch auch exclusive des Flugs von Frankfurt-Hahn inmitten des schönen Hunsrücks nach Las Vegas und wieder zurück. Nun müsse man eben wieder Nudeln mit Tomatensauce vom Discounter mampfen, meinte er kurz vor dem Abflug zurück in den etwas überschaubareren Alltag. Ihm habe dieses ganze Brimborium nicht nur des feierlichen Mahls ohnehin nicht sonderlich zugesagt. Aber er wollte seiner Frau diesen Gefallen tun, nach dem es sie recht ziemlich gedrängt habe. Ich hörte davon, es sei meistens die holde Weiblichkeit, die dieses Eingeläut des Todestags einer Liebe prachtvoll und unvergeßlich wünsche.

Dieser voreheliche Verkehr samt Segnung fand statt in einer Umgebung, von der Frau Braggelmann zunächst nicht glauben wollte, daß es sie gäbe, daß sie eines meiner vielen und gefürchteten Hirngespinste sein müsse. Also hatte ich den Beweis anzutreten. Behilflich war mir dabei die schöne tizianische Pamela Casarin Scorzin aus dem Veneto. Die Fachfrau für bildende Kunst und assoziierende Angelegenheiten verfaßte anfangs des neuen Jahrtausends einen mich immer noch hinreißenden Aufsatz über Venedig in Las Vegas, daraus einen kleinen Auszug:
[...] Wir sind am Ort der Illusionen angelangt! Fließt hier nicht der Zwilling des guten alten vertrauten Canale Grande als verheißungsvoller Fluß einer prosperierenden Oase inmitten eines eigentlich wüsten und geschichtslosen, aber somit nicht mehr gänzlich gesichtslosen, fernen Niemandsland? Wir reiben uns die Augen und staunen weiter hinter unseren Windschutzscheiben: Nur bequeme wenige Autominuten von dem neuen, architektonisch geklonten. mit künstlichem Himmel versehenen Venedig, dem Las Venice, liegen hier wie an einer schimmernden Perlenkette aufgereiht zwischen zahllosen gigantischen Hotelkomplexen, Shopping Centern und Großkasinos die beliebten touristischen Highlights der alten europäischen Kultur- und Architekturgeschichte: Luxor, Rom, Venedig, Paris, Monte Carlo, Bellagio am Comer See, aber auch die städtebaulichen Ikonen der eigenen kurzen kulturellen Vergangenheit der jungen Nation der United States of America, diesen Römern des 20. Jahrhunderts, selbstverständlich alles konsum- und bildgerecht durch den Techni-Color-farbenen Screen Hollywoods betrachtet: Disneyland und New York grüßen hier im US-Bundesstaat Nevada im gleichen Zuge mit ihren ebenso weltweit bekannten Wahrzeichen die jungen und alten Besucher dieser modernsten «City of Entertainment», von denen sich aber die meisten nur etwa drei Tage in die gigantischen Hotelkomplexe aus Tausenden von Betten einmieten möchten. Die berühmt-berüchtigte obligatorische Grand Tour des 19. und 20. Jahrhunderts durch das alte traditionsreiche Europa selbst droht für die Anhänger dieser unterhaltsamen Scheinwelt mit einem Schlag für immer obsolet, zumal Las Vegas inzwischen selbst auch dünkelhaft auf eine genuin eigene Museumstradition verweisen kann: Man/frau/kind besuche etwa das Museum für Neonkunst oder das Liberace Museum, dieser herrlich kitschige Tempel für echten Straß und falschen Glitter an der 1775 E Tropicana Ave! Und, um es nicht zu vergessen, heißen heute die ungekrönten wahren Regenten dieser ultimativen Kapitale des US-amerikanischen Entertainment ‹Siegfried and Roy› — unentwegt smiling, im noblen Mirage residierend, und wie es sich nun mal auch in einem demokratischen Land für wahre Häupter gehört, stets scharf bewacht von ihrer exklusiven Leibgarde aus weißen Tigern. [...]
Das neue Venedig, Siggi und sein weißer König, das wäre ungefähr die Kunst, die von Können kommt, ästhetisch, also fleckenfrei, wie die lieber rück- als vorausblickende Gesellschaft nicht nur als Richter der Kunst erkennt, wie zu des Handwerkers Zeiten, als Herr Gott noch über seinen Stellverteter persönlich Anweisung und Anleitung zur Schöpfung eines Werks und auch das Geld gab. Die Herren sind heutzutage andere. Ich hab's deshalb wohl eher mit der modernistischen Sichtweise des Kuckens. Nun gut, ich habe es anläßlich meiner Wandlung zum Gelassenen schließlich verkündet: Kunst ist, was gefällt. Meinetwegen auch das Heiraten, und sei es prunkvoll in künstlichem Stoff.

