Über Sieben Eichen woll'n wir geh'n

Eingeknickt. Der Druck war offensichtlich zu stark. — Wegen anhaltender Ermutigungen den geduldigen Ermutigern und erbauenden Lesern gewidmet.

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse, Fluchtgedanken, Gnadenmahl oder Reiche Stunden. Der Reise vierzehnte Folge.


Da lag ich Unadliger nun in meinem adeligen, elisabethanischen Hochbett, ließ alle unguten Gedanken am Ende dieses Teils meiner Geschichte rasch hinter mir und sinnierte mich in die damalige Metropole der wohlen Lust, die etwas später im französischen Kino als À nous les petites Anglaises synonymisiert worden war und wovon ich nicht weiß, ob es des übersetzten Titels wegen heutzutage auf der deutschen Datenautobahn zumindest bildlich nicht mit einem einem Haltezeichen versehen worden ist. Bald sollte Herr Freud in seinen schönsten Irrungen mir dabei behilflich sein, Siebeneichen (das sich mir sehr viel später völlig anders, vermutlich auch altersbedingt weniger belastend darstellen sollte) hinter mir zu lassen und über die kentischen Berge zu fliegen gen Londinium, um mich dann dort von Ochsen durch die Suche nach keltischen Formen und anderen Sehenswürdigkeiten ziehen zu lassen.

Die Situation sollte sich jedoch verändern, eine, die ich Jahrzehnte danach anderenorts und in anderem Zusammenhang als äußerst angenehm enpfinden sollte, mich hier allerdings befremdete. Hier bereits trautes Heim, nach einem behördlichen Akt, der der (Un-)Schuld und ihrer Sühne geschuldet war. Ich also, seltsam gekleidet und in den letzten Wochen in zwar gewohnter, aber irgendwo und -wie anders geformter Begleitung. Hatte sich am Ende gar ein durch und durch katholischer Akt vollzogen? Immerfort hatten sich unsere Gesichter auf merkwürdige Weise verändert. Und auch, als man uns Dank der des in den Adel eingeheirateten Jonkheers Vater zur Verfügung gestellten würdigen Mittel zu einer angemessenen, aber nicht unbedingt landesüblichen Weihestätte transportiert hatte, boten wir noch einen anderen Anblick. Aber wie ich's auch betrachten wollte, es blieb ein Desaster.

Er hatte es mit Hilfe seines Vasalls Petrus — oder hieß der Moulis, so genau erinnere ich mich nicht mehr — offenbar doch geschafft. Hatte er mir was gänzlich Unprotestantisches reingetan in den katholischen Nektar, ihn im Religionskrieg, im Kampf gegen das aufklärerisch Unkonventionelle schmählich verfälscht? Bei Prinzessin Töchterlein war das ja offensichtlich nicht nötig gewesen. Papa hatte ihr einen Akademiker verordnet, und da der zudem gerne Auto fuhr, ihr Fortkommen demnach gesichert war, würde sie ihn ohnehin genommen haben. Daß sie nun auch noch Mevrouw Dokter geheißen werden würde, erleichterte ihr das Leben doch ungemein, hatte es doch nun endlich ein Ende mit der lästigen Lernerei. Und da der Gatte auch noch wenigstens der für die Konversationen erforderlichen Sprachen mächtig war, durften auch die ewigen Sprachschulungen in aller Welt storniert beziehungsweise für alle Zeiten vergessen werden. Angekommen war sie. Zwar hatte das bei ihr weiter kein allzu umfangreiches Denkinstrumentarium erfordert, aber Mijnheer Vaters Befehlswunsch war ohne die ewige Diskutier- oder Debattiererei oder wie auch immer das genannt werden wollte — auch dafür war nun die bessere Hälfte zuständig — umgesetzt worden. Und auch Jonkvrouw Mutter sah nicht unglücklich aus. Daß der frische Gatte nicht rechnen konnte, würde seiner Karriere schon keinen Abbruch tun, zumal man den Unternehmer ohnehin bereits im Hause hatte. Der würde ihm schon vorrechnen, wieviele kostbare Gulden, pardon Franks, er mit seinen gelben Stinkedingern durch den Kamin hinausqualmte. Und in der Folge wär' auch der aus. Wer's warm haben wollte, müßte bei Mutter in der Küche sitzen, wo's außerdem immer was ordentliches zu futtern gab, nicht mehr dieses schlabbrige und überhaupt fischige Zeug aus dem kalten Meer, oder sich im Büro, noch effektiver vielleicht am Kühlschrankmontageband mit Arbeit aufheizen. Ach nein, letzteres käme ja nun nicht mehr infrage, das wäre irgendwie demütigend und auch entwürdigend für sie als Ehefrau.

Und schon klopfte es fordernd an seiner Tür, man müsse los, es stünde schließlich einiges an, rief die ehemalige Jungfrau. Wie hatte er sich nur hingeben können, wie konnnte das nur geschehen, dachte er noch und vergrub sich voller Gram und Jammer in die (noch?) bestickten Kissen, da pochte es erneut, aber sein Herz nicht mehr, da sein Leben samt der jungen Keltinnen in London ihm entglitten war und er sich nun sogar mit dem unangenehmen belgischen Sankt Bernhard würde anfreunden müssen, es war erneut die Prinzessin. À propos — würde er am Ende jetzt gar Jonkheer genannt, zumindest aber Mijnheer? Aber das war dann doch nicht so elementar wichtig im Augenblick, denn die Gattin machte sich schon wieder an der Tür bemerkbar und rief irgendwas von einem kommenden oder fahrenden Schiff und von irgendwelchen sich erfüllenden Träumen, auf jeden Fall eines, das nicht auf uns warten würde in Calais für die Überfahrt nach Dover. Und sie würde schließlich auch erwartet in Sevenoaks.

Da kam ich zu mir. Ich würde später angenehmere Träume haben im Zusammenhang mit Ehe und Familie.


Ouf! Immer diese Träumereien. Jetzt benötige ich dringend die gestern angekündigte Pause.

Keine der hier hyperverlinkten Abbildungen steht in einem Bezug zur Geschichte, zumindest nicht der hier erzählten.

 
Do, 09.07.2009 |  link | (3667) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel



 

Gnadenmahl oder Reiche Stunden

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse, Fluchtgedanken. Der Reise dreizehnte Folge.

Nein, ich würde nicht im Gefangenenchor mitsingen, mich auch nicht abseilen von den Zinnen der Familien-Bastille, da mochte das Linnen noch so zart gewirkt sein. Hoch erhobenen Hauptes im mitgebrachten schlichten, aber nicht des Sünders Gewand würde ich den belgischen Adel verlassen. Sollte Prinzessin Töchterlein meinetwegen mit hinüberrudern oder rudern lassen auf die Insel, eine Gemeinsamkeit, die ich in meiner edlen Gesinnung nicht vermeiden konnte, war die Überfahrt schließlich bereits bezahlt, aber das mit händchenhaltend und von zarten Banden umflattert über die Hügel Kents hüpfen, das würde nichts werden. Nicht nur ihrer Bequemlichkeit wegen, die nach nach Mutters Kutsche ruft für ihr rankes Gestell, wenn's losgehen soll. Auch, weil mir die Minne versagt blieb angesichts ihres leicht reduzierten Charmes, wegen ihres flamanderischen Temperaments. Aber vermutlich würde ihr ohnehin ein Jaguar zulaufen, der auf der Suche nach Beute das Sprachlaboratorium von Sevenoaks durchstreifte. Das geschähe ihr jedenfalls recht. Was ihr jedoch vermutlich auch egal wäre, Hauptsache gefahren werden. Aber zuvor, einige Tage waren durchs Kasteel gegangen, fuhren wir alle gemeinsam noch einmal an die belgisch-niederländische Grenze. Anläßlich solcher, von elterlich edlen Hoffnungen getragenen Verabschiedungen kann es nur eines geben: das Nationalgericht.

Die Fahrt dorthin sollte ich die Voiture pilotieren, «vorerst» für ein letztes Mal, flunkerte er mich an, der schloßherrige Reiseleiter. Zurück gäbe es einen anderen Weg, ein Chauffeur stünde am Restaurant bereit, schließlich wolle man den Wein ja genießen, den er zu unser aller Höhepunkt geordert habe (wollte er mich unter Drogen setzen und anschließend im Fond des Wagens seiner Tochter näherbringen?). Sicher, keine Bange, vor diesem recht schönen Roten gäbe es auch was Lichteres, das die Tierchen, die ich so gerne äße, besser rutschen ließe. Da hatte ich wohl wieder mal etwas allzu weltmännisch dahergeredet, war ich in diesem Getier gegenüber doch ebensowenig entflammt wie der flamischen Prinzessin gegenüber. Ja, so drei bis fünf. Aber nicht etwa in der Art der späteren Münchner Freundin, die es auch schonmal in Kauf nahm, wegen drei Dutzend beziehungsweise des darauf erfolgten Eiweißschocks ins Krankenhaus eingeliefert werden zu müssen. Ich mochte sie ganz gerne, aber nicht so wie die junge Dame, der es ein paar Jahre danach die Augen aufreißen sollte und ganz vorhöhepunktisch wurde angesichts dieser Fauna. Wenn es etwas gab bei dieser Ankündigung, das eine gewisse Vorfreude auslöste in mir, dann war es das, was man um einiges weiter östlich Sättigungsbeilage nannte und beim hiesigen Nationalgericht zum etwa fünf Zentimeter hohen, fest am Knochen verankerten, selbstverständlich in der Pfanne gebratenen Stück gereicht wurde.

