Anhalters goldener Käfig

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen.Der Reise vierter Teil.
Wehe ihm, dem Unbesonnenen, der falsch und als Verräter,
Den flämischen Löwen streicheln kommt und treulos ihn schlägt.
Nicht eine Handbewegung, die er aus dem Auge verliert:
Und merkt er, daß er getroffen ist, stellt sich seine Mähne und er brüllt.
Sie werden ihn nicht zähmen …
Es war ein Fanal. Das sollte ich zwar erst um einiges später erfahren, aber ich ziehe es nach vorne, da es einiges erklären hilft. Die hier vorgenommene Inszenierung war so eine Art Karneval, der ja sogar mittlerweile im protestantischen Teil Belgiens — vergleichbar etwa mit dem Territorium der nordelbischen Kirche — seltsame Urständ feiert, zumindest auf den Bühnen der Dorftennen. Doch wie hinter jedem noch so platten Büttenwitz oder vielleicht doch der Landschaft eher gemäßen Äußerung, etwa in Mijn vlakke land, «mit seinen Kathedralen als höchsten Bergen … Mit einem Himmel so tief, daß ein Kanal sich darin verirrt … Mit einem Himmel so grau, daß man ihm nicht böse sein kann … mein flaches Land», hinter jedem lustigen oder traurigen Anphilosophieren also meist mehr als ein Gran Wahrheit steckt, zumindest aber Wirklichkeit, war das auch hier der Fall: ein vielleicht etwas witzungeübter und eben deshalb fröhlich mit Tschingderassapäng aufgefleischter Knochen aus dem Gerippe einer, zumindest für diesen Teil, traurigen Familiengeschichte, hier eben den Patriotismus gleich mit einbringend.

Sie, die junge Frau aus altem flämischen Adel hatte in den fünfziger Jahren einen jungen Mann auf einem Wochenmarkt kennengelernt. Er verkaufte Kühlschränke. Offensichtlich machte der wenig marktschreierische Haushaltsgeräteverkäufer Eindruck auf die Adlige. Nicht alleine seine eloquente Art war's wohl, die das Fräulein aus sehr gutem Hause beeindruckte, vielmehr die Tatsache, daß die verkauften Kühlschränke allesamt nicht nur von ihm selbst entwickelt, sondern auch noch von ihm persönlich angefertigt worden waren. Einer, der nicht nur der schönen Worte mächtig war, sondern darüber hinaus auch noch anpacken konnte, das hat sie ihm derart um den Hals geworfen, ihn sich in ihr Herz eingraben lassen, daß sie für ihre Familie unrettbar verloren war. Die war nämlich über diese Verbindung alles andere als glücklich. Ein Ingenieur wäre vielleicht gerade noch akzeptabel gewesen. Aber ein Händler, auch noch einer, der auf Wochenmärkten feilbot, was man ja nun wahrlich nicht benötigte, da man schließlich tiefe Keller hatte, in denen man kühlte, mit Eis, das geliefert wurde wie seit Jahrhunderten, und seien es auch nur zwei, und alles andere immer frisch angelandet wurde ... Wirklich nicht. Alles mögliche unternahm man, dem Töchterlein diese Herzschmerz-Flausen auszutreiben. Es nutzte alles nichts. Das Fräulein Tochter zog mit dem jungem Mann über die Dörfer. Nachts bauten sie Kühlschränke, tagsüber verkaufte man sie. Was ihr nach jahrelangem üblen Gezerre mit der Familie blieb, war das, was diese schließlich als Pflichtteil des Familienerbes herausrückte, ein Schlößchen, ein Kasteel, wie's im Land heißt, eine der vielen Latifundien aus dem Besitz der blaublütigen Sippschaft.

Dort lebte man dann. Privat. Die in der Folge entstandene Kühlschrankfabrik mit circa zweihundert Arbeitern, die die beiden in jahrelanger mühsamer Arbeit aufgebaut hatten, befand sich etwa vierzig Kilometer entfernt, am Rand des altehrwürdigen Gent. Dorthin fuhr er jeden Tag sehr früh, jedoch grundsätzlich erst dann, nachdem er alle Familienmitglieder ausgiebig begrüßt hatte, mit seinem von mir damals seiner Eleganz wegen bewunderten königsdunkelblauen Volvo 164. Abends spät kam er wieder zurück, aber immer so, daß er mit der Familie gemeinsam speisen konnte, zumindest jedoch, daß er sich von allen seinen vielen Kindern wenigstens noch verabschieden konnte bis zum nächsten Morgenküßchen. Flott war er immer unterwegs. Es sei angenehmer, etwas rascher voranzukommen, sagte er mir im Lauf eines der vielen Gespräche im Blauen Salon, in dem diese nach dem Essen grundsätzlich stattfanden. Er muß von der Richtigkeit seiner These überzeugt gewesen sein, dieser immer ruhige, auch gelassen, jedenfalls nie die Contenance verlierende und deshalb sehr viel mehr als seine (mittlerweile?) etwas bäuerlich scheinende Frau altadlig wirkende außergewöhnlich gutaussehende, gut einsneunzig hohe elegante Mann. Viele Menschen führen nicht sonderlich gekonnt mit ihren Automobilen, weshalb es besser sei, vor ihnen weg zu fahren anstatt hinter ihnen. Zwar habe er in der Regel den Tempomat – damals in Belgien in Stadtnähe noch nicht mit Verbot belegt, das er sicher nie übertreten hätte, und wenn doch, dann nur ein klein wenig – eingeschaltet, aber wenn er in diese Situation käme, setze er die Konstanz mittels Gaspedal eben außer kraft. Ansonsten rollte diese vitale Sanftmut immer sehr gelöst über den Kies, seinen tagwerklichen Kühlschränken entgegen.