Das gefällt mir an den Jungen, die sich einen Teufel um alte Gebetsrituale oder irgendwelche Anweisungen von oben scheren. Dabei spielt es keinerlei Rolle, ob es an mir Gefallen findet.
 
Do, 07.06.2012 |  link | (2193) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Falsche Bewegung

Annäherung an f.



Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle. Das Banner der zeitgenössischen Weltkunst weht in Kürze wieder, bald sind die Automobile erneut geflaggt wie bei einem Fußballevent, welchem auch immer. Fürs erste habe ich mal eine Erinnerung ausgegraben. Die Photographie zeigt die angeregt spirituelle Erschöpfung auf dem Kasseler Tahrir-Platz im Jahr 2007, als der künstlerische Fundamentalismus noch nicht so ausgeprägt mit dem Szepter radaute. Die Säulenheiligen rechts oben stammen übrigens von Stephan Balkenhol. Burkhard Müller-Ulrich meint:
Die Kunst ist nämlich unterdessen zur neuen Religion geworden. Künstler werden wie Heilige verehrt, ihr Schaffen verweist auf einen letzten Rest Mystik in unserer durchrationalisierten Welt, der Umgang damit ist von liturgischer Andacht und Ehrfurcht geprägt, wie man sie aus Klöstern und Kathedralen kennt. Ja, die heutige Kunst erhebt nicht selten den Anspruch einer gewissen Göttlichkeit — selten allerdings so explizit wie jetzt in Kassel.
Beim Gespräch über die Lebenden halte ich mich am besten raus. Als nurmehr Bekucker vom Rand des Geschehens aus habe ich meine fast selige Ruhe. Diese Lebendigkeit neuerer Kunstdiskussion würde ohnehin meinen Blutdruck über die balkenholsche Höhe hinausschießen lassen, und diese Gefährdung meiner Gesundheit hat mir mein Onkel Dorfdoktor strikt untersagt. Burkhard Müller-Ulrich hat das Wesentliche angerissen. Ich kehre zu dem zurück, das da lautet: «Du mußt das nicht verstehen.»

Es gab eine Zeitspanne in meinem Leben, in der ich drauf und dran war, die Züge eines Puristen anzunehmen. Das ist eine Art Religionsersatz für Atheisten. Die vor tausenden an Jahren verfaßten, auch sie in den Stein der Historie gemeißelt, zehn Gebote des Bauhauses galten mir als Katechismus, gegen die Verunreiniger nahm ich einst das Kreuz auf und folgte dem Zug. Es ist seit längerem vorbei. Völlig entfernt habe ich mich nicht von diese Bildgeboten, sie bestimmen nach wie vor meinen Blick, diesen berühmten schicksalhaften ersten, der über Begegnungen entscheidet. ich schätze sie in ihrer Klarheit der Formensprache weiterhin. Aber ich bete sie nicht mehr runter wie einen Rosenkranz. Irgendwann hatte ich nämlich tatsächlich den Eindruck, Alexander Tzonis könnte recht haben mit seiner Aussage, die Jünger, ja diese und nicht die Urheber oder auch Schöpfer des Bauhauses, machten «aus jedem Teeglas ein Problem konstruktiver Ästhetik». Heute verbuche ich es unter Geschmack, der eine oder die andere wird es als einen guten bezeichnen. Doch mittlerweile ist es eine Mode geworden. Ach was, das war vor dreißig Jahren schon so. Ich war häufig zu Besuch in Häusern, in denen mich das Gefühl überkam, mich in Kathedralen zu befinden. Als Museen ließen sie sich auch bezeichnen. Was nach heutigem Wertmaßstab des modernen Konservativimus aufs gleiche hinausläuft. Siehe oben. Genaugenommen hat die in den Neunzigern endgültig eingesetzte Appleritis exakt diesen Ursprung, sowohl in der Formgebung als auch in der Anbetung dieser Reliquen. Wer der Chose auf den Grund geht, wird möglicherweise herausfinden, daß die im Prinzip nichts anderes darstellen, nicht anders zu beurteilen sind als der vielzitierte röhrende Hirsch. Lediglich die Geschmäcker haben sich ein wenig gewandelt. Die eine Masse will sich von der anderen mithilfe von Masse absetzen. An der Marke dieser neuen Masse soll man ihre Glaubenszugehörigkeit erkennen. Meine Vorlieben eben auch. Sie reduzieren sich wie einer guter Fond. Essen ist der Sex des Alters. Ich habe das Glück oder, nenne ich's mal so: das Schicksal ist lieb zu mir, indem es mich nach meiner Privatisierung nicht dem «Angenagelten», wie ihn mein auch schon Federn lassender Adler Henri II kürzlich nannte, zuführt und auch keinen anderen samt Gemeinde anbeten läßt, sondern mich zusehends von dieser Last des Glaubens befreit, die mich in dem stärkt, das da lautet: Kunst ist, was gefällt.