Mein Gnadenbrot geriet zu einem derart opulenten Mahl, daß ich mich damals fragte, ob er wohl zumindest Anteile seiner Fabrikation für coole Frigos veräußert und ein paar Arbeiter «freigestellt» (den schönen Begriff gab es damals allerdings noch nicht, da wurde auch noch nicht entsorgt, sondern raus- oder weggeschmissen) hatte, um das zu finanzieren. Ein runder Tisch war reserviert, an dem gut, aber vielleicht nicht so gerne seine Gewerkschafter Platz gehabt hätten, an dem jedoch nur wir vier durch Landschaften überwiegend nationaler Küche sowie, mangels innerstaatlicher Potenz, die Internationale der Spritzivilisation wandern sollten. Wollte er mich damit beeindrucken? Beeinflussen? War das ein vorweggenommenes Hochzeitsmahl, zumindest eines der Verlobung? War ich der einzige, der von solcher Absicht nichts wußte? Die Jonkvrouw zeigte, wie immer, lediglich ihre Sanftmut, während die gleichbleibend anämisch wirkende Jungfrau sich unbeteiligt Happen für Happen zuführte und den Edelrouge draufgoß, als ob's was wegzuspülen gäbe (oder vielleicht hoffte, die Farbe und das Sanftrassige übertrüge sich in ihr Antlitz, in ihren Geist?), wie immer also tat, als wäre sie ein Müllverbrennungshochofen, der die Glut ersehnt, auf daß endlich was influß komme. Hatte sie sich Vaters (der sich verdächtig zurückhielt beim Petrus, als ob er sparen oder fahren müsse) gebietenden Worten bereits unterworfen und/oder es war ihr dabei ohnehin alles schnurz? Mir sollte das ebenso sein, würde ich doch das kentische Land hinter mir lassen und in der Metropole meine Studien nach den schönen Keltinnen betreiben. Keine archäologischen. Dennoch wollte mir das alles nicht so recht schmecken, sogar das Festmahl nicht, obwohl ich auch damals bereits Sorbets und Crèmes sehr, sehr gerne aß, allen voran die gebrannte, die zu dieser Zeit noch nicht artistisch mit dem Flammenwerfer aufbereitet oder auf US-amerikanischem Niveau angeboten wurde. Selbst der für Restaurantverhältnisse etwas außergewöhnlich duftende Fleur du maquis, den der Arrangeur des abendlichen Ereignisses mirzuliebe auffahren ließ, wohl, weil er wußte, daß ich auch Kräftigerem gegenüber nicht abgeneigt bin, vielleicht aber auch, da ihm bekannt war, wie ausgeprägt er sich auf den Trieb eines Feldherrn* auswirkte, all das vertrieb nicht meine Skepsis, stellte die Sirenen in mir nicht ab: Hatte er eine Fallgrube errichtet auf meinem Weg in die Freiheit, der herrische heimliche Leiter meiner Reisen?

Mir wird schlecht, wenn ich daran zurückdenke. Ich muß mich erstmal hinlegen.


* Napoleon schrieb in einem Brief an Josephine, sie möge sich nicht waschen, er komme (in zwei Wochen) heim; entnommen dem hinreißenden Buch Am Abend, als ich meine Frau verließ, briet ich ein Huhn von Abe Opincar.

Die Abbildung entstammt dem Sonderheft 6 der Mitteilungen der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Arbeitsstelle Kiel, beim Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität: Le festin du mois de janvier, Das Januarblatt in den Très Riches Heures des Herzogs Johann von Berry, Musée Condé, Chantilly, ms. 65, fol. 1v

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Fr, 15.05.2009 |  link | (5168) | 24 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel



 

Fluchtgedanken

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse. Der Reise zwölfter Teil.

Was wollte der Prinzgemahl? Meine Flucht auf die Insel verhindern? Das Töchterlein nicht alleine zu den Angeln und den Sachsen verschicken? Wie das die Japaner mit ihren Töchtern machen: immer eine männliche Begleitung mitgeben auf die einwöchige Reise durch die Welt, auf daß da bloß kein andersgeschlechtliches, am Ende gar fremdländisches Wesen auf die Idee komme und so. Ich als Anstandswauwau für den belgischen Halbadelsnachwuchs? Oder doch ein Versuch, uns zueinanderzuführen, da ein des Vaters Meinung nach Unwürdiger, also unakademischer, am Ende gar ein Kühlschrankmonteur aus seiner Fabrik, nicht Hand an sie legen dürfe, an die Tochter. Würde er sein Gewächs besser kennen, wüßte er, daß das, selbst wenn er wollte, niemandem gelänge. Nie und nimmer würde das protestantisch oder sonstwie Bewehrte sich bestäuben lassen. Aber einer wie ich täte das ohnehin längst nicht mehr wollen, in diesem Fall den Bienerich geben. An ihr vorbeifliegen tät' ich, ihrer absoluten Duft-, um nicht zu sagen Geruchlosigkeit wegen. Ich als Käseliebhaber halte es da mit Napoleon. Er schrieb in einem Brief an Josephine, sie möge sich nicht waschen, er komme (in zwei Wochen) heim. Nein, ich wollte nicht «bis zum Amtsantritt von Albert I. und dessen Elisabeth mit meiner dem hiesigen Haus entstammenden Gattin ein protestantisches Belgien regieren». Ich wollte ganz alleine, quasi als letzter Römer vor den germanischen Angeln und Sachsen, über den Kanal rüberschwimmen zur Insel und prüfen, wie die hübschen Keltinnen sich an die Besatzer schmiegten. Lieber würde ich tonnenschwere Steine schleppen und eigenhändig Stonehenge aufbauen, als mich mit einem Teil von Les Flamandes durch die belgische Bigotteriegeschichte quälen.

Aber ich war einfach zu gut erzogen, um die mir entgegengebrachte Gastfreundschaft zu mißbrauchen und mich heimlich aus dem Kasteel zu stehlen. So hörte ich mir am nächsten Tag die Regieanweisungen des Hausherrn an. Der hatte, wie nicht anders zu erwarten, bereits seinen Stab in Bewegung gesetzt. Der Doktor sei geordert, um zu impfen, denn bereits zu dieser Zeit gab es Viren oder Bazillen und ähnliches Kleingetier, das nicht nur die Medien beherrschte, sondern auch Mauern errichtete wie die in Israel oder in Spanien (oder, ums nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, damals in Deutschland). Kein Ire, Schotte oder Waliser ließ einen rein, der nicht dagegen geimpft war, vor allem kein Engländer, seines Zeichens selbsternannter Insel-Hausmeister. Um was genau es sich dabei handelte, daran erinnere ich mich nicht mehr, die Maul- und Klauenseuche oder Creutzfeld-Jacob kamen jedenfalls später beziehungsweise gingen den entgegengesetzten Weg; sozusagen als Rache für die früheren Eroberungskriege, friedlich, wie sie nunmal über alle Zeiten veranlagt waren. Den Herrn Doktor aus seinem Häuschen am Parkrand antraben zu lassen wegen dieses einen Stichs, das tat mir dann doch vorab zu weh, weshalb ich sanft, aber bestimmt forderte, ihn aufsuchen zu dürfen. Nicht ganz ohne Skepsis, aber dann doch wurde diese Anbiederung an die unteren Stände der Feldscher oder Bader akzeptiert und sofort das Telephon benutzt. Geklärt, morgen am frühen Nachmittag — der Befehlende hatte eben auch meine Schlafgewohnheiten ausgeforscht — würde er mich empfangen, keinen genauen Termin, einfach hingehen, der Arzt sei unterwiesen, mich zu empfangen und zu versorgen.

Pünktlich zur vierzehnten Stunde hielt ich ihm meinen Oberarm hin, diesem, wie sich herausstellen sollte, angenehmen und humorvollen Zeitgenossen. Diese Insulaner seien, wie nahezu immer, leicht paranoid, hätten allerdings verständlicherweise leichte Ängste vor den Europäern, vor allem vor den Belgiern, denn an deren Stränden hätten die Engländer beziehungsweise deren Mods sich ein paarmal nicht eben freundlich aufgeführt in den Sechzigern mit ihrem Krach und ihren Rollern, wenn ihnen Brighton zu eng geworden war. Diese Infektion sei bei weitem nicht so dramatisch anzusehen, wie die Briten das täten, aber sie hätten nunmal sämtliche Zugbrücken hochgezogen und mir geschähe auch weiter nichts, bis vielleicht auf die Tatsache, daß mein Körper sich gegen das injizierte Fremde wehre und mir deshalb ein bißchen taumelig werden könne wegen des ausbrechenden leichten Fiebers und so. Nun gut, dachte ich, dabei an die wunderbar mütterliche Jonkvrouw denkend, die mich sicherlich kräftigend retten würde, Hauptsache ich komme über den Kanal und werde eingelassen. Dann getraute ich mich noch, vorsichtig zu fragen, wie er denn hier an den Parkrand des Kasteels geraten sei, der Prinzgemahl und seine Gattin seien da ja nicht so auskunftsfreudig. Ich wisse lediglich, daß er aus Blankenberge komme, wie eine Freundin, die deshalb immer so traurig sei, wobei ich mir schlecht vorstellen könne, daß es einen traurigeren Ort gebe als dieses Anwesen hier. Da verfinsterte sich sein ansonsten eher fröhliches Gesicht, er gab mir nickend recht, bedeutete mir allerdings, der Rest falle unter die ärztliche Schweigepflicht, denn die gastgebende Familie unterliege einer seltenen und auch seltsamen, vermutlich psychopathologischen Störung, und außerdem sei er nur der Hausarzt. Da wollte ich nicht weiter insistieren und läutete vom ärztlichen Telephon aus die Jungadelige an, der Bitte wegen, mich abzuholen beziehungsweise mich vor Sankt Bernhard zu bewachen, denn ohne Hütung vor dem käme ich nie und nimmer lebend im Schloß an, und da hätte dieser Versuch, die damals schon notleidende pharmazeutische Industrie und Großbritannien gleich mit zu retten, überhaupt nichts gebracht; und schließlich habe ihr Vater das doch alles bezahlt.