Ein junger Akademiker, das mußte damals Auslöser dieser Initiationsriten gewesen sein, der paßte wohl ins Familiengefüge; ein geisteswissenschaftlicher, na ja, aber es würde die mittlerweile doch recht ausgeprägt ingenieurstechnische Ausrichtung etwas ausgleichen. Der Vater war nämlich einer, wie man sich einen für Jungs vorstellt, auch wenn es einige Mädchen gab in dieser Familie mit acht Kindern, drei davon adoptiert und leicht belgisch-kongonial pigmentiert, man habe schließlich auch Verantwortung gegenüber der Geschichte und nicht zuletzt den Menschen. Fast der gesamte Hofstaat dieses Mikrokosmos nahm mich also in Empfang, mich Anwärter. Nie ist mir klargeworden, was die junge Frau den Eltern vor- oder eingeflüstert haben mag. War das Wohlanständigkeit? Da ich nie einen Versuch unternommen hatte, sie zu «begreifen». Einer, der nicht gierig immer nur an das Eine dachte? Vielleicht hatte sie ja Mutters tief im 19. Jahrhundert wurzelnde edle Gesinnung verinnerlicht. Möglicherweise überstieg es ihre geistige Flexibilität: denn einer, der eine solche Einladung annimmt, kann anderes nicht im Sinn haben als eine dauerhafte Beziehung, die in eine glückliche, nicht zuletzt kinderreiche Familie mündet. Hatte sie nicht zugehört, als ich ihr im friedlichen Voralpenland von meinem sich gerade anbahnenden eher wildernden Leben erzählt hatte, aus dem hervorging, daß ich nach einer, wie man das damals so nannte, gescheiterten Ehe erhobenen Hauptes schwor, nie, aber auch wirklich nie wieder zu heiraten? Also keinerlei Interesse vorhanden war, ich nichts anderes wollte, als mal zu nachzuschauen, ob das alles stimmte, was sie mir von ihrem Zuhause erzählt hatte, und zwar in einer derartig ruhigen und bescheidenen Art, daß einer wie ich sich das schlicht nicht vorstellen konnte: dieses riesige Haus, ja, Haus nannte sie dieses fußballplatzgroße und mindestens genauso hohe, umtürmte Gemäuer aus dem 19. Jahrhundert, diesem neben dem Städtchen gelegenen Park mit angrenzenden Stallungen, mit Reiterei und Tennisplatz, einem Gelände, in dem der vierzehn- oder fünfzehnjährige Bruder mit seinem von Papa angeschafften Rennkäfer krachende Runden drehen durfte.

Heute, gute fünfunddreißig Jahre später, ist mir klar, daß ihr ein anderes als dieses jungfräuliche Denken gar nicht möglich war. Sie war in einer Art Kloster aufgewachsen, mit der Mütter als Äbtissin und dem Vater als Abt. Die wollten ihrem ältesten Mädchen vermutlich ein Minimum an Ausbildung zur höheren Tochter angedeihen lassen und schickten sie deshalb hinaus in die Welt der Sprachen. Wie Japans Töchter Klavier und Gesang lernen, lernen die des alten belgischen Adels eben Deutsch, Englisch, Französisch und vermutlich dann auch noch Italienisch und Spanisch. Aber vor ihrem ersten Ausflug in Goethes voralpenländische Dependance war die junge Frau noch nie aus ihrer familiaren Gemarkung herausgekommen. Die Schule, sicher. Aber direkt anschließend ging's kerzengerade nach Hause. Mit dem Automobil, abgeholt von Mutter. Sonstiger Kontakt zur Außenwelt fand nicht statt. Besuch wurde nicht empfangen im Kasteel. Wer auch nur einen Fuß hineinsetzte in den Park, wurde sofort von der wilde Hundemeute aufgespürt und dorthin zurückgejagt, wo er hergekommen war. Alles wurde geliefert. Und wenn etwas nicht geliefert werden konnte, brachte der Vater es mit. Es gab nichts, was er nicht bereits mitgebracht hätte. Und wenn die geradezu unglaublich liebevolle Glucke oder eines ihrer Behütlinge auch nur die Spur einer Wunschäußerung von sich gaben, bekamen sie es in der Regel am Abend präsentiert. Nie zuvor und auch später nie wieder habe ich je ein so perfekt ausgestattetes Haus erlebt. In diesem komplett unterkellerten, auch unten drin nie unter drei Meter Höhe messenden Haus befand sich die Kinderwelt. Mindestens hundert Quadratmeter dürfte alleine die Spielzeugeisenbahn gehabt haben. Überall stand und lag alles Erdenkliche an Fahrzeugen für die Kleinen herum, nicht nur Rollschuhe, auch Tore standen da, Rollhockey wurde gespielt. Wenn das Wetter das Toben draußen nicht zuließ. Was ja, wie wir von Jacques Brel wissen, des öfteren vorkommt im flachen Land. Eine wilde Meute jagte dort den ganzen Tag herum. Oben war nichts zu hören, so massiv und schalldicht war das Haus gebaut. In der etwa fünfzig, wenn nicht mehr Quadratmeter großen Küche hätte die Belegschaft der Kühlschrankfabrik problemlos bekocht werden können. Noch nie hatte ich eine solche Einrichtung gesehen. Der Gasherd achtflammig. Vierfache Bain-Marie. Alle möglichen Back- und Grillöfen. Soviel Kupfergeschirr, daß Italien ausverkauft gewesen sein mußte. Feinstes Geschirr in Mengen, die ausgereicht hätten, den belgischen Hofstaat zu bewirten. Es gab schlicht nichts, das es nicht gab. Aber auch keine Außenwelt.