Ich mach's heute nicht so lang. Es steht noch anderes auf meiner «Agenda». Morgen mache ich weiter in meiner Meinungsmache gegen alles Religiöse. Auf Kon- sowie auf Destruktion, auf Bilden sei schwieriger als zerstören, diese kürzlich an mich gesandte, mich gemahnende Botschaft, werde ich möglicherweise eingehen. Denn meinen Kopf schüttelt es immer heftiger. Aber wer weiß, vielleicht ist es eine Art Veitstanz, dieser faux mouvement, der ja bekanntlich erst mit fortgeschrittenem Alter Bewegung in einen bringt.
 
Mi, 06.06.2012 |  link | (2574) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

«Du mußt das nicht verstehen.»



Die Abbildung zeigt Robert Filliou aus der Serie Leuchtende Vorbilder von Vollrad Kutscher, genauer: sie sind das letztendliche, kunsttrunkene Ergebnis von Séances en chambre noire.


«Freundlicher Jean», sprach und schrieb mich in jüngeren, noch ein wenig unbeholfenen Jahren ein mir gegenüber alterstechnisch eigentlich unbedeutend fortgeschrittener, aber geistestechnologisch um einiges vor mir das Feld vorhutender, also erkundender Herr an, ich ein immer noch von der Bettwärme des elterlichen 19. Jahrhunderts, von der Religion der reinen Aufklärung Gehüteter und damit auch einer gewissen Bildferne Geprägter, er ein gelernter Soziologe mit ausgeprägt «moderner» Neigung zum Dadaismus und auch zu dessen Verständlichmachung, der mir später im Lauf brotarbeitlichen Zusammentuns zum Freund wurde, eine eigenwillige Anrede, die ich bis heute sehr mag und schätze wie seine Weise oder Art der Kunstvermittlung. Fast blind war er, ohne Brille sah er nichts, aber auch mit ihr rumpelte er in fremder Umgebung ständig gegen Schränke oder unnütz in der Gegend herumstehende Immobilitäten, seine Wohnung bestand nahezu ausschließlich aus an Wände beseitigte Regale mit Büchern von A wie Alchimie oder Albertus Magnus bis Z wie Zarathustra oder Zinsrechnung, sah er sich etwa in einem Museum oder einer Galerie, wie diese Kunsträume früher genannt wurden, als sie noch nicht alleine dem Verkauf zugedacht waren, Gemälde an, war er gezwungen ganz nahe an sie heranzutreten, fast in sie hineinzukriechen oder hinter die Sache an sich zu kommen, um dann schier unglaubliche Erkenntnisse zum besten zu geben, die mit Ich sehe was, was du nicht siehst nur unzureichend bschrieben sind. Ich müsse das nicht verstehen, meinte er. Soweit ich mich recht erinnere, ging es damals um Schrift- beziehungsweise Sprechstücke von Schwitters, von dessen Bildern ich mich andererseits bereits verstanden zu wissen meinte. Ich solle mich einfach auf sie einlassen, dann kämen sie schon zu mir, quasi wie die Katze oder das Kind. Wenn ich bereits eine Nähe zu den Abbildungen der schwitterschen Wirklichkeitswahrnehmung festgestellt hätte, dann läge es nahe, daß auch sie bald auf mich zukämen. Das wesentliche aber sei überhaupt, solch ein Stück Kunst sei mir gewissermaßen sympathisch, dann gefiele es oder dessen Worte mir auch. Irgendwie, dieses Wissen war mir bereits vorher bekannt, gehörten immer zwei dazu, das Zusammen und der Hang. Die Liebe käme dann im Lauf der Zeit. Und wenn nicht, dann hemme es den Lauf dieses schönen Triebes auch nicht, sie hätte nicht einmal einen Interruptus, denn alles flösse, wie man es schon diesem Herrn Heraklit untergejubelt hätte, obwohl dessen Sinn dabei nach anderem stand, die Kunst als Leben lasse sich nicht verhüten, dieser Schoß sei immer fruchtbar, sie gebäre fröhlich vor sich hin, auch wenn manche der Meinung seien, er sei furchtbar und deshalb keine Kunst.