Der bezahlte dann noch alles mögliche. Als ich von meinem dann doch recht tieffiebrigen Traum, diesmal nicht als Anne Boleyns Bruder George, sondern als ich persönlich, weshalb es auch einer der Angst gewesen sein mag, meinem Schicksal nie wieder entweichen zu können, irgendwann erwachte, weil Mutter Jonkvrouw mir mal wieder ein stärkendes Süppchen und meine Boyards brachte, die ich aber bitteschön und um des lieben Friedens willen am geöffneten Fenster konsumieren möge, da lag auf dem Tablett ein Umschlag. Er enthielt nicht nur ein Ticket für die Überfahrt nach Dover, sondern auch eines für die Bahnfahrt nach London. Er hatte eben Format, der Hausherr, indem er nicht nur bis Sevenoaks gedacht hatte, wohin die Tochter fahren würde, um dort Englisch zu lernen wie bei mir im Oberbayrischen Deutsch, sondern über seinen Horizont hinaus. Meinte er, mit einer solchen Wahlfreiheit fiele es mir leichter, in Siebeneichen aus dem Zug auszusteigen und mit der Tochter Hand in Hand im zu prüfenden Lebensverbund über die grünen Hügel dieses Landstrichs zu hüpfen, der mir ja zwischendrin und immerhin immer mal wieder einen Blick auf die Heimat ermöglichte? Und richtig, bei genauer Betrachtung des Präsents entdeckte ich die Hinterlist: es waren allesamt Rückfahrkarten. Bis zurück ins belgische Städtchen mit dem adligen Kasteel. Schlagartig beziehungsweise nach drei rasch und heftig inhalierten dicken maïs papier schnellte das Fieber im Kopf knapp unter die Zweiundvierzig-Grad-Marke. Ich war Gefangener des belgischen Adels geworden. Abseilen müßte mich von dessen Zinnen, nächtens fliehen von dieser Familien-Bastille. Dabei war ich doch dereinst ausgezogen, solche Gefängnisse im Handstreich zu erobern, die Herrscher auch über praxisnahe Vernunftehen zu besiegen.



Den Gefangenenchor aus Verdis Nabucco singe ich beim nächsten Mal, aber hier zur Einstimmung schonmal der Text:

«Zieht, Gedanken, auf goldenen Flügel, / Zieht, Gedanken, ihr dürft nicht verweilen! / Laßt euch nieder auf sonnigen Hügeln, / Dort, wo Zions Türme blicken ins Tal! / Um die Ufer des Jordan zu grüßen, / Zu den teuren Gestaden zu eilen, / Zur verlorenen Heimat, der süßen, / Zieht Gedanken, lindert der Knechtschaft Qual! / Warum hängst du so stumm an der Weide, / Goldene Harfe der göttlichen Seher? / Spende Trost, süßen Trost uns im Leide / und erzähle von glorreicher Zeit. / Singe, Harfe, in Tönen der Klage / Von dem Schicksal geschlag'ner Hebräer. / Als Verkünd'rin des Ew'gen uns sage: / Bald wird Juda vom Joch des Tyrannen befreit.»

Die Photographie des Kasteels ist dem ArcheoNet Erf-goed.be unter CC entliehen.

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Mi, 29.04.2009 |  link | (3374) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel



 

Das Süße und seine Fährnisse

Intermezzo zwischen zwei Hochzeiten: Zum bedenklichen Tag Protestantisches aus dem belgischen Adel.

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Wie erwähnt, ich erinnere mich nicht an das, was nach dem Nationalgericht vlaamse frieten kam. Alle möglichen Crèmes und Küchlein und Cafés, durchweg Mittel zum Leben, deren Werte ich in diesem erst sehr viel später verstehen sollte. Mit Süßem assoziierte ich etwas anderes. Zwar nicht unbedingt das, was da neben mir saß, das es durchaus sein könnte, wäre es nicht immerzu so sprachlos, was mit anderen Defiziten zu tun haben mußte, nahm diese temperamentlose Wortlosigkeit doch jedwede Regung aus ihrem Gesicht. Es war flach wie das von Brel besungene Land. Keinerlei Erhebung. Ihr Gesicht muß sich sofort nach ihrer Rückkehr in heimatliche Gefilde denen angeglichen haben. Zwar war sie bereits während der Pausen des Sprachstudiums nicht eben eine Ausgeburt an Raserei, aber der Anblick der Berge hatte ihr doch durchaus die eine oder andere hübsche Furche in ihr Sprachgesicht gegraben, ließ hin und wieder mal ein Gebirgsbächlein munter durch die Augen purzeln. Doch angesichts des Zuhauses war sie offensichtlich der Verflachung sozusagen anheimgefallen. Möglicherweise kam so etwas wie monologes Sprechen abendlich knieend vor dem Himmelbett auf, züchtig, wie es die Gereformeerden van België nunmal zu sein haben. Dann fiele mir heute nur noch der ins französische Katholiken-Asyl geflüchtete Gott der Belgier ein, der laut gegen die Bigotterie der flämischen Frau rief: Les flamandes. Der katholische Barock der bayerischen Berge muß es gewesen sein, der ihr immer wieder mal ein wenig Puttensüße in ihre natürliche Askese gemalt haben muß. Hier aber war sie von einer geradezu tumben Stille, wie eines der vielen flachen, braungrünen Gewässer, die diese ganzen neugotischen, geradezu vorwilhelminischen Kasteele vor fremden Einflüssen behüteten.

Ich nahm sie also, diese ganzen Crèmes und Küchlein, aber eher teilnahmslos. Heute tendiere ich dazu, die Beilage zu den Pommes Frites, dieses haushohe knochige Steak, liegenzulassen und mich in die süßen Abenteuer zu stürzen. Aha, höre ich sie jetzt wieder aufjuchzen, die jungen Frauen, die so gerne vom Essen als dem Sex des Alters sprechen. Doch es ist ja soviel weniger dramatisch und schlicht profan. Erklären läßt es sich über den noch recht jungen Schauspieler, den ich in den Probenpausen immerfort Torten essen sah, diese alpinen Gebilde, die ein bekannter Oberbayer aus lustvollen Gründen nicht nur pausenlos zu essen scheint, sondern auch noch ins nette Netz stellt und andere in der kulinarischen Diaspora damit in den Lektüreverzicht zu treiben in der Lage ist. Irgendwann traute ich mich dann doch, diese ungebührliche Frage zu stellen, denn die Wißbegier ließ mich nicht ruhen, wie ein Mensch nur ständig solchen Süßkram in sich hineinschaufeln könne. Nickend und weiterhin Gäbelchen für Gäbelchen zu Munde führend und während einer Genießerpause mit seinem Schaufelwerkzeug auf mein mittägliches Glas eines gerade noch trinkbaren, damals europaweit obligatorischen Blanc de Blancs deutend: Du säufst, ich aber trinke keinen Alkohol und esse Kuchen. Zunächst wollte ich mich mit einer solchen Banalantwort nicht zufrieden geben, stand auf und ging kopfschüttelnd in Richtung Ausschank, um nachzuladen. Doch bereits auf dem Weg erinnerte ich mich: Als Kind und als Jugendlicher mochte ich das auch, selten genug, manchmal heimlich, da mit Küchenzutritt belegt, kam ich in die Gelegenheit dessen, was ich von anderen hörte, daß sie es zuhause ständig täten: das Auslecken von Schüsseln, in denen Crèmes und süße Kuchenteige angerührt wurden. Heute, Jahrzehnte später und seit einiger Zeit, ist mein Alkoholkonsum auf ein Genießerminimum zurückgedreht. Und immer wieder muß ich an die wahrlich plausible Antwort des damaligen Kollegen denken. Vor allem dann, wenn ich feststellen muß, daß die nach langer Zeit und aus gegebenem Anlaß hervorgeholte Hose zum dunklen Anzug pro Jahr um einen Zentimeter zu eng geworden ist.

Die Süße war mir also fern damals, nicht nur die in «einem der besten Restaurants Belgiens». Mit Fluchtgedanken beschäftigte ich mich. Daran änderte auch nicht die Tatsache, daß mich der Haus-, besser Schloßherr ans Volant seiner feinen Voiture bat. Ich würde, da war ich sicher, mir später selbst eine solche leisten; es sollte noch recht lange dauern, und auch ein anderes Fabrikat würde es sein, da dieses völlig von solchen Menschen okkupiert worden war, die man heutzutage unter Irgendwas mit Medien (damals auch Schule) rubrizieren würde. Doch ich nahm die Herausforderung an, zumal ich mit der Technik vertraut war, hatte mir mein guter alter Vater nämlich neben ein paar Koffern auch ein Fahrzeug aus dem gleichen Haus zum Abitur geschenkt und mich damit in die weite Welt des Lernens geschickt. Längst ruhte er auf dem Friedhof mangelnder Finanzen, da es seinerzeit lapidar hieß: Wenn du mit fünfundzwanzig nicht fertig bist, mußt du zusehen, wie du klarkommst. Aber ich hatte mich ohnehin bereits eine Weile bescheidener auf der Straße gehalten, da der alte Schwede mit seinem technischen Leben auch nicht mehr klargekommen war. Des Fahrzeughalters Wissen um meine Schweden-Kenntnisse waren es wohl, die mich ans Steuer baten; ich hatte sie ihm im Rahmen eines emphatischen Vortrags über die Vorzüge dieser Automobile mitgeteilt. Ich stellte den Tempomat auf nervenberuhigende hundertzwanzig Stundenkilometer und ließ uns geräuscharm durch den hellerleuchteten belgischen Autobahnabend rollen.

Die Gelegenheit wollte ich nutzen, von meinem unbedingt und in Bälde anzutretenden England-Aufenthalt zu erzählen, der sich urplötzlich ergeben habe nach einem gestrigen Telephonat. Von England war dann auch die Rede, aber doch etwas anders, als es mir vorschwebte. Mein Beifahrer hatte das Wort ergriffen und vom nächsten, in Kürze anfallenden Sprachstudienaufthalt seiner Tochter im Süden der britischen Insel gesprochen und ob ich nicht Gefallen daran fände, sie zu begleiten; selbstverständlich übernähme er die Kosten. Nein, ich fuhr in keinen Graben, aber innerlich durchaus gegen eine Wand. Verfolgt begann ich so langsam mich zu fühlen. Verfügte dieser Mensch über telepathische Fähigkeiten? Zumal ich ja gar nicht telephoniert hatte, er mich also nicht belauscht haben konnte. So blieb mir nichts anderes, als seinen Berichten über den Sieg des Protestantismus auch in England zu lauschen; er erzählte es so, als ob er persönlich Heinrich den VIII. zur Ehe mit Anne Boleyn überredet und ihn so zum Konvertiten gemacht hätte. So ließ ich es laufen, bis wir über den Kies des Kasteels rollten. Und auch die bereits leicht vorgerückte Stunde hinderte ihn nicht daran, das abendliche Ritual im grünen oder blauen Salon zu vollziehen. Ich wolle, begründete er sein Ansinnen, ja sicher noch eine Maïs papier und einen Rouge nehmen; das sei mir während der Fahrt ja freundlicherweise nicht möglich gewesen.

