Abgetriebener Käse

Ich kaufe solche Produkte nicht, weil ich alleine die Bezeichnung «Original französischer Bio-Weichkäse» als absurdes Verbraucher-Brimborium empfinde. Er stammt aus Andechs. Andechs liegt im Allgäu. Die geneigte Kundin und ihr gelangweilt mit durch die Wunderwelt des Alles Supermarktes schlurfender, gediegen bachalorischer Lebensabschnittgefährte denken an das Immerfrische, an saftige Wiesen, werbeilluminierte dicke Euter im Dirndl, an Nonnen und Mönche im züchtigen Kloster, da muß ein Käse gut bis hervorragend sein. Und da auch noch Bio draufsteht, ist das Vertrauen in Erzeuger und Händler endgültig hergestellt, man zahlt also gerne noch ein bißchen mehr, weil's ja so gesund ist wie eben das ganze Volk an Skistöcken in der Muckibude und vielleicht auch ein bißchen lifestyle obendrein.

Vor gut zwei Wochen kam dieser Käse in mein Haus. Frau Braggelmann sorgt sich um die Aufrechterhaltung des nach der Operation immer noch leicht Behinderten, und da sie preisbewußt einkauft, nahm sie die zwei Packungen Schnäppchen mit, aber immer noch zu einem Preis, den andere für Nahrungsmittel nicht zu zahlen bereit sind, weil das Benzin schließlich so teuer ist. Mit Bio, dachte sie wohl, kann sie bei mir Käsefreund des schon etwas Älteren nichts falsch machen. Wer Fleur de Marquis oder Straßburger Munster mag, schreckt auch vor davonlaufendem Käse nicht zurück. Der Händler hatte den Preis gesenkt, da das Mindesthaltbarkeitsdatum fast abgelaufen war. Frau Braggelmann kennt mich so gut, daß sie weiß, wie wenig sich mein Magen vor irgendetwas fürchtet, schon gar nicht vor einem Stempel auf einer Verpackung, dessen Datumsangabe behauptet, ab dann und dann sei ein Lebensmittel nicht mehr verzehrbar. Ich gestehe, nicht entzückt gewesen zu sein, da mich die Erfahrung noch nie übermäßig überzeugt hat von derartig ausgewiesenen deutschen Milchgewächsen, schon gar nicht, wenn ihnen irgendetwas mit Natur aufgedruckt ist. Denn sie schmecken meist wie das, auf dem die jungfräuliche Verkäuferin im Käsestand steht, die mir gegenüber behauptete, Rohmilchprodukte seien in Deutschland nicht zum Verkauf zugelassen, weil sie die Gesundheit gefährdeten, und mir deshalb den im ganzen Land hochgradig beliebten Butterkäse empfahl. Dennoch habe ich etwa eine Woche nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums eine der beiden Verpackung geöffnet und vom Inhalt gekostet.

Er schmeckte, nun ja. Weggeworfen habe ich den Rest nicht, ich tue so etwas nicht. Manch einer würde jetzt sagen: Aha, Kriegskind. So richtig das ist, aber ich bin nicht im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen und habe auch nie Not gelitten. Aber ich habe es schon immer als befremdlich empfunden, Lebensmittel wegzuwerfen, es sei denn, sie sind derart verdorben, daß man sie nicht einmal mehr der Haussau vorwerfen würde. Die würde dann auch nicht mehr schmecken. Ich verbrenne auch keine Bücher, auch wenn sie noch so uninteressant oder gar schlecht sind wie das Volk der Afghanen, von deren Heiligtümer ein von Weichbrötchen und Gen- und Klonfleischklopsen hirnvergifteter GI meinte, sie in den Ofen stecken zu müssen. Ich weiß, irgendjemandem wird nicht schlecht davon oder hat sogar noch Genuß dabei. Ich habe, nicht eben mit Genuß, aber den Käse schließlich gegessen. Die zweite Packung habe ich liegengelassen. Irgendwann, dachte ich mir, würde ich kurz vorm Verhungern oder von einer alles verschlingenden Freßgier sein. Dann verschwände es in meinem abfallresistenten Magen.

Heute war so ein Giertag. Ich habe die zweite Packung geöffnet, gerade noch das Papier vom Käse entfernen können, auf das per ungeschriebenem französischen Käsegesetz eigentlich vorgeschriebene Abschneiden oder Wegschaben der Haut verzichtet und hineingebissen. Bereits während dieses Vorgangs kam mir etwas anders vor als beim Verzehr des ersten Stücks vor zwei Wochen, ein paar Tage nach Ablauf des Mindest-haltbarkeitsdatums. Die Konsistenz war eine weichere. Und richtig, der Käse, na ja, kaufen würde ich ihn nicht, aber er schmeckte passabel und ich würde ihn ohne Scheu wieder essen. Mir war rasch klar, in nochmal einer Woche würde er wahrscheinlich sogar gut schmecken, der Bio-Cremige aus Andechser Natur. Die Natürlichen aus dem Allgäu hatten ein Produkt an den Handel ausgeliefert und zu einem Tag für tot erklärt, an dem es noch nicht einmal richtig zu leben begonnen hatte.

Wie soll ich mich dann noch darüber wundern, daß die Deutschen jährlich über achtzig Millionen Tonnen Lebensmittel «entsorgen», wie es so schön politikerdeutsch euphemistisch heißt? Und in diesen wohl bald hundert Millionen Tonnen seien die, noch so ein großartiger Euphemismus, «Tafeln» noch nicht enthalten. Ich werde mich in Zukunft wohl nächtens an die Abfalltonnen der neuen Hausschweine der Nation schleichen und in ihnen nach Allgäuer Naturprodukten aus vermutlich emsländischer Kuhmilch wühlen. Mit etwas Glück finde ich welche, deren Haltbarkeitsdatum drei Tage über die Zeit ist. Dann lasse ich sie noch drei bis vier Wochen liegen und habe dann etwas passabel Genießbares für meinen nächsten Freßanfall.

Mindesthaltbarkeitsdatum. Am vergangenen Wochenende sprach der Papi von Opis Henri, dem Bruder derjenigen, die Hummer streichelt, bevor sie ihnen genüßlich in den Schwanz beißt, auf Packungen von Salz ein solches gesichtet zu haben. Sein Appendix, Salz könne zwar minderer Qualität sein, aber es verderbe nicht, ging in des Kleinen Lustschrei mit anschließendem, schier ewig lang anhaltendem orgiastischen Stöhnen unter, der von einem Stück frischen Räucheraals («statt Würstchen», wie Mutti meinte) ausgelöst worden war.

So bleibt mein Weiterwundern über die Frage: Was ist das für ein Volk, das sich nicht nur von der Industrie, sondern auch vom Handel so vergiften, sprich verdummen läßt? Die Gewinne oder meinetwegen Renditen der Nahrungsmittelglobaliker, so tönt es aber nun wirklich ständig über die öffentlich-rechtlichen Lautsprecher des Fernsehens ins Land, seien unaufhörlich am Steigen. Wegen der Benzinpreise wird es vermutlich demnächst zur Revolution kommen, so ähnlich wie vor ein paar Jahren in Bayern, als man die Sperrstunde für die Biergärten vorverlegen wollte. Aber daß die Drecksbrezn wie die Bier genannte Großindustrieplörre aus der Fabrik kommen, die der Herr Müller an alles kahlfressende Heuschrecken verkauft hat, das interessiert es nicht, das Volk. Man sollte ihm ein Mindest-haltbarkeitsdatum aufbrennen ...
 
Do, 15.03.2012 |  link | (2391) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Frisch aus der Ise-Unterwelt

Die Hüterin des maladen Herrn, der sich einbildet, der meine zu sein, hat mal eben seine von wirren Viren infizierte Hirnfestplatte gehackt, um ihr beizustehen. Sie hat während seines angeblichen Gesundheits-dauerschlafes (als ob er je etwa anderes täte) die höchste Hoheit übernommen. Ein kurzer Klick in seinen mehrfach abgesicherten und weitaus besser als seine angeblichen Buhlschaften wie mich gehüteten elektronischen Briefkasten gab eine versteckte Rüge auf sein ewiges, antideutsch klingendes Gemecker frei. Ausgerechnet diejenige, die er, wahrscheinlich, weil er seine Chefin beinahe unanständig hofiert, er sie immerzu hochhält wie die Tricolore der eisigen Expatriierung, diese seine Maman von Henri, hat einen knappen, aber gewiß vielsagenden Satz gegen seine dünne Behauptung gesandt, unter der U-Bahn gäbe es nur einmal wöchentlich Isestraße sowie keinen anständigen Fisch.
„Ich mußte letzte Woche mal wieder auf den Isemarkt zu Pingel. Die Zimt-Vanille-Trüffel waren u. a. aus, und ich kam am Fischstand vorbei.“
Ich als die wahre Fischspezialistin frage also, während er weiterhin vor sich hindämmert: Wenn das mal nicht zumindest mithalten kann im Vergleich zu seinem zwar geliebten, aber eben doch ehemaligen Knurrhahn, um den herum sich seine Vorgesetzte einmal mehr als die Vielseitigere nicht nur im Fahrradrodeo, sondern auch im Buhlen oder im Pflücken meerisch aphrodiasischer Früchte erwies. Ich könnte den Kerl da oben lieben. In meinem Magen. Ein paar dieser frischen Häppchen nur, die Leiche gäbe ich dann frei für familiare Menschheit.

Nun gut, ich gestehe ein: Er hat mich, die ich hier unter dem Namen Mimi bekannt sein könnte, mal in der Katzenlebenleiter ein paar Tritte höher klettern lassen, von der Tötungsberechtigen des Nieder- zu der des Hochwildadels, er hat mich unter dem Nom de plume Noiretblanc zu seiner Administratorin hochgeadelt.
 
Mi, 08.02.2012 |  link | (2872) | 13 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Niveau von unten

betrachtet sieht nach Überheblichkeit aus, sprach Enzoo. Etwa vierzig Jahre ist es her, daß ich in vergleichenden Geschichten der Literaturen Ausgebildeter einem um einiges älteren, nur auf der Bühne agierenden Kollegen aus dem Flüsterkasten der Dramaturgie heraus etwas über die Geschichte des Begriffes Arroganz richtigstellen wollte, der sich über die Hochnäsigkeit des spiritus rector genannten Regisseurs beklagt hatte. Ich hatte ihn darauf hingewiesen, daß die von ihm beklagte Hochmut als Gegensatz zu Demut eher in die Religionsgeschichte gehöre, sie sich im Laufe der Moderne überdies ein wenig weiterentwickelt habe und von einem Stolz zu unterscheiden sei, der sich auf das eigene Können und nicht etwa, beispielsweise, auf die Zugehörigkeit zum Theater einer Nation beziehe, der der -ialist rein zufällig angehöre.