Eigentlich sollte es hier ja einen nächsten Absatz geben und sogenannt f. oder gar ff. weitergehen. Anlaß war und ist mir das Schreiben einer freundlichen, also einer lieben Dame, die mir mitteilte, sie verstünde nichts von Kunst, nicht zu vergessen das eines mich mittels seines auf der Tastatur recht weit nach oben zeigenden Fingers belehrenden Herrn, dem ich folglich folgen muß in der Meinung, Kunst habe gefälligst von Können zu kommen. Aber ich wurde beziehungsweise werde kurzfristig und -zeitig am weiteren assoziativen Flanieren gehindert. Deshalb interruptiere ich erst einmal und lasse es zur vorgerückten Stunde weiter pantha-reisieren, nehme später den gedanklichen Pfad wieder auf, haue mir mit Hilfe des kleinen Machetchens logischer oder wirrer Erinnerung den Weg frei durch den Chaos-Dschungel meines nach dem scheinbar picabiaschen Prinzip mittlerweile offenbar völlig postmodernisierten, also absolut nichts mehr verstehenden Kopfes. Ich bummle, also bin ich. Also eventuell ff.


Falsche Bewegung



Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle. Das Banner der zeitgenössischen Weltkunst weht in Kürze wieder, bald sind die Automobile erneut geflaggt wie bei einem Fußballevent, welchem auch immer. Fürs erste habe ich mal eine Erinnerung ausgegraben. Die Photographie zeigt die angeregt spirituelle Erschöpfung auf dem Kasseler Tahrir-Platz im Jahr 2007, als der künstlerische Fundamentalismus noch nicht so ausgeprägt mit dem Szepter radaute. Die Säulenheiligen rechts oben stammen übrigens von Stephan Balkenhol. Burkhard Müller-Ulrich meint:
Die Kunst ist nämlich unterdessen zur neuen Religion geworden. Künstler werden wie Heilige verehrt, ihr Schaffen verweist auf einen letzten Rest Mystik in unserer durchrationalisierten Welt, der Umgang damit ist von liturgischer Andacht und Ehrfurcht geprägt, wie man sie aus Klöstern und Kathedralen kennt. Ja, die heutige Kunst erhebt nicht selten den Anspruch einer gewissen Göttlichkeit — selten allerdings so explizit wie jetzt in Kassel.
Beim Gespräch über die Lebenden halte ich mich am besten raus. Als nurmehr Bekucker vom Rand des Geschehens aus habe ich meine fast selige Ruhe. Diese Lebendigkeit neuerer Kunstdiskussion würde ohnehin meinen Blutdruck über die balkenholsche Höhe hinausschießen lassen, und diese Gefährdung meiner Gesundheit hat mir mein Onkel Dorfdoktor strikt untersagt. Burkhard Müller-Ulrich hat das Wesentliche angerissen. Ich kehre zu dem zurück, das da lautet: «Du mußt das nicht verstehen.»