Nach der Enthüllung von Heinrich dem Achten als Erfinder des Tennis und beinahe einer Packung Boyards durfte ich mich in (m)ein elisabethanisches Hochbett zurückziehen. Ich träumte, Shakespeare habe mich in Annes Bruder George umgeschrieben, hätte die Syphilis und müßte bis zum Amtsantritt von Albert I. und dessen Elisabeth mit meiner dem hiesigen Haus entstammenden Gattin ein protestantisches Belgien regieren.


God shave the King singe ich beim nächsten Mal.

Abbildung: Madame La Princesse Albert de Belgique et ses Enfants. Verlag H. M. Dobrecourt, Bruxelles, via Zeno gemeinfrei

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Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse, Fluchtgedanken, Gnadenmahl oder Reiche Stunden. Der Reise vierzehnte Folge.
 
Do, 09.04.2009 |  link | (11164) | 32 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel



 

Nationalgericht

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis. Der Reise zehnter Teil.

Belgien ist ja so klein. Früher nannten wir das: Wenn man zweimal hinfällt, ist man schon zu weit. Ich sollte das mehrfach erfahren, da es mich beruflich in die Randlage dieses Ländchens bringen sollte, aber unabhängig von meinem Gastspiel im Kasteel und erst nach London. Und wenn ich zuvor von Berlin oder danach von München aus nach Frankreich fuhr, war ich tagelang unterwegs. Nicht nur, weil ich ständig Station machen mußte, da es, im Gegensatz zu diesem Durchfahrland, immerfort was zu gucken gab, sondern auch, weil es andere Entfernungen waren. Wenn man beispielsweise von Brugge aus an eine der vier Ländergrenzen oder an die von Sandstrandlern betoste Nordsee fahren möchte, ist das ein gemütlicher Ausflug. Und bis vor gar nicht so langer Zeit wurde einem nächtens auf der Autobahn auch noch heimgeleuchtet: hell erstrahlte das platte Land. Und loslegen durfte man auch. Das ist mittlerweile passé. Ausgerechnet (zunächst) in Flandern kam es zur französischen Geschwindigkeitsbegrenzung von neunzig Stundenkilometern. «Mit Tempo 90», kommentierte das ein nicht ganz unwitziger deutscher Reisender, «kann man Belgien in einer Stunde locker durchqueren.» Aber auch: das sei so, als wenn man aus Liechtenstein eine Tempo-30-Zone machte und Monaco zur Fußgängerzone erklärte.

Wir aber fuhren damals etwas flotter. Ich hatte ja erwähnt, daß der Herr des Kasteels immer gerne vor den ganzen potentiellen Unfallverursachern durch zu langsames Fahren herfuhr. Das Überholen war seinerzeit ja auch noch nicht ein so großes Problem mit hundertachtzig schwedischen Pferdestärken und ebensolcher Höchstgeschwindigkeit. Es muß sein, erklärte ja bereits Léo Ferré mit Beethovens Coriolan-Ouverture. Letzteres wurde dann auch gehört aus den feinen Lautsprechern. Und niemand, wie etwa bei Ferré, durfte das kommentieren auf den hinteren Plätzen. Über Kultur macht man sich nicht lustig. Also auch nicht über Pommes frites, das Nationalheiligtum, wie das der Nachwuchs gerne täte und damit herumschmeißen zuhause, wo die Mutter immerfort zu allem lächelte. Aber der war ja auch nicht dabei, sondern lediglich die Jonkvrouw, beider Töchterlein und ich. Und ich bekam welche! Die ich mein Lebtag nie wieder bekommen sollte.

Da muß ich die Belgier nun wirklich über alle Maße loben. Gegen das, was man in Frankreich bekommt, dem viele diese urbelgische Bodenständigkeit ja zuschreiben, etwa wenn man moules frites bestellt, ist das belgisch Frittierte wahrlich Hochkultur. Einen Aufschrei tat ich vor einiger Zeit in Travemünde, daß die Büddenwarderin meinte, sofort das Blaulicht aufsetzen zu müssen, weil sie in mir eine Vergiftung vermutete. Dabei hatte ich lediglich, zunächst widerwillig, aber angesichts des für den Landstrich ungewöhnlichen Formats die dann doch genommenen Kartoffelstäbchen aus Erinnerung an Belgien geschrieen. Eine dicke zarte Knusprigkeit, innen Balsam zwischen Zunge und Gaumen, war mir in den Mund geraten. Meine sofortige Nachfrage am schlichten Hafenbüdchen bestätigte meine Analyse: Der Chef, sagte mir der Verkäufer, sei ein Belgier, und so würden auch die Fritten, welch ein banales Wort für eine solche Köstlichkeit*, zubereitet: dicke Kartoffelschnitze, wahrscheinlich in Belgien gewachsen, zweimal in täglich gewechseltem guten Fett frittiert, nach dem ersten Mal bis zur tatsächlichen Trocknung abgetropft, und beim zweiten Mal sie dann bis zur mittelbraunen kernigen Reife bruzzeln lassen.

Aber mit denen, die wir in diesem gründerzeitlichen, leicht in den Jugendstil hineingewachsenen Restaurant an einem Kanal direkt am niederländischen Sluis bekamen, sind sie nun doch nicht zu vergleichen gewesen. Dort gab's nämlich das versprochene Nationalgericht: Beefsteak mit Pommes frites. Damals war ich noch leidenschaftlicher Fleischesser (was gut ohne Salat zu bewältigen war). Also aß ich das Beefsteak gerne. Nein, nicht das, was man in Deutschland darunter versteht: eine überdimensionierte Frikadelle. Sondern ein etwa fünf Zentimeter hohes, fest am Knochen (der Wirbelsäule?) verankertes Stück, selbstverständlich in der Pfanne gebraten (weshalb wird so etwas nicht photographiert — so ähnlich, nur mit Knochen). Besseres Fleisch sollte ich nur noch einmal bekommen, in Paris, bei einem Araber. Es war also schon ein hoher Genuß. Aber diese Pommes frites! Meine Güte, die sind mir nach gut dreißig Jahren noch in Erinnerung. Welche Sorte an Kartoffeln das war, es interessierte mich damals nicht; heute wäre das anders. Doch ich weiß, daß sie allesamt ringfingerdick handgeschnitten waren, danach abgetupft, zweimal in feinstem Fett et cetera ... Alles, was danach serviert wurde, daran erinnere mich nicht mehr. Ich träume nur noch von den handgeklöppelten Pommes frites.


* 16.11.10: Ersatzbild. Hier befand sich nämlich ursprünglich ein hochinformativer und auch stilistisch wohltuender WDR-Artikel samt Photographien über belgische Fritten-Küche und -Köche. Den haben die Zeitungsverleger mit ihrem Qualitätsjournalismus zu tilgen gewußt. In seiner Charakteristik sei ergänzend auf die von Plutus verwiesen – ohne diese Frittenstände ist das Land kaum vorstellbar.

Keine der Abbildungen steht in einem Bezug zur Geschichte, zumindest nicht der hier erzählten.



Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse, Fluchtgedanken, Gnadenmahl oder Reiche Stunden. Der Reise vierzehnte Folge.
 
Mo, 06.04.2009 |  link | (5605) | 21 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel



 

Adeliges Tennis

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken. Der Reise neunter Teil.

«... den seit der letzten Jahrhundertwende vermutlich nicht mehr benutzten Tennisplatz», hatte ich am Ende geschrieben beim letzten Mal. Seit der vorletzten aber muß es heißen! Wir leben schließlich bereits im 21. Jahrhundert. Und mich hatte das Schicksal in den Siebzigern des zwanzigsten in die unergründlichen Sümpfe belgischen Adels geführt.

Dem fünfzehnjährigen Erbprinz dürfte das schnurz gewesen sein. Er mußte den Tennisplatz säubern. Obwohl nicht eben wenig Personal ständig um das Kasteel und auch darin herumschlurfte. Aber vermutlich war das eine der merkwürdigen Erziehungsmaßnahmen seines angeheirateten adligen Vaters. Der gerierte sich ohnehin immer so hochherrschaftlich. Wie ein Fabrikdirektor. Nun gut, das war er ja auch. Aber er war doch nicht dessen Arbeiter. Sohn war er er. Dennoch, das wußte er, ein Widerspruch wurde nicht geduldet. Mit Mutter wäre das nicht passiert. Die hätte das im Zweifelsfall selber erledigt. Aber es ging aufs Wochenende zu. Und an an einem solchen befand er sich gnadenlos zuhause. An dem er grundsätzlich alleine die Familie «dirigierte», wie er das nannte, der Opern- und überhaupt Konzertfreund. Denn am Wochenende hatte er kein Fabrikorchester, da mußte die Familie nach seiner Pfeife aufspielen. Und dann noch den Zusatz «für unseren Gast». Mit dem er dann auch noch spielen sollte. Den er nicht ausstehen konnte, diesen Eindringling. Zu dem er, wenn er sich aus dem Haus traute, gerne mal Sankt Bernhard hinschickte, der ihn ebenfalls gefressen hatte. Der immer so ein angewidertes Gesicht machte, wenn er seinen Renner auf Höchstleistung brachte in den Runden um den Park. Sein Vater hatte nichts dagegen, er hatte ihm das Gerät sogar gekauft, frisiert hatte er es selbst. Aber der fuhr ja selber gerne vor den anderen her mit seinem Standesgemäßen, um Unfälle durch vor ihm Dauerbremsende zu vermeiden. Mutter lächelte, wie immer. Die hielt sich auch nicht die Ohren zu, wie seine dämliche große Schwester, die nie das Gelände, auch kaum das Haus verließ, obwohl sie die einzige war, die das durfte. Allenfalls mit diesen «Gast» tat sie das. Sollte sie ihn doch heiraten und mit ihm verschwinden. Sie, seine kleinen Geschwister und er, durften ja nie raus aus dem Park. In die Schule, ja. Aber anschließend sofort wieder zurück ins Gefängnis. Nichtmal mit den Schulfreunden durfte er nach Unterrichtsende durch das Städtchen gehen. Abgeholt wurden sie alle, eingesammelt wie Vieh, auf den Transporter und wieder zurück in den heimischen Stall. Also gab er dort ein bißchen Gas. Auch wenn's die Pferde leicht erschreckte. Aber die gehörten ohnehin diesen Fremden, die die Boxen gemietet hatten in den Stallungen am Rand ihres Parks, die aber lediglich ihre Gäule abholen und ansonsten keinen Schritt ins Gelände tun durften. Denn das gehörte ihm und seinem heißen Ofen. Der aber war jetzt sozusagen stillgelegt, weil er die rote Asche vom braunen Laub des letzten Winters befreien sollte. Um mit ihm Tennis zu spielen, mit diesem Möchtegern.