«Perspektive des Grases» nannten wir es, manchmal lese ich es heute noch verniedlichend als die des Frosches, also im Gegensatz zum Blick von der Burg. Es sollte mir einige Jahre später wiederbegegnen. Ein Freund selig gab es als gesellschaftlich wertende und bedeutende Metapher mir gegenüber 1977 zum besten. Freund war er geworden über meine damals noch überwiegende Tätigkeit am und über das Theater, das seinerzeit auch politische Bedeutung hatte, Stücke wie Armer Mörder gehörten zu den vielgespielten. Wir hatten erhebliche Gemeinsamkeiten entdeckt in Denkansätzen, dazu gehörte diese Perspektive des metaphrischen Grases. Ausgangspunkt war eine festspielige Aufführung des goetheschen Ritters Götz von Berlichingen, der mit seinem «Möge er mich im Arsche lecken» nach wie vor sozusagen in aller Munde ist, das lange vor der sensiblen, später (wie ich) zum Elegischen neigende Kreativität des Namensgebers deutscher Dichtung ein geflügeltes Wort war; im Französischen klingt es (in deutschsprachigen Ohren) nach wie vor feiner (abgeschmeckter?) als das deutsche Allerweltsgericht: Va te faire enculer. (Kurzform Cul). Wir saßen vor Beginn der Vorstellung für das Volk — ein in Maßen bekannter, wahrhaft großartiger Schauspieler sprach mir einen solchen Anlaß mal ins Mikrophon, allerdings erst, nachdem ich seiner Bitte gefolgt war und es ausgeschaltet hatte: Das ist für mich Afterkunst. Ich mache es nur des Geldes wegen, ein anderer, weitaus berühmterer säuselte mir an einem anderen Festspielort im selben Jahr ins eingeschaltete: Ist es nicht wunderbar, wenn die Kostüme kommen?! Ich glaube kaum, daß man den Cyrano de Bergerac, den ich hier spiele, auf einer normalen Bühne schöner realisieren kann als hier auf dieser Felsenbühne. Die hier gemeinte kostümierte Aufklärung würde auf der Frei(lufttheater-)treppe von Schwäbisch Hall vor ungefähr tausend Zuschauern kommen. Aber zuvor saßen wir noch friedlich auf dem Balkon eines für den lieben Theatergast ländlich herausgeputzten Hauses, in der Landschaft, wo im 16. Jahrhundert die Bauernkriege ihre anfänglichen Fetzen hatten fliegen lassen, in einer Zeit, in der auch ein anderer Lieblingsheld der Deutschen angesiedelt war, letztendlich wie dieser Ritter Götz von Goethe ein Fürstenknecht, der mit dem Sprichwort gewordenen Rülpsen und Furzen.

Wir waren beide aus sogenanntem guten Haus. Er hatte sich vom Studium der Mathematik und Physik ab- und dem Beruf des Schauspielers zugewandt, da er der Meinung war, über diese Tätigkeit mehr für die Gesellschaft tun zu können und näher an ihr dran zu sein. Ich war mittlerweile zur theaterkritischen Gegenseite übergelaufen und hielt das aufgrund meiner Erfahrung für ein an der Wirklichkeit vorbeigehendes Hirngespinst (ein späterer deutscher Bundeskanzler sollte das in etwa so umschreiben: wer Visionen habe, der solle gefälligst zum Arzt gehen). Er ist seinem Ideal bis zum Ende treu geblieben und hat die Botschaft von der Revolution bis zur bitteren Neige hinausgetragen in die Welt der kleinen Leute, denen heutzutage vor allem eines abgeht: die Klasse, aus immer wieder wiederholten Fehlern hinzuzulernen und nicht unten stehenzubleiben, sondern sich im Niveau mit nach oben zu begeben — und nicht fortwährend bewundernd hinaufzuglotzen zu denen da oben, sei es im Adelsfernsehen oder in der gehobenen Fernsehküche.

Er hatte für uns, ich als sein Besucher, beide seinen Einheitsbrei gekocht, gemäß des andauernden Klassenkampfes in und aus ihm: Eintopf aus Kartoffeln, Kraut und Rüben, gewürzt mit Salz und Pfeffer, davon jedoch möglichst wenig, denn das waren schließlich sündhaft teure Spezereien, die ein schlichter Mensch des ausgehenden 18. Jahrhunderts sich nicht leisten konnte. Andere Kräuter und Gewürze, die zwar schon in den ausgehenden Siebzigern sowohl über den Handel zu beziehen waren und (noch) in den Gärten wuchsen, in Bälde sollten sie zugunsten pflegeleichten Betons verschwunden sein, kamen für den Kämpfer für eine bessere Welt deshalb wohl nicht infrage. Und er aß konsequent dieser seiner (?) Natur, der Sache gemäß: Wie er es von in Heimatmuseen gezeigten Gemälden kannte, die die gute alte Zeit zeigen, knapp über dem Teller hängend und äußerst geräuschvoll, geradezu, als wolle er seine Solidarität mit den Tieren bekunden, die er vermutlich aus diesem Grund nicht in seinem Topf haben wollte. Ihm gegenüber saß einer, dem Benimm in einer Form beigebracht worden war, die heutzutage nicht nur von Amnesty International als Folter angeprangert würde, und der unbedingt für Erleichterungen innerhalb dieser Gefangenschaft war. Aber nicht für die völlige Aufgabe von Haltung, sondern zugunsten einer evolutionären Entwicklung, für eine Anhebung des Niveaus, die da heißen könnte: besser machen.


Ich breche ab. Mir fehlt jedwede Energie, der lange Schlaf hat dem Körper keine gegeben, es fehlen die Worte. Der Infekt. Der Tod. Vielleicht hilft es ja, mich über eine bäuerliche Erbsensuppe zu hängen. Ich versuche morgen weiter, das Niveau hin zum verbalen Pisam farsilem auszugleichen. Wenn der Rührlöffel in meinem Kopf es zuläßt.
 
Mo, 06.02.2012 |  link | (2365) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Geschmack und Geschmäckle

Nicht nur in Arles hätte Ihnen das, bester Jagothello, oder Ihnen, gutester Mark in der Normandie, passieren können, kann Ihnen das geschehen (wobei mich bereits das Mett irritiert, das ist reines [hier wohl ostlinksrheinisches] Schweinefleisch, ich vermute, Sie haben wohl etwas ähnlich dem Tartare provençale serviert bekommen). Schlecht gegessen wird zunehmend auch in Frankreich, sicher am ehesten dort, wo die Touristenmassen sich versammeln (Normandie: Kriegsschauplatz, Camarque: zwar friedvoller Stier-, dennoch Kampf), wo sie häufig Zwischenstation machen auf dem Weg in das, was sie Süden nennen: Spanien, Costa del Irgendwas, weil's dort billiger ist im Pauschalen et cetera pepe. Aber auch in den größeren Städten wird seit Jahren zunehmend schlechter, wenn überhaupt gegessen. Ich habe hier in meinem Poesiealbum mehrfach darauf hingewiesen, genau genommen: die Kladde ist voll von Anmerkungen dazu; meinem maladen Kopf ist das momentan zu belastend, es im einzelnen bei mir selbst nachzuschlagen beziehungseise zu verlinken; oder so: dieser heutige Text bestünde nahezu ausnahmlos aus diesen polytonen oder -phonen Hyperien. Das Wesentliche dabei, daß in den Metropolen, da gibt's eigentlich nur eine, in der das alles gesteuert wird in dieser einen von vielen, in dieser meiner zentralistischen Heimat, zu der deren Hauptstadt ohnehin nicht gehörig zu sein scheint, ist die dortige Zerstörung des einmal Bestandteil der Nation gewesenen Lebensgefühls, zu dem das zweistündige Mittagessen gehört, offensichtlich abgeschlossen. Die Ritter des Kreuzzugs Euroglobalisierung, wie ich sie bevorzugt nenne, haben dem Volk die heilige Zeit genommen. Selbst im Zentrum nicht nur des Landes, sondern auch des Geschäfts wurden einst die Kommunikationshilfen mittags abgeschaltet, man setzte sich ohne die Nutzung von Hilfsgeräten in aller Ruhe Schmackhaftes und Wörter austauschend im Restaurant an die Tische.

Wenn ich mich richtig erinnere, ist es beinahe genau zehn Jahre her, daß alleine in Paris rund zwanzigtausend Bistrots, in denen das Mahl naturgemäß rascher abgewickelt wird als in den sonstigen Wiederherstellungsstationen oder gar zuhause, schließen mußten, da die Pausen für Mahlzeiten auf bis zu einer halben Stunde gekürzt wurden. Das auf diese Weise gedemütigte städtische fleißige Volk beschränkt sich seither auf ein Sandwich, und nicht einmal auf jenes, das ihm in der Bar (ist gleich: Café) aus (dreimal täglich frisch gebackenem, nicht aus dem Frosttiefschlaf erwecktem) Baguette mit richtigem Schinken oder Käse aus Rohmilch oder sonst irgendeinem leckeren Belag wie Paté et cetera frisch zubereitet wird, das würde wohl zu lange dauern, sondern es kauft im Minisupermarché diese in der Fabrik vorproduzierten Mißratlinge nach GB- oder US-Rezeptur. Und auch der Griff nach Vorgekochtem nimmt zu. Wobei selbst hier sich die Qualitätsunterschiede zur deutschen Produktion erheblich unterscheiden. Ich erinnere mich gut an mein Glücksgefühl, als ich in Norddeutschland französische Supermarktgebilde einziehen sah, weil ich wußte, daß selbst französische Fabrikerzeugnisse sich achtungsvoll vor den jeweiligen einheimischen, regionalen Geschmäckern verbeugten. Einmal mehr saß ich einem Irrtum auf. Man hatte sich im Angebot dem Geschmack des Nachbarn angepaßt. Dennoch hielt es nicht lange an, sie verschwanden recht schnell wieder. Den deutschen Geschmackspapillen wollte selbst dieser offenbar immer noch fremde Goût nicht behagen, vor allem aber waren diese Erzeugnisse eines: zu teuer, besser: nicht billig genug.

Selbstverständlich wird auch in Deutschland mittlerweile besser gegessen, und nicht nur im Fernsehen, auch in privaten Haushalten wird vereinzelt wieder mehr gekocht nach den Prinzipien des Wohlgeschmacks. Aber es dürfte sich auch hier mal wieder um diejenigen handeln, die zu den Gebildeteren, zu den Besserverdienenden zählen. Auch hierbei dürfte sich dieses Getriebe vorwiegend in den großen Städten abspielen. Auf dem Land sieht das allerdings ganz anders aus — dort wird nach wie vor und meiner Beobachtung nach vermehrt noch als früher das eingekauft, was dem schlichten Salz-und-Pfeffer-Geschmack entspricht, den mittlerweile alles überlagernden Aromastoff nicht zu vergessen. Gehen Sie mal in einer deutschen Kleinstadt selbst in einem vom Warenangebot her sehr viel besser ausgestatteten Supermarkt einkaufen. Mir wird häufig fast schlecht davon. In französischen Kommunen geht man auf die mindestens wöchentlichen Märkte und kauft Frisches. Betrachte ich die deutschen, in den Dörfern gibt es ohnehin kaum welche, wird mir auch häufig fast schlecht. Auch hier ist die Stadt eindeutig im Vorteil. Der wöchentliche an Hamburgs Isestraße ist akeptabel. Aber er ist nicht vergleichbar mit den täglich stattfindenden beispielsweise in Lyon oder Marseille, selbst im wahrlich abgelegenen Grandrieu mit seinen sechshundert Einwohnern läßt sich einmal in der Woche unvergleichlich einkaufen.