Es gab eine Zeitspanne in meinem Leben, in der ich drauf und dran war, die Züge eines Puristen anzunehmen. Das ist eine Art Religionsersatz für Atheisten. Die vor tausenden an Jahren verfaßten, auch sie in den Stein der Historie gemeißelt, zehn Gebote des Bauhauses galten mir als Katechismus, gegen die Verunreiniger nahm ich einst das Kreuz auf und folgte dem Zug. Es ist seit längerem vorbei. Völlig entfernt habe ich mich nicht von diese Bildgeboten, sie bestimmen nach wie vor meinen Blick, diesen berühmten schicksalhaften ersten, der über Begegnungen entscheidet. ich schätze sie in ihrer Klarheit der Formensprache weiterhin. Aber ich bete sie nicht mehr runter wie einen Rosenkranz. Irgendwann hatte ich nämlich tatsächlich den Eindruck, Alexander Tzonis könnte recht haben mit seiner Aussage, die Jünger, ja diese und nicht die Urheber oder auch Schöpfer des Bauhauses, machten «aus jedem Teeglas ein Problem konstruktiver Ästhetik». Heute verbuche ich es unter Geschmack, der eine oder die andere wird es als einen guten bezeichnen. Doch mittlerweile ist es eine Mode geworden. Ach was, das war vor dreißig Jahren schon so. Ich war häufig zu Besuch in Häusern, in denen mich das Gefühl überkam, mich in Kathedralen zu befinden. Als Museen ließen sie sich auch bezeichnen. Was nach heutigem Wertmaßstab des modernen Konservativimus aufs gleiche hinausläuft. Siehe oben. Genaugenommen hat die in den Neunzigern endgültig eingesetzte Appleritis exakt diesen Ursprung, sowohl in der Formgebung als auch in der Anbetung dieser Reliquen. Wer der Chose auf den Grund geht, wird möglicherweise herausfinden, daß die im Prinzip nichts anderes darstellen, nicht anders zu beurteilen sind als der vielzitierte röhrende Hirsch. Lediglich die Geschmäcker haben sich ein wenig gewandelt. Die eine Masse will sich von der anderen mithilfe von Masse absetzen. An der Marke soll man ihre Glaubenszugehörigkeit erkennen. Meine Vorlieben eben auch. Sie reduzieren sich wie einer guter Fond. Essen ist der Sex des Alters. Ich habe das Glück oder, nenne ich's mal so: das Schicksal ist lieb zu mir, indem es mich nach meiner Privatisierung nicht dem «Angenagelten», wie ihn mein auch schon Federn lassender Adler Henri II kürzlich nannte, zuführt und auch keinen anderen samt Gemeinde anbeten läßt, sondern mich zusehends von dieser Last des Glaubens befreit, die mich in dem stärkt, das da lautet: Kunst ist, was gefällt.

Ich mach's heute nicht so lang. Es steht noch anderes auf meiner «Agenda». Morgen mache ich weiter in meiner Meinungsmache gegen alles Religiöse. Auf Kon- sowie auf Destruktion, auf Bilden sei schwieriger als zerstören, diese kürzlich an mich gesandte, mich gemahnende Botschaft, werde ich möglicherweise eingehen. Denn meinen Kopf schüttelt es immer heftiger. Aber wer weiß, vielleicht ist es eine Art Veitstanz, dieser faux mouvement, der ja bekanntlich erst mit fortgeschrittenem Alter Bewegung in einen bringt.
 
Di, 05.06.2012 |  link | (2713) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Undemokratische Massenkultur

Weil's ein Thema für sich ist, wenn es auch nichts ohne Zusammenhänge gibt, und eine Eigendynamik entwickeln könnte, trenne ich's vom auslösenden Anlaß ab und stelle es gesondert ein.

Massenkultur sei die undemokratischste Form der Kultur, notierte Pier Paolo Pasolini einmal. In welchem seiner Werke ich das gelesen habe, das weiß ich nicht mehr, auf jeden Fall zum ersten Mal in den Siebzigern und dann noch zwei- oder dreimal. Es war und ist eine seiner vielen Polemiken, sie darf eben nicht am Strich gelesen, also an der Naht entlang übersetzt werden, wie das leider immer wieder geschieht. Dennoch nehme ich sie mal eben so dran, sie gehört nämlich unmittelbar hierzu und hierher auf diese Seite, die schließlich vom (Ewig-)Gestrigen genährt wird, das auch vor Sedlmayrs Verlust der Mitte oder Ortega y Gassets Der Aufstand der Massen oder Henrik de Mans Vermassung und Kulturverfall nicht zurückschreckt. Denn die reine, nicht interpretierte Aussage modifiziert sich geradezu ungeheuerlich seit Mitte des ersten Dezenniums des dritten Jahrtausends.

Das aktuelle oder auch akute Problem scheint offensichtlich die unterschiedliche Form der Darstellung auf verschiedenen Bildschirmen. Ob es dabei eines zwischen Apfel und Dose gibt, entzieht sich meiner Kenntnis. Auf dem meines G5-Eies kommt die Schrift wesentlich kleiner als auf dem des G4. Ich dippele jedoch weiterhin auf dem Lampenschirm-EiMäck, da ich Genius zwar unbegreiflicherweise den Rechner mit dem (höchst selten genutzten) Hollywood-Breitleinwand-Format renaissanciert habe, aber nicht in der Lage bin, dessen eMail-Gewerk neuerlich ingang zu bringen.