Tennis, das war auch so eine Marotte seines Vaters, von der der meinte, das gehöre mit zur Kultur. Drei Wochen lang direkt nach der Schule jeweils vier Stunden. Einen Lehrer aus Blankenberge hatten sie sogar engagiert und ihn einquartiert beim Doktor am Parkrand, den seine Eltern auch von weither geholt hatten und der fast ausnahmlos ihre Wehwehchen kurierte. Na gut, ein paar aus dem Kaff gingen vielleicht auch zu ihm. Und wenn sie mal was hatten, mußte der ohnehin bei ihnen im Haus antraben; da er als Leibarzt zum Hofstaat gehörte und jederzeit zur Verfügung zu stehen hatte, zahlte er weniger Miete. Wochenlang Tennis. Und abends Lernen für die Schule. Nicht für das Leben, denn das war keines. Und jetzt sollte er sich auch noch diesem Schnösel opfern. Obwohl er seit ewigen Zeiten keinen Schläger mehr geschwungen hatte. Aber er würde es ihm schon zeigen. Heute nacht würde er alles durchexerzieren. Gut, ohne Bälle, nur die Technik imitieren. Aber das hatte er bei diesem Ballpädagogen ja auch stundenlang üben müssen. Er würde ihn vernichten. Und wenn er auf dem Boden lag, dann würde er ihn Bernhardus zum Mittagessen freigeben.

Genau weiß ich es nicht mehr, wie es dazu kommen konnte, den armen kleinen Prinz von seinem Renner wegzubringen und zum Tennisspiel mit mir zu verurteilen. Möglicherweise hatte ich beim abendlichen Gespräch bei immer sehr gutem Roten mit Boyards im grünen oder blauen Salon auf die Frage, ob ich Sport treibe, ungeschickt geantwortet. Oder das Töchterlein hatte von einem voralpenländischen Deutschlehrer geschwärmt, dessen Hilfestatus unziemlich verschweigend, der seine Sonnenbräune nicht nur vom Skifahren hatte, sondern sie unter anderem dadurch erlangte, indem er ständig in der Mittagshitze mit nacktem Oberkörper auf einem gestrichenen Betonplatz Tennis spielte. Ich hatte das tatsächlich eine Zeitlang getan, obwohl ich weder richtig Skifahren noch Tennisspielen konnte. Aber meine jungen Alpinen nahmen mich nunmal zu allen Ereignissen dieser Art mit, und so beteiligte ich mich eben. Und der Sportivste von allen brauchte mittags eben einen, den er über den Platz jagen konnte. Als Lohn durfte ich dann des öfteren sein wunderschönes (viel röteres und sicher auch flotteres als das hier gezeigte) Cabriolet benutzen, um mir auf meinen Dienstreisen in die Münchner Theater bei Miles Davis' bitches brew von den Fräuleins auf Klassenfahrt zurück vom Obersalzberg ins Bergische Land aus dem Bus diese Information zubrüllen zu lassen; ja, damals ging sowas, es war noch möglich, über eine lange Strecke auf der Autobahn von Garmisch in die Landeshauptstadt neben einem anderen Fahrzeug herzufahren.

Er spielte ein schönes Tennis, gelerntes eben. Aber ich war ein, Boyards hin, Maïs papier her, des Rennens auf dem Hartplatz Gewohnter, noch immer einiges des früheren Eishockeys sowie der anschließenden langen Berliner Rock'n'Roll-Nächte neben Otto Schilys Kanzlei in der ja auch noch nicht allzu alten Muskulatur; ein besessener Autodidakt zudem. Seine Schläge kamen äußerst gefühlvoll und manchmal gar elegant, doch der Sandplatz war zu langsam, ich errannte nahezu jeden noch so kunstvoll geschlagenen Stopball. Äußerst kraftraubend war es, aber ich wollte mir doch von so einem jungen Halbadeligen keine herbe Niederlage verpassen lassen. So hetzte ich um meine Würde. Beim Stand von zwei zu zwei schmiß er dann zu meinem Glück den Schläger in hohem Bogen in Richtung seiner feixenden Geschwister und dem leicht ergrimmt dreinblickenden Vater sowie seiner wie immer lächelnden Mutter und verkündete Unlust. Der Hausherr fing sich rasch wieder und trat in den gewohnten diplomatischen Dienst ein. Ein Unentschieden sei ja gerecht und für alle das Beste. Letzteres käme dann zu Mittag, er habe reservieren lassen in einem der besten belgischen Restaurants.

Den Jungen hingegen habe ich fortan kaum noch gesehen, aber immer gehört. Dafür mußte er Sankt Bernhard präpariert haben, auf mich dressiert. Denn wo ich auch hinschaute, er lag auf der Lauer und wartete auf sein Mittagsmahl.


Mehr oder minder tränenreich verabschieden werde ich mich mit diesem Thema wohl beim belgischen Nationalgericht in einem «der besten Restaurants» des Landes. Beim nächsten Ma(h)l also. Wenn der Platz nicht ausreicht, gibt's noch ein weiteres auf dem Weg nach Sevenoaks und London, dort nach dem letzten Pint abends um elf und anschließendem God shave the Queen mit Polizeibegleitung auf The Mall.

Damit das klar ist: bei dem Kasteel da oben handelt es sich nicht um besagtes; alle weitere Abbildungen sind ebenfalls nicht zur Geschichte gehörig.



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Sa, 04.04.2009 |  link | (4629) | 15 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel



 

Blumenkohl und Pannekoeken

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete. Der Reise achter Teil.


Nein, verhungert bin ich wahrlich nicht während meines Aufenthaltes in den belgischen Sumpfgebieten. Zum einen war Jonkvrouw Mutter, besser Mutter Jonkvrouw*, denn in der Rolle einer Glucke ging sie eher auf als in der einer Retterin eines Adelsgeschlechts, sie war geradezu Sinnbild eines treusorgenden Weibes. Fürs Frühstücksdirektieren eignete sich ohnehin eher der zwar bürgerliche, aber bereits in der Erscheinung blaublütig wirkende Gatte. Vermutlich lag es an seinem gesellschaftlichen Aufstieg, man kennt es: von ganz unten. Andererseits ihm mit einem solchen Anwurf Ungerechtigkeit widerfahren könnte, trieb er sich doch wahrhaftig nicht redenschwingend auf einschlägigen Veranstaltungen herum, sondern widmete sich allabendlich der Familie. Die Jonkvrouw schien mit Ende des familiaren Streit um die Hochzeit, die in dieser schlössigen Einsamkeit der Großimmobilie endete, sämtliche adelige Attitüde abgelegt zu haben. Wenn sie sie je innehatte. Sie wirkte auf mich immer wie ihre Dienstmagd; dort ist die Jonkvrouw umgangssprachlich mittlerweile unter anderem gelandet. Möglicherweise hat sie auch den Kindern die Distanz zum eigenen Geschlecht derer von anerzogen. Besonders deutlich wurde das ja an der Tochter, der Behüteten. Allerdings hatte die so gar nichts Arbeitssames. Vielleicht konnte sie ja stricken und häkeln, am Ende gar Spitzen klöppeln. Aber wann auch immer ich sie sah innerhalb des riesigen Gebäudes, dann saß sie in der Mutter Nähe und schaute ihr zu, wie sie arbeitete. Nahezu alles fand in der Küche statt. Zwanzig, dreißig oder noch mehr Zimmer, dennoch die Reduktion auf diesen einen Raum; und am Abend eben der blaue oder grüne Salon, wo man sich vermutlich aber auch nur hinbegab, um mir während des suchtfrönenden Verzehrens meiner Boyard Gesellschaft zu leisten. Und tatsächlich kam ständig eines der acht Kinder in die Küche gerannt und holte sich irgendwas zum futtern. In endloser, grenzenloser Güte stopfte sie ihre Brut; selbst ein Kuckuck hätte sie nicht aus der Ruhe gebracht.