Zurückzuführen ist letzteres nicht alleine auf die Globalisierung. Es ist alles eine Frage des Geschmacks. Die Deutschen geben eher zwanzig Euro für einen Liter Öl aus, das in den Motor des billigeren, in Korea gefertigten Ersatzes, Hauptsache, es gleicht diesem US-Militärfahrzeug namens Hummer, den sie sich kaufen, weil's Geld für etwas Richtiges nicht ausreicht, aber ein bißchen Schein möcht' schon sein (oder, Lieblingsbeschäftigung, sie meinen, auch dadurch sparen zu können) gekippt wird, als daß sie fünf Euro, geschweige denn zehn für einen Liter aus der Olive zum Braten oder zum Salat hinlegen. Aber die Euroglobalisierung, auch das habe ich hier einige Male festgehalten, trägt erheblich zum Niedergang des allgemeinen Wohlgefühls selbst der Deutschen bei. Von Europa meinten und meinen viele, es sei zum Wohl der Allgemeinheit, wegen eines Miteinanders untereinander gegründet worden. Ich weise zwar gerne darauf hin, daß es meiner Meinung nach via Montanunion et cetera aus keinem anderen Hintergrund gestaltet wurde als zum späteren Zweck der Gewinnmaximierung. Aber auch ich habe mich mit dem Gedanken angefreundet, es könnte hehreren Zielen dienen. Den verfolge ich auch nach wie vor. Doch mir steht dabei eher der Sinn nach einem Europa der Regionen.

Mir geht gerade mal wieder mein Assoziationsgespann durch, oder ich lenke nach nebenan ab, oder der Berg kreist: Es gibt nichts ohne Zusammenhänge. Denn mein Lehrmeister der klaren Worte erwähnt noch «Merkels Vertrauen und Chinas Reformen». Vor allem das Vetrauen schwebt mir dabei vor, das die Deutschen zunehmend Frau Merkel gegenüber einbringen, da stutze seit einiger Zeit, obwohl ich es längst weiß. Denn diese Treuen können sich in ihrer Kadavermentalität von ihr nicht trennen, sie wollen nicht einsehen, daß diese ückermarkische Oberfeldwebelin im Sinne anderer ein Europa der Gemeinsamkeit, der Solidarität zerstört, etwa im kauderschen Tonfall, Europa verstünde (endlich! wieder!) deutsch. Sogar Narkozy, dieser reduzierte ungarische Napoleon nähert sich ihrem Ausschritt. Er macht sich gerade lächerlich in der Lobpreisung seines, so kommt's nicht nur mir bisweilen vor, Vorbildes. Es wird, zur Anhebung des Wohlgefühls deutschen Verständnisses aber auch vom Repräsentanten der ersten deutschen Medienklasse, quasi als Botschafter der BRD, tatsächlich gepriesen, letztlich auch, gleichwohl vornehm zurückhaltend auch von Gero von Randow, dessen Name allein in mir Assoziationen zu altem preußischen Gefechtsadel auslöst, der bereit ist, Frankreich niederzuringen. Frau Merkel als Madame Commisaire zur Entmittelmeerisierung von Les Bleue? Wer will das denn wirklich? Nun ja, einige sicherlich, diejenigen, denen in ihrer Geschäftigkeit das mehr oder minder schnellere Geld wichtiger ist als zu essen und zu trinken. Hinzu kamen die, die an Wunder glaubten, an das beispielsweise, nach dem eine Belebung der Binnenwirtschaft auch ihnen wieder auf die Füße helfen könnte.

Nicola Sarkozy hat Frankreichs Bürgern gegenüber immer wieder versucht, Arbeits- und Sparsamkeit etwa deutschem Naturell entsprechend schmackhaft zu machen. Ausreichend Stimmabgabeberechtige, vermutlich die resthugenottisch calvinistische, aber auch die hauptsächliche katholische Landesmentalität im Glauben an das Gute, teilweise möglicherweise vergleichbar mit den einfältigen Wiederwählern des Nachbarn Italien, denen laut dem früheren Glucksmann* das «Ästhetische» (das italienische Estetica, von der Nagelpolitur bis zur Brustverkleinerung) näherliegt als das eine Gesellschaft formende Politische, hatten ihm das Vertrauen ausgesprochen, weil sie davon ausgingen, er wolle für sie eine Erhöhung der Lebensqualität herbeiführen. Aber die hat nunmal andere Prioritäten als die von Nakozy. Viel haben die Franzosen mittlerweile von den Deutschen übernommen, mit Schmerzen und sehr langsam die Mülltrennung und andere zweifelhafte Maßnahmen zur Gewinnmaximierung, sogar die Gegner der Atomindustrie nehmen zu; was allerdings eher japanischen Ursprung haben dürfte. Aber das Europa der Regionen, das es tatsächlich einmal gab, das können die Deutschen von den Franzosen und deren östlichen Anrainern lernen, etwa den Saarländern: Erstma gut geß.

«Jeder behält seine regionalen Milch- und Weinspezialistäten», hat es Einemaria von der harten Linie bei der Kopfschüttlerin genannt. José Bové (Erklär' mir Europa) versucht das seit rund dreißig Jahren. Es handelt sich dabei um jenen Bauern, der für seine Attacke gegen eine US-amerikanische Bratklopsbratereifiliale in Südfrankreich in den Kahn gegangen war und der den geistigen Hintergrund für attac mitgeliefert hatte, weil er unter anderem den Weg zur regionalen Versorgung wieder gehen wollte, der wollte, daß die Bauern von ihrer Arbeit leben können und der seinen Mitmenschen etwas Ordentliches zu essen gönnte und nicht diese Malbouffe, diesen Drecksfraß der weltweiten Industrie. Malbouffe hieße auch das, was im Vorbildland sarkozyscher Prägung alltäglich gegessen wird. Nein, das mag ich nicht. Ich hänge nach wie vor an Mamans Brustduftdrüsen. Ich bleibe dran an der Confédération paysanne (hier eine, ewig alte, deutschsprachige Erklärung) von José Bové.

Ich mag nicht so essen wie Sie beide in Arles, der Normandie oder anderswo, wo's Malbouffe für Durchreisende gibt. Ich mag leben. Und ich weiß, wo's geht.


* «Im 16. Jahrhundert blieb Frankreich zwischen Rom und Luther unentschieden. Im 17. Jahrhundert war es damit zu Ende — weder Rom noch Luther. Der ‹Langzeitidentität› Italiens überließ Frankreich die Suche nach dem Schönen. Haben nicht heute so manche Italiener vor allem vor der Häßlichkeit Angst? Der deutschen Kultur überläßt Frankreich die Sorge um das Gute, den Wunsch, gut zu sein, das engelgleiche Dasein eines Gretchens, das so lebt, als gäbe es das Böse nicht, und außer Fassung gerät, wenn es ihm doch begegnet. Dagegen ziehen in Frankreich auf lange Zeit das Schöne und das Gute die Aufmerksamkeit nicht mehr auf sich. Das Häßliche und das Böse wird nicht verbannt und macht weiter kein Aufsehen. Aber die Dümmlichkeit, die mir ein anderer nachsagt, die ich mir selber attestiere, wird zur Kapitalsünde und zum schlimmsten Schimpfwort. Seit es um den gesunden Verstand geht, habe ich keine Möglichkeit mehr, mich auf irgendeine Wahrheit zu berufen. Mit gemischten Gefühlen kann man zugeben, man sei nicht gut, und sich damit abfinden, daß man häßlich ist. Aber kann man sich als dumm akzeptieren? Das ist im normalen Leben wenig wahrscheinlich. Das Prahlen damit, daß man nicht dumm ist, setzt einen aber, heimtückig genug, der höchsten Form der Dummheit aus, deren Geheimnis, vor Moliére, bereits Montaigne, boshaft genug, gelüftet hat: ‹Die Franzosen schienen Affen zu sein, die rückwärts von Ast zu Ast auf einen Baum hinaufklettern und oben angekommen den Hintern zeigen.›»
André Glucksmann: Die Cartesianische Revolution. Von der Herkunft Frankreichs aus dem Geist der Philosophie; aus dem Französischen übersetzt von Helmut Kohlenberger, Reinbek 1989, p 72f.; Original: Descartes c’est la France, Paris 1987

 
Sa, 04.02.2012 |  link | (2617) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Benimm-Exerzitien

Eine Dame gehe auf dem Bürgersteig auf der Seite des Herrn, auf der sie vor dem spritzenden Unrat vorbeifahrender Automobile geschützt sei und der auf der falschen Seite des Lebens unterwegs Seiende alles abbekomme.

Eine Dame gehe auf einer ansteigenden Treppe hinter dem Herrn, auf daß er ihr keine unzüchtigen Blicke unter den Rock werfen könne; es sei denn, sie habe (die?) Hosen an.

Eine Dame gehe auf einer abfallenden Treppe hinter dem Herrn dieselbe hinab, auf daß er im Falle eines Stolperns sie (wenigstens dann?) in seinen Armen halten könne.

Eine Dame gehe hinter einem Herrn in ein Restaurant, da er sie vor etwaigen Unbilden zu schützen habe.

Das hat mir, neben weiteren Haltungsvorschriften (bei Tisch) sowie überhaupt der korrekten Positionierung (nicht nur bei Tisch) meine Maman eingetrichtert wie der Gans den Futterbrei, auf daß wenigstens eine ordentliche Foie Gras aus mir werde (Leber und leber lassen).

Und was ist daraus geworden? Ich habe nicht nur einen dicken Hals, sondern auch noch die Schnauze voll. Zum wiederholten Mal ist es mir mittlerweile passiert, daß ich von gebildeten Damen gefragt wurde, ob ich etwa glaube (sic!), sie kämen nicht alleine in den Mantel oder seien nicht in der Lage, selbst eine Tür zu öffen. Ich muß annehmen, daß es an der Zeit ist, mich auf den Index der lebensunfähigen Männer setzen lassen zu müssen.
 