Daß ich das Lay out an sich nicht verändere, allenfalls mal Kleinigkeiten wie die Schrift, um scheinbare Verbesserungen zu erzielen, jedenfalls diejenigen, die vor meinem Auge bestehen müssen, hat nichts mit Scheu vor Veränderungen zu tun. Bestand hat bei mir eine Gestaltung, solange sie meinem formalästhetischen Blick gerecht wird; wie erwähnt: mir muß sie genehm sein. Trotz aller mir eigenen Geschwätzigkeit käme ich auch nicht auf die Idee, einen meines Erachtens einmal wohlformulierten Satz umzubauen; ich greife nur dann ein, wenn der Picabia in mir dem förmlichen Denken mal wieder eine neue Richtung diktiert hat. Das, was viele Menschen Abwechslung nennen, etwa das Herumschieben von Möbeln, benötige ich nicht nur nicht, sie sind mir ein Greuel. Ich bin dabei sehr französisch: einmal ein Haus gebaut wie es einem gefällt, bleibt es, wie es ist. Geld ausgegeben wird nicht alle fünf Jahre für neue Möbel aus Schweden beziehungsweise aus russischen oder chinesischen Wäldern und Fabriken, sondern eher für das, was auf den Tisch soll. Hierbei mag es opulent zugehen, ansonsten beherrscht wärmender Minimalismus meine Zuhause und Arbeitsplätze. Allenfalls an den Wänden finden hin und wieder Veränderungen statt, aber auch nur dann, wenn Frau Braggelmann mal wieder etwas aus meinem Fundus ausgegraben hat, das zu umfangreich war, um in dem kleinen Automobil entführt zu werden. Frau Braggelmann ist eine leidenschaftliche Archäologin und offensichtlich neuerdings auch noch Detektivin, sie fahndet, unter Hinterlassung bedenklicher Spuren, nach einem Ötzi aus dem Voralpenland. Vermutlich zu diesem Behufe bekommt sie alle drei Jahre ein zwar lüttes, aber doch neues (jetzt schon wieder). Mir reicht mein fast dreißig Jahre altes, das auch von einem Schmied repariert werden kann, ob von einem in der Franche Comté oder in Holstein.


Fremde fremdeln bei mir allenfalls bei den von manchen als Unordnung empfundenen Niederlagen von Büchern am Rand von Regalen, wo Gedrucktes beziehungsweise Gebundenes sich nunmal ständigem Hin- und Hergezerre unterworfen ist, doch auch andere Ablageplätze finde ich immer wieder; bei der cuisine américaine beispielsweise habe ich sie unten dezent verborgen, etwa nach der braggelmannschen Drohung: Wenn hier mal jemand zu Besuch kommt, der wird sich seinen Teil denken! Möge er es tun, ich habe das sogenannte Chaos lediglich aus dem Bild für die US-amerikanische oder deutsche Landhausfrau genommen, mich irritiert das weniger, es ist Bestandteil meiner bald seit siebzig Jahren mehr oder minder problemlos funktionierenden Festplatte, von freiheitlich gesinnten, also glaubensfernen, keinerlei Ismus wie dem puren anhängenden Gestalter, von ihnen irgendwie zufällig oder auch nicht oben montiert.


Gestalterisch orientiere ich mich nach wie vor am Erscheinungsbild des Laubacher Feuilleton, das zwar immer wieder mal Veränderungen erfuhr (1, 2, 3), aber eben auch nur minimale, für den ungeübteren Seher kaum merkliche. Ich hänge eben nach wie vor dem Prinzip der Bleiwüste an, bin zu sehr dem Holzblättchen verhaftet, auch im Zeitalter der Digitalisierung. Mich macht dieses Gehüpfe und Gezappele, samt dem emoticonionalen Gezwinkere, nicht zuletzt der ständige Wechsel von Schriftarten und -größen, die Vermischung beispielsweise von Grotesk- und Serifenschriften (die ich, obwohl sie besser lesbar sein sollen, wie mir Henner Reitmeier mitteilte, nicht anschauen mag), die mit der Vermassung des Computers bereits in den Mitneunzigern bei Seminar- bis hin zu Doktorarbeiten und gar Habilitationen einsetzten, als die akademische Welt meinte, auch typographisch mitwirken zu müssen. Daß bei solchen formalen Anstrengungen manchmal der eine oder andere Inhalt ins Hintertreffen geriet und zunehmend gerät, ist eine der Randerscheinungen, die nicht hingenommen werden müssen.
 