Irgendwann konnte ich das nicht mehr mit ansehen, daß sie immerzu am werkeln war und keiner auch nur eine Hand rührte. Ich schlug vor, einen kleinen Beitrag zu leisten, wenigstens einmal zu kochen. Dieser Vorschlag rief eine außerordentliche Überraschung hervor. Vermutlich war ihr das noch nie untergekommen. Daß ein Mann Hausfrauenarbeit verrichten wollte. Freiwillig. In den Siebzigern gehörte es noch nicht zum weltmännischen Ton des Mannes, sämtliches Kücheninventar in einem Arbeitsgang einzudrecken. Zu der Zeit konnte Sarah Wiener ja auch gerademal über den Tisch gucken. Aber, na ja, immerhin hatte deren Vater Oswald nach seiner Verbesserung Mitteleuropas und seiner Flucht nach Berlin erstmal ein Restaurant eröffnet. Und Isaac Feinstein war bereits kurz davor, das seine in Düsseldorf wieder zu schließen, nachdem er sozusagen die Kunst an den Nagel gehängt hatte. Ich hingegen verfügte über ein kulturwissenschaftliches Reservoir, das an anderer Stelle mit Romantischer Gastronomie etwas beschönigend betitelt worden sein könnte. Vielleicht war's aber auch nur die Küche, die's mir angetan hatte. Bei einer solchen Ausstattung mußte sich manch ein professioneller Koch wie im Himmel fühlen, dafür mußte zwei Jahrzehnte später die Macht des Essens viele Kilometer an Naturalienregelung bewältigen. Geradezu zwanghaft nahm ich gut ein Drittel des Kücheninstrumentariums einzeln in die Hand. Eine erstaunliche Leistung angesichts des schlichten Blumenkohlauflaufes, den ich produziert hatte. Nun gut, ich war mir des etwas überzogenen Geräteaufwandes wohl bewußt geworden, was mich zum Ende hin noch zu einer Crème brûlée antrieb. Die meiste Bewunderung der Hausherrin dürfte vermutlich die Tatsache hervorgerufen haben, daß ich jedes Teil fein säuberlich abgespült hatte, jeweils sofort nach Gebrauch. Das lerne man in einer vier Quadratmeter winzigen Küche mit bis zu hundertfünfzig mittäglichen Menues und präge sich ein, erklärte ich. Daß ich damals schon ein Töpfe-, Pfannen-, Messer und sonstwas -fetischist war, den man nie in die Nähe einschlägiger Ladengeschäfte wie später diese traumhafte Halle voller Spitzsiebe, Passiermühlen und Weinpumpen et cetera im Hamburger Chancenviertel lassen durfte, verschwieg ich dezent.

Zur Belohnung bekamen wir beide am nächsten Tag was ordentliches zu essen. Papa hatte dem Töchterlein wieder ein Kuvert zugesteckt. Das hatte es nach meinem sprintigen Einstieg in den Mini — es kam gelassen hinterher, nachdem es zunächst Sankt Bernhard vor mir geschützt hatte — mir direkt auf den Schoß gelegt. Von Pfannkuchen war nach dem nicht allzu variantenreichen Gastmahl die Rede, über das sich bis auf die Kinder alle lobend ausließen. Aber nicht von diesen dünnen, der französischen, also wallonischen Cuisine entlehnten papierdünnen Flädchen, sondern von handfester flandrischer Kost. Pannekoeke hieß das Haus in Damme, in dem es, wenn ich mich recht erinnere, rund hundertfünfzig verschiedene Arten dieses Fladens gab, genauer: etwa soviele unterschiedliche Füllungen. Allesamt richtige Sattmacher. Derart satt machten diese drei oder vier oder nochmehr Fladen, von sehr deftig bis sehr süß, die junge Frau, daß an weitere kulturelle Bewegung nicht mehr zu denken war. So gab ich mich meinem Vorwärtstrieb einmal mehr am Volant des spritzigen Mini hin. Sie berührte das Tempo nicht mehr weiter, war sie doch mittlerweile daran gewöhnt und überdies kurz nach dem Einstieg in ein Verdauungsschläfchen übergegangen. Erst als der heimatliche Kies unter den Pneus knirschte, erwachte sie wieder, schaffte es gerade noch, den Heiligen Bernhardus vor meinen Lefzen in den Keller zu retten, um dann direkt neben Jonkvrouw Mutter auf das Höckerchen zu sinken und ihr Schläfchen fortzusetzen. Ihr Vater erzählte mir dann am Abend, was ich in Damme alles an Eulenspiegeleien hätte anschauen können (die mir Jahrzehnte später unweit der Ostsee begegnen sollten), wäre die Tochter von den vielen Pannekoeken nicht so erschöpft gewesen.

Am Wochenende aber, sprach er in meinen papier maïs-Nebel hinein, führen wir über Land und schauten ein wenig Cultuur. Zuvor jedoch würde sein ältester Sohn mit mir eine Partie Tennis spielen. Das habe er ihm versprochen. Gleich morgen früh würde er den Platz hinterm Haus herrichten. Ich solle doch ein wenig Spaß haben während meines Aufenthaltes im Kasteel. Ich hatte wohl mal wieder etwas leichtfertig von meinen sportlichen Vorlieben geplaudert. Denn die Freude würde ich tatsächlich haben. Schließlich war die Liebe des Sohnes mir gegenüber etwa der von Sankt Bernhard gleichzusetzen. Und nun sollte er auch noch auf sein tägliches Rundstreckenrennen mit seinem Käfer um den Park verzichten, den seit der letzten Jahrhundertwende vermutlich nicht mehr benutzten Tennisplatz säubern und mit mir Altherrensport treiben.

Aber davon erzähle ich das nächste Mal.

* Immerfort falsch geschrieben als Jonkfrouw, so ist das, wenn man sich im Adel nicht auskennt, zumal ich nichtmal weiß, ob sie nicht doch einen Titel trug; aber hiermit ein für allemale korrigiert.

Und das ist immer noch nicht mein Gast-Kasteel, sondern lediglich ein beispielhaftes.



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Mo, 16.03.2009 |  link | (4793) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel



 

Die Behütete

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen. Der Reise siebter Teil.

Schlaf als der «kleine Tod», las ich dieser Tage. Daß ich dabei andere Assoziationen hätte, teilte ich mit. Dann wurde für mich etwas schlüssiger Hypnos und Thanatos daraus. Das kam meinem damaligen Zustand unter Eulen auch näher. Zumal ich mich in einer Art fiebrig wälzte, die die anregendere Variante untersagte. Und sich vermutlich für die nächste Zeit auch nicht ankündigte, galt zu dieser Zeit die protestantische Entsagung mindestens soviel wie ein katholisches Gelübde. Aber ich dachte ohnehin nicht an die Jungfrau, sondern eher an einen Umzug in ruhigere Gefilde.

Als ich mich gegen Mittag von meinem meinem Turm hinuntergequält hatte und so freudig begrüßt wurde, als sei das eine christliche Uhrzeit, getraute ich mich auch sogleich, um ein anderes Quartier zu bitten. Gerne nähme ich auch die Garage inkauf, witzelte ich schwächlich, und sei es die weniger poetische, sondern eine prosaische, aber doch bitteschön auf jeden Fall ziemlich weiter unterhalb dieser schlafhinderlichen Vögelei. Die Jonkfrouw lachte lauthals ob des Witzchens, und die sogar ebenfalls in der gigantischen Küche anwesende Jungfrau bekam ein Lächeln in ihr schmales und immer blasses Gesicht hinein. Letzteres schien nicht verwunderlich, wie sich bald herausstellen sollte, verlies sie doch nicht nur das Gemäuer nicht, sondern bevorzugte nahezu ausschließlich diesen zugegebenmaßen außerordentlich großen Koch- und Backraum. Dabei verlangte es niemand von ihr. Sie fühlte sich wohl in der Nähe von Mutters Rockzipfel. Sehr bald sollte ich mich daran erinnern, daß sie auch im Voralpenland so gut wie keinen Fuß an die Frischluft gesetzt hatte. Die Natur hatte es ihr auf eine andere Weise nicht so angetan als vorübergehend mir. Das ging mir irgendwann richtig nahe. Oder auch: ihr Vater mußte ihr mal deutlich gemacht haben, man müsse einen Gast schließich auch mal ausführen. Das kam dann auch hin und wieder vor. Aber so richtig Freude wollte ihr das nicht unbedingt bereiten. Manchmal fehlte ihr nachgerade eine Haube, das reichte soweit in die Historie zurück, daß mir dabei eine der vielen Spitzenklöpplerinnen unterkam, von denen mich später eine derart faszinieren sollte, daß ich ihr um ein Haar in die Filmgeschichte hinterhergefahren wäre. Bis ich mich gut zwei Jahrzehnte danach so über das eitle, Kritik nur ungern zulassende Aufgebrause der Theaterdiva von Avignon ärgerte, bis ich sie aus meinen Gedanken strich. Aber die belgische Prinzessin würde solches nicht anfechten. Sie plante keinerlei Aufführungen. Und unter Menschen ging sie nur, wenn der väterliche Ritter ihr den Auftrag dazu erteilte.

Der wußte von nahezu allen meinen Interessen. Darüber mußte das Töchterlein, vermutlich noch zu voralpenländischer Zeit, ihn vorab informiert haben. Es gab ja auch eine schier unglaubliche Vielfalt zu sehen und zu bestaunen in diesem Land, das damals überdies noch nicht von zu vielen Menschen mit zuviel Freizeit überrannt worden war und dessen vielen Baudenkmale sich noch in einem Zustand befanden, der noch nicht an Wettbewerbe wie Unsere Stadt soll schöner werden erinnerten. Vor rund fünfunddreißig Jahren hatte man sich wohl noch nicht so daran gewöhnt, unter einer (parlamentarischen) Monarchie zu dienen, und die Flamen und Wallonen begannen zu dieser Zeit in der Provinz auch noch lange nicht, sich die Köpfe einzuschlagen. Das Französische hatte noch Geltung im Dörflichen und Kleinstädtischen, auch wenn man es dort nicht sonderlich mochte. So sprachen die Oberhäupter meiner Gastgeberfamilie, aber auch die Jungen mußten ran, obwohl dieser welschen Sprache perfekt mächtig, auch flämisch. Wenn nicht Besuch dazwischenkam. Und so sprachen wir auf Augenhöhe. Was bei mir wiederum den Eindruck hinterließ, ich hätte mein doch noch nicht allzulanges Leben nichts anderes getan, als mich mit der Kulturgeschichte dieses Landes beschäftigt.