Doch aus eben dieser war ich gekommen.

Was mit mir passierte, das muß ich der Länge wegen wohl das nächste Mal erzählen.

Das oben abgebildete Kasteel ist nicht identisch mit dem Ort, an dem ich (sehr gerne) zu Gast war. Es soll lediglich Ähnlichkeiten vermitteln, und die sind ausgeprägt vorhanden beim Rood Kasteel in Linden, ebenfalls in Belgien.



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So, 22.02.2009 |  link | (3610) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel



 

Grabungsvolle Hymnen

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof. Der Reise dritter Teil.

Saint-Louis sollte später eine regelmäßige Anlaufstation werden für mich. Wenn ich zur Basler Kunstschau fuhr, übernachtete ich immer drüben in Mariannes Bettchen. Aber welche Position das Städtchen in meiner damaligen Reisepassage einnahm, das will die Erinnerung einfach nicht mehr hergeben. Woran das liegt, ist möglicherweise mit Sirren, nicht Sirenen erklärbar. Vielleicht war es aber auch zu ereignislos, so daß es den Erinnerungsplatz für wesentlicheres zur Verfügung stellt. Auf jeden Fall ist da ein Loch, das sich erst in Belfort gelinde wieder aufzufüllen beginnt. Die Ursache mag darin liegen, daß dort für mich eigentlich Frankreich erst beginnt. «Die Verkehrsschilder sehen nicht mehr aus wie nach dem täglichen Samstagnachmittagsbad. Oder sie fehlen überhaupt.» Ab hier beginnt man so langsam Zeit zu haben. Wenn auch in südlicher Richtung. Nördlich von Lyon, spricht der gemeine Südländer, leben keine Menschen.

Diese hochphilosophische Erkenntnis sollte allerdings erst später in mich fahren. Damals erlag ich mir dieses Wissen in eher trister Weise. Nein, nicht der Beginn einer Frankophobie, wie beim erfahrungsgeplagten Nnier, auch nicht dessen in allen möglichen Varianten erprobtes whack!. Aber ein Graben war's dennoch. In dem war ich gelandet. Ein anderes Nachtlager gab's nämlich nicht. Irgendwie hatten mein englischer Guide und ich das bezogen. Wie wir dorthin gekommen waren, gehört in den Bereich des Vergessenen. Fetzen liegen noch vor, wenn auch sehr viel kleiner als das Stück Pappe, das ich irgendwo gefunden hatte, um mich wenigstens ein klein wenig vor der unerbittlichen Feuchtigkeit und Kälte des noch nicht richtig begonnenen Jahres von unten zu schützen. Obendrüber blies die Erfahrung und das Ahnungsvolle.

Einen Nachmittag lang hatten wir bis hin zum wilden Winken versucht, von dem Ort wegzukommen, von dem ich nicht mehr weiß, wie wir hingekommen waren. Eines kristallisierte sich zu einem wutfunkelnden Gedanken heraus: Hier soll der Gleichheitsgedanke entstanden sein, der der Brüderlichkeit?! Darüber denkt man vermutlich nicht nach, wenn man, wie ich früher bereits über Jahre hinweg, im gemütlichen warmen und windgeschützten Automobil unterwegs ist. Einem im Graben Gelandeten hilft man heraus. Wenn er aus Blech besteht. Alles andere am Rand Stehende und Liegende, und dann auch noch aus frierender Haut und Knochen, ist nicht unbedingt Bestandteil einer Gesellschaft, die es sich in der nachrevolutionären Bourgeoisie bequem gemacht hat und vermutlich nach früher nicht erreichtem höfischen Leben strebt. Eine bitterkalte Nacht wurde es, aus der sich die persönliche Erkenntnis herausformte: Das ist nicht Anhalters Land. Deutlich unterstrichen wurde dieses Wissen von einer Erkältung, die sich in Anfängen bereits zeigte und die ein paar Tage dann im Fieber enden sollte. Glücklicherweise sollte das in einem ehemaligen hochherrschaftlichen Bett toben, bekämpft von altem Adel, unter den das Bürgertum sich gemischt und aus dem warme Menschlichkeit sich geformt hatte.