So, 20.05.2012 |  link | (2727) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Kultisches ohne Ende?

Erinnerungen, ausgelöst durch Belebender Müßiggang.

Leicht abfällig äußerte sich 1996 Niels Höpfner und setzte fort: «Es geht die Mär, Telephonieren via Handy verursache vielleicht ... eventuell ... Gehirntumore: Wie fabelhaft das wäre! Bekanntlich läßt sich der Teufel am besten mit dem Beelzebub austreiben.» Teufel. Beelzebub. «Als ich jedoch kürzlich einer jungen Schönen, ganz en passant, pädagogisch wertvoll zuraunte: ‹Wenn Sie sich so selbst sehen könnten, würden Sie nie wieder auf der Straße telephonieren!›, giftete die bloß keifend zurück: ‹Verpiß dich, alter Sack!›» Ich als mich jung und forschrittlich fühlender ebenfalls alter Sack gehörte zwar zu den zurückhaltenderen Sicht- und Hörbaren, war aber dennoch gemeint.


Kultgegenstand? Das war doch mal, oder? Für mich bedeutet es eher eine Rückblende in die frühen Neunziger, während der ich bei diesem Telephontheater nicht ohne Reiz an neuester Technik mitgespielt habe, bot sie doch einen Teil dessen, den ich heute nicht (mehr) unbedingt unter Freiheit einordnen würde. Ich gab anfänglich noch Rauchzeichen über ein Steinzeitmodell (B-Netz), das nur dann angefunkt werden konnte, wenn der Anrufer wußte, in welchem Vorwahlbereich ich mich aufhielt. Dann hatte ich umgerüstet aufs C-Netz, mit dem ich sogar, von oben her ins Land eintauchend, bis kurz vor Belfort erreichbar war (wo für mich aus der Perspektive des Anstiegs von Nord nach Süd mit der Franche-Comté Frankreich ohnehin erst beginnt), was vermutlich damit zusammenhing, daß der deutsche monopole Anbieter Post auf seiner rechtsrheinischen Seite überall ausreichend starke Sender aufgestellt hatte und auch die Sendekraft des eigenen Geräts unvergleichlich höher war als die heutigen Brusttaschenformate (der Begriff Protest gegen Elektrosmog oder Hirntumor war vermutlich noch nicht erfunden), gleichwohl die Benutzung außerhalb des Sendegebiets untersagt war, bei der Einreise in schweizerisches Honheitsgebiet wurde das Gerät gar behördlich versiegelt). Dann ging meine Horch- und Funkanlage in der Tiefgarage eines Hotels verlustig, man hatte mir das Auto aufgebrochen und die komplette Anlage ausgeräumt (die Empfangs- und Sendestation war zu recht im Kofferraum stationiert, sie hatte entsprechendes Format und etwa das Gewicht eines Trabbi-Motors1). Ich erstand zwar zunächst noch für circa siebentausend (West-)Mark gebrauchten Ersatz, legte mich dann aber endgülitg aufs Mobile (über den Begriff Handy lachten wir uns seinerzeit noch kringelig) fest, weil ich keine Lust mehr hatte, das Auto jedesmal komplett absichern zu lassen, wie das der Réceptionniste eines Pariser Hotels empfahl. Der eiserne Vorhang war durchlässig geworden, und solche Gerätschaften waren überaus begehrt (nicht nur) im Osten.