Sa, 10.12.2011 |  link | (1886) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Umetikettierte Weinwahrheiten

Als Etikettenschwindel, geschätzter zweierlei Shakespeare in einem (haben sie den Emmerich, der der uralten Verschwörungstheorie ein neues Etikett aufgeklebt hat, schon gesehen?) ist es schließlich ins Umgangssprachliche eingezogen. Es dürfte einigen auch bekannt sein, welchen Wert und welche Wertungen diesen auf den Flaschen klebenden Stückchen Papier zukommen. Besonders jüngere Winzer, von denen zweifelsohne vielen Verdienste auch bei der Verbesserung der Qualität zukommen, sind dazu übergegangen, das Etikett zum Kunstwerk zu erklären. Seit längerem gibt es dazu Wettbewerbe. Und da mittlerweile alles meint, sich auch in der Kunst auskennen zu müssen, weil ihr in den Medien, allem voran in den Börsen-Nachrichten, genauso ahnungsvoll, also eher schlagzeilenartig in der Größe des Blattes der vier Buchstaben entsprechender Raum geboten wird, geht das einher: Längst wird kaum mehr unterschieden zwischen Werbung und Kunst. Daß letztere sich nach meinem Verständnis überwiegend der formalen Umsetzung von Inhalten widmet, geht dabei völlig verloren. So lange ist es noch nicht her, daß ich öffentlich-rechtlich mal (unter anderem auch hier) die Frage gestellt habe: Klaut die Werbung bei der Kunst? Meine Gesprächspartner dreier Generationen kamen zu dem Fazit: Sie tut es. Sie macht sich oberflächlich die reine Oberfläche tieferer Gedanken zunutze und propagiert nichts als den Schein. Es ist nachgewiesen, daß ein hoher Anteil der Weinkäufer sich von ihm, dem «schönen» Etikett, verführen läßt. Ich gestehe, dem auch schon unterlegen gewesen zu sein. Das Ergebnis hat zu meiner immer heftiger gewordenen Ablehnung von Werbung geführt, die heutzutage mehr denn je nichts anderes bedeutet, als von Inhalten abzulenken und um Bacchus oder Dionysos willen bloß keine weinische Wahrheit wirken zu lassen.


Das Billigheimerproblem gibt es schon lange. Bereits in den siebziger Jahren gab es genügend Menschen in meinem Bekanntenkreis, die eingeschworen waren auf Weine und Champagner von Aldi (andere dieser Un-Art gab es zu dieser Zeit ja noch nicht). Ich habe es ausprobiert. Bis auf eine Ausnahme, den seinerzeit tatsächlich akzeptablen Rioja für etwa drei Mark pro Flasche (aber nur den von Aldi-Süd), konnte ich diese Meinung lediglich in seiner Frühphase, den ersten Schlucken, also allenfalls an der Oberfläche bestätigen, denn Tiefe suchte ich vergeblich zu ergründeln. Jahre später bin ich dann mal richtig eingetaucht. Die studentische Freundin hatte zum Behufe einer Feierlichkeit ihrem Etat gemäß eingekauft, und ich als damals ohnehin zur Überfüllung Neigender habe meinen immer zu trockenen Garten satt begossen. Als quasi gründlicher Testtrinker habe ich die Nach- oder Nebenwirkungen, für die bei diesen Weinen keine Beipackzettel mitgeliefert wurden, im Kopf zur Kenntnis genommen. Als meine Geschmacksknospen noch nicht ertränkt worden waren, stellte ich fest: Das Ergebnis war identisch mit dem jahrelang zurückliegenden. Er schmeckte genauso. Es ist unter altgedienten Dilettanten bekannt, daß die meisten Hersteller, wie beispielsweise die prominenten Anbieter von Champagner fürs Volk, ihre (nicht nur) preisgünstig angebotenen Weine geschmacklich nivellieren, auf daß auch diese ganz gerne irgendwann mal besserverdienenden Lieschens und Fritzchens Müller «ihren» markengleichen Nektar tatsächlich wiedererkennen. Daß Wein und Champagner in der Ureigenschaft des Wachsens von Rebstöcken, also deren Früchte von Jahr zu Jahr unterschiedlichen Geschmack — den Charakter überlassen wir den Menschen — entwickeln, wird dabei völlig ignoriert. Diese Eigenschaften zeichnen, unter anderem, die Arbeit eines qualitätsbewußten, keinem Konzern zugehörigen Weinbauern aus. Er ist zu recht stolz auf diese Leistung, die Unterschiede nicht nur zuläßt, sondern auf sie als tatsächliche Natürlichkeit, auf die Zusammenarbeit mit der Natur hinweist. Assemblage ja, aber eben aus eigenem Gewächs. «Mein» Duménil (um einiges günstiger als die alte Witwe et cetera) beispielsweise schmeckt gar jedes Jahr ein bißchen anders. Lediglich der wunderbare, eigenartige Kellermuff bleibt gleich. Daß das Lebewesen Wein saisonal Stimmungen unterworfen ist wie wir gleich alle Tage, das darf für die meisten nicht sein. Dann hieße es ja Laune. Und Laune wird rechtsrheinisch gerne als schlechte definiert, da mag er noch so launig am Gaumen herumtänzeln. Also kommt er in den Käfig Anpassung. Doch die Entindividualisierung durch die Geschmacksnormierung, diese aus Überallien zusammengekippte Identitätsfindung für(s) Immergleiche kommt ohnehin dem gleich, was auch der sogenannte Analogkäse in seiner Bezeichnung trägt.

Ich bin ohnehin der Ansicht, daß das, was seinerzeit gerade umgangssprachlich Anlauf nahm, die Massen zu erklimmen, antipodisch zum Mainstream gemeint war. Es galt, sich selbst zu erhöhen, indem man das Wissen durchblicken ließ, die großen (im Sinn von Qualität) Erzeuger belieferten auch die Billigheimer — die Flaschen versehen mit einem anderen Etikett, sozusagen umetikettiertes höchstes Gut. In den Achtzigern streamte es gar eine Zeitlang durch den Anti-Main im schicken München. In meiner mittelbaren Nähe bestand das ein Weilchen zu einem Teil aus Sauer- und Saarländern , die sich als Erinnerung an gemeinsame Studienzeiten einmal jährlich zur Primeur-Zeit in Hamburg trafen, um sich einen Tag nach dem palettenweisen Genuß von jungem Wein zu fühlen, als hätte ihnen der Schützenkönig aus Arnsberg oder Bexbach in den Kopf geschossen. Sie, die als Ärzte und Apotheker nicht eben zu den Schlechtdotiertesten gehörten, hatten die Idee des Herumtragens der Plastiktüten aus dem Haus der Albrecht-Brüder als Markenzeichen wieder aufgegriffen. Wer besonders scheinen wollte, der trug Billigheimer. Hierbei bestätigte sich meine Theorie von Mamans Brustduftdrüsen. Wer mit der letzten Auswaschung des Tankwagens aufgewachsen ist beziehungsweise nach dem Reinheitsgebot mit Hellem und Dunklem gesäugt wurde, der kommt seiner Vaterdroge Preiswertbier nicht mehr aus. Auch dabei ist mangelndes Unterscheidungsvermögen von essentieller Bedeutung. Da man als dann Wein trinkender Besserverdienender selbstverständlich rechnen gelernt hat und aufgeklärt ist, drängt sich die populäre These vom klammheimlich Güte offerierenden Anbieter von Massenware auf. Was nicht in die Tiefen dieser Allwissenden vorgedrungen war: Ein Großteil dieser Weine und auch Champagner konnte und kann nur deshalb so preisgünstig sein, da die Albrechts seinerzeit eine Art neuerlicher Sklaverei eingeführt hatten (die mittlerweile aktueller Standard zu sein scheint). Riesige Domains hatten sie, nein, nicht einmal gekauft, sondern gemietet. Den Winzern, häufig solche, die sich keiner Genossenschaft anschließen wollten, gehörten zwar noch die Berge, sie waren aber durch langfristige Verträge gezwungen, den Wein auf Reblaus komm' raus so «preisgünstig» herzustellen, daß sie entsprechend in den Regalen der heutzutage zu Discountern umetikettierten und von mir beharrlich Billigheimer genannten Kulturkaputtmacher stehen konnten.

Eine bei wohlschmeckendem und tatsächlich gutem Wein aus Rheinhessen zusammensitzende Runde hat sich Ende der Achtziger mal kalkulatorische Gedanken darüber gemacht, wie solche Verkaufspreise zustande kommen können. Das Ergebnis, verkündet von einem Betriebwirtschaftler der oberen Etage einer deutschen Bank, lautete: Der baskische Rioja-Bauer erhält pro Flasche ungefähr 28 Peseten, das entsprach in etwa 0,33 Mark (für diejenigen, die diese Währung aus Zeiten der Kleinstaaterei nicht mehr kennen oder zur Umrechnung parat haben: 16,5 Centimes1), also schon vor gut zwanzig Jahren nicht einmal als Hartz-IV oder Sklavenentgelt für selbständige Tätigkeit bezeichnet werden konnte. Eine Flasche Wein, die weniger als zehn Mark kostet, ergänzte der nicht nur im Monetären kundige Bankdirektor, der tief in rheinhessischen Rebenlatifundien wurzelt, sei nicht nur sozial nicht verantwortbar, sondern bereite nicht nur deshalb nicht das, was er eigentlich tun sollte: Freude.

Ich habe mich, wahrscheinlich, weil auch ich die Grundrechenarten einigermaßen im Kopf habe und mit Freuden ein Gutmensch bin, in deutschen Landen daran gehalten. Geändert hat sich das erst, als ich später ins Exterroir französisch beatmetem Weinhandels geriet. Dort, im, wie dieses Intellektuellenetikett neuerdings genannt wird, wenig weinaffinen Holstein, war nämlich die Saat aufgegangen, daß, wie zuhause, Wein zu den Grundnahrungsmitteln gehört und deshalb Handelsspannen nicht in die Höhe schießen müssen wie von Monsanto gedopt. Daß auch ein Madiran nicht mehr so günstig zu haben war wie zu Zeiten, bevor das Gebiet um die Gironde zum Objekt der aktionistischen weinkonservativen2 Erhalter der alten Welt aus England, Japan, der Wallstreet und sonstwo verkommen und auch ich (ohnehin nicht ungerne) auf südwestlichen Geschmack ausgewichen war, das leuchtete ein. Aber ich bekam den oder einen geschmacklich wie preislich nochmals um einiges abweichenden Bergerac wesentlich preiswerter, also unter fünf Euro, weil Madame Lucette ihrem Gatten beigebracht hatte, daß ein Gewinn von dreißig Prozent3 und mehr für Lebensmittel unanständig sei. Bei beim Erzeuger gekauften Wein und einer Handelsspanne von etwa fünfzehn Prozent, läßt der Inhalt einer Flasche eines feineren Roten aus der Bourgogne für fünfzehn Euro das Seelchen noch höher fliegen.