Aber das sollte sich eben nach dieser Tortur zeigen, die irgendwie und irgendwann in Paris im Gare du Nord endete. Ende. Genau. Verjagt von gemäßigt brüllenden Polizisten in Zivil: Sortie! Sortie! Abgang. Ausreise. Raus mit euch Pack, ihr mit euren Ruck- und Schlafsäcken, die ihr ohne Geld unser Land bereisen wollt. Wir wollen euch hier drinnen nicht. Hier geht der Bürger ein und aus, um einer ordentlichen Tätigkeit nachzugehen. Allenfalls noch der Fremde, der sein Reiseportefeuille im Land läßt und sich dann wieder trollt. Bei aller sonstigen Absence habe ich dieses Bild mit einer photographischen Genauigkeit im Kopf, die nur zu einer Zeit möglich war, als es die heutigen technischen Manipulationsmöglichkeiten noch nicht gab: diesen sich am frühen Morgen bereits heißer gebrüllt habenden Bediensteten des Bürgertums. Gut vorstellen könnte ich ihn mir auf einem zur Fête Nationale herausgeputzten Wagen, in von Madame akkurat gebügelter Gardeuniform, vernehmlich singend:

Aux armes, citoyens,
Formez vos bataillons,
Marchons, marchons!
Qu’un sang impur
Abreuve nos sillons!


Die Wege zwischen dem englischen Begleiter und mir trennten sich an der arg frischen Luft. Ich teilte ihm draußen mit, mich wieder hineinbegeben zu wollen. Seiner Entgegnung, meine Rückkehr dort hinein könne gegebenenfalls in la taule landen, in einem der berühmt-berüchtigten französischen Knäste, flapste ich irgendwas von end! finish! closing date! enough! oder so hin. Kerzengerade sollte mich mein Weg in Richtung Fahrkartenschalter führen. Der Bürgerbedienstete sah mich, wollte auch auf mich zueilen, doch die Masse derer, die's noch nicht nach draußen geschafft hatte, hielt ihn wohl davon ab, mich sofort am immer noch durchnäßten Kragen zu packen und in die blaue Minna zu schmeißen. Das Fremde hatte mich sozusagen gerettet.

Was das Ticket ins flandrische Sumpfgebiet gekostet hatte, daran erinnere ich mich nicht mehr. Es war mir egal. Die damals noch nicht grundsätzlich vorhandene Bargeldreserve gab es her. Hätte sie's nicht getan, ich weiß nicht, was ich alles getan hätte, um aus diesem Bahnhof wegzukommen, den ich später noch so oft und in gelöster Atmosphäre durchqueren sollte. Der nächste Weg war der zu einem Telephon. Sofort ward abgenommen in der freundlichen belgischen Fremde. Für den frühen Nachmittag kündigte ich meine Ankunft an. Über Lille und Kortrijk würde ich fahren und sei dann ja so gut wie angekommen. Nein, bedankte ich mich für das Angebot, mich in Brügge abholen zu lassen, denn ich klänge doch nicht so gesund, nein, denn ich hätte es bis ins lebensfeindliche Paris geschafft, dann würden meine Abenteuerenergien mich auch noch bis ins voraussichtlich angenehmere Städtchen bringen. Zumal es ja nur noch ein Viertelstündchen oder so wären von Brügge aus.

Wie lange die Reise dauerte, daran erinnere ich mich nicht. Ein ganzes Weilchen sicherlich. Der TGV durchbrach damals ja noch keine Geschwindigkeitsrekorde, und an sowas Edles wie an den Thalys ward Anfang der Siebziger wohl noch gar nicht gedacht. Beide hätten wohl auch meinen Etat überfordert. So gondelte ich also dahin, wie ich es auch heute wieder tue, da mir mein Leben die Rennerei nicht mehr abverlangt. Ob's vier oder fünf oder mehr Stunden waren, es ist nicht von Belang. Ich hatte meinen warmen Sitzplatz, niemand brüllte mich mehr an, gar um mich aufzuwecken, denn in tiefen Schlaf war ich schnell gefallen. Geweckt wurde ich erst wieder von den Douaniers, aber die waren friedlich. Lange Haare hatten sich offensichtlich im französisch-belgischen Grenzverkehr bereits als nicht unbedingt drogendealerisch zu erkennen gegeben, zumal es mir offenbar gelungen war, die Ondulation auf der Toilette wieder einigermaßen ins Unverdächtige hin umzuwandeln. Auch gelang es mir, dreimal umzusteigen, obwohl ich jedesmal aufs neue wieder in einen tiefen Erholungsschlaf gefallen war. Ich vermutete wohl zu recht, daß mir für ein Weilchen nichts mehr Übles geschehen konnte.