Aber ich habe es tatsächlich mit wenigen Ausnahmen zu beruflichen Angelegenheiten benutzt, beispielsweise, um in den Anfängen dieses Geräts einigen Leutchens die Möglichkeit zu bieten, der Mama oder dem lieben Frauchen auch mal elektronisch mitteilen zu können, sie mögen gefälligst das Essen auf den Tisch stellen, denn er komme jetzt nachhause. Die Tatsache, daß ich nur mit denen gern telephoniere, die mir auch etwas zu sagen haben, hat mir das sicherlich erleichtert. Seit geraumer Zeit, nicht erst seit ich in den endgültigen Müßiggang des nur noch aus Freizeit Bestehenden übergegangen war — ein Flaneur war ich zuvor bereits, da ich es spätestens seit Ende der Neunziger, seit der (Ré-)Naissance meines anderen Ichs so halte, wie es auch Karlheinz Geißler in Radio Wissen von sich beschrieben und hier auch angerissen hat2 —, von da an war der Communicator (soweit ich mich erinnere, hat ein finnisches Unternehmen sein Hyperspitzengerät gar so genannt) jedoch ohnehin meist ausgeschaltet, genutzt lediglich in sogenannten Notfällen (aber selbst wenn sie eintraten, hatte ich es dann nicht dabei, wie hier aus der Frühzeit erzählt). Kurzum: ganz auf ein solches Notfalltelephon möchte auch ich nicht mehr verzichten, nachdem die Ente sich mal an einem Waldrand auf ihr Recht zu pausieren berufen hatte. Aber ich habe vor ein paar Monaten die alte, seit etwa 1993 bestehende Rufnummer geändert; die kennen nur die Lieben. Mitgenommen wird es nur, wenn ich auf abenteuerliche Zwei-Pferde-Ausflüge gehe. Sogar ich mag nicht eine Stunde oder länger am Waldrand stehend warten, bis das abgesoffene Vieh sich von einem Fettgemischschluckauf wieder erholt hat, verursacht durch einen Fehltritt aufs Gaspedal beim Wiederanlassen nach einer Entwässerungslosung. Dann ist der Notfall eingetreten und will jemand angerufen werden, der einen aus der Waldes(un)lust befreit.

Etwas, wie Sie es so schön nennen, «yahoogeln zu können», nun ja, so mag's den sein. «Aber vorher [...] überlegen, ob es nicht doch was wichtigers zu tun gibt.» Im besseren Fall auch einfach nichts. Oder vielleicht einfach nur Leutchens kucken, möglicherweise was sie mit ihren noch nicht einmal von der stummen Arthrose befallenen Fingerchen an kapriolischer Artistik fabrizieren, vermutlich mittlerweile sogar im altwienerischen «Kaffeehaus» — sofern das nicht auch längst unter einem elektronischen Schirm verschwunden ist wie viele andere gastromischen Betriebe des Fortschritts.

Beim Kaffeehaus fällt mir schlagartig die Geräuschkulisserie ein, auch der, nach Ambrose Bierce, Gestank im Ohr. Man erinnere sich: Eine Zeitlang lagen auf nahezu jedem Kaffehaustisch mehrere von diesen Gerätschaften herum, später vibrierten sie sich dann auch gegenseitig einen runter. Mittlerweile bitten Theater per Leuchtband oder Laufschrift (am Rande eingeblendet, hier darf ich's tun: von Jenny Holzer in den Neunzigern so übermäßig wie die von ihr kritisierend (?) eingesetzten, nach meiner Meinung eher selbstkarikiernd, also unfreiwillig komisch wirkenden Botschaften ohne Selbstironie: Bundestag), vergleichbar mit denen der sogenannten Informationssender, die Zuschauer, ihre Dinger doch bitteschön auszuschalten oder ihre Selbstbefriedigung durch Kommunikation (spricht heute eigentlich noch jemand von Gespräch?) außer Haus (to go?) zu betreiben. So ändern sich die Zeiten. Gestern fuhr man stolz Untertückheim, neuerdings versteckt man den dicken Stern sogar in Deutschland oder tauscht ihn gegen batteriebetriebene Fahrzeuge ein, jedenfalls diejenigen, die nicht unangenehm auffallen wollen, um nicht für einen Proleten gehalten, sondern zur Intelligentja gezählt zu werden.

Niels Höpfner meldet: «der Autor besitzt auch 2009 noch kein Handy.» Er hat das fortschreitende Wirtschaftswachstum nicht behindert. Aber auch meine, unsere hinterherhinkenden Nachdenklichkeiten werden das kaum tun. Die Welt will nicht verbessert werden.


1Der Trabbi findet hier gegenüber dem Deux Chevaux bevorzugte Erwähnung, als er zu dieser Zeit gefragter war; auch, da damals ein in München gastierender Reifenmechanikus an der früheren Voiture meinte: Meene Güte, in den Gofferraum paßt ja'n Trabbi rinne.

2Ich immer eher zu früh bin, fast immer den früheren Zug nehme, immer einen Tag früher losfahre und gern auch einen Tag später wieder weg, ja das geht, man muß es nur wollen, und keineswegs weniger schafft man auf diese Weise, eher mehr, da man in der Regel ausgeruht ist und dadurch das wunderliche Synapsenwerk viel rascher ingang kommt und dem Untergebenen klarere Befehle zu erteilen weiß.

 
Do, 26.01.2012 |  link | (2270) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 





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