Nun käme ich nicht auf die Idee, mich als Weinkenner, am Ende gar als Experte zu bezeichnen. Ein klassischer Dilettant, auf das Nichtspezialisiertsein spezialisiert sein mag ich auch hierbei bleiben. Dieses allgefällige Wissensgeblöke in diversen umetikettierten Werbebotschaften lärmt mir ohnehin viel zu heftig. Manchmal möchte man meinen, man läse in Reklameschriften für Fruchtsalate. Ich halte es lieber in der stillen Schatulle bescheidenen Wissens und ignoriere Etiketten. Dank meiner persönlich favoritisierten Anwärterin auf den Nobelpreis für Biologie im Jahr 2051 weiß ich auch mehr von der Anatomie, vom Wesen des Axolotl als das Töchterlein dieses theatralischen Herrn und schreibe trotzdem kein Buch über ihn. Ich verstehe unter Bildung eher so etwas wie generale. Also will ich auch wissen, wo die Flasche wurzelt, was drinnen ist in ihr, die ich mit mehr oder weniger Lust geleert habe. Deshalb tauche ich ein, nicht nur in den postschmerziellen Inhalt. Und der belegt mir dann obiges oder die Erkenntnis, wie peinlich oder auch voller Scham für Fremde berührt man sein kann, mit manchen Bedächtigen deutschvereinter Convivien deren Vorstellung von Speis und Trank zu besprechen. Ich habe, auch dank eines Herrn, der einstmals einen kleinen Laden, gleichwohl mit großen Ambitionen, führte, die Anfänge der Bewegung in Italien mitbekommen, bin einige Male dort gewesen und weiß nicht nur daher: In der Toskana redet keiner dieser auch ohne Verein langsamen Esser so akademisch geschwollen daher, als müßte er wie in einem Rigorosum den Beweis antreten, daß auch er in der Civilisation angekommen ist. Kultur ist eben nicht Etikette, wie uns diese ganzen Knigge-Propagandisten weiszumachen versuchen. Essen und Trinken ist Heimat, überall auf der Welt gäbe es das beste Essen, bedeutete mir mal ein Sarde, dessen Zicklein ich genießen durfte, das stundenlang im Erdloch garte, und dessen Cannonau ich trinken durfte. Kultur ist Leben, also das, worauf ich bereits zuvor in Anmerkung 1, hier nun die5, mit meinem Lehrmeister Brockhaus hingewiesen habe, also Acker-, hier präzisiert: Weinbau.

Prost. Oder wie es richtig heißt: auf Ihre Gesundheit, À votre santé.6
 
Mo, 28.11.2011 |  link | (2887) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Dilettantisches aus Redundanzien

Das meiste habe ich längst, auch mehrere Male erzählt. Aber vieles bekommt man nur durch ständige Wiederholungen in die biologischen Festplatten integriert (integration versteht mittlerweile jeder). Alles muß durch die immermahlende Mühle. Nach dem Gebet hat eine Religion sie benannt. Eine andere taufte sie um in Gehirnwäsche. Ideologien verhalten sich wie Bruder und Schwester; wobei die innerstfamiliäre Liebe sicherlich die angenehmere Variante der Inzucht darstellt, vielleicht weil oder gerade deshalb, weil die Oberideologen sie verboten haben. Davon etwas gelöstere und allzugerne plappernde Dilettanten wie ich nennen die Wiederholung — ich bin so frei — vorgangsspezifisch Redundanz. Das ist das, was viele so überhaupt nicht mögen. jedenfalls nicht im sogenannten Print. Vermutlich lesen sie deshalb lieber Hörbücher. Die Technik des Redundierens habe ich während meiner Zeit beim Dampfradio gelernt. Dort hatte man ihre Notwendigkeit erkannt, da der Mensch an sich bei weitem nicht all das verdauen kann, was ihm da vorgesetzt wird, schon gar nicht in diesem Schnellsprech, der inhaltlich obendrein keinen Mut zur Lücke mehr erfordert, sondern letztere nur noch zu erfordern scheint. Und wie das eben so ist im Leben des copy and paste, wie das lebenslange Lernen heute genannt und praktiziert wird, sammle auch ich durch immer neues Lesen des Alten und zusätzlichem (Be)Lauschen des Nachbartischs und Hören im Äther nach Ätherischem neue Erkenntnisse, mittels derer ich das bereits Vorhandene auffülle. Und abgerufen wird das alles durch den Austausch.
Berühren Sie mit dem Mauszeiger die Fußnotenziffern. Ich durfte nämlich durch ein bißchen Hinzulernen von HTML auch in der digitalen Welt zu einer alten logorrhoeischen Leidenschaft zurückkehren: der Anmerkung, hier der «versteckten», auf daß es niemandes Lesefluß störe (auch wenn's typographisch etwas verwackelt ist, was ich nicht verstehe, warum das so sein muß).


Korrigieren muß ich Sie, beste(r) Einemaria. Erstens: Auch ein «Blogger-Hooligan», als der Sie sich bezeichnen, gehört zur Kultur, zur Civilisation; Kultur, lehrte mich einer meiner Lehrmeister, der allwissende Herr Brockhaus, ist die Gesamtsumme der Lebensäußerungen eines Volkes.1 Letztlich sind es die meist mißachteten Randfiguren, die der Mitte die Würze gaben und geben, die eine breiige Masse eßbar werden läßt. Also zu zweitens: der Viehwirtschaft beziehungsweise der «Zucht von Bakterien und anderen Lebewesen auf Nährböden»: Die Rohmilch lassen Franzosen sich nicht verbieten. Die sind nämlich, Laizismus hin oder her, zuallererst mehr oder minder gläubige (etwa fünfzig Prozent) Katholiken (zwar gibt es noch ein paar von der Medici übriggelassene Hugenotten [circa ein Prozent] im Land, und lediglich die Protestanten [circa dreißig Prozent] im ehemaligen deutschen Kaiserreich Elsaß-Lothringen kriegen auch nach der 1905 erfolgten Trennung von der Kirche noch Geld vom Staat und unterrichten an den Schulen in Religion). Was also den Genuß betrifft, da konnten und können auch Religionen die Bürger nicht entzweien. Für den Käse (und noch einiges anderes, etwa die cuisse de grenouille oder, wie er bei Tetsche heißt, Froschschenkel) geht man im Land auf die Barrique; so heißen nicht nur die Behältnisse für den Wein (auf den ich noch zurückkomme), sondern auch die Barrikaden. Zum Beispiel gegen diese Ursupatoren unserer Verfassung, gegen diesen zusammengewählten Haufen an Landsknechten, der unter dem Namen Europäische Union firmiert. Da war man sich abseits jeder Glaubensrichtung einig, man war bereit, den Bittgang zu gehen, zu dem, den die purpurnen Kittelträger auf den Stuhl gesetzt, also in den weißen Rauch gewählt haben wie weiland ohne Volksbefragung die antikischen Erfinder der Demokratie ihren Weltführer, baten den unter Androhung, der neuerlichen Verlegung des päpstlichen Amtssitzes nach Avignon, um das, was er am besten kann: heiligsprechen. Er hat's zwar trotzdem nicht getan, vermutlich, weil er dem französischen Verständnis von Ästhetik mißtraute und vielleicht auch befürchtete, daß dann die sparkässlichen Abteilungsleiter in Bruxelles und Strasbourg keine Wochenendreisen ins römisch-katholische Lourdes mehr veranstalten würden, aber die revolutions- und multikultigeübten Franzosen haben einfach von Lutetia (das ich von Asterix' Erzählungen her kenne, einem weiteren meiner Lehrmeister) aus eine allerhöchstheilige Sure des französischen cuisinalen Rosenkranzes in diese synthetischen Metropolen der Heimatlosen gesandt: Mein Käse gehört mir. Oder: Alles ist Käse zwar, aber nicht gleich. Das allerdings kann sicherlich nur beurteilen, wem's via Mamans Brustduftdrüsen injiziert wurde. Ich hatte das Glück. Und das bei einem Vater, der aus einem hintersten (oder, je nach geographischer Einordnung, vordersten) russischen Frontschtetl kam, in der die versaftete und vergorene Kartoffel bis heute als einziges Grundnahrungsmittel bekannt sein dürfte, zu einer Zeit, als es Rußland noch gab, also nicht das heutige, das sich der Verführung durch den Westen hingibt.

Gleichwohl das nur konsequent ist, denn das, was man darunter versteht, ist nunmal okzidentale Orientierung. Die Kompaßnadel schlägt nach Westen aus. Aber nicht übern großen Teich in die USA muß man wißbegierig rudern, sondern bereits in Frankreich gilt es auszusteigen in dieser Tour de connaissance. Von dort nämlich kommt sie, die Verführung, mit der das konstruiert wurde, unter dem die mehrheitliche Welt heutzutage Lust definiert: der Kapitalismus, der alleine aus diesem fröhlichen Irrsinn besteht, alles Erdenkliche kaufen zu wollen, das man garantiert nicht braucht, und man irgendwann private Insolvenz anmelden muß, dafür aber andere reich macht. In BiBook oder EiFrau? habe ich dieses Au Bonheur des Dames angerissen. Zweifelsohne entstand durch diese Verlustierung der Damen der Gesellschaft auch die Emanzipation der gekechteten Landmädels, die in Paris für einen Hungerlohn schufteten, aber immerhin nicht mehr auf den Strich gehen mußten.2 Auf diese Weise einen Teil der Prostition abgeschafft hat, wie auch die Anfänge von Arbeitszeitregelungen, Renten et cetera angelegt, der Gründer des Au Bon Marché. Aber nicht um der Sache selbst willen sondern, wie die Verführung an sich, nur, um noch mehr Geld zu scheffeln, auf daß Lieschen Müller ihr Licht nicht darunter stellen muß, H & M, Clamotten-August oder wie sie heute sonst noch alle heißen, die billigheimlichen Verführer. Das eine oder andere Lichtlein ist mir bei dieser grandiosen Dokumentation aufgegangen. Das ist es — mutige (fragwürdige?) Lücken hin oder her3 —, was ich unter Fernsehen verstehe; der unterhaltende4 investigative Journalist Emile Zola hat dabei sicherlich eine hervorragende Vorlage gegeben; als zur Metapher Neigender und ausnahmslos schönes Spiel Mögender rufe ich Günter Netzer ab: Der Diagonalpaß (auch) als Textkultur. Es war zweifelsohne ein Ereignis, wie so oft in meinem durch die Choucroute choreographisierten Blütensternengärtchen (das ich dank der sogar bis zu mir vorgedrungenen endgültigen Digitalisierung kurz vor meines Vaters Land Sibirien auch radikal linksrheinisch empfangen kann). Allerdings kam mir dabei, wie in den Anmerkungen notiert, einiges Wissen zu kurz. Auch die parisischen Suffragetten blieben mir historisch ein wenig zu sehr im Hintergrund.5 Wobei nicht verschwiegen wurde, daß sie sich vom Herrn des Kaufhaus mißbrauchen ließen, indem sie sich zu dessen Werbezwecken kaufen ließen. Aber nun, es war schließlich in erster Linie eine Illustration der Entstehung des Kaufrausches, von dem letztlich auch die sogenannten besseren Hälften nicht verschont blieben — und nicht nur als Geldgeber.