Doch dann, der Zug war im Bahnhof des Städtchens angekommen, ein enormer Auflauf. War ich in eine Demonstration geraten, war eine solche Menschenansammlung an einem solchen Örtchen überhaupt möglich? Es stellte sich heraus, daß ich der einzige Fahrgast war, der hier freiwillig den Zug verlassen hatte. Demnach galt das mir. Dann spielte auch noch eine etwas weiter zurückstehende Kapelle auf, den Uniformen nach möglicherweise die einer Feuerwehr. Und ein aus allen erdenklichen Altersgruppen gemischter Chor samt rhythmisch dazu jaulendem Getier sang und krächzte fröhlich in meine Richtung:

Wee hen, de onbezonnen’, die vals en vol verraad,
De Vlaamse Leeuw komt strelen en trouweloos hem slaat.
Geen enkle handbeweging die hij uit ’t oog verliest:
En voelt hij zich getroffen, hij stelt zijn maan en briest.
Zij zullen hem niet temmen …



Den Rest erzähl' ich lieber ein andermal.

Die Photographie stammt von Henk van Kampen unter CC.



Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse, Fluchtgedanken, Gnadenmahl oder Reiche Stunden. Der Reise vierzehnte Folge.
 
Mi, 18.02.2009 |  link | (3110) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel



 

Anhalters Bahnhof

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge. Der Reise zweiter Teil.

Zwar war auch in die Schweiz Anfang der siebziger Jahre schon das eine oder andere Nachrichtenfitzli vom Autostop durchgedrungen. Aber das klang doch arg revoluzzerisch, am Ende gar kommunistisch. Dem wäre man selbstverständlich abhold. Doch so genau wußte man es nicht. Also erinnerte man sich seiner Bildung und bemühte diesen Herrn, der einmal festgehalten hatte, man solle in diesem Fall besser darüber schweigen. So mündeten meine Anfragen — ich hatte begonnen, die Anhalter-Praxis zu verinnerlichen — auf dem Flugplatz Zürich-Kloten zu einem Teil in erschrecktes Staunen und zum anderen in brüskierte Abwendung.

Ich ging in das Flughafengebäude hinein, in eine der landesüblich gepflegten Toiletten, um mein Äußeres zu prüfen. Eine Vermutzungsgefahr durch mich war nicht zu erwarten, wie ich erfreut feststellte. Auch die Gesichtsfarbe hatte wieder diese Tönung angenommen, die man erlangt, wenn man relativ häufig versucht, den Berg und damit sich zu besiegen. Auch das Fahrzeug, das mich recht zügig vor die Tore der Welt- und Geldstadt brachte, hatte die Sauberkeit, die eines Schweizer Burgers würdig war. Er hatte mir, wenn er zwischenzeitlich mal nicht so sehr mit dem Hin- und Herreißen des Lenkrades beschäftigt war und uns ausnahmsweise nicht am Limit bewegte, von seiner Familie erzählt und daß sie quasi den Rütlischwur mitformuliert habe. Tell war sein Name nicht, das hätte ich mir gemerkt, gehört es doch zu dem, das man versucht hatte mir beizubringen, zumal ich ja für einen Teil meiner Lehrzeit im Land untergebracht war. Irgendwas von Tschudi oder Zwingli hatte er gemurmelt beim gemütlicheren Lenkraddrehen. Calvin war sein Name mit Sicherheit nicht, nicht nur aus meiner klanglichen Erinnerung. Ein klein wenig französisch sah er zwar aus, aber das streng Reformierte dürfte nicht so sein Stil gewesen sein.

So startete ich einen erneuten Versuch, ebenerdig von der Startbahn wegzukommen. Fliegen wollte ich ja nicht. Das hätten Ehre und Portemonnaie nicht zugelassen. Außerdem lief es ja alles andere als langsam bis jetzt. Allerdings war es schon spät. Und es stand auch zu befürchten, daß vom Zürcher Flughafen aus niemand mehr nach Paris fahren würde am Abend, nicht einmal nach Basel, was ja in etwa meine Richtung gewesen wäre. Aber wie schweizerisch auch immer ich es ausdrückte, ich machte keinen Eindruck. Und nun? Zu Fuß zur Autobahn? Das wäre ungeschickt, denn nördlich von Kloten gerät man zwar nach Eglisau oder gar nach Schaffhausen. Doch da wollte ich nun nicht unbedingt hin. Auch dann nicht, wenn mich jemand mitgenommen hätte. Also dann doch ein Stückchen mit der Bahn? Das wäre ein früher Griff in die Geldbörse. Gut, ich hätte die Zürcher Verwandtschaft anrufen können. Die täte sich sicherlich sehr gefreut haben, mich wiederzusehen. Aber zu diesem Zeitpunkt beruhte das nicht unbedingt auf Gegenseitigkeit. Sicher, da hätte es ein gemütliches Plätzchen am Kamin und das eine oder andere Leckerli gegeben. Doch ich wollte ja per Anhalter ins Paradies. Allerdings standen die Chancen schlecht um diese Uhrzeit. Also mit dem Bus zum Hauptbahnhof und von dort aus auf den Schienen weiter?