Dabei wußte ich nach zwei Tagen erst um einen Bruchteil der Schätze, die alleine das Kasteel aufzuweisen hatte. Vier oder fünf Räume hatte ich bereits gesehen, vor allem mein neues Nachtlager, in dem ich vögelfrei meinen Infekt ausschlafen durfte, neben dem ich dann noch ein Badezimmer entdecken sollte, das ich zunächst für eine nebenan gelegene Nachbarwohnung hielt. Die weitaus größte Überraschung hielt, als der Vater insistiert hatte, allerdings ein Nebengebäude parat, das sich profan als Großgarage bezeichnen ließe. Zwar befand sich darin ledigich ein Automobil, aber was für eines. Auf ihm hatte der finnische «Linksfußbremser» Timo Mäkinen, weniger den damals noch nicht ganz so elendiglichen britischen Eigentumsverhältnissen geschuldet als dem Vorderradantrieb, sich 1966 in mein Herz gefahren gehabt, aber nicht nur der, sondern: erster, zweiter und dritter Platz für den Mini Cooper S. Der stand da eigentlich nur so herum, da nahezu alles geliefert wurde und auch die Jonkfrouw keine sonderlichen Neigungen zeigte, den heimatlichen Park zu verlassen. Und da die Tochter, im Gegensatz zum fünfzehnjährigem Bruder es mit der Rallye inmitten des Paradieses und auch sonst nicht sonderlich hatte, mehr noch, sich niemals hinter das Steuerrad eines solchen Todesgerätes setzen würde, stand mir der 1300er zur Verfügung. Genauer, ich fuhr ihn. Ich fuhr ihn damals so, wie ich es mir nicht wünsche, daß unsere heutigen Jungen ihn fahren. Sie bekam ihre Ängste, die Jungfer. Starr und steif saß sie bei unseren Ausflügen nebendran, immer noch ein wenig blasser werdend, so daß ich mir das gar nicht vorstellen konnte, wie das vonstatten gehen sollte. Aber sie schwieg. Kein Sterbenswörtchen kam über sie, kein Ton. Doch sie sprach ohnehin eher wenig.

Die Mutter hatte uns eine gute Fahrt gewünscht, den immerfort in meine Richtung knurrenden Sankt Bernhard gerade noch im Griff. Nicht immer sollte das später gelingen; aber er tat ja weiter nichts, als auf die Kinder aufzupassen. Das vielgerühmte Gravensteen hatte ich mir zunächst ausgesucht, das um 1900 eigentlich nicht mehr so recht gebraucht wurde, vermutlich, da man auch mit dieser Vergangenheit endlich aufgeräumt haben wollte und man ohnehin so viele schönere neuere Schlösser gebaut hatte zu dieser Zeit. Ein wenig hätte ich schon den Hausherrn des einen herbeigewünscht, der sicher ein paar mehr Informationen für mich übrig gehabt hätte als die doch etwas arg bescheidene Haubenträgerin aus seiner Produktion. Nein, hin und wieder sagte sie so etwas wie ja, und auch ihre Hausmütze hatte sie meinetwegen abgesetzt während des kulturellen Ausflugs.

Etwas Bewegung kam allerdings in sie, als es darum ging, aus diesem doch etwas ältlichen Gemäuer wieder herauszukommen und Nahrhafteres zu sich zu nehmen. Das ging immer in diesen schlanken Körper hinein. Sie verbrannte gut, nannte man das damals. Mir war das allerdings nicht so recht, da sie kerzengerade ein nicht eben preiswertes Restaurant ansteuerte. Zwar hatte ich mir zu dieser Zeit bereits angewöhnt, immer Reserven mitzuführen. Aber eben Reserven. Auf einen solchen Appetit waren die nicht eingestellt. Allerdings konnte ich mich schlecht verweigern. So hielt ich mich schwitzend an meine Finanzen denkend an einem Würstchen zurück, während das Fräulein seiner Lieblingsbeschäftigung frönte. Bis es offensichtlich auch mal was begriff und mir unter dem Tisch schier das Knie wundschlug, bis auch ich es begriff. Der Vater hatte ihr einen Umschlag zugesteckt, auf daß der junge Mann nach den gemeinsamen kulturellen Exkursionnen nicht gänzlich vom Fleisch falle. Zu dieser Zeit zahlte eine junge Dame noch nicht, geschweige denn für einen Mann. Aber sie hätte das ohnehin nicht getan, vermutlich auch gut dreißig Jahre später nicht. So sollte ich denn noch eine ganze Weile gerettet, ja sogar etwas übermütig geworden sein mit dem Geld anderer Leute, haben wir doch noch einige Ausflüge unternommen. Und wenn sie das alles allzusehr überanstrengte, sah ich mich auch schonmal gezwungen, das schöne Land alleine zu umfahren. Und fortan vorab auch immer mit etwas Unterstützung, auf daß ich nicht verhungere.


Doch von den weiteren langanhaltenen Ausritten erzähle ich das nächste Mal.

Die gezeigten sowie verlinkten Abbildungen stellen lediglich Beispiele dar, die Ähnlichkeiten vermitteln sollen; sie stehen in keinem Fall in Beziehung zum Drehort der Geschichte.

Die Photographie stammt von ClausM und ist lizensiert unter CC.



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Mo, 02.03.2009 |  link | (4645) | 23 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel



 

Unter Eulen

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen. Der Reise sechster Teil.

Heutzutage fällt es mir leicht, die Schlupflider sich glätten zu lassen ab einer bestimmten Müdigkeit. Das geht in allen Körperpositionen. Doch ich befinde mich mittlerweile im Ohrensesselalter, weshalb zumindest Wohlmeinende mir meine Schlafattacken nicht weiter übelnehmen. Damals war ich jedoch noch eine Weile keine dreißig, zu Gast in einem nicht nur architektonisch hohen Haus und trug auch noch merkliche Rückstände dessen in mir, was man mal gute Erziehung nannte. Dennoch wäre ich nur zu gerne zur Ruhe gegangen, nicht einmal das Turmzimmer hätte es sein müssen, der vermutlich seit Hausgründerzeit den Raum zierende Chaise longue hätte sich meines desaströsen grippalen Infekts sowie meines die letzten Tage doch etwas vernachlässigten Schlafbedürfnisses angenommen. Sicherlich hätte ich mich wie zuhause gefühlt, wo ich während der Kinderzeit des öfteren am Rande des nachmahlzeitlichen Gebrabbels auf einem solchen Langgestühl ruhen durfte. Lange hätte ich die einlullelnden Stimmen nicht gehört, wäre doch Helios mit Höchstgeschwindigkeit in die Garage gebrettert (ich bitte um Vergebung, Herr Schmidt).

Doch dann trat die Jonkfrouw in den Raum, beschürzt einer Dienstmagd ähnelnd, nein, eher identisch mit sich selbst als Hausfrau und vor allem Mutter auch kleinerer Kinder mit Vorliebe für unpatriotisches Ketchup, das sich allerdings mit einheimischer Mayonnaise die Fleckenwaage hielt. Ihr Gatte erhob sich und knickte seinen Oberkörper leicht nach vorn; diesen mich leicht seltsam anmutenden ehrerbietigen Gruß ihr gegenüber sollte ich noch oft sehen, die Anrede in dritter Person blieb jedoch immer aus. Ich hegte die Hoffnung, direkt und von ihr persönlich ins Bettchen gebracht zu werden, auch ohne Gutenachtgeschichte und -küßchen wäre es mir recht gewesen. Aber dann sah ich den Servierwagen, den sie hinter sich herzog. Zwei Gläser mit Milch befanden sich darauf sowie eine Schale mit gelblichem Inhalt, vermutlich Honig. Drei Löffel davon rührte sie ein und reichte es mir. Ich war tapfer. Heute würde ich das Feigheit nennen. Aber ich brachte das Gemisch hinunter. Es war nicht ganz so furchtbar, wie ich zunächst annahm. Möglicherweise fraßen belgische Kühe damals anderes Gras als berlinische oder bayerische, oder der Honig war so gänzlich anders als alle anderen Sorten, die ich jemals zu mir genommen hatte, möglicherweise auch, daß die Milchwärme draußen im Cheminée der Eingangshalle mittels belgischer hundertjähriger Jungeiche hergestellt worden war. Auf jeden Fall tat es kein bißchen weh an meinen Geschmacksnerven. Einen Teller mit ein paar Schnittchen habe sie ins Zimmer gestellt, der sich als Grundversorgung für eine Messe von Generalstabsoffizieren erwies, sie sähe mein dringendes Schlafbedürfnis, auch habe der Infekt mich wohl fest im Griff, und es sei alles angerichtet oben im Eulenturmzimmer. Was war das? Eine Abhöranlage oder weiblicher, gar mütterlicher Instinkt? Woher wußte sie von meinem Turmwunsch? zuckte es kurz in mich, aber rasch wieder verjagt durch Hypnos' sich ankündigenden Gesängen. Als ich mich zwei Tage später getraute, sie nach ihren hellseherischen Fähigkeiten zu fragen, teilte sie mir leicht lächelnd mit, mein gebannter Blick aus dem Fenster, als sie sich kurz im Zimmer befunden habe, sei so verklärt gen Turm gerichtet gewesen, daß jeder Zweifel ausgeräumt gewesen sei.

Heute weiß ich nicht mehr, wie lange ich in einem Stück geschlafen hatte. Aber gut erinnere ich mich mittlerweile, daß ich trotz meiner ohnmachtsnahen Müdigkeit immer wieder aufwachte, mich anfänglich fürchtete wegen der seltsamen Geräusche, tatsächlich an Gespenster dachte, befände ich mich schließlich in einem Schloß, nicht ganz so alt wie jene, in denen mindestens ein Familiengeist Fremde wegzuspuken gedachte, aber doch betagt genug, daß alles permanent knirschte und knackte, aber nach dem vierten oder fünften Mal des Wachwerdens fuhr des Hausherrns Hinweis in mich, der mir dann doch einleuchtete: Eulen. Vermutlich zwei Familien. Oder einmal Eule plus Turmfalke (hier ist richtig was los!). Vermutlich äußerst nachtaktiv. Während die erste morpheussche Attacke über mich kam, ging bei denen über mir der Alltag, die Allnacht los. Vermutlich existierte da eine familiare Analogie: acht Junge oder zweimal vier oder mehr. Und die spielten da oben nächtens Hockey mit Mäusen und ritten auf Ratten querturmein. Wie ihre menschlichen Geschwister tagsüber da unten im kinderparadiesischen Keller mit Hartgummibällen und auf metallenen Geräten. Das brachte mir eine längere Schlafphase ein. Allerdings auch die Erkenntnis, es könnte angenehmer sein, künftig nicht mehr so extrem naturnah ruhen zu wollen.


Von meinem Aus- beziehungsweise Umzug in eine friedlichere Umgebung erzähle ich das nächste Mal.