Sämtliche Moden hat uns das gebracht, der heute mehr denn je alle, auch die Männer mit ihrer ebenfalls von diesen Kaufhäuslern erzeugten Sehnsucht, endlich auch emanzipiert und somit ein bißchen Frau sein zu dürfen, jeden erdenklichen Kram kaufen, und sei es, wie ich es nicht nur in meinem Stammkaufhäusern in Schwabing6 oder der Hamburger Mönckebergstraße oder anderswo einige Male beobachten durfte beziehungsweise von Kassiererinnen erzählt bekommen habe, zwei Jahre jungen Premier Cru aus dem Bordelais für achtzig Mark oder mittlerweile fünfzig Euro die Flasche erstanden, um sie dem abends zu Besuch weilenden Chef zu kredenzen, der selbstverständlich genausowenig weiß, das solch ein Wein, einer dieser Güteklasse in dieser Jugend schmeckt wie ein Doppeladler für neunundneunzig Centimes. Ich selber hab's mal ausprobiert und Billiggesöff gekippt in geleerte und aus Glücks- und Dankbarkeitsgefühl nie weggeworfene Flaschen eines 89er Château Laroque, diesem wirklich schönen Grand Cru aus St. Emilion, getrunken nach zehn, zwölf Jahre Reifung. Gekauft hatte ich den Wein vermutlich in La Rochelle, wo ich beinahe mein Generationenheim bezogen hätte und ich eine Zeitlang günstig abgeräumt hatte, weil dieses ganze Bordeaux-Zeugs da in den Regalen herumlag wie Blei, weil zu teuer. Die Gäste des Cave in Saint Nicolas, als es noch von den alten Wirtsleuten betrieben wurde, tranken lieber das Glas für achtzig Centimes. Dessen Inhalt schmeckte passabel. Linksrheinisch kann man ja glücklicherweise auch billigeren Wein trinken. Rechts des großen Grenzflusses sollte man das unterlassen. Oder Gästen kredenzen, die, aus welchem Grund auch immer, ungebeten ins Haus gekommen waren, oder solchen, die gerne mit ihren Weinkenntnissen höflich, aber bestimmt hofieren gehen. Die haben die Etiketten gesehen, genickt und kräftig Sauerstoff gesogen. Einer meinte, er schmecke erstaunlich jung, dieser nach zwölf oder mehr Jahren getrunkenen 89er Château Laroque. Ich habe den Herrn nie wiedergesehen. Es gibt allerdings auch wirklich schlimme Erlebnisse, wie sie Frau Braggelmann einmal geschildert hat. Deren, wie sie ihn selbst nennt, bessere Hälfte, muß aber auch ein ausgesprochener Kenner sein nicht nur des Weines, sondern auch einer der Gewieftesten in der biologischen Abwehr von Dieben. — Man könnte das jetzt schlicht unter Kreuzzüge der Märkte abtun. Ähnlich wie beim Wein, von dem längst auch französische Winzer meinen, man müßte ihm Duftstoffe beimischen, die dem gehobenen Trinker weltweit (aber besonders gerne im deutschen Land des gehobenen Geschmacks) die Ahnung von eichenem Barrique naturähnlich in die Geschmacksknospen zaubern. Aber es ist schon ein wenig mehr. Es ist Gastrosophie.

Während ich mit Kleist7 so vor mich hinverfertige beim Denken, fällt mir ein Aufsatz von Rick Fantasia ein, der um das Jahr 2000 offensichtlich zu neuer Erkenntnis gelangt war und notiert hatte: «...daß die Fastfood-Industrie in Frankreich vor allem das Werk französischer Firmen war, die auf diesem amerikanischen Terrain noch besser sein wollten als die Amerikaner selbst.» Auch die Italienerin Medici meldet sich erneut mit der Anekdote8, sie würde diesen provençalischen Bauernfraß nicht zu sich nehmen. Und dann setzt sich André Glucksmann dazu und gibt einmal mehr in dieser Runde zum besten:
«Im 16. Jahrhundert blieb Frankreich zwischen Rom und Luther unentschieden. Im 17. Jahrhundert war es damit zu Ende – weder Rom noch Luther. Der ‹Langzeitidentität› Italiens überließ Frankreich die Suche nach dem Schönen. Haben nicht heute so manche Italiener vor allem vor der Häßlichkeit Angst? Der deutschen Kultur überläßt Frankreich die Sorge um das Gute, den Wunsch, gut zu sein, das engelgleiche Dasein eines Gretchens, das so lebt, als gäbe es das Böse nicht, und außer Fassung gerät, wenn es ihm doch begegnet. Dagegen ziehen in Frankreich auf lange Zeit das Schöne und das Gute die Aufmerksamkeit nicht mehr auf sich. Das Häßliche und das Böse wird nicht verbannt und macht weiter kein Aufsehen. Aber die Dümmlichkeit, die mir ein anderer nachsagt, die ich mir selber attestiere, wird zur Kapitalsünde und zum schlimmsten Schimpfwort. Seit es um den gesunden Verstand geht, habe ich keine Möglichkeit mehr, mich auf irgendeine Wahrheit zu berufen. Mit gemischten Gefühlen kann man zugeben, man sei nicht gut, und sich damit abfinden, daß man häßlich ist. Aber kann man sich als dumm akzeptieren? Das ist im normalen Leben wenig wahrscheinlich. Das Prahlen damit, daß man nicht dumm ist, setzt einen aber, heimtückig genug, der höchsten Form der Dummheit aus, deren Geheimnis, vor Moliére, bereits Montaigne, boshaft genug, gelüftet hat: ‹Die Franzosen schienen Affen zu sein, die rückwärts von Ast zu Ast auf einen Baum hinaufklettern und oben angekommen den Hintern zeigen.›»8
Da gab's doch gerade ein deutsch-französisch-italienisches Treffen. Und wer ist Wortführerin? Eine Frau aus der Uckermark. Nichts gegen Frauen, nichts gegen die Uckermark. Mir gefällt sie. Die Uckermark. Aber ich muß dabei gleich wieder an Holstein und Erbsensuppe denken und weniger an Pisam farsilem. Aber das Wesen, an dem die Welt genesen soll. hat's längst geschafft. Aus ist's mit den langen Mittagspausen. Gerademal gut zehn Jahre ist es her, daß sogar im gegenüber der Weltmetropole Berlin zugestandenermaßen ziemlich provinziellen Paris nicht nur der gemeine, sondern auch der gehobene Franzose mittags im Büro den Anrufbeantworter ein- und das Telefaxgerät ausschaltete, um im Bistrot seine vier Gänge zu sich zu nehmen (weitere sechs würde es am Abend geben). Heute sind dort die meisten dieser wundersamen Restaurationsstätten abgewickelt. Alleine 2002 gingen davon rund zwanzigtausend ein. Das Volk hat keine Zeit mehr und muß wegen der Konzerngewinne Sparbrötchen essen. Der Sargnagelschmied merkte mal an: «Es wäre doch ganz einfach, Frau Merkel — [...], übertragen Sie einfach die deutsche Rentenformel, das deutsche Gesundheitssystem und das deutsche Pensionssystem auf alle anderen europäischen Länder ... »

Jetzt reichts aber wirklich.

Bei der Gelegenheit: Ein kleines Dankeschön stellt das hier auch dar — an die (für meine Verhältnisse) recht hohen Einschaltquoten gerade im Bereich Frankreich, Essen und Trinken (was, logisch, ohnehin zueinandergehört; die Kunst nur am Rande), an die vielen Leser, die seit einigen Wochen hier bei mir immer wieder anklicken.
 
Fr, 25.11.2011 |  link | (3458) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Pisam farsilem

Pisam coques. Cui oleum mittis. abdomen et mittis in caccabum liquamen et porrum capitatum, coriandrum uiridem, imponis ut coquatur. Isicia minuta facies quadrata, et coques simul turdos uel aucellas uel de pullo conciso et cerebella prope cocta cum iuscello coques. Lucanicas assas, petasonem elixas, porros ex aqua coques, nucleorum heminam frigis. Teres piper, ligusticum, origanum, gingiber, ius abdominis fundis, lias. Angularem accipies, qui uersari potest, et omentis tegis, oleo perfundis, deinde nucleos aspargis et supra pisam mittis ut tegas fundum angularis, et sic componis supra petasonis pulpas, porros, lucanicas concisas. Iterum pisam supermittis. Item alternis aptabis obsonia, quousque impleatur angularis. Nouissime pisam mittis, ut intus omnia contineat. Coques in furno uel lento igni imponis, ut ducat ad se deorsum. Oua dura facies, uitella eicies, in mortario mittis cum pipere albo, nucleis, melle, uino candido et liquamine modico. Teres et mittis in uas ut ferueat. Cum ferbuerit, pisam mittis in lancem, et hoc iure perfundis. Hoc ius candidum appellatur.
In alle erdenklichen Sprachen ist das übersetzt worden. Im Kochbuch der Römer, Rezepte aus der Kochkunst des Apicius, eingeleitet, übersetzt und erläutert von Elisabeth Alföldi-Rosenbaum, war das auch mal deutschsprachig nachzulesen, mit freundlicher, also bezahlter Genehmigung (von den großen Verlagen verzichtete bei Kleinauflagen allein Suhrkamp auf Lizenzgebühren) nachgedruckt im Laubacher Feuilleton 7.1993, in dem es überwiegend um Gastrosophisches ging. Ich trau's mich trotzdem nicht, es hier hineinzuhieven, weil's nämlich urheberrechtlich zum Artemis-Verlag gehört, der es 1970 erstmals veröffentlicht hat. Da das Buch nach wie vor (in immer wieder erneuerter Auflage) erhältlich ist, befürchte ich Ärger, da wären dann sicher Büschelweise Haare in der Suppe.