Kaum angekommen, entdeckte ich ein Gruppe junger Menschen, die nicht unbedingt den Eindruck machten, heute noch weiterfahren zu wollen. Ich gesellte mich hinzu und kam ins Gespräch. Etwas intensiver geriet das mit einem Engländer, ein paar Jahre jünger als ich, aber als Spontanreisender wohl um einiges erfahrener. Aus Italien war er angereist. Ein Schuhverkäufer hatte ihn hier abgesetzt. Er sei nicht dazu zu bewegen gewesen, ihn an der Autobahn hinauszulassen. Er sah keine Möglichkeit, heute noch wegzukommen. Es sei denn, mit der Bahn. Die Basler sähen ihr Schweizertum nicht so verkniffen. Und deshalb wohl würde man am dortigen Bahnhof auch nicht so abserviert, wie uns das im hiesigen spätestens gegen Mitternacht geschehen würde. Eine Fahrkarte kaufen bis nach Saint-Louis, dann könne man getrost die Nacht im Geschlossenen verbringen, denn zur Grenze nach Frankreich führen erst wieder am Morgen Züge. Mit Ticket würde sie einen nicht rausschmeißen. Es sei nicht ganz billig, aber immer noch günstiger oder angenehmer, als die Nacht in Polizeigewahrsam zu verbringen. Also doch die Tante über drei Ecken anrufen? Aber die versprach eher weniger Abenteuer. Und das ersehnte ich. Einmal im Leben. Wenigstens. Aber ob das gemütliche Bähnli nach Basel das bieten könnte?


Meine Güte, ist das ein dröger Trip. Die Müdigkeit ist's. Mal sehen, was die Nacht bringt. Oder der Tag.

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Do, 12.02.2009 |  link | (3702) | 19 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel



 

Fliegend über die Berge

Per Anhalter ins Paradies. Der Reise erster Teil.

Um Ostern herum war es. Am Tag zuvor hatten zwei Meter Schnee die liebliche Gemeinde an der Mariensäule noch lieblicher erscheinen lassen. Dann aber kam der Föhn, dieses in Nordlichter nie einfahrende Alpenvorlandlüftchen. Innerhalb weniger Stunden bläst das die Dekoration weg und läßt das haselnussige Schwarzbraun in ganzer Tristesse wieder zum Vorschein kommen. Und warm wird's, aber wie. Gestern noch zehn Grad minus, heute kommt man lustvoll das Hohelied singend im Hemdchen hüpfend über die Berge.

Nun, es war Reisewetter. Tramperwetter. Schließlich würde ich wohl das eine ums andere Mal ein paar Minuten an der Straße stehen, bis der nächste kam, der aber sicherlich bald, mich einlud, um mich rasch mindestens bis in die Schweiz zu befördern. Doch dort befand ich mich ja bereits so gut wie, hatte doch der Freund, einer von denen, die mit Ski an den Füßen zur Welt kommen, bei der Gelegenheit beschlossen, ein paar Schüsse den Arlberg runterzumachen. Und von dort weg würden ja wohl ein paar Schweizer wieder nachhause fahren, vielleicht sogar ein bißchen früher, weil sie der vielen Niederländer überdrüssig waren, die sich damals in Mode kommend anschickten, in edlen Gewändern und zwei Meter langen Rennbrettern aus besten Sporthäusern die Pisten mit Stemmbögen zu planieren. Und sollte ich doch etwas zu früh dran sein und ein wenig warten müssen — Cafés und Kneipen gab's genug am Berg, das wußte ich von meinen Skilaufversuchsanordnungen, die der Freundeskreis mit mir unternahm. Eine Zeitlang hatten sie's mit mir probiert. Doch als sie mich nach meinen immerwährenden unfreiwilligen Schußfahrten, die nichts anderes zuließen, als nur geradeaus und eben sehr schnell den jeweiligen Berg hinunterzustürzen, nahezu ausnahmslos aus dem Schnee ausgraben mußten, luden sie mich ab irgendwann gleich in der Gastronomie ab. Da könne ich in Ruhe dichten und denken und würde damit obendrein weiter kein Unheil anrichten.

Als ich die ersten Male über das Land gekommen war, wußte ich wohl mit Brettern unter den Füßen umzugehen. Aber dort, wo man mich das gelehrt hatte, nutzte man diese Fortbewegungshilfsmittel, um Bären und Wölfen zu entfliehen, denen man gerade das Mittags-, manchmal auch das Abendmahl gestohlen hatte. Auf diesen Faßdauben konnte man (zwangsläufig) enorme Geschwindigkeiten erlangen, aber nie diese alpinen, da es an den entsprechenden Gefällen mangelte. So stürzte ich mich anfänglich suizidal (nicht suizidär im Sinne der «Todesästhetik» von Jean Améry) die Berge hinunter, da kaum jemand mich beziehungsweise meine Fahrkünste beachten wollte. Später erbarmte sich meiner ein Skilehrer in Berwang, wohin ich oft heimlich zum Üben fuhr. Nicht nur. Denn ich hatte seinerzeit festgestellt, daß es auch in Österreich ausdrucksstarke Pistentänzerinnen gab. Er tat's aber sicherlich deshalb, da er keine Lust hatte, mich nach den jagerteeigen Bacchanalien auf der Hütt'n hintendrauf auf seinen Ski mit runter ins Tal zu befördern. Ich sollte selber laufen, nein gleiten. Ein bißchen wenigstens. Es war gar nicht so schwierig. Nur gesagt muß man's kriegen. Es erinnerte mich an die Sprechlehrerin, die diese winzigen Fehler korrigierte, die ich anfänglich am Mikrophon gemacht hatte. Alles Haltungsfehler. Mit der richtigen Umsteig- und Umschwungtechnik tut Sisyphos sich dann sehr viel leichter in der Gegenrichtung.