Die gezeigten sowie verlinkten Abbildungen stellen lediglich Beispiele dar, die Ähnlichkeiten vermitteln sollen; sie stehen in keinem Fall in Beziehung zum Drehort der Geschichte.

Die Photographie stammt von Tijl Vereenooghe/Erf-goed.be und ist lizensiert unter CC.



Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse, Fluchtgedanken, Gnadenmahl oder Reiche Stunden. Der Reise vierzehnte Folge.
 
Fr, 27.02.2009 |  link | (4385) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel



 

Anbahnungen

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig. Der Reise fünfter Teil.

Flandrische Löwen, unter ihnen ein Berhardiner, auf den ich noch näher einzugehen gedenke und mindestens so groß wie ein Leitleu, vermittelten mir ihre grundpatriotische Haltung. Die ruhigste stimmliche Bewegung kam von der ältesten Tochter, etwa so, wie die deutschen Fußballnationalspieler vor den Spielen der siebziger Jahre gegen die Niederlande ihre Hymne sangen. Deren unverkennbare Mutter hingegen, das ward deutlich, hatte vernehmlich die erste Stimme in diesem Chor. Ihr Lächeln während des Gesangs, es war zu dieser Zeit noch schwierig auszumachen für mich, ob es dem Besuch oder den Gedanken an das Vaterland Belgien oder der Lebensfreude im allgemeinen galt. Eine gewisse Gelöstheit, das getraue ich mich so lange Zeit danach frei zu assoziieren, daß tatsächlich möglicherweise mal wieder ein bißchen Leben in die Bude kam. Sie war es auch, die herzhaft auf mich zuschritt, mich um ein Haar in die Arme nahm, es aber doch bei einer herzlichen händischen Begrüßung beließ. Sie drehte sich herum mit Blick auf ihre vielen Kinder und stellte mir jedes einzelne vernehmlich vor, immer wieder ein wenig freudig erregt gickernd. Die kleineren saßen auf irgendwelchen Tretmobilen der etwas größeren und die ganz kleinen, etwas anders pigmentierten auf ihnen drauf. Ihre älteste Tochter kam zum Schluß dran. Als ob sie zu früh geboren gewesen wäre. Vielleicht war's ja so, und sie hatte ihr nie so recht verziehen, ein Kühlfaktor gewesen zu sein in der jungen Ehe, die vor allem einem galt: dem Bau und dem Verkauf von Eisschränken, wie man sie damals durchaus noch nannte. Die Jungfrau nahm mich handweich und ungerührt in Empfang. Wie jemanden, den sie gegen ihren Willen heiraten solle. Auf jeden Fall kam kein Hauch eines leicht erregten Rouge in das langgestreckte und eigentlich aparte Bleich der Prinzessin. Wäre ich nicht so erschöpft und gleichermaßen fasziniert gewesen, ich hätte leicht umdrehen und mir vor dem Bahnhof einen PKW-Trip suchen können für den Weg zurück zum Blauen Reiter.

Einer fränkischen Horde gleich mit einem römischen Gefangenen in ihrer Mitte verließen wir den kleinstädtischen Bahnhof. Jonkfrouw Mutter schnatterte unentwegt stilvoll auf mich ein, als ob sich ein Ventil über jahrzehntelangem Schweigen gegenüber der Welt gelöst hätte. Ich nickte müde und dabei ständig schniefend. Sofort nahm sie meine Erkältung wahr. Alsbald, glitt sie kurzzeitig in ihren mütterlichen Part zurück, sowie wir uns im Haus befänden, gäbe es warme Milch mit Honig und ein kuscheliges Bett samt Kamin dazu. Letzteres war mir willkommen, aber daß mir alleine der Gedanke an warme Milch Übelkeit verursacht, verschwieg ich zunächst einmal. Ein paar Schritte nur noch seien es. Das traf zu, soweit es um das Eingangstor zum Park ging. Doch der Weg durch diesen Laubwald mit Bäumen, die vermutlich Chlodwig, spätestens aber die Burgunder in vegetarischer Phase hintenraus gepflanzt hatten, wollte nicht enden, dieses gepflegte englische Gartenparadies mit zentraler Bebauung, das ich trotz mangelnder Energie sicherlich genossen hätte, wäre da nicht dieser assimilierte Immigrant vom Sankt Bernhard gewesen, der mich ständig umkreiste und der es einmal trotz seiner enormen Höhe schaffte, sich zwischen meinen Beinen durchzuzwängen; wahrscheinlich wollte er mir andeuten: Ein Haar mehr, und ich würde den Ritt auf einem belgischen Höllenhund kennenlernen. Nicht ängstigen solle ich mich, meinte die Rudelführerin, er tue nichts, er passe lediglich auf die Kinder auf. Und die anderen fünf oder sechs oder mehr — vermutlich bekam jedes Kind zur Geburt ein eigenes Knuddeltierchen, demnach waren es acht — kleineren Wuchses, die hielten sich brav an die Anweisungen von Prinz Bernhard, dem Leitlöwen. Hätte ich damals geahnt, was einige Jahre später auf Belgien zukommen sollte an Schauerlichkeiten und das mit diesem unzureichend informierten Instinktgeschöpf in Verbindung gebracht, mir wären auf der Stelle Flügel gewachsen, und ich wäre in die Lüfte entstiegen und zurückgeflogen in der Voralpen Land. Die ärgste Irritation bewirkte unser Kinderschützer bei mir, indem er mich, anders als sein ununterbrochen kläffendes Gefolge, bis auf auf ein dauertönendes Knurren aus jeder erdenklichen Bewegung heraus anglotzte. Es sollte der Beginn einer dauerhaften Beziehung werden.

Angekommen und hineingegangen über das Hauptportal, das, wie ich später erfahren sollte, eigentlich nie benutzt wurde, bugsierte mich die Dame des Hauses durch die zwar immens hohe, aber überraschend zurückhaltend gestaltete, sich wohl vor dem regionalen Protestantismus verbeugende neugotische Eingangshalle unter der Kassettendecke in einen auch nicht eben kleinen Nebenraum und schob ihre Tochter hinterher. Die saß dann mir eher teilnahmslos gegenüber, frug brav dies und das und ob es mir gefiele und teilte mir mit, daß ihr Vater sicher gleich kommen würde, er freue sich sehr auf mich, eigens für mich habe er sich früher freigemacht am heutigen Tag. Kaum daß sie es gesagt hatte, ging ein Ruck durch sie, später sollte ich dieses Kiesknirschen der Pneus auch wahrnehmen, sie stand auf, verließ den Raum, und an ihrer Stelle betrat der Angekündigte ihn. Ein auf Anhieb ungemein sympathischer, gut aussehender, wohlgewandteter und gewander Einsneunziger, für mich eindeutig altadeliger Hausherr mit der typischen Haltung fortschrittlichen Bürgertums, begrüßte mich distanziert, aber den Abstand durch natürliche Offenheit wettmachend, bat mich, wieder Platz nehmen. Ob ich rauche, fragte er, wartete die Antwort gar nicht ab, stand auf, ging zu einem Schrank und nahm einen Korb mit fünf oder sechs Sorten Zigaretten heraus. Er sah meinen nicht ganz so erfreuten Blick auf die dezent angeordnete Unordnung gefilterten Tabaks und schob sogleich die Frage hinterher, ob ich eine bestimmte Marke bevorzuge? Selbstverständlich würde er sie mir morgen mitbringen. Anzunehmenderweise war ich der erste Mensch, der in diesem Raum, anderswo im Haus ohnehin nie, rauchen würde. Am nächsten Tag dann filterlose Zigaretten, zwar welche à la Régie Française in Luxembourg für Resteuropa hergestellte, dann jedoch sogar die eigens aus dem Nachbarland herantransportierten Richtigen.

Von diesem durch Abhängung lediglich etwa vier Meter hohen blauen Salon aus, er mag auch grün tapissiert gewesen sein, so genau erinnere ich mich nicht, auf jeden Fall sanft-, pastellfarben rythmisch, dort, wo fortan die abendlichen Gespräche stattfinden würden, schaute ich von meiner vermutlich nicht unbedingt zufälligen damastenen Sitzposition aus nach rechts auf einen Turm. Mein Gesprächspartner sah, was meine Aufmerksamkeit erregte. Nicht bedrängen wolle er mich, doch es sei nötig, das zu fragen, da, verstehe ich's jetzt mal rückwirkend so, angerichtet werden müsse: Ob ich einen guten, also tiefen Schlaf habe? Das lenkte mich von meiner Aussicht ab, von der ich, nach dem Meer an zweiter Stelle, nie genug kriegen konnte: von Türmen und Zinnen. Er sah meine Irritation. Hätte ich einen leichteren Schlaf, dann wäre das höhere Gemäuer insofern etwas ungünstig, als es oberhalb des Turmschlafzimmers doch etwas geräumiger zuginge, da dort oben die Eulen und weiteres Getier vermutlich eingezogen seien, bevor das Kasteel fertiggestellt wurde. So könne ich gerne eines der zentral gelegeneren Zimmer in der zweiten oder auch der dritten Etage beziehen, wobei letztere doch eines leicht erheblicheren Aufwandes bedürfe, da sie nicht allzuoft Gäste im Haus hätten und sie nicht in dem Maße benutzten wie die anderen. Ob er, stotterte ich an ihn hin, damit sagen wolle, ich könnte dorthin, in diesem Turm am Ende gar, mein vom vielen mißlungenen Anhalten so müde gewordenes Haupt betten?


Von meinem schleiereulenbewachten Unruheschlaf und baldigem Umzug ins etwas stillere Innere erzähle ich das nächste Mal.

Die gezeigten sowie verlinkten Abbildungen stellen lediglich Beispiele dar, die Ähnlichkeiten vermitteln sollen; sie stehen in keinem Fall in Beziehung zum Drehort der Geschichte.

Die Photographie stammt von wauter de tuinkabouter und ist lizenziert unter CC.



Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse, Fluchtgedanken, Gnadenmahl oder Reiche Stunden. Der Reise vierzehnte Folge.
 
Di, 24.02.2009 |  link | (3766) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel



 





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