Die spätere französische Königin hätte diesen Fraß wohl nicht geschluckt, auch wenn er noch so römisch gewesen sein mag. Aber schließlich war sie Florentinerin, bevor sie in den Westen zog, um diesem vom Mistral durchrüttelten Volk da drüben, diesen Möchtegern-Bocuses ordentlich die nouvelle cuisine zu lehren. Mir ist das egal. Ich mag einfach Erbsensuppe zu gerne. Wahrscheinlich hat mein nahezu ewiger Aufenthalt rechts des Rheins doch zu tiefe Spuren in meinen Geschmacksnerven hinterlassen. Und längst stehe ich mit einem Knospenbein auch noch im aus Kleinasien nach Kurz-vor-Sibirien eingewanderten Ursumpf dieser breiartigen Masse. Zudem dräut schwerer Novembernebel über allem. Meine einstige Teilzeitkochlehrerin, eine wunderbare und -same Freundin aus dem Badischen, seinerzeits wie ich in die lieblichen vorälpischen <i>stillen Winkel des beim Murnauer Moos beheimateten Blauen Reiters eingewandert, die mir so manchen verfeinernden Hinweis gab, etwa den des neben Basilkum und Estragon angereicherten Dills sowie Eigelb und leicht belgisch, also süßlich parfümierten Senf als Beigaben zur allerfeinst gehobelten Gurke, die dann in Sahne ertränkt Salat geheißen wurde und auch nach vierzig Jahren noch der Gäste Lust erzeugt, riet mir als Beigabe für die Erbsensuppe frischen Wirsing. So mag ich sie bis heute am liebsten. Als großer Experimentator, wenn auch als einer ohne Documenta-Ambitionen, habe ich es auch mit Kohlrabi und auch mit Blumen- oder Grünkohl oder mit allem zusammen mit allen erdenklichen Kräutern und Gewürzen ausprobiert. Aber da ich als Alter ohnehin dem Alten zugeneigt bin, werde ich das Rezept von diesem Alten nun doch mal testen. Ich hab ja sonst nix zu tun. Und für Erbsensuppe tue ich fast alles. Deshalb gebe ich das obige Küchenlatein in meine von kalter Spaltenfüllerei geschmierte Phrasendreschmaschine und schlage auch die Inhalte zu Sprachbrei:

Koche die selbstredend selbstgezogenen und -geernteten Erbsen. Füge Öl1 dazu (auch bei Béziers2 stehen Bäume, unter denen sich wundersam davon träumen läßt, daß deren Früchte einem in die offene Suppe fallen). Nimm Bauchlappen (Schweinebauch, den die Gattin deines Charcutiers kurz zuvor noch selbst gekrault hat) und gib ihn zusammen mit liquamen3, ganzen Lauchstangen und frischem Koriander in einen Topf. Setze den auf die eigens zu diesem Behufe in der Mitte deines denkmalgeschützten Hauses neu errichteten Esse zum Zweck des Erhitzens nieder und lege dich zum Nickerchen aufs Canapé. Sollte es dir währenddessen ebenfalls zu warm geworden sein, wähle die Rufnummer 112 und in weiser Voraussicht auch die desjenigen, der dir das Dach über dem Kopf gegebenenfalls noch vor dem nächsten Winter reparieren kann. Schneide kleine Würfel aus gehacktem Fleisch (das noch kurz zuvor noch glücklich war, im Zweifelsfall ergreife bewährte Maßnahmen4) und koche sie zusammen mit Amsel, Drossel, Fink und Star und sonstigen Singvögeln oder aufgeschnittenem Huhn aus Nachbars Garten; koche halbgares Hirn (bedenke: allzu frisches könnte noch von klaren Gedanken durchzuckt sein) in der Brühe. Grille auf dem Meisterwerk des Vaters5 von Schmieds Töchterlein unweit des baltischen Meeres (gerade erscholl in meinem Hackfleisch-TV6 erneut die Hymne auf den norddeutschen Griller7) lukanische8 Würstchen, koche einen Vorderschinken (all das bietet auch der Biobrillenhersteller9 in Lütjensee und ist kulinarhistorisch betrachtet ebenfalls geeignet), koche Lauch in Wasser und röste in der auf Herrn Trödels Markt als Antiquität erstandenen ehernem Bräter der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts vierhundertfünfzig Gramm Pinien- (nein, auch nicht ersatzweise koreanische Kiefern10-)kerne. Leihe dir beim Dorfapotheker oder, falls auch den die Gesundheitsreform dahingerafft haben sollte, gegebenenfalls bei Madame Lucette11, einen Mörser aus, stampfe in demselben Pfeffer, Liebstöckel, Origanum und Ingwer, gieße Brühe von dem Schweinebauch darüber und rühre dies glatt. Nimm eine Auflaufschüssel (angularis12), die sich stürzen läßt, und lege sie mit omentum13 aus. Fette sie mit Öl. Streue die Pinienkerne hinein und lege eine Schicht Erbsen darüber, so daß der Boden der Schüssel bedeckt ist. Darüber gib das Fleisch von dem Vorderschinken, den Lauch und die in Scheiben geschnittenen lukanischen Würstchen, darüber wieder eine Schicht Erbsen. Ebenso fülle die übrigen Zutaten ein, schichtweise mit den Erbsen abwechselnd, bis die Schüssel voll ist, und zwar so, daß die oberste Schicht eine von Erbsen gebildete wird. Koche dies im Backofen oder auf kleinem Feuer, bis es steif wird. Fange zuvor noch fröhlich freilaufende Eier ein, lasse sie hart kochen, entferne die Dotter und stampfe das Eiweiß im Mörser zusammen mit weißem Pfeffer, Pinienkernen, Honig (von Mörderbienen, da alle anderen mittlerweile tot sind), Weißwein und etwas liquamen, gib dies in einen Topf und lasse es kochen. Wenn es gekocht hat, stürze den Erbsenauflauf auf eine Lanx14 und gieße die Sauce darüber. Diese nennt man weiße Sauce und besteht, trotz aller Beteuerungen der wegen des vielen Fischs vom Mare Balticum ins eher binnenländische Büddenwarder geflüchteten Küchengeschichtsschreiberin15 nicht alleine aus Butter, Mehl und Wasser, welche sie bevorzugt über alle nationalgerichteten Kohlarten gießt.

Anmerkungen:
Da mir wiederholt zugetragen wurde, daß meine Verlinkerei zu Unachtsamkeiten führen könne, bediene ich mich der klassischen Fußnote. Den richtigen HTML-Umgang — auf daß alles hinab- und wieder hinaufhüpfe — lerne ich vielleicht auch noch; zumal das da oben spationierungstechnisch nicht eben edel ausschaut. Sollte es mir gelingen, gestalte ich's um.
1Öl
2 Béziers
3 liquamen
4 Maßnahmen
5 Vaters
5 Hackfleisch-TV
7 norddeutsche Griller
8 lukanische; Marseille[8.1]
9 Biobrillenhersteller
10 Korea-Kiefer11 Madame Lucette
12 angularis
13 omentum
14 Lanx
15 Küchengeschichtsschreiberin

 
Do, 17.11.2011 |  link | (4541) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Bis an des Wassers Scheide

Photographie: © Jean Stubenzweig

Neulich in Marseille, das sich von mir zu entfernen beginnt wie eine langjährige Geliebte, die sich einem vermeintlich Jüngeren zugewandt hat, der seine Attraktivität aus einer Anhäufung von Neuerungen nährt, die Stadt, die ihre in weit über zweieinhalbtausend Jahren gewachsene Natürlichkeit innerhalb kürzester Zeit drangibt, indem sie in scheinbar neue Gewänder schlüpft, die doch nicht mehr sind als die haarscharf an eigener schöpferischer Leistung vorbeikopierten Billigklamotten eines schwedischen sogenannten Modehauses, die Metropole kurz vor Afrika, die wie deren Einwohner jetzt unbedingt auch welteuropäisch sein will wie ihre Schwesterstadt Hamburg: Inmitten der Berge an Austern, Muscheln und Schnecken von Toinou am Cours Saint-Louis, direkt neben der inzwischen schön- und plattgebügelten Canebière, dem alten Hanfboulevard: die nicht endenwollende Eloge eines sportiven Jungmodernen mit Apfelphone und Funköffnung für ein schwarzes bayerisches Cabriolet auf dem Tisch neben der Flasche eines Rosé, der hier inmitten dieses Synonyms für eine aus einer unteren Mitte gewachsenen gastronomischen Heterogenität seines Preises wegen vielleicht zwei-, höchstens dreimal im Jahr verkauft wird. Er will der kürzlich aus Paris zugezogenen Marianne gegenüber gar nicht mehr aufhören mit seinem Lobgesang auf die Partnerschaft. Nein, keinen Antrag auf das mittlerweile multi- oder interkulturell gewordenen Bis-daß-der-Tod-euch-scheide stellt der Beur der Jungdirigeant aus der mittleren Etage der zum attraktiven Gebäude luxussanierten einstmaligen Seifensiederei im Anschlußgebiet des neuen Hafens, das eine erschreckende Ähnlichkeit mit der Wohnqualität der Hamburger Speicherstadt aufweist. Selbst im katholischen Frankreich ist man ethisch längst im Temporären angelangt. Von der Beziehung zwischen der Commune und dem Capitale schwärmt er seiner Gegenüber vor, von der er vermutlich hofft, daß sie nach der reichlichen Zufuhr von eiweißen Aphrodiasika und rosénem Wein unter ihm und er anschließend schnaufend neben ihr liegt. Der am Nachbartisch versteckte Lauscher sieht ihrem ihm bekannten Gesicht deutlich an, wie wenig sie inzwischen einer solchen Lagerung zugeneigt ist. Doch der Vortragende hat wohl nicht die richtige Perspektive, um den Tatsachen in die Augen zu sehen und ist wohl auch ein wenig zu sehr in seine These verliebt, die er vor ein paar Tagen der der Privatwirtschaft sehr nahestehenden größeren der beiden örtlichen Tageszeitungen La Provence entnommen oder auch unüberprüft verinnerlicht hat.

Hätte er getan, was mittlerweile alle Welt tut, nämlich via Internet ein bißchen was über seine vor drei Tagen getroffene Verabredung herauszuschnüffeln, was im technikverrückten und scheinbar gänzlich kontrollfreien Linksrheinischen noch leichter zu bewerkstelligen ist als rechts des Rheins, wüßte er, daß sie den Aktivistinnen zuzurechnen ist, die noch als Studentin per Unterschrift mit dafür gesorgt hat, daß das Pariser Wasser nach fünfundzwanzig Jahren wieder in den Besitz der Stadt, also der Einwohner übergegangen ist, daß gerade sie als studierte Wirtschaftstheoretikerin dieser Art von Partnerschaft eine radikale Absage erteilt hat. Denn sie hat sich einen Teil des im sozialistischen Elternhaus vermittelten Wissens bewahrt, nach dem zumindest menschliche Grundbedürfnisse wie Energie, Lehre, Transport oder Wasser nicht in die Portemonnaies gewinnorientierter Konzerne, also nicht in private Hand gehört beziehungsweise man es ihr wieder wegzunehmen hat, wenn es dort hineingeraten sein sollte wie fast seit je üblich in den meisten Kommunen des Landes. Der hormongesteuerte Kulturmuslim aus dem bei Jean-Claude Izzo immer wieder beschriebenen Norden der Stadt, je nach Zuneigung oder Fluchtwillen Heimat oder Ghetto der Beurs, könnte das ebenfalls wissen, läse er manchmal das eine Zeitlang von Izzo edierte kleinere Blatt La Marseillaise und hörte wenigstens hin und wieder France Inter und nicht fortwährend Mucke auf Beur FM und manchmal, wenn die hartgegelten Kumpels nicht in der Nähe sind, heimlich Cherie FM oder Radio Nostalgie. So wird die junge schöne Blonde, die sich von dieser Begegnung eine andere Art der Annäherung erhofft hatte, nicht im schwarzen Cabriolet des sportlichen Redners nach Hause ins von Papa lange vor Umbaubeginn gekaufte Apartement fahren, sondern mit der Tram, die mittlerweile bis ans Ende der Rue de la République an der Joliette an jenem Teil des Hafens vorbeiführt, von dem aus nach Korsika oder Afrika übergesetzt werden kann, und am neuen, europäisch gestützten Medienzentrum ihr Ende findet.