Ende der Extemporiererei, denn tatsächlich: Kaum war ich aus dem Murnauer Übungsgerät für die permanente Rallye Monte Carlo ausgestiegen, packte ein drahtiger, familienfrei aussehender Adonis seine Führungsschienen auf ein nicht minder flott aussehendes bayerisches Gefährt mit Zürcher Kennzeichen. Ob ich? fragte ich mich. Nicht ihn. Meine mangelnde Erfahrung als Anhalter ließ eine solche Frage nicht ohne weiteres zu. Es könnte zudem unhöflich wirken, und das untersagte mir der andere Teil meiner bereits erwähnten guten Erziehung. Mit dem Ergebnis, daß der Mann, ein wenig älter als ich und hinsichtlich seiner Ausstattung sicherlich auch erfolgreicher, einen halben Schritt auf mich zumachte und mich fragte. Ob er mir helfen könne? Ich sähe leicht hilfebedürftig aus. Weit holte ich aus, wollte kulturgeschichtlich am Beispiel der Sozialentwicklung der Reise im allgemeinen und der im besonderen die Welt erklären, eine Tendenz, die mir bis ans Ende dieser bleiben wird, zumindest der meinen, bemühte mich jedoch, dabei keine allzu ausgeprägten philosophischen Züge in mein Gesicht dringen zu lassen, als er mich unterbrach. Ja, kein Problem, bis na Zuri kannscht mit, und dann fragte er noch, ob ich da überhaupt hinwolle, ich hätte meine Ziele nicht so konkret zur Ausführung gebracht. Jaja! Ja doch, riß mir das Glück eine Antwort auf die Denkerstirn. So nahm ich meinen Rucksack, der ein klein wenig leichter geworden war, da der hier oben fehlende Föhn mich dann doch hatte mein Pullöverchen überziehen lassen, und stieg ein.

Klösterle, Innerbraz, Bludenz, Nüziders flogen an mir vorbei, bei Nenzing riß der Pilot das Steuer derart herum, daß das Heck nach Zürich, die Schnauze derweil nach Liechtensein zeigte. Der Zöllner muß mein Gesicht gesehen haben und winkte uns durch, da er annehmen mußte, es müsse sich um einen Krankentransport handeln, der am Schweizer Grenzbaum dann ebenso, da er vermutlich soviel Elend nicht sehen wollte, und weiter ging der Flug via Wattwil, Wätzikon, Pfäffikon, die Landebahn von Kloten hatte man vorsichtshalber freigeräumt. Es fehlte dort nur noch der Hubschrauber, der mich mindestens nach Paris zu Victor Hugo bringen sollte, in dessen Klinik, meinetwegen auch in die von Jeanne d'Arc, ich konnte ohnehin nicht lesen, so todsterbenskrank war ich von diesem Abschnitt der Rallye.

Deshalb muß ich mich erstmal erholen. Beim nächsten Mal geht's weiter. Durch Frankreich. Klar.

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Mi, 11.02.2009 |  link | (5146) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel



 

Per Anhalter ins Paradies

Wassily Kandinsky und seine Gabriele Münter, das hatte ich hier schonmal angerissen, die sich im Murnauer Moos vereinigten und den Blauen Reiter zeugten, hatten mich seit Anfang der siebziger Jahre magisch angezogen. Als ich dann schließlich eingezogen war in die liebliche Marktgemeinde mit ihrer Mariensäule als ethischem Zentrum, entdeckte ich dort neben Ödön von Horvath auch noch dessen Kollegen Johann Wolfgang von Goethe, genauer: dessen leichten Hang zu jugendlichem Liebreiz. Der war untergebracht in einem nach ihm benannten Institut. Es war so eine Art Heimstatt internationaler Landverschickung von etwas betuchteren Eltern, die der felsenfesten Überzeugung waren, ihre Töchter seien beim Gott der deutschen Sprache nicht nur bestens aufgehoben, sondern könnten überdies dieselbe gleich auch noch lernen. Sogar Japanerinnen befanden sich unter ihnen, obwohl die doch eigentlich immer Klavier und Gesang erlernen mußten, um einen gewissen gesellschaftlichen Status zu erlangen, und eigentlich höchst selten ohne Aufpasser in die weite Welt hinausdurften. Die Mehrheit der Elevinnen rekrutierte sich jedoch aus südamerikanischen Ländern. Vermutlich sollten sie die Muttersprache ihrer Väter verinnerlichen, da diese drauf und dran waren, sie zu verlernen. Das eine ums andere Mal dürfte dabei eine bewußt herbeigeführte Amnesie eine Rolle gespielt haben, um keinen allzu klaren Hinweis auf die doch etwas fragwürdige Vergangenheit innerhalb des großdeutschen Reiches zuzulassen. Diese zauberhafte Mischung aus indigenen Völkern, soweit überhaupt noch vorhanden, und europäischen Zuwanderern ergab so manchen Abend salsaähnliche Zustände in der einzigen für Jüngere gangbaren Kneipe dieses Städtchens, das zu dieser Zeit geistig-moralisch im wesentlichen an der Italienischen Nacht des bereits erwähnten österreichisch-ungarischen Dramatikers orientiert war. Recht unterhaltsam war's, manchmal sogar feurig. Aber in mich, der ich diesen wunderschönen und lebhaften Bastardinnen von Montevideo über Asunción nach São Paulo oder Rio bis nach La Paz und wieder runter nach Santiago hingebungsvoll verfallen war, ja, in mich verguckte sich ausgerechnet die vermutlich langweiligste der wenigen Europäerinnen. Es wäre nicht allzuweit hergeholt zu behaupten, deren Drögheit wäre sogar in ihrer Heimat Belgien aufgefallen.