Die oben geschilderte Begegnung hätte auch in Hamburg stattfinden können, auch hier eine Speicherstadt, anscheinend gar eine mit Vorbildcharakter für die südliche Metropole. An der Elbe ist man zwar nicht so nahe am Kontinent der Armut, dafür näher an China, dieser kommunistischen Volksrepublik, der ein Großteil des Hamburger Hafens gehört und ohne deren Geld man nicht soviele schöne Menschen hätte speichern können in der Stadt, in der auch ein Sozialdemokrat als solcher nur gewählt wird, wenn er zumindest charakterlich ein Pfeffersack ist. Die Vorzeichen hätten ähnlich sein können, der Typ vielleicht ein anderer, sowohl der der Abstammung des PKW als auch der des Gesprächspartners. Die Unausgewogenheit zwischen Wissen und Uninformiertheit dürfte sich die Waage halten. Die einen bilden sich eine Meinung, die anderen lesen Bild. In letzterer und Artverwandten wird im unerschütterlichen Glauben an die Hoffnung des eines Tages vielleicht doch noch erreichbaren Reichtums gebetsmühlenhaft das Rad von der partnerschaftlichen Beziehung zwischen Mensch und Geld gedreht.

Hier war vor einiger Zeit bereits einmal die Rede davon: PPP, neudeutsch Partnership, von mir vor langer Zeit mal abgehandelt im Zusammenhang mit Privatwirtschaft als Kunstsponsor. Unverdrossen wird propagiert, von dem längst erwiesen ist, daß es immer nur einen Gewinner beziehungsweise Verlierer gibt. Letzterer ist der Bürger, jener Mensch, der in deutschen Medien fast nur noch als Steuerzahler erwähnt wird. Die von ihm gewählten sogenannten konservativen Politiker, gerne auch solche aus dem sozialgefärbten Lager, verscherbeln, um die von ihnen gerissenen Haushaltslöcher zu stopfen, die vor und von Generationen angeschaffte und — conservare — bewahrte Aussteuer (es könnte ja eines Tages noch der richtige Partner fürs Kind kommen) samt Tafelsilber.

Genauer: Konzerne bieten ihnen Geschenke an. Der Erste Bürgermeister oder Ministerpräsident erhält für die Stadt, für das Land ein paarhundert Millionen, und dafür dürfen sie ins Wasserwerk einziehen. Zur Miete sozusagen, denn alles bleibt offiziell und zu dessen Beruhigung in des Staatsbürgers Besitz, wenn der Mieter auch so tun und handeln darf, als gehöre alles ihm. Deshalb schaltet und waltet er nach Belieben, setzt beispielsweise Defektes nur instand, wenn der Gewinn von annähernd dreißig Prozent dadurch nicht in Gefahr gerät. Und daß das anfängliche, in Frankreich mittlerweile verbotene Geldgeschenk aus einem gigantischen Kredit besteht, den samt Zinsen der Wasser- und später dann auch noch Abwasserkunde im Fluß zu halten hat, das unterschlägt der rechnerische Hochleister Homo Politicus geflissentlich, denn wenn diese Flut dem Wähler erst bis zum Hals steht oder dann als Tsunami alles wegreißt, sind die Gewählten längst nicht mehr im Amt, sondern eher in später Rente oder bereits auf dem Friedhof. Verschwiegen wird auch, daß die in der Regel Investoren genannten Konzerne so gut wie kein eigenes Geld in die Hand nehmen müssen, um den Kunden das ihre aus der Tasche zu ziehen, damit wie in Italien seltsam anmutende Milliardenberge anlegen, die in anderen Branchen wie etwa kommunaler Verwaltung oder Bildungssponsoring wundersame Reinigung erfahren. Längst haben diese Unternehmen Zugriff auf private Daten und bestimmen mit über die Finanzierung von Lehrstühlen. Ich vermute, daß es ohnehin nicht mehr lange dauern wird, bis in Deutschland Städte in die Namen der Konzerne umbenannt werden, die an der Gesetzgebung mitschreiben. Im Ballspielsport wird das längst praktiziert, das österreichische Modell des Namensadelns per Penunze wird bereits umgesetzt: die roten Bullen rollen mittlerweile den Osten auf.

Am ärgsten schaudert mich bei alldem der Gedanke, daß ein ganzes Sparbuch- oder Bundesanleihenvolk in Panik gerät, wenn ein paar rachitische Aktienviren durch die Medien gejagt werden, aber überall dort, wo es mittels Wahlzettel oder Wutbürgertum etwas gegen die Machenschaften von Ganovenverbünden tun könnte, es genau diese als Segensreichtum begrüßt. Es sind beileibe nicht nur die radikalen Konsumenten der Verbreitungsblätter der Agentur- und Regierungsnachrichten et vice versa oder der privaten Radio- und Fernsehsender, in dessen Wahrnehmungsfenster solche Gelddruckmaschinen nicht sichtbar werden. Das mag zum einen an der Überbeschäftigung mit der Suche nach dem preiswertesten Bioprodukt aus einer kommunistischen Volksrepublik oder einem erzkapitalistischen Ausbeuterland liegen, das beim Kaputtmacher des Einzelhandels erhältlich ist. Egal woher, Hauptsache gesund, vor allem aber billig. Es kann aber auch der Realitätsverlust einer Nation sein, die längst dazu übergegangen ist, den Werbeverlautbarungen der Anbieter vollst zu vertrauen, obwohl es dazu in keinster Weise Anlaß gibt. Gestern bot der WDR eine (ausnahmsweise aktuelle) Reportage über ein sozusagen sattsam bekanntes piemontesisches Süßwarenunternehmen mit rechtem Sitz in Luxembourg, familiengeführt und arg zurückhaltend mit Auskünften, mit dem mittlerweile üblichen Umfrage- und Probierbrimborium. Was da an geradezu ehrfürchtigem Vertrauen in das Imperium mit einem im Vergleich zu anderen geradezu unglaublichen Werbetat zutage trat, war erschütternd. Selbst einer wie ich, der diesen Pappkram nicht kauft, weil er nichts ist als das Geschmacksempfinden ganzer Völker zerstörende Massenware, war besser über Inhaltsstoffe und Produktionsbedingungen informiert als diese ganzen gut- bis besserverdienenden Mütter und Väter, die ihren Kindern und sich selbst fortwährend und bei völlig überteuerten Preisen die Mäuler damit vollstopfen und die Fettleibigkeit fördern.

Da fällt es nicht weiter ins Gewicht, nicht darüber informiert zu sein, was es mit diesen alchimistischen Operationen dieser Konzerne auf sich hat, die sich aus dem ihnen nicht gehörenden Element Wasser goldene Aussichtstürme bauen. Die Leutchens sind auf diese Werbeweise so sehr daran gewohnt, alles zu glauben, auch daran, grundsätzlich doppelt und dreifach bezahlen zu müssen, daß sie mittlerweile auch noch freundlich lächeln und sich verbeugend bedanken, wenn ihnen vor ihren Augen das eigene Portemonnaie aus der Tasche gezogen wird.

Wasser als Handelsware
Marseille und die Einwanderer
Mamans Brustduftdrüsen

 
Di, 09.08.2011 |  link | (6577) | 11 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Ach, immer diese Sterneköche

Wollen wir sie nicht, bester Jagothello, wie im Journalismus, Qualitäts- oder, meinetwegen, Spitzenköche nennen? Gut, abgegriffen ist das alles — wie meine Michelin-Straßenkarten, die ich ihrer Qualität wegen in Stapeln besitze wie andere, die das Kochen nur aus dem Fernsehen kennen, Kochbücher und auf die ich nach wie vor setze und sie wie feinstes Handwerkszeug auch weiterhin lustvoll erstehe, solange es sie noch gibt, schon alleine wegen des haptischen Erlebnisses, das mir kein Navigationsgerät liefern kann und deren Firmenname schließlich für den Sternenhimmel steht, der uns von den Bildschirmen überwiegend der Deutschen entgegenleuchtet, die's ja ansonsten in der breiten Masse spätestens seit Moltke mit den Froschfressern nicht so haben, da hinterlassen auch Nicolas' viele Bises auf Angelas Wänglein keine genüßlichen Speichelfäden.

Der gute Koch also, ob besternt oder bekochmützt oder einfach nur durch Gästelob ausgezeichnet, stützt sich zunächst aufs traditionelle Handwerk; die glücklicherweise sich offensichtlich langsam durchsetzende «Mode» regionale Küche gehört dazu. José Bové und die Conféderation paysanne fordern das seit längerer Zeit, um dieser Malbouffe-Industrie die Grundmauern zumindest zu rammen. Bestandteil dieser Küchen sind die holzbeheizten Herde. Da muß man zu keinem dieser sich Künstler nennenden Zauberer in die Bude, denn auch die Köchin in der Auvergne oder im tiefen Oberbayern kocht mit Holz. Der alte Vert oder dessen Nachbar, der Lozère-Boche, die stapeln diese Kochingredienz bis heute fein säuberlich sortiert hinterm Haus. Im Rahmen meiner Schnellausbildung wurde mir darüber mal ein ausführlicher Vortrag gehalten: Sogar bestimmte Holzsorten würden bevorzugt, und die müßten auch noch abgelagert sein wie gutes Fleisch. Bestätigt hat das in einem kürzlich gesehenen schmackhaften Film über Schweinsbraten eine niederbayerische Metzgersgattin, die beiläufig über die Qualitätsverbesserung ihrer verschiedenen Braten und Wammerl im Herd oder der Räucherkammer durch Holzbefeuerung sprach. Zu Zeiten, als ich gerne und öfter in dieser Gegend bis in die tiefe Oberpfalz unterwegs war und mit Lust in dortigen Gasthöfen genoß, standen alle Köchinnen am Holzherd. Auch die Randkielerin Frau Braggelmann gerät ins Schwärmen, wenn sie von ihrer Kindheit erzählt, in der nur mit Holz gebraten und gekocht wurde; sie hat sich sogar später für ihre Tätigkeit als kinderbekochende Geschmacksbilderin die von ihr Hexe genannte Miniaturausgabe eines solchen Holzherdes zugelegt.


Und nun verkauft uns die Sterne vom Himmel runterkochende PR-Industrie des passiven Fernsehkochens das als die Erfindung des Feuers. Es sollen sogar bereits Herde namens Prometheus angeboten werden, in denen Ceranfelder mit holzbeheizten Back- und Bratröhren kombiniert werden. Die einen nennen's Kultur, die anderen Zivilisation.
 
So, 24.07.2011 |  link | (2373) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 







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