Derart okkupiert und selber nicht eben allzu auflehnungsbereit ergab ich mich in mein Schicksal. Also nix Salsa, sondern Fortsetzung des Unterrichts auch in den Abendstunden. Selbstverständlich bei Kerzenschein, wie das üblich war zur Zeit der auch in Oberbayern einsetzenden Aufklärung. Diesem schummrigen immerwährenden Zusammensein zu verdanken war die Deklaration als Paar. Unumstößlich. Keine Chance mehr bei dieser hellblond und dunkelbraun gelockten Fee. Damals wußte ich noch nicht, daß das, was ich mir da so vorstellte, ohnehin so nicht funktioniert hätte. Als ich später ins Land kam, lernte ich, daß entgegen der mitteleuropäisch landläufigen Meinung eine Brasilianerin grundsätzlich so gut katholisch ist, daß man die Wahl hat zwischen Ehe oder Abschiednahme. So nahm ich denn die Einladung an, nach Ende des Sprachkurses einen Besuch zu machen in der kleinen Stadt. Ein wenig verblüfft war ich schon ob der Eröffnung, sie habe ihren Eltern bereits telegraphiert, und deren Antwort sei positiv, man würde sich freuen, mich begrüßen zu dürfen, und auch, wenn man eher selten Besuch empfange im heimischen Kasteel, so sei ich doch ein gern gesehener Gast. Die in mir aufziehenden leicht unheilvollen Ahnungen gaben mir die Kraft, irgendwie herumstotternd darauf hinzuweisen, ich hätte zunächst noch zu tun und käme dann nach. Auch das akzeptierte die junge Frau, quittierte es mit einer Gesichtsregung, die durchaus als Versuch eines Lächelns gedeutet werden konnte.

Etwa zwei Wochen nach ihrer Heimreise läutete sie bei mir an und fragte nach meiner Ankunft. Nach weiteren Anrufen erinnerte ich mich meiner guten Erziehung, aus der hervorgegangen war, einmal gegebene Versprechen auch einzuhalten. So kündigte ich denn mein Kommen für die darauffolgende Woche an. Wie ich denn zu reisen gedenke, fragte sie, so etwas wie Freude schwirrte durch die Leitung, sie wolle mich mitsamt ihrer Familie abholen am Bahnhof. Das könne ich noch nicht sagen, entgegnete ich, denn ein Experiment stünde an. Da ich noch nie per Anhalter durchs Land gefahren sei, wolle ich das mal ausprobieren. Nun war so etwas wie ungläubiges Staunen zu vernehmen. Ob ich sicher sei, ihr Vater würde sicherlich gerne ... — neinnein! gebot ich Einhalt ich, einmal im Leben wolle ich mal richtig trampen, andere hätten auf diese Weise längst Kontinente durchstreift, nur mir gehe diese Erfahrung ab.

Tatsache war: Goethe zahlte schlecht, Aushilfshelfslehrern allemale, da wollte schon unterschieden werden. Eine Zugfahrt vom oberbayerischen Alpensüdkreuz bis hinauf in die Sumpfgebiete kurz vor dem Ärmelkanal konnte ich mir nicht leisten. So guckte ich mir eine Route aus. Über den Arlberg, wohin sicher noch einige Restschneenutzer brettern würden, via Sankt Gallen, Zürich und Basel durch die Schweiz sollte sie verlaufen, dann irgendwie eine Frankreich-Durchquerung, um bei Namur die Grenze zu überfahren und dann bei Gent links abzubiegen, um in diesem Kasteel inmitten des sumpfgrasigen Blumentals anzukommen. Mit geliehenem Rucksack für zwei Tage Wäsche und einem Pullöverchen machte ich mich auf den Weg. Es wurde ein beschwerlicher, der mir ein für allemal die Anhalterei austreiben sollte, die, um einiges später, allenfalls noch in der Literatur und später auch via BBC wieder vorkommen sollte, dann zwar gleich durch die Galaxis, aber eben vom gemütlichen Sessel aus. Was ich mir da angetan hatte, dagegen war selbst der Weg durch einen Teil des Massif Central zum Heiligen Jakob vermutlich ein Spaziergang.

Aber davon erzähle ich ein andermal. Wenn ich die Erinnerungsfetzen beisammen habe.

Die Murnauer Mariensäule wurde von frollein2007 photographiert.

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse, Fluchtgedanken, Gnadenmahl oder Reiche Stunden.

 
Mo, 09.02.2009 |  link | (4964) | 12 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel



 







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